Hagakure - Das geheime Wissen der Samurai - Tsunetomo Yamamoto - E-Book

Hagakure - Das geheime Wissen der Samurai E-Book

Tsunetomo Yamamoto

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Beschreibung

Das »Hagakure« ist einer der einflussreichsten japanischen Texte überhaupt. Vor über 300 Jahren diktierte Tsunetomo Yamamoto seinen Schülern diese Lektionen, um den Ehrenkodex und die Kultur der Samurai hochzuhalten. Auf seiner Überlieferung des »Bushido« beruht der Großteil unseres Verständnisses dieser alten Kriegerkultur. Diese Ausgabe enthält die ersten beiden Bücher vollständig und ausgewählte Auszüge aus dem dritten Buch. Zahlreiche Erläuterungen machen den Originaltext leicht zugänglich. Der essenzielle Begleiter für Kampfsport-Enthusiasten und jeden, der vom alten Japan fasziniert ist.

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Seitenzahl: 472

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Tsunetomo Yamamoto

Hagakure

Das geheime Wissen der Samurai

Aus dem Englischen vonMatthias Schulz

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt

und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte

Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung

durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so

übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns

diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand

zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Titel der englischsprachigen Originalausgabe: Let the Samurai be your Guide.

Seven Bushido Pathways to Personal Success by Lori Tsugawa Whaley. First

published by Tuttle Publishing, an imprint of Periplus Editions (HK) Ltd.,

North Clarendon (VT), USA 2020

Copyright © 2020 by Lori Tsugawa Whaley

Alle Rechte vorbehalten

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung

© dieser Ausgabe 2021 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen

der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Umschlagmotiv: Samurai, 19th century, ukiyo-e art print from Kabuki

theatre series, Bibliothèque des Arts Decoratifs, Paris, G. Dagli Orti /

De Agostini Picture Library / Bridgeman Images

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-27894-6V001

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Vorwort

Hagakure – Eine Einordnung

Das Hagakure-Phänomen

Der historische Rahmen und das soziale Umfeld

Der inhaltliche Rahmen

Die Essenz des Hagakure

Zusammenfassung

Geplaudere mitten in der Nacht

Buch 1

Buch 2

Buch 3 bis 11: Ausgewählte Vignetten

Bezüglich des Tods und des Kriegs

Bezüglich der Frauen

Verschiedenes

Anweisungen:

Zentrale Ereignisse in der Geschichte des Reiches Saga und im Leben von Yamamoto Jocho

Fürst Ryuzoji Masaie (1556–1607)

Fürst Nabeshima Naoshige (1538–1618)

Fürst Nabeshima Katsushige (1580–1657)

Fürst Nabeshima Mitsushige (1632–1700)

Fürst Nabeshima Tsunashige (1652–1707)

Fürst Nabeshima Yoshishige (1664–1730)

Nabeshima Muneshige (1687–1754)

Hierarchie

Loyalität

Literatur

Englisch

Japanisch

Vorwort

Als ich hörte, dass Dr. Alexander Bennett das Hagakure von Yamamoto Jocho (der auch als Tsunetomo Yamamoto bekannt ist) ins Englische übersetzen würde, war mein erster Gedanke: »Das finale Resultat dürfte sehr interessant sein.« Was die Welt des japanischen Bushido angeht, verfügt Dr. Bennett über ein profundes Wissen und weitreichende Erkenntnisse. Ergänzt wird diese Expertise um seine umfangreiche praktische Erfahrung in Japans traditionellen Kampfkünsten. Seine Kompetenz in diesem Feld ist unumstritten.

Zuallererst möchte ich kurz auf den außergewöhnlichen Hintergrund von Dr. Bennett und dessen einzigartige Erfahrungen in Japan eingehen, denn dies wird zeigen, warum er eine so würdige Wahl dafür ist, diesen klassischen Text zu übersetzen. Geboren wurde er 1970 in Neuseeland, 1987 kam er als Austauschschüler erstmals nach Japan. An seiner Gastschule in der Präfektur Chiba beteiligte sich Dr. Bennett an sportlichen Aktivitäten und kam auf diese Weise mit der traditionellen Budo-Form des Kendos in Berührung. Diese Erfahrung war die Initialzündung für seine unstillbare Faszination für Japans Kampfkunst. Nach seinem Jahr in Chiba kehrte er nach Neuseeland zurück, aber schon bald darauf, von 1989 bis 1991, war er erneut in Japan, um sein Studium von Kendo und anderen Kampfkünsten fortzuführen.

1994 beendete Dr. Bennett sein Studium an der University of Canterbury in seiner Heimatstadt Christchurch. 2001 erwarb er seinen Doktortitel in Humanwissenschaften an der Universität Kyoto. Seine – auf Japanisch verfasste – Dissertation befasste sich auf beeindruckende Weise mit dem Thema Bushido und wurde 2009 von Shibunkaku in Kyoto veröffentlicht (The Bushi Ethos and its Evolution: An Investigation of Bushidō from the Perspective of the History of Social Thought).

2002 wurde Dr. Bennett als Forschungsassistent am International Research Centre for Japanese Studies (IRCJS) in Kyoto angestellt, wo ich ihn kennenlernte. Im Anschluss lehrte er an der Fakultät für Geisteswissenschaft der Teikyo Universität, dann wechselte er auf den Posten, den er jetzt innehat, nämlich als außerordentlicher Professor an der Abteilung für Internationale Angelegenheiten der Universität Kansai. Viele Jahre lang war er die treibende Kraft hinter Kendo World, das er 2001 als erstes englischsprachiges Kendo-Magazin überhaupt mit aufgebaut hatte. Dr. Bennett hält aktuell den siebenten Dan in Kendo, den fünften Dan in Iaido und den fünften Dan in Naginata. Er verkörpert exemplarisch das Ideal des Bunbu-Ryodo – eines Menschen, der in den literarischen Künsten genauso versiert ist wie in der Kriegskunst.

Seit einiger Zeit bewirbt er praktischen Unterricht in Zanshin als zentralen Bestandteil der Bushido-Kultur. Was ist Zanshin? Wörtlich bedeutet es »unbewegtes Herz« und ist vereinfacht gesagt ein wichtiges Prinzip der Kampfkünste. Es geht darum, jederzeit körperlich und geistig wachsam zu sein, auch dann noch, wenn man siegreich aus einem Zweikampf oder einer sport­lichen Auseinandersetzung hervorging. Es geht unter anderem darum, im Anschluss wachsam, ruhig und gesammelt zu bleiben und den Adrenalinschub, den man vielleicht verspüren mag, voll und ganz zu kontrollieren. Freude über einen Sieg zum Ausdruck zu bringen, ist genauso inakzeptabel wie Gefühle der Qual nach einer Niederlage. Wer jubelnd die Arme in die Höhe schleudert, legt einen Mangel an Wachsamkeit und Respekt an den Tag.

Insofern lässt sich Zanshin als Geisteszustand ständiger Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle beschreiben. Diese geistige Haltung erreichte der Samurai Dr. Bennett zufolge durch die Erfahrungen, die er im Kampf auf Leben und Tod machte. Seinem Widersacher in einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, Respekt zu erweisen und sich in Erinnerung zu rufen, welch ernste Gefahr es bedeuten kann, seine Deckung zu vernachlässigen – das ist die Art Begegnung, die ein Gefühl für Zanshin entstehen lässt. Seine Kommentare zur Bedeutung von Zanshin sind aus meiner Sicht eine wichtige Erinnerung an ein nahezu vergessenes Element der Samurai-Kultur. Sollte dieser Baustein verloren gehen, würde dies unser Verständnis vom wahren Wesen des Bu­shidos und seiner Lehren schmälern.

Als ich mich das erste Mal mit Dr. Bennetts Zanshin-Theorie befasste, kamen mir die japanischen Begriffe Mushin (»Bewusstsein ohne Bewusstsein«) beziehungsweise Mushi (»Selbstlosigkeit«) in den Sinn. Der Begriff Zanshin klang fremd für meine Ohren, wie auch für die meisten Japaner. Tatsächlich klingt für Japaner Zanshin eher wie ein widersprüchlicher oder instabiler Geisteszustand. Für die Menschen in Japan stellten »ein leerer Geist« und »Selbstlosigkeit« über lange Zeit eine tiefgründige Art zu leben dar und standen für die höchste Ebene spiritueller Verwirklichung. Wie lassen sich das unbewegte Herz (Zanshin) und das Bewusstsein ohne Bewusstsein (Mushin) vergleichen? Ist Zanshin tatsächlich dermaßen wichtig, dass es, wie Dr. Bennett behauptet, als ultimativer Geisteszustand der rund um die Welt als Budo bekannten japanischen Kampfkünste gelten sollte? Diese Fragen bewege ich in meinem Hinterkopf. Ich muss gestehen, dass ich von diesen Fragen ganz besessen bin, seit Dr. Bennett meine Aufmerksamkeit auf das Konzept des Zanshins lenkte.

Während ich über derartige Themen sinniere, fasziniert mich die Überlegung, welche Haltung der Autor des Hagakure wohl eingenommen hat, was Zanshin und Mushin ähnelnde Ideale anbelangte. Dr. Bennett besitzt ein intensives Verständnis bezüglich derartiger Spannungen im Lebensstil des Samurais, insofern ist es für mich von großem Interesse zu sehen, wie Dr. Bennett Yamamoto Jochos Bushido-Theorie auslegt. Ich freue mich auf seine Übersetzung des Hagakure, weil ich sehen möchte, wie er Yamamoto Jocho begegnet ist und wie er mit ihm zwischen den Zeilen des Texts kommunizierte.

