Hallo, mein Name ist Jimmie, was kann ich für Sie tun? - Katharina Volckmer - E-Book

Hallo, mein Name ist Jimmie, was kann ich für Sie tun? E-Book

Katharina Volckmer

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Beschreibung

Jimmie, ein pummeliger junger Mann, Sohn italienischer Einwanderer, kommt zur Arbeit in einem Londoner Callcenter. Für den Rest des Tages wird er den Kunden eines Reisebüros Rede und Antwort stehen müssen: Warum hat unser Zimmer keinen Ausblick? Warum ist die Minibar leer? Wie sollen wir uns nahtlos bräunen, wenn wir nicht nackt am Pool liegen dürfen? Doch Jimmie hat andere Probleme: Daniel, den kurvigen Schauspieler, der seit Kurzem sein Vorgesetzter ist und auf den er wahnsinnig steht. Und so mangelt es seinem Engagement für die Kundschaft doch entschieden am nötigen Ernst, was leider auch seinem Manager Simon nicht entgeht. ist. Zum Glück lässt die Motivation seiner Kolleg:innen ebenfalls zu wünschen übrig: Wolf, der seltsame Deutsche mit fehlendem Zeh; Helen, die katalanische Schönheit; und Elin, die davon träumt, einen Waldkindergarten zu eröffnen. Simon bittet Jimmie zu einem Gespräch, die Situation scheint ernst. Und während Jimmie darauf wartet zu erfahren, ob er nun endlich wegen einer weiteren Übertretung entlassen wird, erzählt Katharina Volckmer von Intimität und Freundschaft und davon, dass sexuelle Spannungen, Traumata und der Schmerz, den wir uns selbst und anderen zufügen, das Büroklima doch weitaus mehr beeinflussen als Weihnachtsgeld und kostenloser Kaffee. Obendrein erfahren wir Ungeahntes über orangefarbene Toilettenkacheln, die perfekte Lippenstiftfarbe, über traurige italienische Mütter und die Arbeit als Schauspieler in Bestattungsunternehmen. Dort zu arbeiten, wo niemand einen sehen kann, lässt Jimmie Erregung genau dort finden, wo er sie am wenigsten erwartet hätte. Mit britischem Humor und feinem Gespür für die Zumutungen des Alltags geschrieben, ist ›Hallo, mein Name ist Jimmie, was kann ich für Sie tun??‹ eine Erkundung der Enttäuschungen und des Glücks darüber, nicht dazuzugehören.

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Hallo, mein Name ist Jimmie,was kann ich für Sie tun?

Katharina Volckmer

Hallo, mein Name ist Jimmie,was kann ich für Sie tun?

Roman

Aus dem Englischen vonMilena Adam

MÄRZ

Anstatt Selbstmord zu machen, gehen die Menschen in die Arbeit.

– Thomas Bernhard, Korrektur

Für Maurizio. In Liebe.

In Gedenken an Adeline Stuart-Watt.

Inhalt

Ein Tag

Eine Variation

Danksagung

Dass man sich einscheißt, ist vor der eigenen Haustür am wahrscheinlichsten. Wie die Katze bei der Rückkehr vom Tierarzt plötzlich in der Transportbox durchdreht, weil sie die bevorstehende Freiheit genauso wittert wie die Gerüche eines Reviers, um das sie viele dreckige Kämpfe ausgefochten hat, so gibt auch der eigene Darm just in dem Moment nach, da man den Komfort der heimischen Toilette schon vor Augen hat. Den sanften Trost einer Vorrichtung speziell für die intimsten Bedürfnisse. Den exquisiten Raum, den nur eine verriegelte Tür bieten kann. Die Stille, ohne die Jimmie sich oft so entblößt fühlte. Und wie die Katze, die befreit von den Zwängen einer unbekannten Welt keinen Grund mehr sieht, sich zu benehmen, lässt sich auch der Körper gehen, da er weiß, dass hinter der Tür niemand wartet, dessen Anwesenheit dieser abscheulichsten hygienischen Übertretung im Wege stehen würde. Diesem Kontrollverlust, der jeden so schmerzlich unfickbar macht. Ein Akt der Unterwerfung, der nur die Gestörten erregt, die wohlhabenden Männer, die Sexarbeiterinnen mit Curry füttern, damit sie schneller scheißen müssen. Doch sogar solche Männer haben Schwierigkeiten, beim Anblick vollgeschissener Hosen einen hochzukriegen, weil niemandem im Angesicht des Scheiterns einer abgeht.

