Haie in Zeiten von Erlösern - Kawai Strong Washburn - E-Book
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Haie in Zeiten von Erlösern E-Book

Kawai Strong Washburn

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Beschreibung

Ein starker, außergewöhnlicher Roman, der die Legenden über die Götter von Hawaii mit einer aufrüttelnden Familiengeschichte verbindet.

Nainoa ist sieben Jahre alt, als er von einem Ausflugsboot in den Pazifik fällt und bald von mehreren Haien umkreist wird. Alle befürchten das Schlimmste, doch der größte Hai trägt ihn sanft im offenen Maul zu seiner Mutter zurück – eine Legende ist geboren. Nainoas Familie gehört nicht zu den Reichen auf Hawaii, und als die Zuckerrohrindustrie zusammenbricht, haben sie mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Was sie als Gunstbeweis der alten hawaiianischen Götter gedeutet haben, weicht mit der Zeit der harschen Realität, alle drei Kinder gehen aufs amerikanische Festland, um ihren Weg zu machen, aber die Sehnsucht nach ihrer Heimat und auch die magischen Kräfte, die sie dorthin zurückziehen, sind stärker …

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Seitenzahl: 503

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Zum Buch:

Ein außergewöhnlicher Roman, der die Legenden über die Götter von Hawaii mit einer aufrüttelnden Familiengeschichte verbindet: Nainoa ist sieben Jahre alt, als er von einem Ausflugsboot in den Pazifik fällt und bald von mehreren Haien umkreist wird. Alle befürchten das Schlimmste, doch der größte Hai trägt ihn sanft im offenen Maul zu seiner Mutter zurück – eine Legende ist geboren. Nainoas Familie gehört nicht zu den Reichen auf Hawaii, und als die Zuckerrohrindustrie zusammenbricht, haben sie mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Was sie als Gunstbeweis der alten hawaiianischen Götter gedeutet haben, weicht mit der Zeit der harschen Realität, alle drei Kinder gehen aufs amerikanische Festland, um ihren Weg zu machen, aber die Sehnsucht nach ihrer Heimat und auch die magischen Kräfte, die sie dorthin zurückziehen, sind stärker …

»Dieser leidenschaftliche Schriftsteller gibt alles dafür, dass wir Hawaii als Ganzes sehen: seine stolzen Ahnen und Götter und Geister, aber auch die in Auflösung begriffenen Familien und Hoffnungslosigkeit und Armut. Und Rätsel und Schönheit an jeder Ecke.« The New York Times Book Review

Zum Autor:

Kawai Strong Washburn ist an der Hāmākua-Küste von Big Island, Hawaii geboren und aufgewachsen. Er studierte Volkswirtschaft an der Columbia University in New York City, bevor er zur Literatur wechselte und Schriftsteller wurde. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen Töchtern in Minneapolis. Haie in Zeiten von Erlösern ist sein erster Roman, für den er u. a. mit dem PEN/Hemingway Award ausgezeichnet wurde.

Zur Übersetzerin:

Cornelia Holfelder-von der Tann, geb. 1950, Studium der Germanistik, Romanistik und Anglistik, wurde mit diversen Stipendien ausgezeichnet und ist die Übersetzerin von u. a. William Gibson, Maria Semple, Kathryn Stockett und Tad Williams.

Kawai Strong Washburn

Haie in Zeiten von Erlösern

Roman

Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

Luchterhand

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Sharks in the Time of Saviors bei Farrar, Straus and Giroux, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2020 Kawai Strong Washburn

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign · München nach einem Entwurf von Rodrigo Corral

Covermotiv: © Matt Buck

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24724-9V002www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Für Granny, die mich 80 Meilen hin und her gefahren hat, um das nächste Buch der Serie zu beschaffen.

ERSTER TEIL RETTUNG

1 MALIA, 1995

Honoka‘a

Wenn ich die Augen schließe, sind wir alle noch am Leben, und es wird offenbar, was die Götter von uns wollen. Die Mythen, die die Leute über uns erzählen, mögen ja mit jenem türkisblauen Tag vor Kona und mit den Haien anfangen, aber ich weiß es besser. Unser Anfang war viel früher. Dein Anfang war viel früher. Das Königreich Hawai‘i war schon lange zerstört – der atmende Regenwald und die singenden grünen Riffe zermalmt vom Haole-Kommerz der Beach-Resorts und Wolkenkratzer –, und so lange schon rief das Land. Das weiß ich jetzt durch dich. Und dass die Götter nach Veränderung hungerten und dass du diese Veränderung warst. In unseren ersten Tagen habe ich so viele Zeichen gesehen, aber ich habe nicht geglaubt. Das erste Zeichen kam, als dein Vater und ich nackt auf seinem Pick-up waren, im Waipi‘o Valley, und die Nachtmarschierer sahen.

Wir waren an einem Freitag ins Waipi‘o Valley gefahren, pauhana. Auntie Kaiki hütete zu Hause deinen Bruder, und dein Vater und ich wussten, dass wir diesen kinderfreien Abend nutzen würden, um uns um den Verstand zu vögeln, waren schon ganz kribblig, wenn wir nur dran dachten. Ist ja auch klar, oder? Unsere Haut dunkel von der Sonne und dein Vater damals noch mit seinem Footballspieler-Body, ich mit meinem vom Basketball, und die Liebe war für uns das Tollste überhaupt. Und da war das Waipi‘o Valley: eine wilde grüne Schlucht, zerteilt von einem silbrig braunen, spiegelglatten Fluss, dann ein breiter schwarzer Sandstrand, der in den schäumenden Pazifik führt.

Langsam runter auf den Talgrund im klapprigen Toyota Pick-up deines Vaters, Haarnadelkurve um Haarnadelkurve, rechts ein fast senkrechter Absturz, unter den Reifen geflickter Teer, die Straße so steil, dass sich die Kabine des Wagens mit dem Geruch des überhitzten Motors füllte.

Dann auf dem Talgrund ein holpriger Fahrweg aus Sand und taillentiefen Schlammpfützen, und wir waren am Strand und parkten direkt an den gesprenkelten schwarzen Steineiern, die den Sand säumten; dein Vater brachte mich zum Lachen, bis meine Wangen brannten und die letzten Schatten der Bäume lang in Richtung Horizont fielen. Der Ozean donnerte und knisterte. Wir rollten unsere Schlafsäcke auf der Ladefläche des Pick-ups aus, auf der nach Kies riechenden Schaumstoffmatte, die dein Vater extra für mich hingelegt hatte, und sobald die letzten Teenager gegangen waren und ihre wummernden Reggae-Bässe im Wald verklangen, zogen wir uns aus und machten dich.

Ich glaube nicht, dass du meine Erinnerungen hören kannst, nein, also ist das, was ich jetzt sage, nicht zu pilau, und ich erinnere mich einfach gern. Dein Vater packte eine Handvoll von meinem Haar, dem Haar, das er liebte, schwarz und hawaii-wellig, und mein Körper begann sich rhythmisch an sein Becken zu drängen, und wir stöhnten und keuchten, pressten unsere stumpfen Nasen aneinander, und ich schob uns auseinander und setzte mich rittlings auf ihn und machte weiter, und unsere Haut war so heiß, dass ich sie am liebsten aufbewahren wollte, für all die Momente, in denen ich je wieder frieren würde, und seine Finger streichelten meinen Hals und seine Zunge meine braunen Brustwarzen, die Zärtlichkeit war ein Teil von ihm, den niemand je sah, und unser Sex machte seine Geräusche, und wir lachten ein bisschen und machten die Augen zu und wieder auf und wieder zu, und das letzte Tageslicht verschwand, während wir immer weitermachten.

Wir lagen auf unseren Schlafsäcken, und in der kühlen Luft fühlte sich unsere feuchte Haut ganz frisch an, und plötzlich wurde das Gesicht deines Vaters ernst, und er rollte sich von mir weg.

»Siehst du das?«, fragte er.

Ich wusste nicht, was er sah – ich war immer noch dabei, aus einer Art Nebel aufzutauchen, rieb immer noch meine Schenkel aneinander wegen des Kribbelns dort, dem letzten Rest des Ansturms unserer Liebe –, aber dein Vater setzte sich jäh auf. Ich ging auf die Knie, immer noch trunken vom Sex. Meine Brüste schwangen gegen seinen linken Bizeps, und mein Haar fiel über seine linke Schulter, und obwohl ich erschrocken war, war mir immer noch nach Sex, und ich hätte ihn am liebsten wieder in mich hineingezogen, auf der Stelle, Gefahr hin oder her.

»Da«, flüsterte er.

»Ach, komm«, sagte ich. »Hör auf mit dem Quatsch, Lolo.«

»Da«, sagte er wieder. Und ich schaute hin, und was ich sah, machte mich schlagartig nüchtern.