Yamaori Tetsuo

(ehemaliger Leiter des International

Research Center for Japanese Studies),

2. Juni 2013, Kyoto

Hagakure – Eine Einordnung

Einführung

Das Bushido1 regt die Fantasie der Menschen an. Auf der einen Seite steht der Begriff für Stärke, Männlichkeit, Furchtlosigkeit, Ehre und Transzendenz, auf der anderen Seite aber auch für Gefühllosigkeit und kaltherzige Brutalität. Das heutzutage sichtbarste Überbleibsel der Samurai-Kultur ist Budo, die traditionellen japanischen Kampfkünste. Sie sind fraglos Japans erfolgreichstes kulturelles Exportgut, denn sie haben weltweit Dutzende Millionen begeisterter Anhänger gefunden. Die Menschen praktizieren diese Künste nicht nur zum Zweck der Selbstverteidigung oder als Wettbewerbssport, sondern auch auf der Suche nach spiritueller Weiterentwicklung.

Japans bemerkenswerter wirtschaftlicher Erfolg nach dem Zweiten Weltkrieg hat ebenfalls zum Interesse am Bushido beigetragen, auch wenn dieser Aspekt keineswegs ein zentraler Faktor gewesen ist. Zu Zeiten der Bubble Economy Ende der 1980er-Jahre fand die These viel Zulauf, Japans volkswirtschaftliche und unternehmerische Erfolge beruhen auf Managementpraktiken, die sich vieles bei »Samurai-Strategien« abgeschaut haben.

In den 1980er- und 1990er-Jahren veranlasste die boomende japanische Kultur viele Menschen, sich mit Kampfkünsten zu befassen und die Übersetzungen berühmter Kriegerbücher zu lesen, beispielsweise Das Buch der fünf Ringe von Miyamoto Musashi, Budo Shoshinshu von ­Daidoji Yuzan und natürlich das Hagakure von Yamamoto Jocho [= Tsunetomo]2. Heutzutage hat die japanische Kultur viele neue Freunde unter den »Anime otaku« gefunden, den leidenschaftlichen Anhängern der japanischen Anime- und Popkultur. Im Laufe der Jahre gab es viele erfolgreiche Filme, die Samurai-Ideale bewarben, beispielsweise Der letzte Samurai mit Tom Cruise und Watanabe Ken in den Hauptrollen. Dieser Film fachte ein neues Interesse am Kodex des Samurai an. Ebenfalls erwähnenswert in dieser Hinsicht ist Ghost Dog von 1999 mit Forest Whitaker in der Hauptrolle. Der hochgelobte Film über einen afroamerikanischen Auftragsmörder ist durchsetzt mit Hagakure-Aphorismen als Referenzpunkten. Der Killer arbeitet für einen Mafioso und erachtet sich als getreuen »Gefolgsmann«, der loyal zu dem Mann steht, der ihm vor Jahren das Leben gerettet hat.

In der modernen Popkultur und Literatur mögen die Samurai als noble Krieger hingestellt werden, aber es gibt auch Gelehrte, für die Samurai nichts als »tapfere Schlächter« waren. Tatsächlich lässt sich nicht abstreiten, dass im Hagakure bereits für die trivialsten Vergehen brutale Todesstrafen verhängt werden. Aus heutigen moralischen Gesichtspunkten kommt es einem geradezu obszön vor, wie wenig ein Menschenleben zu Zeiten der ­Samurai offenbar wert war. Texte wie das Hagakure, die so nüchtern mit dem Tod umgehen, wirken schockierend auf unsere Empfindungen, umso mehr in einem Zeitalter, in dem die Menschen dazu tendieren, keine Gedanken über ihre eigene Sterblichkeit anzustellen.

Unsere Gesellschaft lehnt beispielsweise die Selbsttötung ab und die Todesstrafe für Mörder ist heftig umstritten. Für die Samurai dagegen war der Tod zentraler Bestandteil ihrer Ehre und ihrer Lebensweise. Hing ein Krieger zu sehr am Leben, behinderte ihn das während einer Notlage, insofern galt es als tugendhaft, Geist und Verstand so zu trainieren, dass ein Krieger sich ohne zu zögern auch für den Tod entscheiden würde, sollte in einer bestimmten Situation »entschlossenes Handeln« erforderlich werden. Die extremistischen Meinungen und Bilder, die im Hagakure so lebendig geschildert werden, mögen auf den heutigen Leser abstoßend wirken, aber die Aphorismen öffnen ein Fenster in ein Zeitalter und eine Gesellschaft, die dem Leser in seiner Lebensweise fremdartig erscheinen mögen, ihn aber dazu bringen können, über anspruchsvolle Fragen der menschlichen Erfahrung nachzusinnen. Um den Inhalt ordnungsgemäß würdigen zu können, ist es wichtig, zunächst einmal die Dinge in den richtigen Kontext zu setzen.

Das Hagakure-Phänomen

Das Hagakure heißt eigentlich Hagakure-kikigaki (wörtlich etwa: »Aufzeichnungen des hinter den Blättern Gehörten«) und gilt heute als eine der berühmtesten Abhandlungen zum Bushido. Das 1716 fertiggestellte Werk umfasst schätzungsweise 1300 Vignetten und Betrachtungen unterschiedlicher Länge, die sich auf elf Bücher verteilen. Es befasst sich mit den Menschen, der Geschichte und den Traditionen des Saga-Reichs3 auf der südjapanischen Insel Kyushu, außerdem enthält das Buch Anekdoten von Kriegern aus anderen Provinzen. Teilweise ist der Inhalt abstrakt, aber die Seiten enthalten fesselnde Geschichten über die Taten einzelner Samurai und den Mahlstrom des Lebens als Gefolgsmann. Statt einer verschlungenen philosophischen Abhandlung haben wir es mit einem Gleichgewicht aus Verrücktheit und Gleichmut zu tun.

Bei den ersten beiden Büchern nimmt man an, dass sie von Yamamoto Jocho (1659–1719) diktiert wurden, einem Gefolgsmann mittleren Rangs von Nabeshima Mitsushige (1632–1700), dem Daimyo4 der Provinz Hizen (oder Saga). Diktiert hat sie Jocho dem zum selben Clan gehörenden Tashiro Tsuramoto (1678–1748). Die Bücher 3 bis 6 befassen sich mit den Adligen von Nabeshima und Ereignissen aus dem Saga-Reich, während die Bücher 7 bis 9 in die »verdienstvollen Taten« von Saga-Kriegern eintauchen. Buch 10 ist eine kritische Abhandlung über Samurai aus anderen Provinzen, Buch 11 enthält ergänzende Informationen über unterschiedliche Ereignisse und diverse Aspekte der Kriegerkultur.

Zweifelsohne wird Jocho einen größeren Teil der Informationen in den Büchern ab Buch 3 beigesteuert haben, aber da sich einige Einträge mit Personen und Ereignissen nach Jochos Tod befassen, hat Tashiro Tsuramoto weite Teile des Inhalts offensichtlich aus anderen Quellen zu einem einheitlichen Werk verwoben. Allgemein gilt Jocho als Autor, aber letztlich ist es Tsuramotos Bemühungen zu verdanken, dass dieses Buch überhaupt das Licht der Welt erblickte. Inhaltlich kritisiert das Werk in einigen Passagen das Tokugawa-Shogunat (die in Edo ansässige Kriegerregierung) – eine Reaktion auf strenge Anordnungen, die Samurai auf die Rolle »mechanischer Schrauben im bürokratischen Rad des Staats« reduzierten.5 Weitere Kritik äußerte das Buch an den Handlungen bestimmter herausragender Krieger des Saga-Lehens. Die eher arglosen Tiraden gegen örtliche Würdenträger und die verweichlichten hauptstädtischen »Kamigata«-Krieger aus Edo und Kyoto führten dazu, dass das Hagakure vorsorglich als »verbotener Text« behandelt wurde und Mitglieder des Saga-Lehens das Werk nur hinter vorgehaltener Hand weiterreichten. Das änderte sich erst in den 1930er- und 1940er-Jahren. Die damals in Japan dominierende militaristische Atmosphäre holte den Text aus der Vergessenheit und machte ihn populär. Der Inhalt des Hagakure galt als zu aufrührerisch, als dass man das Werk im Lehen Saga hätte offen gutheißen können. Nicht einmal in der Lehensschule Kodokan, wo junge Saga-Krieger ausgebildet wurden, kam der Text zum Einsatz. Dass das Werk heutzutage so viel Anerkennung gefunden hat, erfüllt die Bewohner der Präfektur Saga allerdings mit großem Stolz.

Als sich die Menschen in der Neuzeit erneut für die Traditionen des Bushidos begeisterten, erwachte auch das Interesse am Hagakure – ironischerweise, nachdem die Kaste der Samurai im Rahmen der Bemühungen, Japan zu modernisieren, abgeschafft worden war. Die Kaste der Samurai endete während der Meiji-Zeit (1868–1912), war aber nicht gleichbedeutend mit dem Ende des Bushidos als packende, gefühlsgeladene Kraft. Während der Modernisierung der frühen Meiji-Zeit wurden viele Traditionen der Samurai ausgesetzt, das galt auch für die Kampfkünste, doch ab Mitte der 1880er-Jahre feierten sie ihr Comeback. Damals begann das kulturelle Pendel in eine offenkundig nationalistischere Richtung zu schwingen und westliche Technologie sollte durch einen »japanischen Geist« [= Wakon yosai] ergänzt werden.