Im Bus auf dem Weg zur Arbeit betrachtete Jimmie die wertvollen Hunde und Babys und fragte sich, ob die wohl alle mit speziellen Windeln ausgestattet waren, die Halterinnen und Halter im Falle einer Schweinerei unverzüglich alarmierten, sich schützend zwischen sie und die Urangst vor Exkrementen und den darin enthaltenen Erregern stellten, die Angst um unsere Körper. Die instinktive Gewissheit, dass diese Sache deutlich schlimmer ist als Bettnässen, dass kein Kindheitstrauma, und sei es noch so rührselig, braune Flecken rechtfertigt. Denn solche Flecken sind nur was für die Alten und Kaputten in Pflegeheimen oder für Leute, wie Jimmie sie manchmal im Bus sah. Körper, die den Kampf gegen ihre eigenen Ausscheidungen verloren hatten, nur noch einen letzten Schritt vom totalen Elend entfernt. Diese Flecken haben die eigentliche Farbe des Todes. Nachlassende Körperfunktionen, zeitweise verborgen unter Blumen und Trauer.

Wenn man es vernünftig anstellt – und sich nicht etwa an einem Handtuchtrockner zu strangulieren versucht –, scheißt man sich ein, wenn man aufgehängt wird. Oder sich selber aufhängt, je nachdem. Das steckt nämlich eigentlich hinter dem letzten Plumpsgeräusch, das nur vom kurzen Knacken des brechenden Genicks übertönt wird. Diese Story gehörte zu den besseren, die seine Mutter auf Lager hatte – von der Nachbarin, die es nicht gebacken bekam, sich auf diese Weise das Leben zu nehmen. Zu faul, auf einen Stuhl zu klettern und einen Haken zu benutzen, hatte sie es mit einem halbherzigen Hinabsinken auf die Badezimmerfliesen versucht, um den Hals eine alte, am Handtuchtrockner festgeknotete Hundeleine. Jimmie konnte die Schmach dieser Frau förmlich spüren. Er wusste, dass auch sein eigener Körper viel zu unbeholfen wäre für diesen nahezu unmöglichen Akt der Strangulation. Sein Gewicht würde den Handtuchhalter von der Wand reißen, bevor die Ohnmacht ihn befreien könnte. Durch die unvermeidlichen Risse würde die Fäulnis im Fundament des Hauses zutage treten. Seine Mutter hatte recht. Solchen letzten Momenten fehlt jede Anmut, genau wie seiner derzeitigen Notlage, denn einem vom Weg abgekommenen Herzen wohnt keine Schönheit inne. Wie ein nachtaktives Tier, das man aus seiner Höhle gezerrt und den bei Tageslicht wirkenden Kräften ausgeliefert hat, wusste Jimmie nicht mehr, wie man sich mit Anmut bewegt.

Wenn seine Erinnerung ihn nicht täuschte, war ihm an diesem Tag nicht nach Sterben zumute gewesen – zumindest nicht in dem Ausmaß, dass er im Kopf alle Optionen und ihre Auswirkungen auf die Überreste seiner Würde durchgespielt hätte. Das war noch, bevor er jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit fuhr, bevor die Hunde und Babys mit reichen Eltern und motorisierten Fahrzeugen dafür sorgten, dass er sich arm vorkam. Bevor er wusste, dass seine Sehnsüchte keinen Respekt vor seinen Gefühlen hatten und dass die Anschnallgurte im Flugzeug nicht zur Sicherheit der Passagiere da sind, sondern damit man im Katastrophenfall die Leichen schneller identifizieren kann.