Oben auf dem entfernteren Kliff war eine lange Reihe zitternder Lichter erschienen, langsam auf und ab wippend bewegten sie sich den Kamm entlang. Grün und weiß, flackernd, es mussten fünfzig Stück sein, und dann erkannten wir, was diese Lichter waren: Flammen. Fackeln. Wir hatten von den Nachtmarschierern gehört, waren aber immer davon ausgegangen, dass sie nur ein Mythos waren, Teil eines Hymnus auf das verlorene Hawai‘i, diese Geister der längst verstorbenen ali‘i. Aber da waren sie. Marschierten langsam das Kliff entlang zum hinteren Ende des Tals, was auch immer dort in der Feuchte und Dunkelheit auf untote Könige warten mochte. Die Kette der Fackeln arbeitete sich langsam voran, blinkte zwischen den Bäumen auf, mal tiefer, mal höher, und dann plötzlich erloschen die Flammen allesamt.

Ein lautes Ächzen hallte durchs Tal, überall um uns herum, das Geräusch, das in meiner Vorstellung ein sterbender Wal machte.

Was auch immer dein Vater und ich hätten sagen wollen, blieb uns in der Kehle stecken. Wir sprangen von der Ladefläche und zogen uns hastig an, die Zehen voller kratzigem, schwarzem Sand, hüpfend und keuchend, und nichts wie ins Auto, Motor anlassen, und dein Vater ließ den Motor aufheulen, als wir durchs Tal zurückrasten und die Scheinwerfer über Steinbrocken und Schlammpfützen und leuchtend grüne Blätter huschten, und die ganze Zeit wussten wir, dass diese Geister in der Luft hinter uns waren, um uns herum, und wenn wir sie auch nicht sahen, fühlten wir sie doch. Der Pick-up sprang über die ausgefahrene, marode Teerstraße, mal Bäume und Himmel in der Windschutzscheibe, dann wieder der Boden, rauf und runter, alles schwarz und blau, bis auf das, was unsere Scheinwerfer erfassten, und dein Vater jagte den Wagen zwischen den lauernden Bäumen hindurch und die vielen Kehren zum Ausgang hinauf. Wir entfernten uns so schnell vom Talgrund, dass unten nichts mehr zu sehen war als die paar Lichter von Häusern weiter hinten im Tal, die Silhouetten der Taro-Wasserfelder, weiß jetzt mitten in der Nacht.

Erst am Aussichtspunkt hielten wir an. Die Kabine war voll von Panik und gequältem Metall.

Dein Vater atmete tief durch und sagte: »Großer Gott.«

Es war das erste Mal seit langem, dass er etwas sagte, was mit Religion zu tun hatte. Und da waren keine Fackeln mehr, keine Nachtmarschierer. Wir hörten unser Blut in unseren Ohren pochen, und es sagte wir leben, wir leben, wir leben.

Nur eins von diesen Dingen, sagten wir uns, dein Vater und ich, bald danach und viele Jahre lang. Schließlich hatten so viele Leute in Hawaii ähnliche Sachen gesehen; wenn es bei einem Strand-Barbecue oder auf einer lanai-Party so richtig kanikapila-mäßig zuging, hörte man oft solche Storys.

Die Nachtmarschierer – du warst in jener Nacht gezeugt worden, und deine ganzen ersten Jahre hindurch passierten noch seltsamere Sachen. Wie sich Tiere in deiner Gegenwart veränderten. Plötzlich ganz ruhig, stupsten sie dich mit der Nase und umringten dich, als wärst du eins von ihnen, egal, ob es Hühner, Ziegen oder Pferde waren. Es passierte prompt und unweigerlich. Dann gab es die Momente, in denen wir dich in unserem Garten beim Essen von Dreck, Blättern oder Blumen erwischten: eine Handvoll nach der anderen, zwanghaft. Weit mehr als die blinde Neugier anderer keikis in deinem Alter. Und manche Pflanzen – die Orchideen in den Hängetöpfen zum Beispiel – erblühten fast über Nacht in den unglaublichsten Farben.

Nur eins von diesen Dingen, sagten wir uns immer noch.

Aber inzwischen weiß ich es.

Erinnerst du dich noch an Honoka‘a 1994? Es war gar nicht so anders als heute. Die Māmane Street, auf beiden Seiten niedrige Holzhäuser aus den Anfangstagen des Zuckerrohrs, die Eingangstüren neu gestrichen, aber drinnen noch alles beim Alten. Die verwitterten Autowerkstätten, die Apotheke mit immer denselben Sonderangeboten im Fenster, das Lebensmittelgeschäft. Unser gemietetes Haus am Ortsrand mit seinen Schichten von abblätternder Farbe und seinen vollgestopften kahlen Räumen, die Dusche hinten an die Garage geklatscht. Das Zimmer, das du mit Dean geteilt hast und wo es anfing mit deinen Alpträumen, in denen es irgendwie um Zuckerrohr und Tod ging.

Diese Nächte. Du kamst leise an unser Bett, noch in den Laken verheddert, schwankend, die Haare total verklebt, dein Atem schniefend.

Mama, sagtest du dann, es ist wieder passiert.

Ich fragte dich, was du gesehen hattest, und aus dir heraus kam ein Schwall von Bildern – schwarze Felder, rissig und leer, Zuckerrohrhalme, die nicht aus der Erde wuchsen, sondern mir oder deinem Vater oder deinem Bruder oder uns allen aus der Brust, den Armen, den Augen, dann ein Geräusch wie in einem Wespennest – und während du sprachst, waren deine Augen nicht deine, dahinter warst nicht du. Du warst erst sieben, und die Sachen, die da aus dir herausströmten! Aber nach einer Minute warst du dann wieder da.

Das sind nur Träume, erklärte ich dir, und dann fragtest du, was ich meinte. Ich versuchte zu wiederholen, was ich von deinem Alptraum verstanden hatte – das Zuckerrohr, unsere Familie, die geerntet wurde, das Wespennest –, aber du wusstest nicht mehr, was du mir gerade erzählt hattest. Es war, als ob du gerade aufgewacht wärst und dich wundertest, warum du vor mir stehst und ich dir eine Geschichte von jemand anderem erzähle. Die Alpträume kamen alle paar Monate, dann alle paar Wochen, dann jede Nacht.

Die Zuckerrohrplantage gab es schon länger als uns, unsere ganze Seite der Insel war voller Zuckerrohrfelder, von mauka bis makai. Ich bin sicher, die Leute hatten immer schon von der letzten Ernte geredet, aber nicht geglaubt, dass sie je kommen würde. »In Hāmākua gibt’s immer Arbeit«, sagte dein Vater und tat die Gerüchte mit einer Handbewegung ab. Aber dann, an jenem Septembernachmittag 1994, so bald schon, nachdem deine Alpträume ihren nächtlichen Rhythmus erreicht hatten, schallte das Hupen der Zuckerrohrlastwagen die Māmane Street entlang, und dein Vater war einer der Fahrer.

Wenn ich von oben auf unseren Ort hätte herabschauen können, würde ich es so beschreiben: Es kamen die Zugmaschinen, viele mit den vergitterten Anhängern, die jetzt leer waren wie Tiergerippe; schwankend fuhren sie vorbei an den Kirchen, den leerstehenden Läden, wo mal massenhaft billiges Importplastikzeug verscherbelt worden war, an der Highschool gegenüber der Grundschule, am Football-Baseball-Fußballfeld. Als die Trucks tutend vorbeifuhren, kamen die Leute aus der Bank und dem Lebensmittelgeschäft und versammelten sich auf den Bürgersteigen oder am Straßenrand. Selbst die, die nicht rauskamen, mussten es gehört haben: das klagende Hupen der Laster, das Jaulen der Druckluftbremsen, den Trauergesang einer Industriebeerdigung. Es war der Sound einer kommenden Leere. Weil sie nie wieder auf den Feldern sein würden, waren die Trucks spiegelblank poliert, keine Spur Arbeitsdreck, und all den portugiesisch-japanisch-chinesisch-hawaiianischen Familien, die die Straßen säumten, zeigte das Chrom ein waberndes Bild ihrer dunkelbraunen Gesichter und der neuen Wahrheit, die sich dort abzeichnete.

Wir waren unter den Zuschauern, ich, Dean, Kaui und du. Dean stand still und steif da wie ein kleiner Soldat. Er hatte mit neun schon so große Hände, und ich erinnere mich an seine trockene Hand um meine. Kaui presste sich zwischen meine Beine, das leichte Kitzeln ihres Haars an meinen Oberschenkeln, Finger, die von hinten dagegendrückten. Du warst an meiner anderen Hand, und im Unterschied zu Dean mit seinem steif gehaltenen Nacken und der Verwirrung und Angst, die in seinen Fingern pochten, im Unterschied zu Kaui mit ihrem verhaltenen Vierjährigen-Gedrängel, schienst du vollkommen im Frieden mit allem.

Jetzt erst kann ich erahnen, wovon du geträumt hast – wessen Tod es war, unserer oder der des Zuckerrohrs. Letztlich war es ja auch egal. Du hattest das Ende kommen sehen, vor uns allen. Das war das zweite Zeichen. Da war eine Stimme in dir, eine Stimme, die nicht deine war, du warst nur die Kehle. Sie versuchte, dir zu sagen – uns zu sagen –, was sie wusste, aber wir hörten ihr nicht zu, noch nicht.