Garon schrieb, Ende der 1880er-Jahre waren sich »Intellektuelle, örtliche Eliten und Staatsdiener grundsätzlich einig, dass man den Massen ›das Gefühl, eine Nation zu sein‹ vermitteln müsse, sollte Japan es schaffen, sich zu modernisieren und mit der westlichen Konkurrenz mitzuhalten«.6 Exakt zu dieser Zeit wurde heftig über Fragen des «Japanischseins« debattiert und darüber, was es grundsätzlich bedeutet, Japaner zu sein. In vielerlei Hinsicht tasteten sich die Japaner voran, während sie sich bemühten, eine nationale Identität zu prägen. Laut Doak handelt es sich bei dieser Epoche um »den ersten wichtigen Augenblick im japanischen Nationalismus – die Kultur als Code für die Konzeptualisierung der kollektiven Identität der Japaner als eigenständiges Volk wurde für Ziele mobilisiert, die das gesamte politische Spektrum abdeckten«.7

Prominente Gelehrte wie Inoue Tetsujiro zogen eine Linie vom Bushido zu Patriotismus und Hingabe gegenüber dem Kaiser und versuchten auf diese Weise, das Bushido in den Dienst am Staat einzubinden. Sein Zeitgenosse Uchimura Kanzo, ein leidenschaftlicher Christ, entwickelte eine Neuinterpretation des Bushidos und stellte es auf eine Stufe mit Loyalität gegenüber ­Jesus Christus. Der zweifelsohne wichtigste Bushido-Kommentator der Neuzeit ist Nitobe Inazo. Er veröffentlichte Bushido. Die Seele Japans und schildert darin für das westliche Publikum eine christianisierte Lesart des Bushidos als Rückgrat des japanischen Wertesystems. Es handele sich um die perfekte Grundlage, auf der das Christentum in Japan veredelt und bekannt gemacht werden könne. Er betonte Tugenden wie Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Höflichkeit, Mut, Mitgefühl, Aufrichtigkeit, Ehre, Pflichtgefühl, Loyalität und Selbstkontrolle. Das Bushido sei zwar bei den Kriegern der Feudalzeit entstanden, aber alle Schichten der japanischen Gesellschaft hätten diese Werte übernommen, schrieb er.

Das Bushido und andere Überreste der Kriegerkultur wie beispielsweise die traditionellen Kampfkünste genossen einen derartigen populären und symbolischen Reiz, dass sie wie ein zwar stark romantisch verklärter, aber zunehmend unwidersteh­licher werdender Bestandteil der japanischen Kultur wirkten. Harumi Befu schrieb von der »Samurai-Werdung« des japanischen Volks: »Eigenschaften wie Loyalität, Durchhaltevermögen und Gründlichkeit hatte man zuvor einer kleinen (aber elitären) Bevölkerungsgruppe zugesprochen – den Samurai. Durch Propaganda, Bildung und Regulierung wurden diese Eigenschaften nun schrittweise auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt.«8

Zum blühenden japanischen Militarismus passte besonders gut das Grundthema des Hagakure, nämlich absolute Ergebenheit gegenüber seinem Herrn, was so weit ging, dass sich ein Krieger dafür wappnen musste, in Erfüllung seiner Pflichten sein Leben einzubüßen. Zusammengefasst wird diese Haltung im legendären Satz »Bushidō to iu wa shinu koto to mitsuketari«, »Der Weg des Kriegers liegt im Sterben«. Dass sich dieser Gedanke so gut in das Gedankengut des Militarismus einfügt, liegt, wie Ikegami schreibt, an der Kombination »aus Todeskult mit dem Ideal der getreuen und wirkungsvoll Hingabe an das öffentliche Wohl«.9

Im März 1906 wurde das Hagakure erstmals gedruckt veröffentlicht und auf diese Weise auch außerhalb der Provinz Saga bekannt. Der Grundschullehrer Nakamura Ikuichi stellte eine Auswahl von Aphorismen zusammen und veröffentlichte sie in Buchform. Erst 1935 wurde in Kurihara Aranos Hagakure Shinzui (»Die Essenz des Hagakure«) erstmalig der vollständige Text veröffentlicht. 1940 folgte das sorgfältig kommentierte Werk Hagakure Kochu (»Hagakure-Kollation«). Seit diesem Zeitpunkt entkam das Hagakure endgültig dem Nebel des Obskuren. Die Popularität nahm noch zu, als ebenfalls 1940 der große Verlag Iwanami Bunko Hagakure veröffentlichte, eine Zusammenarbeit des prominenten japanischen Philosophen Watsuji Tetsuro und des Ethik-Historikers Furukawa Tetsushi. Das dreibändige Werk im Taschenbuchformat machte das Hagakure den Massen zugänglich. Einen wirklich großen Hagakure-Boom gab es zwar nicht, aber bei den vom japanischen Kriegsapparat mobilisierten Soldaten war es dennoch eine beliebte Lektüre.10

Der Zweite Weltkrieg brachte Kamikaze-Piloten hervor, die sich in den Tod stürzten, und japanische Soldaten, die im Angesicht des Todes einen Fanatismus an den Tag legten, der viel Furcht auslöste. Das sorgte nach dem Krieg dafür, dass Bücher wie das Hagakure stark in die Kritik gerieten. Der Vorwurf lautete, sie seien Werkzeuge einer militaristischen Propaganda, die danach strebe, der Jugend Japans einen unzähmbaren Patriotismus einzuimpfen und sie darauf vorzubereiten, ihr Leben für Kaiser und Vaterland zu opfern. Das Hagakure lieferte in Kriegszeiten den Ultranationalisten ein wirkmächtiges und gefühlvolles Kredo, allein schon dadurch, dass es dermaßen eindimensional die Loyalität zur Pflicht erhob – bis hin zur Selbstopferung im Rahmen einer »Todesraserei« [= Shini-Gurui]. Doch hatte man hier die wahren Absichten des Hagakure tatsächlich zutreffend ausgelegt?

In den Nachkriegsjahren monierten ausländische, aber auch japanische Kritiker, das Bushido stehe für alles, was am Verhalten Japans während des Kriegs abscheulich gewesen sei. Viele Japaner wandten sich vom Bushido ab, weil sie es als Teil der fehlgeleiteten militaristischen Ideologie erachteten, die zu Japans Niederlage und Schande führte, und weil sie das Bushido als nicht geeignet für die neue demokratische Gesellschaft erachteten, die nach dem Krieg in Japan entstand.

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich das Hagakure zu einem der Bücher, die im Mittelpunkt intensiv geführter Kontroversen standen. Je nach Standpunkt repräsentiert das Hagakure eine mystische Schönheit, die der ästhetischen Erfahrung der Japaner innewohnt, sowie eine stoische, aber tiefgreifende Wertschätzung der Bedeutung von Leben und Tod, oder aber man sieht es als Text an, der für alles Abscheuliche steht, was sich über bedingungslose Selbstaufgabe sagen lässt, der den Wert des Lebens auf verabscheuenswürdige Weise herabwürdigt und der blinden Gehorsam gegenüber der Obrigkeit predigt.

Es lässt sich guten Gewissens sagen, dass das Hagakure sowohl in Japan als auch im Ausland ein sehr falsch verstandenes Buch ist. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Yamamoto Jocho Tashiro Tsuramoto beschwor, das Buch nach seiner Fertigstellung zu verbrennen, auf dass es nicht in die Hände von Menschen falle, die niemals verstehen könnten, mit welcher geistigen Haltung es geschrieben worden war. Diese Anweisung erscheint geradezu prophetisch, betrachtet man die starken Schwankungen, die die Bewertung des Buchs in der Neuzeit durchlaufen hat.

In Japan pickt sich eine große Bandbreite an Fachleuten – von angesehenen Gelehrten bis hin zu ausländerfeindlichen rechten Ultranationalisten – bequem ein Zitat aus dem Hagakure, um Japans vermeintliche »Einzigartigkeit« zu betonen und um eine Verbindung zwischen der vornehmen Samurai-Kultur und dem Geist der modernen japanischen Bevölkerung heraufzubeschwören, sei sie noch so dürftig. Sieht man sich wiederum an, wie viele Übersetzungen des Hagakure in andere Sprachen im Ausland erhältlich sind und dass sie sich einer steten Nachfrage erfreuen, gibt es offenbar viele Nicht-Japaner, die sich von der Romantik in Japans feudaler Vergangenheit sowie den Ideen des Bushidos in ihren Bann schlagen lassen. Mag sein, dass es für sie eine Kuriosität darstellt, mag sein, dass sie auf eine Weisheit zu stoßen hoffen, die ihnen von Nutzen sein kann. Dann wiederum gibt es auch Menschen, die das Hagakure als schändlichen Nonsens abtun, den das japanische Militär für böswillige Gehirnwäsche einsetzte.

Ausländische Gelehrte, die sich mit Japans Historie und seiner Kultur befassen, sehen die modernen kulturellen nationalistischen Konstrukte rund um das Bushido eher skeptisch und sprechen von einer »erfundenen Tradition«. Dass das Hagakure einen historischen Wert hat und ein Fenster in die komplexe, manchmal unfassbar brutale, aber grundsätzlich eher fried­liche Welt der Krieger der Tokugawa-Zeit bietet, wird gerne abgetan. Es handele sich nur um das radikale, aufwieglerische Gezeter eines mürrischen alten Griesgrams, der wegen des Verfalls, den das Altern mit sich bringt, übellaunig ist. All diese Haltungen sind verständlich, die positiven genauso wie die negativen. Doch der Inhalt des Hagakure ergibt deutlich mehr Sinn, wenn man das Werk mit Sympathie für den Mann und seine Zeit liest.