An jenem Tag, als er gerade versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken – nie wusste er, welcher für die Haustür war –, spürte er seine Muskeln weich werden. Es war, als hätte sein Körper beschlossen, die Erzählung selbst in die Hand zu nehmen, um endlich die Geschichte auszupacken, für die sein Verstand nie die richtigen Worte finden würde. Um zu reagieren, bevor er begriffen hatte, was da im Bestattungsinstitut eigentlich vorgefallen war. Jimmie hatte noch nie den Eindruck gehabt, sich besonders gut im Griff zu haben, und wie zur Bekräftigung spürte er mit einem Mal eine unerwünschte Wärme zwischen den Backen. Eine Bestätigung, dass das Leben nicht bloß ein fieser Witz war, denn bei einem fiesen Witz gibt es wenigstens was zu lachen.

Aber es gab absolut nichts zu lachen, als ihm die Scheiße am Bein hinablief und kurz davor war, ins Freie und auf die Fußmatte seiner Mutter zu entkommen, und ihn die Panik ergriff, dass er sein Portemonnaie verloren haben könnte und damit auch die darin verstauten Haare des Toten. Das war noch, bevor Elin ihm sagen konnte, dass in Ermangelung von Hosen ein BH-Träger bessere Dienste zur Aufbewahrung leiste als ein Ärmel, aber grundsätzlich alle Gummibänder tückisch seien und Kleidung mit Taschen wesentlich zur weiblichen Revolution beigetragen habe. Grund zu weinen hatte er allerdings auch nicht, denn diese Empfindungen gehörten nicht zu einem echten Problem – einem Bein, das gleich aussehen würde, als steckte es unter dem alten, weiten Sommerkleid seiner Mutter in einer knittrigen Naziuniform, während er sich fragte, welcher Teil seiner unmöglichen Ernährung sich hier den Weg in die Freiheit bahnte.

All das lag nun hinter ihm, war so weit entfernt wie seine Jugend oder das letzte Lächeln seiner Mutter, an das er sich erinnerte. So unerreichbar wie die Vorstellung von guter Laune auf dem Weg zur Arbeit. Wie schon an vielen vergangenen Morgen bereitete sich Jimmie darauf vor, zu dem Menschen zu werden, den man auf der Arbeit anzutreffen erwartete – und während er die Leute im Bus anstarrte, die allesamt bemüht waren, einen Raum für sich allein zu beanspruchen und dabei die Erinnerungen, die ihre Körper produzierten, zu ignorieren – begriff er endlich, dass es alles schlicht nichts war. Eine Leere. Eine undurchdringliche Finsternis, in der er nichts als die wütende Reaktion seines Körpers auf seine elende Existenz erkennen konnte. Nichts als das Schweigen seiner eigenen Ambitionen.

Ein Tag

»Vielen Dank für Ihre Geduld. Mein Name ist Jimmie. Was kann ich für Sie tun?«

»Haben Sie das mit den Haien gehört, also dass die einen Tropfen Blut aus vielen Kilometern Entfernung riechen können? Ich habe eine Hautkrankheit, wegen der ich mich ziemlich heftig kratzen muss. Können Sie mir garantieren, dass das Meer vor Mykonos für mich sicher ist?«

»Ihnen ist schon klar, dass Mykonos in Griechenland liegt, Sir?«

»Wollen Sie damit sagen, dass es im Mittelmeer keine Haie gibt?«

In Jimmies Mundwinklen begann der Lippenstift zu bröckeln. Der billige rote Lippenstift, den sein Liebhaber sehen sollte. Er hatte ihn aus einem der vielen kleinen Kästchen im Schlafzimmer seiner Mutter gestohlen, als er am Vorabend von der Arbeit gekommen war. Seine Mutter, die Signora. Die verwitwetste Witwe von allen. Die italienische Dame mit dem unaussprechlichen Nachnamen. Bevilacqua. Sie verschlief einen Großteil ihres Lebens, fürchtete sich vor den Farben außerhalb ihres Schlafzimmers und war ihrer eigenen Traurigkeit aufs Innigste verbunden – ein Leben unter Staub und unerwünschtem Mitgefühl. Eine Tragödie mit dem Sohn als einzigem Zuschauer. Ein Drama, vergeudet an ein neues Land, das immer ein unvollendeter Traum bleiben würde.