Nur eins von diesen Dingen, sagten wir.

Die Zuckerrohrlaster bogen kurz vor dem Lebensmittelgeschäft ab, fuhren den steilen Hügel hoch, aus dem Ort hinaus, und kamen nie mehr zurück.

Ein paar Monate nachdem die Plantage dichtgemacht hatte, waren wir ziemlich am Ende. Alle suchten Arbeit, dein Vater auch. Er fuhr stundenlang über die Insel, auf der Jagd nach einem Job, der wie ein obake war: eben noch da und schon wieder weg. Sonntagmorgens, im orangefarbenen Licht, das unsere alten Holzböden zurückwarfen, stand er an der Arbeitsplatte in der Küche, die Hände um seinen Lieblingsbecher mit dampfendem Kona-Kaffee, und fuhr mit den Fingern über die Jobangebote in der Zeitung, und seine Lippen bewegten sich wie bei einem Beschwörungsgesang. Wenn er etwas fand, schnitt er es langsam aus, fasste es mit den Fingerspitzen und steckte es in einen braunen Briefumschlag, den er neben dem Telefon liegen hatte. Wenn er nichts fand, war das Geräusch der Zeitung, die er zerknüllte, wie von einem auffliegenden Vogelschwarm.

Aber das hielt ihn nicht davon ab zu lächeln, nichts konnte ihn davon abhalten. So war er schon gewesen, als alles seinen geregelten Gang ging, sogar in euren hanabata-Tagen, als ihr rotzverkrustete Oberlippen hattet und gerade laufen lerntet und er euch in die Luft warf, dass euer Haar flog und eure Augen vor Vergnügen kleine Schlitze wurden und ihr in helles Kreischen ausbracht. Er warf euch so hoch, wie er konnte – bis an die Wolken, sagte er –, und wenn ihr wieder runterkamt, blieb mir das Herz stehen. Hör auf damit, sagte ich dann, vor allem, wenn er es mit Kaui machte.

Ich lass sie schon nicht fallen, sagte er. Außerdem können wir ja ein neues machen, wenn eins sich den Hals bricht oder was.

Manchmal blieb er auch morgens länger im Bett – er war die meiste Zeit ein Frühaufsteher gewesen und blieb es auch, als die Zuckerrohr-Trucks weg waren – und robbte an mich heran und kicherte durch seinen dünnen Schnurrbart, und dann versuchte ich, unter der Decke rauszukommen, bevor er einen fahren ließ und mich in der Deckenhöhle einsperrte, mit sich und mit dem käsig-bohnigen Gestank von dem, was gerade in seinem Darm gärte.

Schmeckt fast besser, wenn’s rauskommt, als wenn’s reingeht, oder?, sagte er dann und kicherte weiter, als ob wir wieder auf der Highschool wären und in der fünften Stunde nur noch Quatsch machten. Ich weiß noch, wie er einmal seine Furz-unter-der-Decke-Nummer machte und mir diese Frage stellte und ich sagte, weiß nicht, mal probieren, und den Zeigefinger unter seine Boxershorts schob und genau in sein Arschloch, und wie er quiekte und wegzuckte und sagte, he, das geht zu weit, das geht zu weit, und ich lachte und lachte und lachte. Irgendwie war da was an deinem Vater und mir, an uns, an der Art, wie wir uns gegenseitig pushten, was gut zu den ruhigen Zeiten passte. Wie wir uns im Badspiegel gegenseitig beim Zähneputzen beobachteten oder mit dem einen Auto, das wir hatten, jonglierten (den klapprigen Pick-up hatten wir kurz nach deiner Geburt gegen einen klapprigen SUV eingetauscht), um euch alle zum Wissenschaftsprojekttag, zum Basketballtraining, zur Hula-Vorführung zu bringen.

Aber wenn wir unser Geld in eine Tasse getan hätten, wäre die Tasse halb leer gewesen. Dein Vater hatte Glück und fand einen Teilzeitjob in einem der Hotels, das, was alle wollten, aber er konnte nicht auf Vollzeit aufstocken und auch nicht im Restaurant arbeiten, wo es gutes Trinkgeld gab, sondern nur beim Zimmerpersonal, und wenn er heimkam, erzählte er mir von den kaum angerührten Tellern mit Ahi auf den Balkonen, wo Scharen von Mainas daran herumpickten, und von den Kleiderbergen auf den Hotelzimmerböden. Diese Haoles hatten zwei Garnituren Kleidung für jeden Urlaubstag, sagte er. Zwei für jeden Tag.

Und gefühlt war der Hoteljob, kaum dass er aufgetaucht war, auch schon wieder weg. Saisonale Umstrukturierung. Und meine Stunden im Macadamia-Lager wurden gekürzt. Unsere Mahlzeiten wurden schlichter, Ernährungspyramide hin oder her. Dein Vater tat, was er konnte, hier ein Haus streichen helfen, da ein bisschen Gärtnerarbeit, einige Tage gebückt auf der Farm von einem Freund. Ich ergatterte ein paar Spätschichten im Wipeouts Grill. Wir kamen kreuzlahm, mit schmerzenden Beinen und pochender Stirn nach Hause, und im Vorbeigehen übernahmen wir euch Kinder, wenn die Schicht des einen zu Ende war und die des anderen begann. Aber diese Schichten wurden immer seltener, bis wir plötzlich zu Hause mit dem Taschenrechner herauszufinden versuchten, wie lange wir noch durchhalten würden.

»So geht’s nicht«, sagte dein Vater. Es war spät am Abend, und ihr schlieft schon alle. Ein Stück die Straße runter bellten Hunde, aber das Geräusch war leise, und wir waren es gewohnt. Im goldenen Licht der Schreibtischlampe sah unsere Haut aus wie mit Honig glasiert. Die Augen deines Vaters waren feucht. Er wollte mir nicht ins Gesicht sehen, und mir ging auf, dass ich schon lange keinen Witz mehr von ihm gehört hatte. Da bekam ich wirklich Angst.

»Wie lange noch?«, fragte ich.

»Vielleicht zwei Monate, bis es kritisch wird«, sagte er.

»Und was dann?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort wusste.

»Ich ruf Royce an«, sagte er. »Wir haben schon geredet.«

»Royce wohnt auf O‘ahu«, sagte ich. »Das sind fünf Flugtickets. Und es ist eine ganz andere Insel, eine Großstadt. Großstädte sind nicht billig.« Aber dein Vater war schon aufgestanden und auf dem Weg ins Bad. Das Licht ging an und die Lüftung, dann lief Wasser zischend und plätschernd ins Becken, und ich hörte sein Schnauben, als er sich das Gesicht wusch.

Ich wollte was kaputtschlagen, es war so still. Dein Vater kam wieder ins Schlafzimmer.

»Ich hab’s mir überlegt«, sagte er. »Ich verkauf meinen Körper. Die mahus kriegen meinen okole, und die Ladys kriegen meinen boto. Ich würd’s für uns tun.«

»Ich würd’s für dich tun«, schob er nach einer kurzen Pause hinterher. Er hatte sein Hemd ausgezogen und betrachtete sich in unserem hohen Spiegel. »Ich mein, schau doch mal, wie viel Sex in diesem Body steckt.«

Ich kicherte und umarmte ihn von hinten. Ich betastete seine Brustmuskeln und ignorierte, dass sie schon ein bisschen zu Männertitten absackten. »Für die würd ich wohl schon was zahlen«, sagte ich.

»Wie viel?« Dein Vater grinste im Spiegel.

»Na ja«, sagte ich, »was ist denn inbegriffen?« Ich ließ meine linke Hand runtergleiten, schob sie in seine Hose.

»Kommt drauf an«, sagte er.

»Hmm«, sagte ich. »Was ich da fühl, ist wohl zwei, drei Dollar wert.«

»Hey!« Er zog meine Hand heraus.

»Ich würde pro Minute zahlen«, sagte ich achselzuckend, und dein Vater prustete los. Aber dann wurde er plötzlich ernst.

»Wir werden mehr verkaufen müssen als nur meinen Schwanz«, sagte er.

Wir setzten uns beide auf die Bettkante.

»Kaui und Nainoa tragen schon Deans alte Sachen«, sagte ich. »Sie kriegen das Schulessen kostenlos.«

»Ich weiß.«

»Was hatten wir gestern zum Abendessen?«, fragte ich.

»Saimin mit Dosenfleisch.«

»Und vorgestern?«

»Reis mit Dosenfleisch.«

Dein Vater stand wieder auf. Er ging an unseren Schreibtisch und legte die Hände darauf, als wollte er ihn verschieben.

»Fünfzehn Dollar«, sagte er.

Er richtete sich auf, seufzte und legte eine Hand auf die Kommode. »Fünfundzwanzig Dollar.«

»Vierzig«, sagte ich.

»Zwanzig.« Er schüttelte den Kopf.