Der historische Rahmen und das soziale Umfeld

Als Berufskrieger unterschieden sich Samurai von den Bauern und Bürgern, die in den alten [= Kodai] und neuen [= Kindai] Zeiten für den Militärdienst eingezogen wurden. Sie unterschieden sich auch stark von den Beamten, denen in den alten Zeiten militärische Pflichten übertragen wurden, wie auch vom modernen Berufssoldaten.11 Der schrittweise Aufstieg des Samurai zu landesweiter politischer Bedeutsamkeit war das Resultat dessen, dass im Rahmen des Ritsuryo12 der allgemeinen Bevölkerung immer weniger militärische Verpflichtungen auferlegt wurden. Das System förderte eine starre Hierarchie am Hof. Bestimmte Ämter, die eine kleine, handverlesene Gruppe Adliger ausübte, wurden nicht nach Qualifikation besetzt, sondern vererbt.

Diese Clique war fest entschlossen, ihre Privilegien und ihr Monopol auf Regierungsämter nicht aufzugeben. Deshalb arbeitete sie immer enger mit aufkeimenden Kriegergruppen zusammen oder stellte gleich eigene Privatarmeen auf. Das wiederum eröffnete Adligen aus mittleren und niederen Rängen gute Möglichkeiten, Karriere zu machen. Rasch erkannten sie, dass kriegerisches Talent ihre Fahrkarte zum Aufstieg sein würde. Es war eine Übereinkunft, die für beide Seiten von Vorteil war, für die niederen Adligen genauso wie für die mächtigen aristokratischen Familien, die am Regierungssitz in Kyoto das Sagen hatten. »Je größer die Möglichkeiten wurden, desto begeisterter und desto ernsthafter widmeten sich derartige junge Männer dem Soldatischen.«13

Männern aus regional einflussreichen Familien der östlichen Grenzlande übertrug man Regierungsposten. Sie schlossen sich zusammen und bewaffneten sich, um ihre Anwesen zu verteidigen und um lokale Konflikte mit Gewalt im Keim zu ersticken. In Provinzeinheiten organisierte Samurai formten schließlich feudale Bande, in deren Mittelpunkt ein starkes Gefühl der Identität als Krieger stand. Ihre gemeinsam im Kampf gemachten Erfahrungen schweißten sie eng zusammen und sorgten für intensive loyale Beziehungen, aber auch die Aussicht auf finanzielle Vergütung für geleistete Dienste spielte eine Rolle. Als Minamoto no Yoritomo 1192 in Kamakura die erste Bakufu [= Militärregierung] ins Leben rief, hatten die Krieger längst ihre eigene Kultur entwickelt. Sie basierte auf einem schier unersätt­lichen Hunger nach Ruhm, Glanz und Ehre. Zu diesem frühen Zeitpunkt war die Kultur der Krieger noch nicht kodifiziert, insofern haben sich hier eine ganze Reihe von Begriffen etabliert, etwa bando musha no narai (»Bräuche der östlichen Krieger«), yumiya no michi (»Der Weg von Pfeil und Bogen«), kyuba no michi (»Der Weg von Bogen und Pferd«) und so weiter. Der Begriff Bushido entstand erst viel später, nämlich im 17. Jahrhundert.

Für die Samurai drückten die kriegerischen Fähigkeiten die Stärke und den Mut des Einzelnen aus, außerdem standen sie symbolisch für die einzigartige Subkultur der speziell für den Kampf Ausgebildeten. Ab dem 9. Jahrhundert (möglicherweise sogar noch eher) entwickelten und kultivierten japanische Krieger eine eigentümliche Kultur, die in erster Linie auf der Fähigkeit basierte, Gewalt anwenden zu können. Im Laufe der Jahrhunderte bildeten sich Anforderungen an den idealen Krieger heraus. Die Samurai befolgten die Gebote von Ehre und Lehnstreue zwischen Gefolgsmann und Herr. Die klassischen Kriegsgeschichten [= Gunki monogatari] schildern wieder und wieder, dass der Krieger nur zu gern bereit war, für seinen Herrn in den Tod zu gehen.

Allgemein gesprochen entwickelten die Samurai bis zur Kamakura-Zeit (1185–1333) einen ausgeprägten Moralkodex, der so weit ging, dass ein Samurai im Idealfall zum Schutz der Ehre sein Leben riskierte oder opferte. Die restliche Gesellschaft war nicht ansatzweise dermaßen erpicht darauf, zur Wahrung ihrer Ehre ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Um das Verhältnis der Samurai aller Rangstufen untereinander zu regeln, erschufen sie einzigartige Vorgaben für die Interaktion. Ehrentitel spielten eine wichtige Rolle. Diese Regeln waren der Klebstoff für das politische und gesellschaftliche Leben der Samurai. Darüber hinaus entwickelten die Krieger einen unstillbaren Durst, den Namen ihres Hauses [= Ie] zu mehren, und mit verbissener Leidenschaft arbeiteten sie daran, dass ihr Name [= Na] für die Nachwelt erhalten blieb. Das Streben nach Ehre und danach, Schande zu vermeiden, wurde auf diese Weise untrennbar mit Tapferkeit und unermüdlichem Mut verknüpft sowie mit dem Monopol auf das Recht, Gewalt anwenden zu dürfen.

Ehre wurde nicht zuletzt durch kämpferische Fähigkeiten und Gewalt ausgedrückt, insofern nahm das Thema Tod stets einen zentralen Platz im Leben der Samurai ein. Ähnlich wie bei den westlichen Rittern im Mittelalter wurde das Töten nicht als moralischer Akt an sich geduldet, auch wenn es auf vielerlei Art und Weise rechtfertigt und verteidigt wurde. Das Sehnen nach Anerkennung über den Tod hinaus und der wie besessen verfolgte Wunsch, den eigenen Ruhm und den Ruhm seiner Familie zu mehren, reichte dem Samurai als Motivation und als Rechtfertigung, dafür zu töten oder zu sterben. Es war (gemeinsam mit der Aussicht auf finanzielle Entlohnung) der emotionale Anreiz, tapfer für seinen Herren zu kämpfen. Das Stigma der Feigheit wäre zudem eine viel zu große Schande, sowohl für den Samurai selbst als auch für seine Nachfahren.

Im beliebten Mittelalter-Genre der »Kriegsgeschichten« wurden die Samurai sehr ehrenvoll dargestellt, aber warf man einen Blick auf das große Ganze, schimmerten stets die Gier auf Land, Macht und das eigene Vorankommen durch. Seinen Höhepunkt erreichte dieser Zustand während einer der turbulentesten Phasen der japanischen Geschichte, der Sengoku-Zeit (1467–1568), der »Zeit der kriegführenden Länder«. Rivalisierende Warlords [= Daimyo] stritten miteinander darum, das gesamte Land unter ihre Kontrolle zu bringen und zu beherrschen. In dieser Zeit fiel die Loyalität gegenüber dem eigenen Oberherrn gerne dem eigenen Vorankommen zum Opfer, während Bündnisse und Treueschwüre genauso schnell gegeben wie gebrochen wurden.

Es war eine Zeit großer Unsicherheiten und über Aufstieg oder Fall eines großen Daimyos, seines Hauses [= Ie] und seiner Mitglieder, entschied häufig ein einziger verräterischer Dolchstoß in den Rücken. Die Ungewissheit dieser Zeit brachte eine Vielzahl an »Hausregeln« [= Kakun], Gesetzen [= Hatto] und Vorschriften hervor, die das gebührliche Benehmen eines Samurais zu regeln suchten. Das spricht dafür, dass ein vorbildliches Verhalten alles andere als normal war. Und dennoch blickten spätere Generationen voller Nostalgie auf das gefährliche Leben der Sengoku-Krieger und auf ihre Taten. Es war »die gute alte Zeit«, als Samurai noch echte Männer waren und die Kühnen gewannen … oder wenigstens ehrenhaft starben.

Als im Tokugawa-Shogunat14 (1603–1867) endlich eine friedlichere Phase in Japan Einzug hielt, standen die Samurai vor einem Dilemma. Wie konnte die Kriegerklasse, die gerade einmal fünf, sechs Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte, ihre Existenz an der Spitze der neuen gesellschaftlichen Ordnung [= Shinoko­sho]15 rechtfertigen, wenn es keinerlei Kriege mehr gab, die man führen konnte?

Militärgelehrte und konfuzianische Gelehrte entwickelten und optimierten nun Protokolle, die die Rolle der Krieger zu Friedenszeiten definierten. Diese Protokolle wurden als »Shido« oder »Bushido« bezeichnet. Mit der Zeit entstanden die Grundlagen für ein neues System politischer Gedanken und politischen Bewusstseins. Die Regierung erörterte auf den oberen Ebenen die zentrale Rolle von Kriegern in Angelegenheiten des Staats. Auf diese Weise erhielt die privilegierte Kaste der Krieger eine Existenzberechtigung auch in Zeiten anhaltenden Friedens.

In seiner berühmten militärischen Abhandlung Heiho Kadensho von 1632 beispielsweise legt Yagyu Munenori (1571–1646) dar, wie ein tugendhafter Herrscher sich die Möglichkeit bewahrt, zum Schutz des Volks militärische Macht einzusetzen. Für das Wohlergehen des Reichs sei es unerlässlich, sich eine wohlwollende Militärregierung zu bewahren: »Manchmal müssen zehntausend Menschen leiden, weil ein Mensch böse ist. In so einem Fall wird die Klinge, die den Tod bringt, zum Schwert, das Leben rettet.« Anders gesagt: Der Weg des Kriegs wurde auch als Weg des Friedens gesehen.