»Also wie ist das jetzt mit den Haien?«

»Meinen Sie, Ihr Blut hat dieselbe Farbe wie mein Lippenstift?«

»Bitte?«

»Ich versuche ja nur, es mir vorzustellen. Sie und Ihre kaputte Haut, der tiefe blaue Ozean und der Schurke mit dem schaurigen Gebiss. Haben Sie an einen Weißen Hai gedacht?«

»Sind Sie verrückt geworden?«

»Ich bin halt ein sehr visueller Mensch, und da wir darin geschult wurden, die Anliegen unserer Kunden ernstzunehmen, will ich sehen, was Sie sehen. Wo genau kratzen Sie sich für gewöhnlich? Halten Sie es für wahrscheinlich, dass der Hai dort zuerst angreift?«

»Sie sind ja krank im Kopf.«

Als die Stimme verstummt war, stellte sich Jimmie eine Blutwolke vor, die aus einem abgetrennten Schenkel mittleren Alters quoll, an dem noch Fleischfetzen und eine schicke bunte Badehose hingen. Vom Meer erstickte Unterwasserschreie. Mit einem Mal beneidete er den Hai um die Freiheit, seinen Trieben nachzugeben, und beschloss, seinem Beispiel zu folgen und das Telefon stummzuschalten, obwohl noch nicht mal eine Stunde seiner Schicht vergangen war. Die Regeln des Callcenters untersagten ihm, aufzustehen und sich auch nur eine Minute lang im Spiegel anzustarren oder auf einem der wackligen Toilettensitze in die aufgeknöpften Hosen zu weinen. Doch das war Jimmie egal, denn er wollte, dass dieser Tag anders war. Ein weicher Tag. Zart wie ein Rosaton. Ein Tag ohne Kummer.

Er versuchte, schnell an den endlosen Reihen von Schreibtischinseln vorbeizuhuschen, an denen die anderen Teams auf seiner Etage saßen. Trauben kleiner runder Weltraumstationen, die eine Palette von Produkten repräsentierten, nach denen sich Menschen aus bequemer Entfernung erkundigten – Gemüsekisten, Hundefutter, Matratzen und Klopapier. Oder, wie in Jimmies Fall, Urlaub. Die Zugehörigkeit jeder Traube prangte auf einem billigen Pappschild mit dem Firmennamen und Logo, das über den Köpfen der Angestellten schwebte. An unsichtbaren Schnüren hing es über ihren Köpfen wie ein Damoklesschwert, Teil eines Apparats, der jederzeit über all jene hereinzubrechen drohte, die sich bei unproduktivem oder wenig hilfreichem Verhalten ertappen ließen. Teammitglieder trugen ein Erkennungsmerkmal ihrer Firmenidentität am Körper, einen Kapuzenpullover, ausgenommen die Teamleiterinnen und Manager, die sich der Annehmlichkeiten eines zivilen Äußeren erfreuen durften, während alle anderen herumlaufen mussten wie Teletubbies. Die Kapuzenpullover erinnerten Jimmie an Schafe, deren Fell zur Identifikation mit grellen Farben markiert wird. Als er an der Belegschaft vorbeiging, erkannte er einige Gesichter, doch obwohl er nun schon seit einem Jahr bei Vanilla Travels Ltd arbeitete, blieben die meisten ewig neu und unbekannt.

Immerhin saß er nicht ein Stockwerk tiefer im Vertrieb, wo er seine letzten Kräfte der Kaltakquise opfern müsste, oder in einem der noch elenderen Callcenter im Ausland. Immerhin brauchte ihn seine Kundschaft, auch wenn die Abhängigkeit nur flüchtiger Natur war, sodass er nicht andauernd beleidigt und mit Füßen getreten wurde, als wäre seine Art zum Abschuss freigegeben. Und doch war er Teil eines nie endenden Überangebots, ein Sack Knochen, der keine Würde verlangen konnte. Er war die Stimme eines Menschen, der außerhalb dieser Mauern nicht sichtbar war. So sehr er Gefallen an dem Gedanken fand, diesem Körper zu entfliehen, wusste er doch, dass es womöglich an der Zeit war, tapfer einer Welt entgegenzutreten, in der seine fetten Kurven wieder Realität werden würden.