Er ging umher und berührte alles, was er sah: eine Lampe, siebzehn Dollar, ein Bilderrahmen, zwei, ein Schrank voller Fünf-Dollar-Klamotten, die Summe unseres Lebens im besten Fall vierstellig.

Und obwohl ich nie gut in Mathe war, sah ich, was am Ende herauskam, nämlich abgestelltes Licht und Zahlungspläne und Eimerduschen. Darum stand ich drei Tage später, als ihr in der Schule wart, am Straßenrand, das Jagdmesser deines Vaters in der Umhängetasche, und hielt den Daumen raus, schaffte es zum Nulltarif die vierzig Meilen nach Hilo, nur um dort im schwülen Regen zur Wohngeldbehörde zu marschieren und unseren Antrag zu stellen. »Warum sind Sie hier?«, fragte die Frau am Tresen nicht unfreundlich, und mit ihren dunklen, sommersprossigen Armen, den extra Fleischfalten außerhalb der ärmellosen Bluse hätte sie meine Schwester sein können, war sie meine Schwester.

»Warum bin ich hier«, wiederholte ich. Wenn ich die Antwort gewusst hätte, hätte ich nicht dagestanden, nass im dampfenden Hilo, und um die Wohngutscheine gebettelt.

Und so war unsere Lage, als das dritte Zeichen kam. Wir konnten nirgends mehr sparen. Aber Royce hatte sich eingesetzt. Ein Anruf von ihm für deinen Vater und der Satz: »Ich glaub, ich hab was für dich, Cuz«, und plötzlich waren alle Weichen für O‘ahu gestellt. Wir hatten schon einen Teil unserer Sachen verkauft, und jetzt verkauften wir noch mehr, bauten das Zeug in Waimea am Straßenrand auf, beim Spielplatz gegenüber der katholischen Kirche, und jeder, der zum Strand wollte, musste dran vorbeifahren. Durch das Geld, das wir damit machten, und mit den Lebensmitteln von der Tafel und dem Wohngeld hatten wir ein kleines Polster, genug für fünf Tickets nach O‘ahu, und es blieb sogar noch was auf dem Konto.

Dein Vater hatte mit dem restlichen Geld was Bestimmtes vor: eine Tour mit einem Glasbodenboot vor der Kona-Küste. Ich weiß noch, dass ich sagte, nein, das geht nicht, wir müssen jeden Cent für O‘ahu sparen. Aber er fragte, was das denn für ein Vater ist, der seinen Kindern nicht mal eine Freude machen kann.

»Sie verdienen mehr, als sie zurzeit kriegen«, sagte er, das weiß ich noch genau, »und wir müssen sie dran erinnern, dass es wieder besser wird.«

»Aber wir brauchen keine Touristenbootstour«, sagte ich. »Die Art Familie sind wir nicht.«

»Tja«, sagte er, »vielleicht will ich ja wenigstens einmal die Art Familie sein.«

Darauf wusste ich nichts zu sagen.

Also Kailua-Kona, Ali‘i Drive, niedrige Steinmauern und geschwungene Gehwege vor Stränden aus zuckerfeinem Sand und all die kleinen Touristenfallen-Shops, die zu den Beach-Hotels führen wie eine Spur von Brotkrumen. Dein Vater und ich standen am Kona-Pier, mit Tickets für uns und euch Kinder, und sahen zu, wie das Wasser wogte und all die blitzblanken Boote auf und ab schaukelten. Der Pier war lang und geteert und stachlig von Angelruten, und etwa auf der Hälfte warfen sich einheimische Jungen vom Rand ins Wasser, immer und immer wieder, hinein in den Schaum vom Sprung des Jungen davor, mit Chee-hoo, und patschten dann mit ihren nassen Füßen wieder die Holzstufen rauf.

Dann hatten wir den Pier von Kona hinter uns gelassen, saßen auf Plüschsitzen auf der Hawaiian Adventure. Ein Trimaran, einer wie die, die wir immer im Dunst vor der Kona-Küste sahen, vor allem bei Sonnenuntergang, Boote mit Rutschbahnen am Heck und schwatzenden hummerfarbenen Touristen auf dem überdachten Deck. Aber dieser hatte im mittleren Rumpf einen dicken Glasboden, durch den wir ins Meer schauen konnten, und während die Motoren immer wieder ein leichtes Vibrieren durchs Deck schickten, wurde die Farbe des Wasser von Blaugrün zu einem tiefen Fast-schon-Lila, und die Korallenriffe waren dicht und knorrig, und stellenweise wuchsen da Finger oder Gehirne oder die spitzen roten Fangarme von Seeanemonen, die sich im Wasser wiegten, als wäre es Wind. Ich roch, wie die Sonne das alte Salz am Boot erwärmte, roch den zu süßen Malolo-Sirup im Fruchtpunsch und die stechenden Dieselabgase, die die mahlenden Motoren ausrülpsten.

Die meiste Zeit saßen wir drinnen, alle fünf nebeneinander auf den Plüschsitzen in der vordersten Reihe, und guckten durch den Glasboden. Ich erzählte Geschichten darüber, welches Tier welcher Gott war und wie sie die ersten Hawaiianer gerettet oder bekämpft hatten, und dein Vater machte Witze darüber, wie seine Filipino-Vorfahren nur Dornhaie oder die schwarzen Fische mit den langen Nasen gegessen hatten, und die Sonne fiel schräg unter dem Dach herein, und der Motor ließ unsere Sitze vibrieren. Ich war in einem warmen, trägen Nirgendwo, und Kaui schlief in meinen Armen, als ich plötzlich aufwachte, ohne zu wissen, warum.

Du und Dean und dein Vater wart weg, ja, es war überhaupt niemand in der Aussichtskabine. Von draußen auf dem Deck kamen laute Stimmen. Die Stimmen waren abgehackt, gaben kurze Kommandos: wenden, weiter hinzeigen, Rettungsring! Ich weiß noch, dass ich das Gefühl hatte, die Stimmen kämen vom anderen Ende einer Höhle, von so weit weg und wie durch Watte in meinem Kopf.

Ich fasste Kauis Hand. Sie rieb sich immer noch die Augen und quengelte, aber ich war schon mit ihr auf der Treppe von der Aussichtskabine zum Sonnendeck. Wahnsinnsweiß. Ich musste meine Augen mit der Hand abschirmen und so fest zusammenkneifen, dass es sich anfühlte, als ob es mir das Zahnfleisch hochschob. Leute standen an der Drahtseilreling des glatten, weißen Decks und guckten ins Meer. Zeigten mit dem Finger.

Ich erinnere mich, dass ich deinen Vater und Dean sah. Sie waren vielleicht zehn Meter von mir und Kaui entfernt, und ich war verwirrt, weil dein Vater Dean von der Reling wegzuziehen versuchte und Dean schrie: Lass mich, und: Ich krieg ihn. Einer von der Besatzung, mit einem weißen Polohemd und einer weißen Basecap, warf einen roten Rettungsring, und der eierte an seiner Leine in die Luft hinaus.

Bin ich da zu deinem Vater gerannt? Hatte er Dean von der Reling weggezogen? Hielt ich Kauis Hand so fest, dass es ihr wehtat? Ich kann es nur vermuten, erinnern kann ich mich nicht. Ich weiß nur noch, dass ich neben deinem Vater auf dem strahlend weißen Deck stand, das sich mit den Wellen hob und senkte, und dass wir alle da waren außer dir.

Dein Kopf tanzte im Meer wie eine Kokosnuss. Du warst immer weiter weg und immer kleiner, und das Wasser zischte und schlug gegen das Boot. Ich erinnere mich nicht, dass jemand groß was sagte, außer dem Kapitän, der immer wieder von oben rief: »Weiter hinzeigen. Wir wenden. Immer weiter hinzeigen.«

Dein Kopf verschwand, und das Meer war wieder glatt und leer.

Aus den Lautsprechern kam ein Song. Eine blecherne, kitschige Coverversion von »More Than Words«, das ich heute noch nicht mehr hören kann, obwohl ich es mal mochte. Die Motoren rackerten. Der Kapitän oben am Steuer sprach von dort aus, wies Terry an, weiter hinzuzeigen. Terry war der, der den Rettungsring geworfen hatte, den Ring, der jetzt leer auf den Wellen trieb, immer weiter weg von da, wo ich deinen Kopf zuletzt gesehen hatte.

Ich hatte es satt, gesagt zu kriegen, ich solle hinzeigen, solle abwarten, also sagte ich was zu Terry. Er machte eine Grimasse. Dann bewegte sich sein Mund unter dem Schnurrbart, sagte was zu mir. Und der Kapitän rief wieder was von oben. Dein Vater redete auch los, und alle vier redeten wir irgendwas. Ich glaube, am Ende sagte ich was, was Terry schockte, denn sein Gesicht um die Sonnenbrille herum wurde rot. Ich sah mich in diesen verspiegelten Gläsern, meine Hautfarbe dunkler, als ich dachte, was mich freute, und meine Basketballschultern und dass ich die Augen nicht mehr zusammenkniff. Dann waren meine Füße auf dem Drahtseil, und Terrys Augenbrauen fuhren in die Höhe, und er öffnete den Mund, um was zu sagen. Er griff nach mir – und ich glaube, dein Vater auch –, aber ich sprang in den großen, leeren Ozean.