Diese Rechtfertigung funktioniert auf Regierungsebene, doch als das Hagakure mitten während der Tokugawa-Zeit geschrieben wurde, waren es die unteren und mittleren Ränge der Samurai – inzwischen voll und ganz in nicht kämpfende, bezahlte Bürokraten verwandelt –, die nach dem Sinn ihrer Existenz suchten. Bekannte Gelehrte wie Yamago Soko (1622–1685) und Daidoji Yuzan (1639–1730) lieferten den Samurai Kriterien für geleistete Errungenschaften, die an die Stelle von Heldentaten auf dem Schlachtfeld traten. Rhetorisch fragte Yamago Soko: »Der Samurai isst, ohne die Lebensmittel angebaut zu haben. Er nutzt Dinge, ohne sie hergestellt zu haben. Er profitiert, ohne verkauft zu haben. Mit welcher Rechtfertigung tut er das?« Seine Antwort: Dem Samurai kam in Friedenszeiten die Aufgabe zu, seinem Herrn getreulich zu dienen und den Bürgerlichen durch seine hingebungsvolle Pflichterfüllung ein moralisches Vorbild zu sein. Dazu gehörte es, sich strikt an die Protokolle der Etikette zu halten, sich durch asketisches Training in den Kampfkünsten bereit für eine militärische Verwendung zu machen und gleichzeitig sein ästhetisches Empfindungsvermögen durch Studium und kulturelle Weiterbildung zu verfeinern.

Das Streben nach Perfektion im Alltag und die hingebungsvolle Pflichterfüllung gaben den Samurai ein alternatives Grundgerüst an die Hand, auch abseits des tapferen Kampfs auf dem Schlachtfeld an Ehre zu gewinnen. Es war ein deutlich weniger gefährlicher und weniger aufregender Ersatz für Krieg, aber das Shogunat war zufrieden damit, die Samurai auf diese Weise zähmen zu können, herrschte doch Besorgnis, dass das von Natur aus explosive Wesen der Kriegerkultur anderenfalls die Vormachtstellung des Shogunats gefährden könnte.

Auch wenn die Aussicht, ehrenhaft in der Schlacht zu sterben, nicht länger real war, wurde interessanterweise das Todeskonzept idealisiert. Es schlug sich in einer Haltung nieder, sich bis zur Selbstaufopferung und mit unerschütterlicher Loyalität in den Dienst seines Herren zu stellen. Das konnte so weit gehen, dass man als Sühne für Fehlverhalten den Freitod wählte. Gefeierte Episoden aus der Tokugawa-Zeit belegen, welche »Treue« ein Samurai an den Tag legen konnte. Das offensichtlichste Beispiel ist die Rache der 47 Ronin (herrenlose Samurai). 1701 zog der Fürst von Ako, Asano Naganori, sein Schwert und griff in der Burg Edo Kira Yoshinaka an. Der Grund: Er fühlte sich in seiner Ehre verletzt. Wegen dieses schweren Verstoßes gegen die Etikette am Hof wurde Asano sofort angewiesen, Seppuku zu begehen, rituellen Selbstmord. Zwei Jahre schmiedeten seine Gefolgsleute Rachepläne, dann schlugen sie zu. Seinen Höhepunkt erreichte der Rachefeldzug damit, dass sie Kira in dessen Anwesen töteten. Im Anschluss begingen sie rituellen Selbstmord. Bis heute werden die Männer in Japan als Musterbeispiel für Loyalität wie Helden geehrt.

Ihr Handeln findet Befürworter genauso wie Kritiker und zeigt das komplexe Wesen der bei den Tokugawa-Kriegern herrschenden »Gemeinschaft der Ehre«. Hätte Asano mehr Zurückhaltung an den Tag legen sollen, als er von Kira aufgestachelt wurde? Wie sehr dürfen heilige persönliche Grenzen überschritten und die eigene persönliche Ehre verletzt werden, bevor es akzeptabel ist, zu Vergeltungsmaßnahmen zu greifen? Die persönliche Ehre eines Samurai galt als unantastbar. Hätte Shogun Tsuna­yoshi also nicht verständiger sein müssen, bevor er Asano sofort dafür bestrafte, mit dem Ziehen seiner Waffe gegen das bei Hof geltende Protokoll verstoßen zu haben? Hätte er Kira für seine Rolle bei diesem Streit nicht ebenfalls bestrafen müssen? Hätten die 47 Gefolgsleute Asanos sich nicht an die Gesetze halten müssen, die Rache unbedingt untersagten, oder war ihr Handeln gerechtfertigt? War das Motiv für ihre Vendetta Loyalität gegenüber ihrem Herrn, der aus ihrer Sicht ungerecht behandelt worden war, oder ging es ihnen darum, den Ruf ihres Clans zu wahren? Oder trieb sie gar der egozentrische Wunsch, sich ihren persönlichen Stolz und ihren Namen innerhalb der Kriegergemeinschaft zu bewahren? Hätte man ihnen nicht die ehrenhafte Selbsttötung verweigern und sie wie Verbrecher hinrichten müssen?

All diese Fragen wurden zum damaligen Zeitpunkt prominent diskutiert.

Jochos Einschätzung zu dem Vorfall zeigt, dass er, wenn es um angemessenes Verhalten eines Kriegers ging, keinerlei Spaß verstand:

»Die Ronin des Asano-Clans haben sich schuldig gemacht, weil sie [nach dem nächtlichen Überfall auf das Anwesen von Fürst Kira] nicht sofort Seppuku im Sengakuji-Tempel begangen haben. Vor allem dauerte es viel zu lang, bis sie den Tod ihres Herrn durch den Feind gerächt hatten. Was, wenn ihr [vorgesehenes Opfer] Fürst Kira in der Zwischenzeit an einer Krankheit verstorben wäre? Das wäre eine Schmach gewesen. Krieger der Region Kamigata sind klug und raffiniert, wenn es darum geht, Wege zu finden, wie man ein Lob einheimst.« (1-55)

Tatsächlich stellt das Hagakure einen unverblümten Kommentar zu den vielgestaltigen Themen dar, mit denen die Samurai sich auseinanderzusetzen hatten, während sie sich einen Weg durch die Pax Tokugawa bahnten. Yamamoto Jochos Lebensphilosophie unterstreicht die Spannungen und die Widersprüchlichkeiten, mit denen es eine Subkultur von Kriegern zu tun hatte, die sich über viele Jahrhunderte hinweg für den Krieg gewappnet hatte, nun aber in den Unwägbarkeiten des Friedens feststeckte.

Der inhaltliche Rahmen

Das Hagakure wurde von Yamamoto Jocho diktiert. Er wurde 1659 am elften Tag des sechsten Monats geboren, sein Vater war Yamamoto Jin’uemon Shigezumi, ein Gefolgsmann des Fürsten von Saga. In Buch 2 spricht Jocho über die Tage seiner Kindheit. Er erwähnt, dass sein Vater zum Zeitpunkt von Jochos Geburt 70 Jahre alt war und da es eine ziemliche Belastung ist, in diesem Alter noch ein Kind großzuziehen, witzelte Jin’uemon, er werde das neue Kind wohl an einen Salzhändler verkaufen müssen. Der Hauptmann seiner Einheit, Taku Zusho, sprach sich allerdings gegen einen raschen Verkauf des Jungen aus, da sein klangvoller Name ihm eine nützliche Rolle als Gefolgsmann garantiere.

Jocho hieß zunächst Matsukame, wurde im Alter von neun Jahren aber in Fukei umgetauft, als ihn der zweite Fürst von Saga, Nabeshima Mitsushige (1632–1700) als Laufburschen in Dienst nahm. Sein Vater war streng und trug ihm viele körperlich anspruchsvolle Arbeiten auf, damit Jocho an Stärke und Ausdauer gewann. Offenbar war der Junge in körperlich schwacher Verfassung und es hieß, er werde sein zwölftes Lebensjahr wohl nicht überleben. Doch schon damals legte er die Hartnäckigkeit an den Tag, die den Text des Hagakure durchzieht: Jocho arbeitete seine gesamte Jugend über verbissen daran, seine Kritiker eines Besseren zu belehren.

Als Jocho elf Jahre alt war, starb sein Vater. Danach kümmerte sich sein Neffe Yamamoto Tsuneharu um den 20 Jahre jüngeren Jocho und ließ ihm eine strenge Erziehung angedeihen. Jocho wurde Nabeshima Mitsushiges Page und erhielt im Alter von 14 Jahren den Namen Ichijuro. 1678 absolvierte er das Mannbarkeitsritual Genpuku und nahm den Namen Gon’nojo an. Er wurde zum Leibdiener und Assistenten des Schreibers befördert.

Leider machte Mitsushige auch Gon’nojo dafür verantwortlich, dass sich sein Sohn Tsunashige so sehr für Poesie begeisterte, und suspendierte ihn vorübergehend. Gon’nojo nutzte die Zeit dafür, in Kezoan einen alten Freund seines Vaters zu besuchen, den Zen-Mönch Tannen Osho. Bei ihm lernte er die Lehren des Buddhismus. Als er 21 wurde, wurde Gon’nojo in das Kechi-myaku aufgenommen, die »Ahnentafel« aller Zen-Meister einer bestimmten Schule. Er erhielt den buddhistischen Namen Kyokuzan Jocho (der sich auch als »Tsunetomo« lesen lässt). Etwa zur selben Zeit suchte er Ishida Ittei auf, einen in Saga lebenden berühmten Gelehrten für Konfuzianismus und Philosophie. Die Lehren dieser beiden Männer hatten einen starken Einfluss auf Jocho, was sich auch daran ablesen lässt, wie häufig ihre Weisheiten im Hagakure zitiert werden.