Als er die Klotür hinter sich verriegelte, fiel Jimmie ein, dass er versprochen hatte, die Mittagspause mit Elin zu verbringen, seiner schwedischen Freundin vom Buchungsteam, die davon träumte, einen Waldkindergarten zu eröffnen. Elin sah immer aus wie ein Katzenarsch – die Lippen so verkniffen, als hätte sie einen Sack Zitronen ausgelutscht. Mal davon abgesehen, dass es in London keine Natur im eigentlichen Sinne gab, war es für Jimmie unvorstellbar, dass irgendwer ihr Kinder anvertraute – wahrscheinlich würden sie zu kleinen Waldsonderlingen mit vorzeitigem Bartwuchs erzogen werden, finstere Gartenzwerge, die das Singen und Tanzen verweigerten. Vielleicht war das eine schwedische Überlebens-Taktik: Warum sich um Fröhlichkeit bemühen, wenn man im endlosen Wald des guten Lebens sowieso mit den Elchen allein ist. Elin hatte ihm mal ein Foto von einem Elch gezeigt, und die massigen Körper auf dünnen Beinen hatten ihn an seine Großmutter erinnert, daran, wie sie ihren schweren Torso durchs Leben geschoben hatte wie einen Einkaufswagen. Es mussten ihre Gene sein, denen er sein Aussehen zu verdanken hatte.

Während Jimmie sich vorbeugte und versuchte, mit seinem Gesicht zwischen seine Beine zu kommen, gelang es ihm, das verblasste Orange auszublenden, das der Toilettenkabine mit ihren künstlichen Oberflächen, diesem Boudoir des modernen Büroangestellten, einen Hauch Menschlichkeit verleihen sollte. Im Gegensatz zu Grau war Orange absolut selbstbewusst in seiner Hässlichkeit. Darauf war er immer ein bisschen neidisch gewesen, ein so kühner Umgang mit den eigenen Unvollkommenheiten schien ihm unfassbar. Er bedauerte, was dieser Ort mitansehen musste. Dass diese dünnen Wände seine Niederlage feierten. Seine Unterwäsche war frisch, daher erhaschte er einen Hauch seiner eigenen Gerüche, seines Zuhauses, seines Waschmittels – eine Erinnerung, dass er noch am Leben war –, während er versuchte, sich sein letztes Gespräch mit Elin ins Gedächtnis zu rufen, das irgendwann diese Woche stattgefunden hatte. Sie hatte vegetarische Instantnudeln aus dem Plastikbecher gegessen, wovon ihm unweigerlich übel wurde. Wäre er nicht gezwungen gewesen, Italien zu verlassen, wäre er garantiert niemals mit derartigen kulinarischen Untaten konfrontiert worden. Selbst jetzt, während er versuchte, den Kopf in seinem eigenen Schoß zu vergraben, wobei sein Bauch verhinderte, dass diese Haltung etwas Geschmeidiges bekam, hatte er noch Elin vor Augen, wie sie sich das glitschige Gewürm in den mit Neonlippenstift zugekleisterten Katzenarschmund schaufelte:

»Wen willst du denn klarmachen?«

»Was?«

»Der Lippenstift. Hast du noch was vor? Oder machst du dir mit einem Mal Sorgen, dass die Kundschaft dich durchs Telefon sehen kann und nur durch visuelle Stimulation zur Urlaubsbuchung bewegt werden kann?«

Jimmie tat so, als würde er fast an einem Schwanz ersticken, bis sie rot wurde.

»Halt die Schnauze, Jimmie. Aber wenn du es unbedingt wissen musst – ja, ich habe ein Date.«

»Mit dem Typen aus dem Gemüsekistenteam?«

Bei ihrem Anblick fragte er sich häufiger, ob Filler, wie sie sich Helena mit großem Erfolg ins Gesicht gespritzt hatte, das Problem ihrer wenig einladenden Lippen abmildern könnten, kam aber zu dem Schluss, dass letztlich sogar eine echte Katzenheckklappe anziehender wäre.