Ich schwamm noch nicht lange, als die Haie unter mir durchglitten. Ich erinnere mich zuerst an dunkle Schatten, dass das Wasser mir sagte, wie schwer diese Tiere waren, dass ich eine Druckwelle an Beinen und Bauch spürte. Dann waren sie unter mir durch und ihre vier Dreiecksflossen durchstachen die Oberfläche, Messer auf dunklen Wasserhügeln, die in deine Richtung schnitten. Als sie dort ankamen, wo dein Kopf gewesen war, tauchten die Haie ab. Ich schwamm hinter ihnen her, aber die Entfernung hätte die nach Japan sein können. Einmal tauchte ich unter, versuchte, was zu sehen. Unter Wasser war nichts als verschwommenes Dunkel und Schaum, da wo die Haie waren. Andere dunkle Farben. Dicke rote Fäden, die aus dem Schaum aufstiegen – ich wusste, das würde das Nächste sein.

Ich hatte keine Luft mehr. Ich tauchte auf und rang nach Sauerstoff. Falls da Geräusche waren, falls ich schrie, falls das Boot näher gekommen war, weiß ich es nicht mehr. Ich tauchte wieder ab. Das Wasser da, wo du warst, war total aufgewühlt. Die Formen der Haie schlugen mit den Schwänzen, glitten tiefer, höher, wie eine Art Tanz.

Als ich das nächste Mal Luft holte, warst du an der Oberfläche, lagst wie eine Lumpenpuppe seitwärts im Maul eines Hais. Aber der Hai hielt dich behutsam, verstehst du? Er hielt dich, als wärst du aus Glas, als wärst du sein Kind. Sie brachten dich gradewegs zu mir, der Hai, der dich hielt, hatte den Kopf über Wasser wie ein Hund. Die Gesichter dieser Haie – ich will nicht lügen. Ich machte die Augen zu, als sie näher kamen, als ich sicher war, dass sie mich auch schnappen wollten, und falls auf dem Boot alle riefen und schrien, was sie vermutlich taten, und falls ich irgendwas dachte, erinnere ich mich nicht dran, ich erinnere mich nur an das Schwarz meiner geschlossenen Augen und meine stummen Gebete.

Die Haie griffen nicht an. Sie schwammen wieder unter mir durch und um mich herum, die Druckwelle wie ein starker Wind. Und dann öffnete ich die Augen. Du warst dort am Boot, an einen Rettungsring geklammert. Dein Vater beugte sich runter und streckte die Hand nach dir aus – ich weiß noch, dass ich wütend war, weil er so langsam machte, sich alle Zeit der Welt ließ, und ich wollte sagen: Bist du ein verflixter pau-hana-Sesselfurzer? Hol unser Kind da raus, lebend, und du warst am Husten, was hieß, du warst am Leben, und da war keine rote Wolke im Wasser.

Das war nicht einfach nur eins von diesen Dingen.

Oh, mein Sohn. Inzwischen wissen wir, dass nichts davon nur das war. Und da fing ich an zu glauben.

2 NAINOA, 2000

Kalihi

Das Blut, erst ganz still, dann laut, bummernd, wenn es in meine Knöchel schoss. Aufgerissene Knöchel, geschwollene Knöchel, blutige Knöchel. Blutige Knöchel, benutzt zum Zuschlagen und Wehtun, nicht weil ich es wollte, sondern weil mein Bruder wollte, dass ich es tat. Es war Neujahrsnacht, Black-Cat-Kracher überall in der Sackstraße, knall, knall, knall, ganze Familien auf grünen Plastikstühlen in ihrer Einfahrt, die Bürgersteige schwarz verschmiert und mit roten Papierfetzen übersät. Das Feuerwerk war in vollem Gang, und Skyler und James verzogen sich hinter die Garage, um mit Dean Bloody Knuckles zu spielen, und weil Dean mitging, ging ich auch mit, und weil ich mitging, ging auch Kaui mit.

Seit Jahren schon versuchte ich zu verstehen, was da in mir war, während der Rest der Welt es aus mir herausreißen wollte. Vor allem mein Bruder manchmal. Das war eine von den Nächten, in denen er mich hasste.

Skyler, James, beide hapa-Japaner, große, dickliche, stinkende Teenager. James mit seiner Zahnspange, glitzernd und Spucke sprühend. Skyler mit seinem strähnigen Haar und seinen Aknepickeln. Beide in ihren Preppy-Klamotten, alles Polo und Abercrombie. Und dann mein Bruder mit seinen kinnlangen Korkenzieherlocken, seinen Baggy-Boardshorts, seinem zu kleinen Locals-Only-Shirt, seiner dunklen Surferhaut und seinen aufgeworfenen, dicken Lippen. So offensichtlich, dass wir nicht dazugehörten, aber Dean wollte immer nach oben. Er und Skyler und James, die Knöchel schon blasig und blutig, aber sie lachten und schüttelten sich den Schmerz aus der Hand.

»Jetzt der Wunderknabe«, sagte James durch seine Zahnspange und deutete mit dem Kinn auf mich.

»Voll meine Meinung«, sagte Skyler. »Klar, Dean?«

Den ganzen Abend hatte mein Bruder die beiden schon übertrumpft, James und Skyler. Mein Bruder, der schneller laufen, dreckiger fluchen konnte, der als Einziger fix genug war, um den Erwachsenen ein Bier aus der Kühltasche zu klauen. So total cool, und alles für James und Skyler, weil ihre Eltern schicke SUVs hatten und schwere dunkle Möbel in ihren hohen Zimmern, weil sie all das waren, was Dean sein wollte. Aber wie sollte er das schaffen, fragte er sich garantiert, wenn nicht, indem er sich so an reiche Jungs ranschmiss, dass vielleicht etwas von dem auf ihn überging, was sie waren und wir nicht.

Und mein Bruder und ich wussten beide, dass ich der Einzige war, der etwas für uns getan hatte, wegen der Haie und dem, was dann gefolgt war. Wir waren in den Nachrichten und in den Zeitungen gewesen, und jedes Mal hatten Mom und Dad drüber geredet, wie arm wir waren. Also kriegten wir Spendenschecks und gebrauchte Kleidung und manchmal sogar Gratisessen von all den Leuten, die gesehen und gehört hatten, was Mom und Dad immer wieder erzählten: dass ich zwar Glück gehabt und die Haiattacke überlebt hatte, dass uns aber stattdessen die Kosten für Lebensmittel und die Miete und die Rechnungen umbringen würden.

Und auch nach den Briefen und Spenden ging es weiter. Ich schrieb in meiner Bewerbung für die Kahena Academy von der Sache mit den Haien, und das Auswahlkomitee hatte wohl auch von mir gehört. Also kam ich – mit einem Vollstipendium für Native Hawaiians – auf die beste Privatschule im ganzen Bundesstaat, obwohl die meisten Kids dort viel reicher waren als James und Skyler.

Und meine Familie und vor allem Dean sahen ja, was sich bei mir sonst noch alles tat, wie ich so schnell lernte, als ob mein Gehirn mich durch Zauberkraft an all meinen Klassenkameraden vorbeikatapultierte. Und dann noch die Ukulele, die Songs, die ich spielen konnte. Er ist eine Art Wunderkind, sagten die Lehrer, und Mom und Dad strahlten wie die Sonne, wenn die Lehrer von mir sprachen. Sie fingen an zu sagen, ich sei was Besonderes. Auch dann, wenn Dean und Kaui es hören konnten.

All diese Sachen also, und mein Bruder jetzt hier mit James und Skyler und ich dabei. Sie wussten ja alle, was sie gehört hatten.

»Also, was ist, Dean«, sagte Skyler. »Kann ich jetzt gegen ihn oder was?«

Dean sah mich an und fing an zu grinsen, aber ich könnte schwören, dass er unten drunter hin- und hergerissen war, vielleicht ja doch zurückrudern wollte, er war schließlich immer noch mein Bruder. Aber dann wurde das Grinsen breiter. »Jeder kommt mal dran, Noa«, sagte er.

Illegale Raketen – die Sorte rote, blaue und goldene Explosionen, die nur Hotels zünden durften – krachten im Schwarz über uns und warfen unsere Schatten auf die verputzten Wände von Skylers Villa.

»Du bist mindestens hundert Pfund schwerer als ich«, sagte ich zu Skyler. Als ob das was helfen würde, als ob irgendwas helfen würde.

»Stell dich nicht so an«, sagte James. »Schwuchtel.«

»Los, hol dir ‘n paar blutige Knöchel«, sagte Skyler und trat auf mich zu. Seine Schlaghand zuckte immer noch. Er richtete sie auf mich, ballte die Faust, langsam und steif, und ich sah die abgelöste Haut auf seinen Knöcheln, die blutigen Stellen. Um die Ecke kam das Gemurmel der Party, das Klirren von leeren Bierflaschen, die sich auf einem Haufen sammelten, das Knallen der Böller.