Mit 24 heiratete Jocho und wurde wieder eingestellt, dieses Mal in der Dokumentenerstellung. In dieser Funktion sandte man ihn vier Jahre später nach Edo und anschließend nach Kyoto. Als er mit 33 nach Saga zurückkehrte, nahm er den Namen seines Vaters an, Jin’uemon. Fünf Jahre darauf sandte ihn Mitsu­shige ­erneut nach Kyoto. Bei diesem Spezialauftrag ging es darum, eine Kopie des Kokin-denju zu erwerben, eines seltenen Korpus an Lehren, der sich mit der inneren Bedeutung der Gedichte im Kokin Waka-shu (allgemein eher als Kokin-shu bekannt) befasst, einer Gedichtsammlung aus dem 10. Jahrhundert. Im Rahmen dieses Auftrags suchte Jocho den Adligen Sanjo-nishi Sanenori auf, eine Kapazität zum Thema Waka-Poesie. 1700 gelang es ihm schließlich, für seinen Herrn Kopien der kostbaren Dokumente zu erwerben. Getrieben von einer Vorahnung eilte er rasch nach Saga zurück, wo er dem ans Bett gefesselten Mitsushige gerade noch rechtzeitig die ersehnten Schriften übergeben konnte.

Mitsushige starb im selben Jahr und wie sich herausstellen sollte, endeten damit auch Jochos Dienst für seinen Herrn und seine wichtigsten Heldentaten. Es entsteht der Eindruck, Jocho habe es sehr bedauert, dass seine Laufbahn erzwungenermaßen an die Künste gebunden war. Dies verhinderte, dass er sein hochgestecktes Ziel erreichen und Haushofmeister werden konnte. Er träumte nämlich davon, ein einflussreiches Amt zu bekleiden und an der Seite seines Herrn zum Wohle des Hoheitsgebiets zu wirken.

Jocho hegte den ausdrücklichen Wunsch, seinem Herrn nach dessen Ableben durch Junshi [= Selbstverbrennung] freiwillig in den Tod folgen zu dürfen. Ein derartiger Tod galt als höchster Ausdruck der Loyalität gegenüber einem verstorbenen Fürsten und als ehrenvoller Abschluss für das Leben eines getreuen Gefolgsmanns. Doch zu Jochos Enttäuschung war Junshi (oder Oibara, wie es auch hieß) 1661 in Nabeshima verboten worden und 1663 ein weiteres Mal durch die Regierung Tokugawa. Um seine Integrität und seine Hingabe als getreuer Krieger des Nabe­shima-Clans unter Beweis stellen zu können, blieb ihm nur noch ein Ausweg – er musste »gesellschaftlichen Selbstmord begehen«. Er wurde Mönch, rasierte sich den Kopf und zog sich in eine Einsiedelei in den Hügeln von Kurotsuchibaru zurück.

Genau dort suchte ihn zehn Jahre später Tashiro Tsuramoto auf, um ihn um Rat zu bitten. Jochos Frau war bereits gestorben, Kinder hatten sie keine. Jochos Adoptivsohn Tsunetoshi (der ebenfalls Gon’nojo hieß) war im Alter von 38 Jahren in Edo in Ausübung seiner Pflicht gestorben, insofern ist es verständlich, dass Jocho Gefallen an dem jungen Mann fand, der ebenfalls aus Nabeshima stammte. Es entstand eine Beziehung, die von tiefem, geradezu väterlichen, Respekt geprägt war.

Tsuramoto kam 1678 zur Welt und dass er für eine Laufbahn als Gelehrter geeignet war, zeichnete sich bereits in frühen Jahren ab. Im Alter von 19 wurde er als Kopist bei Nabeshima Tsunashige eingestellt und behielt diese Aufgabe unter dem vierten Fürsten des Nabeshima-Clans, Yoshishige, bei. 1709 wurde er seines Amts entbunden, wobei unbekannt ist, was er sich hat zu Schulden kommen lassen. Verzweifelt suchte Tsuramoto im dritten Monat des darauffolgenden Jahrs Jocho in der Einsiedelei in Kurotsuchibaru auf. Dort schrieb er über einen Zeitraum von sieben Jahren hinweg die Geschichten nieder, die ihm erzählt wurden. Die erste Abschrift des Hagakure wurde am zehnten Tag des neunten Monats des Jahres 1716 fertiggestellt.

Das Originalmanuskript des Hagakure ist längst verschollen, aber es existieren wichtige handschriftliche Kopien aus der Tokugawa-Zeit, darunter das Kohaku-bon (ein Transkript, das Kamohara Kohaku angefertigt hat, der fünf Jahre jünger als Tsuramoto war), das Kashima-bon und das Koyama-bon (auch Yamamoto-bon und Gojo-bon genannt). Inklusive nachfolgender Abschriften dieser Abschriften existieren rund 40 Kopien. Jede Version weist kleinere Unterschiede auf und ist unterschiedlich vollständig. Diese Übersetzung basiert auf der Kohaku-Version, die allgemein als dem Original am nächsten kommend gilt.

Die Essenz des Hagakure

Inhaltlich ist das Hagakure komplex, offen widersprüchlich und an einigen Stellen mehrdeutig. Selbst der Ursprung des Namens gibt Anlass zu Mutmaßungen. Eine Theorie zitiert ein Gedicht des berühmten buddhistischen Barden Saigyo Hoshi (1118–1190) aus dem Sankashu: »Hagakure ni chiri-todomareru hana nomi zo, shinobishi hito ni au kokochi suru.« (etwa: »Verborgen unter Blättern erweckt eine übrig gebliebene Blüte in mir den Wunsch, auf diese Weise auf meine heimliche Liebe zu stoßen.«) Eine andere These besagt, »verborgen unter Blättern« beziehungsweise »hinter den Blättern« bezieht sich darauf, dass Tsuramoto an einem sehr zurückgezogenen Ort mit Jocho sprach. Andere Gelehrte verweisen darauf, dass Jocho sich häufig auf unerschütterlich treuen Dienst bezieht, der hinter den Kulissen erfolgt (»Dienst im Schatten«) und keinerlei Anspruch auf Anerkennung erhebt. Es gibt sogar die Theorie, Muneshige, der fünfte Fürst von Nabeshima, habe Tsuramoto besucht und dem Werk höchstpersönlich diesen Titel gegeben.

Am plausibelsten erscheint der Verweis auf Saigyo. Allerdings lehnt der angesehene Hagakure-Fachmann Furukawa Tetsushi diese These ab, denn es gibt eine Passage, in der Jocho seiner Verachtung gegenüber Saigyo freien Lauf lässt: »Kenko und Saigyo waren besser als hasenfüßige Feiglinge. Sie verkleideten sich als Schreiberlinge, denn sie hatten Angst, als Samurai zu dienen.« Und dennoch beendet Jocho diese Vignette mit der Beobachtung: »Ein Mann, der der Welt entsagt hat, um Mönch zu werden, mag sich in derartigen Büchern verlieren, ebenso alte Männer, die aus dem Dienst ausgeschieden sind. Doch um seinem Herrn ein wertvoller Vasall zu sein, muss sich ihm ein Krieger in seinem Streben nach Ruhm voll und ganz hingeben, selbst dann noch, wenn er in die Abgründe der Hölle gestürzt ist.« (2-140) Insofern erscheint es logisch, dass Saigyos Gedicht – insbesondere mit dem folgenden Hinweis auf die »heimliche Liebe« – der wahrscheinlichste Ursprung für den Titel ist. Heimliche Liebe spielt im Hagakure eine ähnlich wichtige Rolle wie Hingabe und Loyalität. »Bei einem Treffen erklärte ich kürzlich, die höchste Form der Hingabe sei die ›heimliche Liebe‹ [= Shinobu-koi].« (2-2)

Geschrieben hat Jocho das Hagakure aus einem Gefühl der Verärgerung heraus, das in ihm wuchs, während er über Jahrzehnte hinweg mitansehen musste, wie die Kriegernormen immer mehr fielen. Hinzu kamen seine Abneigung gegen das Shogunat und ein nostalgisches Sehnen. Jocho wünschte sich den ersten Daimyo von Nabeshima zurück, Nabeshima Naoshige, sowie dessen Sohn und Erben Katsushige (1580–1657).16 Jocho beklagte, dass junge Samurai »über Geld reden, über Gewinne und Verluste, über die finanziellen Probleme ihres Haushalts, über den Geschmack in der Mode. Sie halten unnütze Reden über den Beischlaf«. (1-63) Dass ihre Gedanken um frivole Themen und Konsumverhalten kreisten, stand sinnbildlich für die neuen Generationen von Kriegern, die nie in die Schlacht gezogen waren und denen es deshalb an Disziplin mangelte und an der klaren Ausrichtung früherer Generationen.

Jochos Vortrag ist facettenreich und erscheint zunächst chaotisch, aber der Geist des Hagakure lässt sich am besten durch die vier einfachen Schwüre zusammenfassen, auf die er im Verlauf des Texts wiederholt zurückkehrt:

Ich werde auf dem Weg des Kriegers niemals hinter anderen zurückfallen.Ich werde jederzeit bereit sein, meinem Herrn zu dienen.Ich werde meine Eltern ehren.Ich werde voller Barmherzigkeit zum Wohle anderer dienen.