»Ich habe mich ein einziges Mal mit ihm getroffen, Jimmie.«

»War bestimmt schwer, mit den ökologischen Vorteilen von Wurzelgemüse zum Höhepunkt zu kommen.«

»Sehr witzig.«

»Ist es diesmal jemand vom Klopapier? Vielleicht lernst du ja, auf doppellagigen Pfirsichduft-Komfort zu squirten.«

»Nein, und bevor du dir was mit den Leuten vom Hundefutterteam zusammenfantasierst: Tatsächlich ist es Simon. Wir gehen nach der Schicht was trinken.«

»Unser Vorgesetzter? Der cholerische Rothaarige?«

»Halt die Klappe. Und wehe, du erzählst es Daniel.«

»Bitte sag mir nicht, dass er noch so eine schreckliche Müsliriegelwerbung macht!«

»Als ob du nicht Bescheid wüsstest.«

Normalerweise ließen Klatsch und Tratsch tröstende Glücksbläschen in seinem Blut aufwallen, doch diesmal, da die wahre Bedeutung hinter Elins Worten zum Vorschein kam, geriet sein Herzschlag völlig aus dem Takt.

»Willst du damit sagen, sie haben Daniel zum Teamleiter gemacht, jetzt, wo Stuart weg ist?«

»Korrekt. Ab Freitag muss dein Schatz keinen gelben Pulli mehr tragen.«

Mit einem Mal fühlte er sich sogar Elins winzigem Katzenarschmund unterlegen, was jedes erotische Potenzial, das er je in seinen eigenen vollen Lippen erkannt hatte, zunichte machte. Warum hatte Daniel ihm nichts davon gesagt? Warum hatte er zugelassen, dass er so mit Elin in dieser erbärmlichen Küche hockte, zwei rettungslose Verlierer, deren einzige Chance im Leben darin bestand, jemanden zu vögeln, der was zu sagen hatte? Es war, als müsste er sich für die Sache mit Daniel jetzt plötzlich schämen, als wäre sein Stolz an der falschen Stelle getroffen worden. Und dann stellte er sich Elins Neonlippenstift auf Simons Schwanz vor, und alle Farben gerieten aus dem Takt. Wo hatte sie gelernt, all das Leben unter ihrer Haut zu zeigen? Wo nahm sie das Selbstbewusstsein her, Lust zu bereiten, während er eingeklemmt zwischen Unbehagen und Verlangen in der Falle saß?

Jetzt, da er den süßlichen Klängen des Radiosenders lauschte, von denen alle Bereiche außerhalb des eigentlichen Callcenters erfüllt waren wie eine amerikanische Folterzelle, spürte Jimmie, wie sein Körper auf diese Abwesenheit von Stille reagierte. Er merkte, dass die Widerstandskraft seines Gewebes nachließ, während er zu begreifen versuchte, warum Nerven so tückisch sein mussten und all die Informationen übermittelten, auf die er gut hätte verzichten können. Warum sie tanzen wollten, während er versuchte, sich zusammenzureißen. Warum sie ihn reinreiten mussten, wenn er als Kind im Garten seiner Mutter auf eine Wespe getreten war, und es dem Schmerz erlaubten, bis ganz hinauf in seinen Verstand und schließlich bis in seine Augen zu steigen. Wenn Schmerz nur das Ergebnis erfolgreicher Kommunikation irgendwo in seinem Gehirn war, wieso konnte dann das Ungesehene nicht einfach im Dunkeln bleiben? Wieso reichte es nicht, aus den Wunden zu bluten, die fürsorgliche Hände wieder heilen konnten? Warum kam ihm selbst jetzt, da er eigentlich an seinem Eckschreibtisch sitzen und sich um die tägliche Ladung E-Mails und Anrufe kümmern sollte – um Menschen, die an ihrem eigenen Hedonismus litten, weil ihre eigenen Erwartungen ihnen den Urlaub verleideten –, warum kam ihm selbst jetzt das Leben so vor, als hätte ihn wieder einmal die Wut einer sterbenden Bestie erfasst?

»Jimmie. Bist du da drin? Ich bin’s, Simon.«

Natürlich war es Simon. Mit seiner natürlichen Abneigung gegen Regelbrüche drang Simon noch in die letzten Winkel fremder Privatsphäre vor – witterte Vergnügungen, wo er nur Bemühungen sehen wollte. Er war schon kurz davor, auf die Knie zu gehen, um die Beine in der Kabine zu zählen, und Jimmie hasste die Schuldgefühle, die ihn deswegen überkamen. Als würde sein Körper zu viel Platz beanspruchen, als hätte Simon das Recht, seine Sehnsüchte zu inspizieren. Und es gab nicht mal kaltes Wasser, um seine Augen zu kühlen. Warum waren diese beschissenen Kabinen nicht mit Waschbecken und Spiegeln ausgestattet, dem bisschen Luxus, von dem er tagein, tagaus in den Hotelbeschreibungen las?