»Halt die Klappe«, sagte Kaui mit ihrem Stimmchen und stemmte doch tatsächlich die Hände in die Hüften. Wir Jungen erstarrten, wir hatten sie ganz vergessen, da neben mir, meine kleine Schwester, drei Jahre jünger als ich.

Ich sah wieder Dean an. Ich wollte, ich hätte es nicht getan, es ist mir jetzt noch peinlich. Dass ich dachte, er würde doch noch einschreiten, sagen, es sei ja nur ein Witz, natürlich dürfe ein Teenager mit dem Körper eines Mannes nicht auf einen kleineren Jungen einschlagen.

»Komm schon, mahu«, sagte Skyler. »Was ist, boxt wohl zum ersten Mal? Los, Hand hoch.«

Ich hob die Faust. Dean lehnte sich lässig an die Garagenmauer, verschränkte die Arme.

Kaui sagte: »Noa, nicht.«

»Geh weg«, sagte ich zu ihr. »Das ist unsre Sache.«

Skyler brachte seine Faust in Stellung. Fünfzehn Zentimeter vor meiner. Unsere Knöchel: seine schon von Schlägen angefressen, meine glatt und schmal, selbst ich sah, wie es ausgehen würde. Dann setzte Skyler zum Schlag an; ich zuckte zurück. »Nicht wegzucken«, sagte er und boxte mir mit der anderen Faust auf den Oberarm, bald würde ich dort einen blauen Fleck haben wie am Tag nach der Impfung. »Noch mal«, sagte er.

Also brachten wir unsere Fäuste wieder in Position. Ich versuchte, mein Handgelenk steif zu machen, mir vorzustellen, dass ich irgendwas war, was nicht kaputtging oder wegknickte, eine Statue, ein Zug oder eine Felswand, aber dann boxte er auf meine Knöchel. Es gab ein knöchernes Geräusch.

Schmerz schoss bis in meinen Ellbogen, ich stieß einen Laut aus, Skyler lachte höhnisch. »Musst gleich noch mal ran, wenn du so rumheulst, Weichei.«

Ich sah wieder Dean an, aber er tat, als interessierte ihn nur das Feuerwerk, das über uns glühte.

»Er wird dich nicht retten«, sagte James. »Große Jungs kommen selber klar, reiß dich zusammen, Heulsuse.«

Meine Zähne waren so fest zusammengebissen, dass mein ganzer Kiefer ein einziger, immer weiter anschwellender Schmerz war, so wie meine Knöchel, nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen. »Ihr Deppen könnt ja nichts als boxen«, sagte ich. »Ihr werdet um einen McDonald’s-Job beten, wenn ich mein Abschlusszeugnis von der Kahena in der Tasche hab.«

James’ Füße bewegten sich im Gras, ich hörte es knistern. »Hast du den Klugscheißer gehört?«, sagte James zu Skyler. »Vielleicht können wir in der zweiten Runde ja beide ran.«

»Nein«, sagte Skyler. »Nur ich.«

Meine Hand zitterte jetzt, mein Puls bummerte in den Fingern und im Handteller, aber ich schloss die Faust, und der Schmerz sengte sich noch weiter durch meine Knochen. Ich hielt meine Faust wieder fünfzehn Zentimeter vor Skylers. Er schlug zu, noch fester, als ob eine schwere Tür zuknallte und ich die Hand noch dazwischen hätte. Eine Explosion in meinen Handknochen, so gewaltig, dass sie durch meine Augen schoss, kurz alles weiß, dann fiel ich auf den Arsch. Bei der Landung wimmerte ich wie ein Hundebaby.

James und Skyler lachten beide. Skyler wedelte mit seiner Schlaghand, und vorn auf dem Rasen musste jemand einen guten Witz erzählt haben, weil alle Erwachsenen gleichzeitig lachten.

Kaui trat vor mich. »Hört auf, ihr botos«, sagte sie.

»Was?« James lachte wieder. »Hä, was hast du gesagt?«

»Ich hab gesagt, es reicht«, sagte Kaui.

»Vielleicht willst du dann ja ran?«, sagte James zu ihr. »Du gegen mich.«

Dean löste sich von der Mauer. »James, mach kein Scheiß nich.« Er hatte sein Pidgin einen Gang hochgeschaltet, weil Mom und Dad nicht dabei waren.

»Mach doch«, sagte Kaui zu James.

»Klappe jetzt, alle beide«, sagte Dean.

»Zu spät«, sagte Kaui. Dann zu James: »Mach doch, Angsthase.«

»Pass auf, was du sagst«, sagte James.

»Pass selber auf«, sagte Kaui mit dem ganzen Trotz ihrer zehn Jahre. »Los, Feigling.« Sie hielt die Faust hin, wie ich meine gehalten hatte, aber ihre war so viel kleiner und molliger, dass da fast keine Knöchel waren.

James postierte seine Faust fünfzehn Zentimeter vor ihrer.

Kauis Gesicht wie aus Koa geschnitzt, kleine braune Schwester, das buschige Haar in Schwänzchen. Ich wusste nicht, was sagen – ein Teil von mir fand, sie sollte es mal probieren, weil sie immer glaubte, sie könnte mit mir und Dean mithalten, obwohl sie fünf Jahre jünger war als er und drei Jahre jünger als ich, sie sollte lernen, wo ihr Platz war … aber ein anderer Teil von mir wollte nicht, dass sie’s probierte, weil ich wusste, wie es sich anfühlen würde, wenn es vorbei war.

»Kaui«, sagte Dean.

»Mach«, sagte Kaui zu James, die Faust immer noch vor sich.

James zuckte mit den Schultern, zielte mit seiner Faust auf ihre. Er täuschte einen Schlag an, Kaui zuckte nicht. Er verlagerte sein Gewicht und schlug aus der Schulter, doch als seine Faust ihre traf, war sie keine Faust mehr, er hatte die Hand geöffnet und packte ihr Handgelenk, lachte. Tätschelte ihre Hand. »Hey, ich schlag doch kein Mädchen, schon gar nicht Deans Schwester.«

Dean lachte auch, er wusste, er hatte gewonnen, James und Skyler mochten ihn genug, wahrscheinlich wegen dem, was er sie mit mir hatte machen lassen. Ich hab’s freiwillig getan, wollte ich sagen. Ich bin die Hauptperson, nicht du. Aber die drei stellten sich näher zusammen, ein loser Kreis, und Kaui und ich blieben außen vor.

»Haut ab«, sagte Dean und wedelte uns weg wie Bienen bei einem Picknick. Sie lachten alle drei. Ich drehte mich um und ging durchs kurzgemähte grüne Gras davon und hörte noch Skylers Stimme – »Ich hab ein paar Böller«, sagte er –, dann war ich zu weit weg.

»Ich hasse dieses blöde Spiel.« Kauis Stimme neben mir, ich fuhr zusammen.

»Wusste nicht, dass du da bist«, sagte ich.

»Bin ich aber«, sagte Kaui.

»Du hättest nicht mit nach hinten kommen sollen«, sagte ich.

»Warum nicht?«

Wenn Dean und ich uns in einem einig waren, dann, dass niemand Kaui etwas tun durfte außer uns. Das war eine klare Sache, weil wir ihre Brüder waren, aber ich wusste, was Kaui sagen würde, wenn ich es so begründete. Also tat ich’s nicht. Stattdessen sagte ich: »Du hast Glück gehabt, dass sie dich nicht geboxt haben. Früher war’s mit mir auch so.«

Wir waren wieder auf dem Gehweg, zwei Häuser weiter, bei Onkel Royce’ Party. Skyler und seine Familie hätten es hier schrecklich gefunden, deshalb waren sie ja auch auf einer anderen Party ein Stück die Straße lang, in die andere Richtung. Die Leute hier alle in T-Shirt und Jeans oder Tarn-Boardshorts, der teerige Geruch von Zigaretten, keine Deko, Dosenbier aus halb ausgeweideten Kartonträgern. Dann wieder ein hallender Böllerknall.

»Wenn du nicht mehr willst, dass alle auf dir rumhacken, solltest du vielleicht nicht immer so ein Klugscheißer sein«, sagte Kaui.

»Hör mal«, sagte ich, »nur weil du ein paar Schimpfwörter gelernt hast, bist du noch lang keine Erwachsene.«

»Und wenn«, sagte sie. »Ich wette, sie hätten dich immer noch in der Mangel, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre.«

»Egal«, sagte ich.

»Du und Dean«, sagte sie, »es ist fast, als ob du verhauen werden willst.«

Sie hatte recht, genauso war’s, aber wie sollte ich das erklären? Sie wusste ja nicht, niemand wusste, dass ich seit der Sache mit den Haien fühlte, wie Mom und Dad mich mit angehaltenem Atem beobachteten. Ich fühlte es so krass, als hielten sie meinen Atem an. Sie redeten von den ‘aumakua, davon, dass ich von den Seelengeistern gesegnet war, auserwählt, und dass das doch etwas bedeuten musste. Ich war ja für sie schon ein Glück. Die Spenden, die durch die Haigeschichte eingegangen waren und die unseren Umzug nach O‘ahu so viel leichter gemacht hatten, meine Zeugnisse und Preise von der Kahena Academy, ein Respekt-Shaka von jedem Einheimischen, der die Haigeschichte gehört hatte und die alten Götter darin fühlte, alles mir zu verdanken.