Auf den ersten Blick scheinen die hier von Jocho propagierten Moralvorstellungen universeller Natur zu sein und nicht besonders belastend. Diesen nach außen hin gelassenen Versprechen liegen mächtige, emotionsgeladene Gefühle zugrunde, die bis in den allertiefsten Kern der Samurai-Kultur reichen, einer Kultur, bei der es um der Ehre und der Loyalität willen explosionsartig zu Augenblicken des Irrsinns kommen kann, die Menschenleben kosten. Von Anfang an predigt Jocho einen pragmatischen Weg und bekräftigt etwas, das sich als Todeskult bezeichnen lässt.

Das berühmteste Zitat aus dem Hagakure ist zweifelsohne: »Der Weg des Kriegers [= Bushido] liegt im Sterben.« Was zunächst nach einer ganz klaren und eindeutigen Aussage klingt, ist tatsächlich völlig offen für Interpretationen. Meinte Jocho damit wirklich, dass Krieger jede sich bietende Gelegenheit froh gestimmt nutzen sollten, das allerhöchste Opfer zu erbringen? »Stehst du vor der Wahl zwischen Leben und Tod, entscheide dich einfach für den Tod. Es ist keine außerordentlich schwere Wahl: Geh einfach deinen Weg und tritt ihm voller Zuversicht entgegen.« (1-2) Dies würde dafür die eben genannte Deutung sprechen. Anders formuliert: Wer den Weg des Bushido einschlägt, sollte sich bemühen, einen unbezwingbaren Kampfgeist zu entwickeln, der frei von Sorgen um Leben und Tod ist.

Auch im Rahmen des Dienstes als Freisass [= Hoko] und den täglichen Pflichten fordert das Bushido Einsatz, Hartnäckigkeit und Hingabe. In diesem Zusammenhang lässt sich das Ideal des Todes so interpretieren, dass man sich selbstlos dem Dienst im Rahmen des Vasallentums unterordnet und sich die entsprechende geistige Haltung dafür aneignet. Wir haben es also nicht nur mit der Aussage im wortwörtlichen Sinn zu tun, wonach der Tod wichtiger als das Leben ist, es wird auch die Nuance »Zu leben, als sei man tot« impliziert, wonach jede einzelne Sekunde im Leben eines Menschen ein kostbarer, unwiederbringlicher Augenblick ist und niemals sinnlos verschwendet werden sollte.

Dafür spricht auch die folgende Passage: »Was die Art und Weise des Todes angeht, gilt: Wer darauf vorbereitet ist, jederzeit in den Tod zu gehen, der nimmt das Ende seines Lebens mit Gleichmut auf. Unglücke werden üblicherweise nicht so gravierend, wie man sie sich im Vorfeld ausmalt, insofern ist es närrisch, Angst vor noch nicht erlittenen Beschwerlichkeiten zu verspüren. Akzeptiere einfach, dass das schlimmste denkbare Schicksal für einen Dienst leistenden Mann darin besteht, ein Ronin zu werden oder Tod durch Seppuku zu erleiden. Dann wird dich nichts beunruhigen.« (1-92) Das bedeutet: Sofern man sich verdeutlicht, dass das Allerschlimmste, was geschehen kann, eine Trennung von der eigenen Existenzberechtigung oder der Tod ist, sollte man imstande sein, ein uneingeschränktes und produktives Leben zu führen, bevor man dem Tod auf würdevolle Weise entgegentritt. Das Hagakure behauptet, das Leben sei ein Satz, der durch den Tod vervollständigt wird. Die beiden seien untrennbar miteinander verknüpft und je vornehmer der Tod, desto besser war das Leben. Und damit nicht genug: Ein würdevoller Tod ist das Ergebnis dessen, dass man sein Leben geführt hat, als sei man bereits tot.

Diese Haltung ist geradezu existenziell und Jocho plädiert dafür, angesichts einer bedeutungslosen oder absurden Welt nicht in Verwirrung zu geraten: »Sind Männer nicht wie von Meisterhand kontrollierte Marionetten? Es ist hervorragende Handwerkskunst, die es uns erlaubt, zu gehen, zu springen, zu stolzieren und zu sprechen – und das alles auch ohne Fäden. Möglicherweise sind wir Gäste auf den Bon-Festspielen im kommenden Jahr. Wir vergessen, in welch vergänglicher Welt wir leben.« (2-45) Aus diesem Grund gibt es nur einen einzigen Weg, das Selbst zu befreien und dieser flüchtigen Existenz eine Bedeutung zu verleihen: Man muss mit unerbittlicher Entschlossenheit [= Ichinen] daran arbeiten, ein heldenhafter Krieger zu werden, ein durch und durch zuverlässiger erstklassiger Samurai, ein Kusemono.

Trotzdem durchziehen widersprüchliche Botschaften über Tod und Dienen das Hagakure und sorgen für Verwirrung. Die Tokugawa-Zeit war für Japan eine vergleichsweise stabile Zeit und die Krieger hatten, wenn überhaupt, nur selten auf dem Schlachtfeld den Geruch des Todes in der Nase. Dennoch herrschte im Alltag stets eine von der Ehre befeuerte unterschwellige Spannung, die sich jederzeit mit tödlichen Gewaltausbrüchen Bahn brechen konnte. Das Hagakure ist gespickt mit Erzählungen von Kämpfen, Geschichten, die zumeist das Handeln von Kriegern loben, die ohne zu zögern kurzen Prozess mit ihrem Feind machen, obwohl ihnen als Bestrafung für ihren Gesetzesübertritt der Seppuku oder, schlimmer noch, die Schande einer Hinrichtung droht.

In Buch 10 beispielsweise wird ein Vorfall in Kyoto geschildert, bei dem ein Samurai von einem Passanten hört, dass einer seiner Mitstreiter in eine Rauferei verwickelt ist. Er stürzt zum Ort des Geschehens, um dort festzustellen, dass sein Mitstreiter kurz davor steht, erledigt zu werden. Also wirft er sich in selbstmörderischer Absicht ins Getümmel und tötet die beiden Angreifer. Er wird verhaftet und in Kyoto vor Gericht gestellt. »Man sagte mir: ›Dein Kamerad ist in einen Kampf verwickelt‹ und ich dachte, dass ich dem militärischen Weg Schande bereiten würde, sollte ich die Situation ignorieren. Deshalb eilte ich zum Ort des Geschehens. Mehr noch: Es wäre unverzeihlich gewesen, hätte ich, nachdem ich die Ermordung eines Clanbruders mitangesehen hatte, gar nichts unternommen. Ich hätte die Dauer meines Lebens verlängert, aber der Geist des Bushido in mir wäre erloschen. Deshalb zerstörte ich mein eigenes kostbares Leben, um den Weg des Samurai zu bewahren. Indem ich mein Leben verwirkte, habe ich das Gesetz der Samurai geachtet und den Kriegergeist gewahrt. Ich habe mein Leben bereits hingegeben, insofern bitte ich voller Bescheidenheit darum, dass meine Bestrafung mir rasch zuteilwerde möge.« (10-63) Nach dieser Aussage ließ das Gericht ihn frei und informierte den Herrn des Kriegers: »Dein Gefolgsmann ist ein lobenswerter Mann und sollte geschätzt werden.«

Andererseits gibt es im Hagakure aber auch eine Geschichte, in der es heißt, der empfohlene Weg für einen Samurai sei es, eine friedliche Lösung anzustreben. In der Erzählung treffen zwei Krieger auf einer einspurigen Brücke aufeinander. Beide weigern sich, dem anderen Platz zu machen, und drohen damit, das Schwert eine Lösung finden zu lassen. Dann tritt ein bescheidener Verkäufer von Rettichen zwischen die beiden. Er packt jeden von ihnen mit der Stange, die er über seine Schultern trägt, hebt sie in die Höhe und dreht sie einmal so, dass sie am entgegengelegenen Ende der Brücke zu stehen kommen. Die Schlussfolgerung: »Andere darin anzuleiten, bessere Gefolgsleute zu werden, ist ein Akt der Loyalität. Jene, die den Willen zu lernen an den Tag legen, sollten also Instruktionen erhalten. Nichts bereitet mehr Freude, als Wissen weiterzugeben und durch den Dienst anderer indirekt von Nutzen zu sein.« (2-124)

In einigen Passagen heißt es, der Krieger solle, wenn er seinem Fürsten Ratschläge gibt, reserviert und diskret auftreten. »Werden Ermahnungen und Meinungen nicht sorgfältig in einem Geist der Übereinstimmung kommuniziert, werden sie nichts bewirken. An unsensibel vorgetragenen Protesten wird der Herrscher Anstoß nehmen und selbst einfache Probleme werden sich nicht aus der Welt schaffen lassen.« (1-152) Gleichzeitig ermutigt Jocho die Samurai, beim Streben nach Ehre und Ruhm aktiv nach Anerkennung zu suchen: »Legt ein Samurai keinen großen Wert auf seinen Ruf, ist er häufig ein Abweichler, arrogant und zu nichts zu gebrauchen. Er ist weniger wert als ein Samurai, den es nach Ruhm gelüstet, insofern ist er also völlig unbrauchbar.« (1-154) Oder: »Was militärische Angelegenheiten angeht, so übe mit aller dir zur Verfügung stehenden Kraft, damit niemals andere an dir vorbeiziehen. Denke im Stillen: ›Mein Heldenmut ist unübertroffen.‹« (1-161)