»Sorry. Bin sofort fertig.«

»Du weißt, dass du dich bei mir abmelden musst, bevor du Pause machst, ja? Heute ist viel los, und es geht nicht, dass mehrere Leute gleichzeitig in die Pause gehen.«

Unmöglich, den Argwohn zu überhören, nicht vor Scham in sich selbst zu versinken.

»Ist bei dir wirklich alles okay, Jimmie? Brauchst du Hilfe?«

»Alles gut. Ich komme heute einfach nicht richtig in die Gänge, kennst du das?«

Das kannte Simon mit Sicherheit nicht: Er strotzte von einer angeborenen ekelhaften Energie, bestimmt sprang er morgens aus dem Bett, um seine Hemden zu bügeln, und hatte nie das Bedürfnis verspürt, seine Erektionen zu hinterfragen oder sich in ein billiges oranges Klo einzuschließen, weil die Vorstellung nicht auszuhalten war, auch nur einen weiteren Tag auf diesem Planeten zu verbringen.

Jimmie konnte nicht glauben, dass Elin ihm für heute Abend ein zweites Date zugesagt hatte.

»Ich werde mir hier drinnen kaum die Pulsadern aufschneiden. Und auch keine Party schmeißen – so geschmacklos bin nicht mal ich.«

Er hätte genauso gut darum bitten können, von Mr John Nobes beerdigt zu werden, seinem ehemaligen Arbeitgeber und Eigentümer eines Bestattungsunternehmens, das die hässlichsten Särge der Stadt im Angebot hatte.

»Kannst du bitte einfach die Tür aufmachen, Jimmie? Ansonsten muss ich den Vorfall nach oben melden.«

Vielleicht hätte er das Geschäft übernehmen und Bestattermeister werden sollen. Er hätte seinen Frieden mit den Dingen machen und dann dafür sorgen können, dass die Leute und ihre Haustiere ruhen konnten, und zwar ewig. Vielleicht hätte er ausschließlich Einäscherungen angeboten, um ganz sicher zu gehen.

»Jimmie! Du hast das Meeting heute morgen verpasst, und ich muss dich in deiner Pause heute unbedingt sprechen.«

»Und wenn ich was vorhabe?«

»Dann musst du das wohl absagen. Es ist ziemlich dringend, wahrscheinlich ahnst du schon, worum es geht.«

Jimmie wollte sein Aussehen gar nicht erst mit der Handykamera prüfen, denn er wusste, dass in der Hinsicht heute nichts zu holen war, er fühlte sich nicht bereit für die Enthüllungen der Klobeleuchtung. Simon lehnte an dem Waschbecken, das sich gegenüber seiner Kabine befand. In einer anderen Version von Jimmies Leben wäre er vielleicht stehengeblieben und hätte Simon in seine blauen Augen mit dem Verhörblick geschaut. Es hätte ein Flirt oder sogar ein Kuss daraus werden können, ein Augenblick von Bedeutung und Intimität. Ein erster Schritt hin zu etwas Zärtlichem oder sogar etwas Grobem. Der Anfang von etwas Warmem. Doch stattdessen fiel ihm ein, dass er den Lippenstift seiner Mutter trug und alles um ihn herum nach Pisse und anderen Ausscheidungen stank, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als an Simon vorbeizugehen, der nicht einmal versuchte, seine Überraschung über Jimmies neue Farben zu verbergen. Jimmie hatte den Blick auf den Boden gerichtet und bemühte sich zu vergessen, dass er einen Regelverstoß begangen hatte, dass er fast dreißig war und seine linke Hand zitterte, weil er ohne Erlaubnis auf die Toilette gegangen war.