Dean sah es. Und er hörte es auch, von Mom und Dad. War ich vielleicht der kommende hawaiianische Wissenschaftler oder Senator oder die ganze neue hawaiianische Renaissance? Wir alle hörten es, und in mir entwickelten sich Dinge, die mich glauben machten, ich könnte diese Träume verwirklichen.

Trotzdem tat ich das, was Kaui sagte, mit einem Schulterzucken ab. »Er ist immer sauer auf mich. Ich sag mir, wenn er mich ein paarmal ordentlich verdreschen darf, lässt er’s gut sein.«

Sie schnaubte. »Ist nicht grad Deans große Stärke.«

»Was?«

»Sachen gut sein lassen.«

Plötzlich ein schreckliches Wimmern, menschliche Laute, bei denen man einfach weiß, es ist was Schlimmes, und Kaui und ich waren sofort still. Wir sahen Dean mit nacktem braunem Oberkörper langsam hinter Skylers Garage hervorkommen, neben ihm Skyler, an ihn gelehnt. Mein Bruder hatte sein Shirt um Skylers Hand gewickelt und hielt sie vorsichtig. Ich roch einen neuen, schwarzen Geruch, fast wie von abgebrannten Böllern, dem verkohlten Papier, aber süßlicher und rauchiger, gegrilltes Schwein vielleicht. Und Skyler hatte die Augen zugekniffen, und Tränen quollen hervor, und er wimmerte, und mein Bruder erklärte ihm, dass alles wieder okay werden würde, und James hinter ihnen sah aus, als wäre ihm schlecht.

Alle Eltern und überhaupt die ganze Party waren plötzlich still.

Dean sagte: »Er hat ja versucht loszulassen, aber die Zündschnur war zu kurz.« Skyler zitterte wie ein Pferd, das aus einem Fluss kommt.

Dean flüsterte Skyler etwas zu. Skyler schüttelte den Kopf. Aber Dean schlug trotzdem den Stoff zurück und zeigte uns so was wie eine Hand, drei Finger, die weiß herumwackelten, und zwei, die es nicht taten, da waren gelbe Klumpen und Hautfetzen, Knochensplitter, grau im Licht. Der süßliche Schweinefleischgeruch stieg uns wieder in die Nase. Leute atmeten zischend aus und drehten sich weg.

Dann wieder Stimmen, laut und hektisch, und jemands Schlüssel klimperten, während ich vortrat und Skylers Hand berührte, ich wusste nicht, was ich tat, selbst Dean fragte, Was machst du da, aber ich antwortete nicht, weil da zu viel in mir war, als dass ich hätte sprechen können: Ich fühlte das pricklige Wachsen der Grashalme in all den Gärten ringsum, als wäre das Gras meine eigene Haut, fühlte den Flügelschlag der Nachtvögel, als wär’s ich, der da flog, fühlte, wie die Bäume die Feuerwerksluft einatmeten, als wären die Blätter meine Lunge, fühlte das Trommeln der Herzen aller Leute auf der Party.

Ich berührte Skylers Hand, meine Finger fuhren die Knochensplitter und Hautfetzen nach. Und zwischen unseren Händen war eine Anziehung wie von Magneten, und da war Wärme. Aber Skylers Dad kam, schob mich weg und schlug das Shirt wieder über die Hand seines Sohns – es war schon besser mit seiner Hand, ich schwör’s, die Haut fing an, sich zu schließen, die Knochen fügten sich wieder zusammen, ich sah, dass es besser war – und plötzlich war mir schwindelig, mein Kopf wie voll Helium, wie wenn man zu lange zu schnell gerannt ist. Ich ging ein paar Schritte weg, wollte mich an dem Tisch mit dem Nudelsalat und Musubi festhalten, aber meine Hand griff ins Leere, und ich landete auf dem Hintern, zum zweiten Mal in dieser Nacht.

Von da aus sah ich zu, wie zwei Väter Skyler zu einem Pick-up brachten. Das satte Geräusch der Türen, der Motor, der ansprang, und irgendwo weiter weg Böllerknallen.

Kauis Hand an meiner Schulter. »Wach auf«, sagte sie und sagte es immer wieder, bis ich zu mir kam. Ich wusste nicht, wie lange es gedauert hatte. »Was hast du gemacht?«

Ich wollte es sagen, aber meine Augenlider waren schwer, und meine Mundmuskeln dazu bringen zu wollen, den Mund zu öffnen, war, wie einen Kühlschrank mit einer Nacktschnecke aufzukriegen. Ich wusste nicht genau, was ich getan hatte. Nur dass da ein Gefühl von Skylers Hand ausgegangen war, das Gefühl, dass sie sich wieder heil machen wollte, und ich war Teil dieses Gefühls, verstärkte es, wenn auch nur kurz.

Dean kam und sah auf uns runter. »Wir müssen gehen.«

Ich sah, dass da was hinter seinen Augen brannte. Angst, Wut und Scham. Und da fing es wohl richtig an. »Sorry«, sagte ich, in der Hoffnung, dass das reichte, diesmal, aber ich glaube, ich sagte auch sorry für alles, seit mich die Haie damals gerettet hatten.

»Sorry wofür?«, sagte er. »Du hast doch keinen Böller in die Hand genommen, mit dem du nicht umgehen konntest.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß. Aber trotzdem.«

»Was? Hast du echt gedacht, du kannst seine Hand heilen oder was, wenn du sie berührst?« Dean grinste höhnisch und schüttelte den Kopf. »War wohl nichts.«

Mom und Dad riefen uns von der anderen Straßenseite. »Wir müssen«, sagte Dean.

Wir stiegen in unseren verbeulten blauen Jeep Cherokee, ich und Kaui und Dean hinten, und Mom fuhr uns nach Hause, weil Dad vier Bier intus hatte und, wie er sagte, nicht wollte, dass wir sahen, wie er einem Cop die Eier streichelte, um kein Bußgeld wegen Alkohol am Steuer aufgebrummt zu kriegen. Seine Hand auf Moms Schenkel und ihre Finger in seine geflochten. Scheinwerfer kamen uns entgegen, als wir von Aiea runterfuhren, und Dean guckte aus seinem Seitenfenster auf all die Schilder und Gebäude am H 1 und atmete ab und zu pustend aus. Er wirkte älter, schon seit wir im Auto saßen, und ich garantiert auch. Nicht mehr der Dean und der Noa von Big Island, vor den Haien: Ich sah uns zwischen den Wellenwarnschildern am Hapuna Beach durchspurten. Die Brandung krachte uns gegen die Knie, dann gegen die Brust, und wir hechteten unter das schäumende Weißwasser. Wir spürten, wie uns der Rippstrom seitwärts zog, testeten aus, wer tiefer unter jede Welle kam, ließen uns vom Sog der nächsten mitziehen, und die Sandkörner sammelten sich und hüpften über unsere Rücken, und wir spürten, wie das Wasser anfing, sich zu krümmen und aufzutürmen, und es zerrte an unseren Boardshorts, und wenn die Welle dann brach und mit voller Wucht direkt auf uns runterkam, tauchten wir tiefer und machten die Augen auf und grinsten über den gähnenden Schlund von goldenem Sand und blauem Meer, der uns nichts anhaben konnte. Unter Wasser waren Deans Augen so, wie meine sich anfühlten, ganz schmal vor Vergnügen, und die Luft schoss uns beim Auftauchen in silbernen Strängen aus Nase und Mund, und oben klatschten wir uns ab, feierten uns für unseren Mut, für das, was wir bezwingen konnten. Jetzt saßen wir im Jeep auf dem Weg nach Hause, Kaui zwischen uns Jungs mit unseren Bloody-Knuckles-Händen, und fuhren dem entgegen, was kommen würde, während ein Teil von mir immer wieder im Rückspiegel auf das blickte, was wir hinter uns ließen.

3 KAUI, 2001

Kalihi

Okay, man kann sich’s vorstellen, das ganze Jahr, das dann kam. Es war, wie wieder mit einem Fuß in der Legende zu leben, so wie nach den Haien, nur noch krasser. Ein Blödmann von einem Jungen sprengt sich beim Hantieren mit Böllern die Hand weg wie in jeder zweiten Neujahrsnacht. Nur dass es diesmal nicht so ausgeht wie sonst. Blessing sagte, Keahi hätte gesagt, die beiden Väter hätten Skyler in die Notaufnahme gebracht. Und die Ärzte dort wickeln also Skylers Feuerwerksunfallhand aus. Wischen das Blut weg, okay, und drunter ist nichts als normale, feste Haut. Die Hand so, als hätte sie nie mit Feuer gespielt.