Krieger werden zudem ermutigt, andere zu unterstützen, damit es dem Clan als Ganzem von Nutzen sei. So heißt es: »Es ist ein Akt der Loyalität, andere darin zu unterweisen, bessere Gefolgsleute zu werden. Insofern sollten jene, die den Willen zu lernen äußern, unterwiesen werden. Nichts ist freudiger, als Wissen weiterzugeben und auf diese Weise durch andere im Dienste nützlich zu sein.« (1-124) Anderseits wird in einem anderen Abschnitt geschildert, wie sich Jocho über seine Befehle hinwegsetzt, um an der Seite seines Fürsten in die Schlacht ziehen zu können: »Ich kann dieser Anordnung nicht Folge leisten, wenn sie dafür sorgt, dass ich meinem Fürsten in der Schlacht nicht nahe bin. Seid mein Zeuge, während ich gegenüber dem Kriegsgott [= Yumiya Hachiman] einen Eid ablege, dass es mir unmöglich ist, diesem Befehl mein Siegel der Zustimmung zu geben. […] Hältst du mich für unverschämt und beschließt, mich von meinem Posten zu entfernen, dann sei es so. Sollte beschlossen werden, dass ich Seppuku begehen sollte, dann werde ich dem bereitwillig nachkommen.«

Er schließt mit einem Kommentar, in dem er Krieger drängt, ihre Mitstreiter zu übertreffen und siegreich aus der Rivalität hervorzugehen, die das Kriegerleben charakterisierte: »Ein junger Krieger sollte starrsinnig sein.« (1-106) Und weiter heißt es: »Ein Samurai sollte starrsinnig im Übermaß sein. Alles, was du gemäßigt tust, wird deine Ziele nicht erreichen. Hast du das Gefühl, du würdest mehr als erforderlich tun, dann ist es gerade recht.« (1-188)

Jocho rät aber auch zu Umsicht: »Am besten gehst du vor, indem du einen Schritt zurück machst, die Tiefen und Untiefen unterschiedlicher Angelegenheiten auslotest und vermeidest, bei deinem Herrn Gefühle der Entrüstung heraufzubeschwören.« ­(2-8) Andererseits rät er von Vernünftigkeit ab: »Ein Mann, der berechnend vorgeht, ist ein Feigling. Er wägt alles unter dem Gesichtspunkt von Gewinn und Verlust ab und sein Geist verlässt diese Spur niemals. Für ihn ist der Tod ein Verlust und das Leben ein Gewinn.« (1-111) Häufig spricht er sich für rasches Handeln aus, völlig ungeachtet der Ergebnisse. »Zur Vergeltung gehört es, sich frenetisch auf seinen Widersacher zu stürzen, auch auf die Gefahr hin, niedergestreckt zu werden. Auf diese Weise getötet zu werden, birgt keinerlei Schande. Denkst du erst da­rüber nach, wie du gewinnen könntest, verpasst du möglicherweise die beste Gelegenheit zu handeln.« (1-55) Dieses Handeln wird durch ­einige weitere Schlüsselbegriffe im Hagakure unterstrichen – »Kichigai« und »Shini-Gurui«, die »Todesraserei«. »In jedem Fall solltest du dich dem Wahnsinn überlassen und dich voll und ganz für die Aufgabe aufopfern. Mehr wird nicht verlangt. Wenn du versuchst, mit geschicktem Manövrieren Pro­bleme zu lösen, werden sich Zweifel festsetzen und deinen Verstand lähmen. Du wirst kläglich scheitern.« (1-193)

Als ob all diese Widersprüchlichkeiten nicht bereits verwirrend genug wären, wird die Komplexität, die in der in diesem Buch dargestellten zwischenmenschlichen Dynamik herrscht, noch vergrößert zwischen der »heimlichen«, loyalen Liebe und Shudo, dem erotischen Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler.17 »Zentraler Punkt des Shudo ist es, sich darauf vorzubereiten, zum Wohle deines Geliebten dein Leben zu verwirken. Ansonsten läufst du Gefahr, erniedrigt zu werden. Andererseits bedeutet dies, dass du nicht imstande wärst, dein Leben im Dienste deines Herrn zu lassen. Durch diesen Widerspruch wurde mir deutlich, dass du beim Shudo deinen Partner lieben solltest, ihn aber zur selben Zeit auch nicht lieben solltest.« (1-181) Shudo wird als reinste Form der ehrfurchtsvollen Bindung zwischen zwei Männern dargestellt. Sie basiert auf unauslöschlichem Vertrauen und darauf, dass man die inneren Qualitäten des jeweils anderen wertschätzt.

Das sind nur einige wenige Beispiele für den Facettenreichtum des Inhalts und die sich wiedersprechenden Ratschläge, die ein Maß an Verworrenheit auslösen, das viel Raum für Interpretation lässt. Genau aus diesem Grund kann man zu der Einschätzung gelangen, man habe es beim Hagakure nur mit dem verrückten Grummeln eines verbitterten alten Mannes zu tun, verfügt man nicht über zumindest ein Grundwissen, was die Komplexitäten im Ehrensystem der Tokugawa-Krieger und die Ethno-Mentalität der Samurai anbelangt und sich – bis zu einem gewissen Grad – mit Saga und seinen Persönlichkeiten auskennt. Natürlich enthält der Text auch einiges an Grummeln eines verbitterten alten Mannes und wie jeder Mensch hatte gewiss auch Yamamoto Jocho gute und schlechte Tage, als er laut vor Tsuramoto über die Vergangenheit nachdachte. Einige Passagen des Hagakure wurden gewiss mit einem Grinsen erzählt und wenn man danach sucht, findet man auch gewisse humorige Elemente.

Viele der scheinbaren Widersprüchlichkeiten im Hagakure lassen sich dadurch auflösen, dass man sich vor Augen hält, an welche Samurai-Ränge eine bestimmte Lektion gerichtet ist. Ein beliebter Fehler besteht darin, alle Samurai über einen Kamm zu scheren, aber in ihrer Welt gab es zahllose Rangstufen und der Verantwortungsbereich und die Erwartungen veränderten sich von Stufe zu Stufe teilweise deutlich. Insofern variierten die Ansprüche, was das Benehmen und das Ausmaß der Loyalität anbelangte. Olivier Ansart beispielsweise unterscheidet grob zwischen zwei Arten von Loyalität – die mittleren und unteren Ränge der Samurai personifizierten für ihn »symbolischen Dienst«, wohingegen von ranghohen Kriegern die »Loyalität des Beraters« erwartet werde.18

Die mittleren und unteren Samurai-Ränge wurden ermutigt, bedingungslos zu dienen und blind zu gehorchen. Sie sollten darauf eingestellt sein, mit reinsten Absichten in »Todesraserei« zu verfallen und voller Begeisterung ihr Leben zu opfern. Die untersten Samurai-Ränge hatten keinerlei Einfluss darauf, wie der Herrschaftsbereich verwaltet wurde oder was der Herrscher dachte. Realistisch konnten sie ihrem Herrn nur auf eine einzige Weise Ehre bezeugen – indem sie ihre Fähigkeiten als Krieger und ihren martialischen Geist für gewalttätige oder selbstaufopfernde Handlungen nutzten. Dazu gehörten auch wilde Kämpfe auf Leben und Tod, die sich darauf auswirkten, ob ihr Fürst als jemand angesehen werden würde, der in seinem Herrschaftsbereich über tapfere und entschlossene Krieger verfügte. Im Grunde waren die Samurai wie entbehrliche Bauern beim Schachspiel. Ihre einzige Hoffnung, gesellschaftlich voranzukommen, bestand darin, sich bereits in jungen Jahren selbstlos in den Dienst ihres Herrn zu stellen. Gelang es einem jungen Samurai, durch kühne Taten oder herausragende Eigenschaften das Inte­resse seines Fürsten zu wecken, konnte er darauf hoffen, im Rang aufzusteigen. Das allerdings war eher die absolute Ausnahme als die Norm. Die »Loyalität des Beraters« wiederum war den ranghohen Samurai vorbehalten. Es war allerdings einiges vonnöten, damit sie ihre wichtige Aufgabe erfüllen und dem Fürsten beratend zur Seite stehen und ihn bei Verfehlungen zum eigenen Wohl und dem seines Reichs zur Ordnung rufen konnten: Diese Samurai mussten diplomatisch sein, selbstlose Entschlossenheit an den Tag legen, weise sein und umsichtig. Ehre bestand darin, vernünftig und vor allem diskret Ratschläge zu geben. Auch dies war ein gefährliches Leben, konnte es doch bedeuten, dass man sein eigenes Leben opfern musste, um die Schuld für die Torheit seines Herrn zu übernehmen oder um zu sühnen, dass man ihn verärgert hatte. Egal, ob es sich um virtuelle Loyalität handelte oder um Loyalität in Form von Ratschlägen – wichtig war es, einen fokussierten, reinen Willen und ebensolche Absichten an den Tag zu legen. Im Hagakure ist in diesem Zusammenhang von Ichinen die Rede:

»Wichtig ist es nur, im Hier und Jetzt über unerbittliche Entschlossenheit [= Ichinen] zu verfügen. Das Leben ist eine ständige Aneinanderreihung von ›ein Wille zur Zeit‹ in jedem einzelnen Augenblick. Begreift ein Mann diese Wahrheit, muss er sich nicht länger beeilen, andere Dinge zu tun oder danach zu suchen. Lebe einfach mit unerbittlicher Entschlossenheit in der Gegenwart. Die Menschen vergessen diese wichtige Wahrheit und suchen wieder und wieder nach anderen zu erreichenden Dingen.« (2-17)

Kann ein Krieger dieses Maß an Entschlossenheit und eine derartige Reinheit seiner Gedanken an den Tag legen, preist man ihn als Kusemono. Im modernen Sprachgebrauch hat Kusemono in Japan einen negativen Beigeschmack und spricht für einen Exzen­triker oder eine abnormale Person – einen absoluten Spinner. Der Kusemono aus dem Hagakure