Spätschicht zu arbeiten bedeutete, dass Jimmie in der Regel die morgendlichen Teammeetings verpasste, bei denen Simon ein, zwei Anrufe sezierte, die zu den berühmten Schulungszwecken aufgezeichnet worden waren. Das Team musste mitansehen, wie die Performance eines ihrer Mitglieder zerlegt wurde wie ein toter Frosch, musste miterleben, wie die letzten Überreste von Stolz in den Händen eines Mannes mit scharfer Klinge abkühlten und sich trübten. Aus allen aufgezeichneten Anrufen gelang es Simon stets, den einen herauszufiltern, bei dem die hohen Qualitätsstandards nicht eingehalten worden waren, bei dem eine Callcenter-Agentin nicht angemessen reagiert und es versäumt hatte, die Kundschaft zufriedenzustellen. Wie wenn man jemandem einen runterholt und die Gleitgelmenge nicht stimmt. Oder wie ein Schweinenippel auf einem Speckstreifen, der auf einen Schlag den schönen Fast-Food-Traum zunichte macht.

Körper, die im Weg sind.

Simon war ihr unheilvoller Herr und Meister und strafte ihre Verfehlungen mit Bloßstellung – all das war Beweis, dass er in regelmäßigem Kontakt mit dem Mystery Caller stand, diesem verfluchten Mittel der Qualitätskontrolle, das sie alle in Angst und Schrecken versetzte. Das Phantom mit den Millionen Stimmen, die sie hinter jedem Misston wispern hörten, und das gekommen war, sie vom rechten Weg abzubringen wie Kinder in einem Wald. Jimmie stellte es sich als Hexe im Häuschen der Versuchungen vor, die es darauf abgesehen hatte, aus ihren müden Körpern ein Festmahl zu bereiten. Simon ermahnte sein Team gern, dass sie sich stets tiefer zu bücken und andere froh zu machen hatten, ohne jemals das Wort »Entschädigung« in den Mund zu nehmen. Alles, was sie taten, war Ausdruck ihres guten Willens, und die Kundschaft würde spüren, ob sie ernst genommen würde oder nicht. Es handle sich um gefühlsbegabte Wesen, da seien Soft Skills gefragt.

Immer wenn Simon damit anfing, begannen Jimmies Weichteile zu kribbeln. Er hasste es, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, doch manchmal ließ er sich gern von Simons Rage aufstacheln und stellte sich dann weitere mögliche Strafen vor, die sie gemeinsam durchleiden müssten. Zwar war Jimmie sich darüber im Klaren, dass einige der Telefonate, die Simon in den Meetings begeistert breittrat, seine eigenen waren, doch er wusste auch, dass man ihn wahrscheinlich nicht feuern würde, solange er bereit war, die Spätschicht zu übernehmen. Er wusste, wie schwierig es war, jemanden aufzutreiben, der Freitag- und Samstagabend arbeiten kam und statt eines Privatlebens nur Mutter und Katze hat. Einen wie Jimmie.

Dass Simon ihn bis aufs Klo verfolgte, um ihn zu einem formalen Gespräch zu bitten, bedeutete, dass es nicht bloß um eines von Jimmies Kundengesprächen ging, also um seine fortwährende Unfähigkeit, den Firmenstandards gerecht zu werden. Es war der Beweis, dass die Nachricht von seinem neuesten Abenteuer im Büro die Runde gemacht hatte und schließlich auf Simons feste kleine Öhrchen getroffen war, und jetzt war Simon darüber informiert, was Jimmie letzten Freitag auf der Toilette getrieben hatte.

Spätschicht zu arbeiten bedeutete auch, dass Jimmie als Letzter kam und die Schreibtischauswahl schon stark eingeschränkt war, weshalb er meist mit einem der schon etwas mitgenommenen Headseats vorliebnehmen musste. Er landete ausnahmslos immer neben Wolf, dem deutschen Sonderling mit den fehlenden Zehen – ein Gerücht, das Wolf weder bestätigte noch abstritt. Je nachdem, wer die Geschichte erzählte, war ein Wanderunfall oder eine tragische Begegnung mit einem Stück deutscher Ingenieurskunst schuld. Manchmal auch eine Fehlbildung. Jedes Mal, wenn sein Blick aufs Wolfs Wanderstiefel fiel, war Jimmie sich sicher, dass es stimmte – er konnte sich die mumifizierten Stümpfe, weich wie die Überreste eines einbalsamierten Papstes, bildhaft vorstellen. Nicht vorstellen konnte er sich hingegen, dass es irgendwo in London Hügel oder Hindernisse gab, die solches Schuhwerk erforderlich machten.