O Mann. Man kann sich’s ja denken: Wenn Blessing es von Keahi hatte, dann wussten es die Leute bis Saudi-Arabien oder wo. Längst. Keahi würde über die Erfindung des Rads reden, als wär’s das heißeste Gerücht.

Aber es ging nur langsam los. Irgendwie blieb’s um die Sache erst mal ruhig. Ab und zu kamen Nachbarn. Stetig aber langsam. Eine Auntie mit ihrer Grade-erst-aufgewacht-Frisur und ihrem zweijährigen Sohn auf der Hüfte, und der Kleine hatte Diabetes, und sie so, wir haben diese Sachen über Nainoa gehört. Und ob er helfen könnte. Oder der Mann, der ein andermal kam, hapa-Koreaner, glaub ich, ein Shirt Größe S über einem Brustkorb Größe L. Und er rieb sich den Arm und sagte, Stadium vier hätte sich schon bis in seine Zehen ausgebreitet. Und kann Ihr Sohn mir bitte helfen?

Ich glaube, am Anfang wusste Mom nicht genau, was tun. Sie hörte zu, mit bekümmert gerunzelter Stirn, ließ die betreffende Person ins Haus und ging nachsehen, ob Noa in seinem und Deans Zimmer war. Dann ging die Person mit Mom dort rein, aber Mom kam gleich wieder raus.

»Er sagt, er kann’s nur allein machen«, sagte sie beim ersten Mal.

Später kam die betreffende Person dann wieder raus. Ich weiß nicht, was Noa machte, aber wenn die Leute rauskamen, waren sie praktisch am Skanken. Jeder Schritt ein federndes Hüpfen. Und der Blick unbesorgt, nicht wie vorher. Irgendwas machte Noa.

Also kamen natürlich weiter Leute. Langsam, aber stetig. Nie ein Andrang.

Einmal sah ich dann Folgendes: Eine erwachsene Frau, die von irgendwas im Frühstadium redete, blieb hinterher, als sie ging, noch in der Küche stehen. Bei Mom. Gab ihr Geldscheine. Ich dachte, Mom würde verblüfft sein, so was sagen wie: »Das kann ich unmöglich annehmen.« Aber nichts da. Sie nickte und nahm das Geld so selbstverständlich, als ob sie bei J. Yamamoto kassierte.

Ich und Dean und Noa sind ja nicht blöd, wir wussten, dass Mom und Dad immer Schulden hatten. Die ständigen Telefongespräche, bei denen es um die Stundung von irgendwas ging, von Kreditkartenabrechnung bis Miete. Es wurde bei uns eine Art Gebet, Vater unser, der du bist in Verzug, geheiligt werde deine Zahlung. In der vierten Klasse oder so dachte ich, alle Leute machten Partys, um für die Miete zu sammeln. Bis ich in der Schule davon sprach und die Lehrerin ganz besorgt wurde. Mich nach der Stunde ansprach.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte sie mit diesem traurig-ernsten Gesicht. »Ist bei dir zu Hause alles okay?«

Und ich sagte: »Aber Sie sind doch Lehrerin.«

Sie sagte: »Wie meinst du das?«

Und ich so: »Sie sind Lehrerin. Was wollen Sie denn tun, Ihre Lebensmittelmarken mit uns teilen?«

Aber jetzt, wo alle diese Leute kommen und zu Noa wollen, ist bei uns Schluss mit Discounterklamotten. Wir haben sogar so was wie einen Familienausflug ins Pearlridge Center gemacht. Jeder von uns durfte sich ein paar Sachen bei Gap und Foot Locker aussuchen. Und ein paar tolle Ahi-Dinner zu Hause hatten wir auch schon.

Mom ließ wohl alle wissen, dass wir auch ein Familienleben hatten, dass sie nicht einfach kommen konnten, wann sie wollten. Und Tatsache, die Leute hörten drauf. Da konnte man echt mal sagen: Glücklich, wer in Hawaii lebt: Niemand kam mehr nach der Abendessenszeit und nicht mal kurz vorher, wenn nur Mom und Dad noch am Tisch saßen und rechneten. Ein ganzer Umschlag voll Bargeld. Dann Dean, der von seinen Spielen auf dem Basketballplatz zurückkam, das Tamp, Tamp seines Balls auf dem Gehweg wie der Sound der Eifersucht, die in ihm pochte.

An so einem Abend ging ich in Noas Zimmer. Das war vielleicht vier Monate, nachdem es angefangen hatte, dass die Leute zu ihm kamen. Er lag schlaff auf seinem Bett. Starrte an die Decke und atmete langsam.

»Hey«, sagte ich.

Er nickte. Weiter nichts.

»Bist du okay?«, fragte ich. Er drehte sich zur Wand. Was mich sauer machte. Es war ja offensichtlich, dass er nicht okay war, aber sonst schien ihn niemand fragen zu wollen. Und genauso offensichtlich war, dass er gefragt werden wollte, und ich hatte es grade getan. »Wie du meinst«, sagte ich und wollte die Tür von draußen zumachen. Aber da sagte er doch was. Natürlich. Als die Tür schon fast zu war.

»Was?«, fragte ich und ging wieder rein ins Zimmer. Jede Menge Basketballposter und Rap-Stars auf Deans Seite, Roboter und Schwertkämpfer, umklammert von Tittenwunderprinzessinnen, auf Noas Seite. »Du würdest es doch nicht verstehen«, sagte er.

Ich hätte ihn ohrfeigen können. »Entschuldigung, wenn der neue König Kamehameha keine Zeit hat, mit einer Dörflerin zu reden«, sagte ich.

»Was ist los?«, fragte er.

»Du bist der König«, sagte ich. »Sag du’s mir.«

»Ich hab mir das nicht ausgesucht«, sagte er und setzte sich auf. Tat, als würde es ihn alle Kraft kosten. »Und überhaupt, was weißt du schon? Du hast keine Ahnung, wie es ist. Keiner von euch weiß es.«

Oh, Bruder. Manchmal glaube ich, er merkte gar nicht, wie er rüberkam. »Ich weiß, dass du die ganze Zeit so hochnäsig rumläufst, als würden Dean und ich gar nicht hier wohnen«, sagte ich. Und das stimmte. Mom und Dad verlangten von ihm nicht mal mehr irgendwelche Arbeiten im Haushalt, weil er ja Ruhe brauchte. Ab und zu fuhren er und Mom allein weg, um Dinge zu besprechen, aber zufällig war dann grade Essenszeit, also kriegten Dean und ich Dads Fertignudelauflauf Spezial. Und wenn Noa und Mom dann zurückkamen, rochen sie nach dem Rainbow Drive-In oder nach Leonard’s Bakery, echt jetzt.

»Es …«, fing Noa an. »Es ist mein Kopf. Da drin sind all diese Sachen, es hört einfach nicht auf.«

»Was denn für Sachen?«

Er fragte mich, ob mir klar sei, wie wir lebten.

Ich sagte, klar: Mom und Dad rissen sich den Arsch auf, aber immerhin ging’s uns jetzt besser als auf Big Island, nachdem die Zuckerrohrplantage dichtgemacht hatte. Und was er jetzt machte, brachte uns ja offensichtlich auch Geld.

Noa rieb sich das Gesicht. Fest. Als ob da was wäre, was er nicht abkriegte. »Siehst du, das meine ich, du verstehst es nicht. Mit ›wir‹ meine ich nicht dich und mich und Mom und Dad. Mit ›wir‹ meine ich Hawaii. Vielleicht sogar noch mehr als nur Hawaii.«

»Okay«, sagte ich. »Was hat das mit dir zu tun?«

»Das versuch ich ja rauszukriegen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich soll es wieder heil machen. Darum geht’s bei dem Ganzen.«

Ich pumpte mit den Händen, auf, zu, auf, zu. »Was? Du allein?«, fragte ich.

Da schwieg er. Ich sah, dass er total fertig war, nassgeschwitzt wie die Pferde im Waipi‘o Valley, auf denen wir früher geritten waren und von denen ich nur noch weiß, wie sie rochen und sich anfühlten. Wie das ganze Gelände durch ihre galoppierenden Muskeln heraufstieg. Dafür waren sie geboren: zum Rennen. Aber wenn sie zu lange rannten, waren sie nur noch leer und erloschen. Konnten nicht mal mehr das tun, wofür sie bestimmt waren. »Yeah«, sagte er. »Ich allein.«

Okay, klar, dass er da müde war. Es war schwer, denn einerseits tat er mir leid, aber andrerseits zog er wieder dieses Ding ab, mir das Gefühl zu geben, dass es meine Schuld war: Dass er sich fühlte, wie er sich fühlte, und dass ich nichts dagegen tun konnte und dass er was Besonderes war, alles meine Schuld. Er machte das oft mit Leuten, wenn man mich fragt. Und es funktionierte auch meistens, sogar bei mir. Nur diesmal funktionierte es nicht, weil ich nur hörte, was Dean und ich für ihn waren: nichts. Weil er sich für was Besonderes hielt.