Hallo Oma, ich habe eine Frage - Lukas Niederberger - E-Book

Hallo Oma, ich habe eine Frage E-Book

Lukas Niederberger

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Beschreibung

Susi Engelhardt ist 79, besorgt auf dem Bauernhof ihres älteren Sohnes Georg in Hirschhorn am Neckar weiterhin den Garten und besucht seit 15 Jahren an der Volkshochschule Heidelberg Kurse in Philosophie, Geschichte und Politik. Seit zwei Jahren chattet sie intensiv mit ihrem 15-jährigen Enkel Jakob, dem Sohn ihres jüngeren Sohnes Paul in Neckargemünd. Ohne Tabus tauschen die beiden ihre Fragen und Ansichten über Sehnsüchte und Ängste, Gefühle und Hoffnungen, Einsamkeit und Eifersucht, Gott und Tod sowie Konsum und Klima aus. Der offene und ehrliche Dialog ermutigt zum offenen Gespräch zwischen den Generationen und bietet wertvolle Impulse zum Nachdenken über den Sinn des Lebens und die Zukunft von Menschheit und Erde.

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Seitenzahl: 206

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Texte: © Copyright by Lukas Niederberger Umschlaggestaltung: © Copyright by Lukas Niederberger

Verlag:Lukas Niederberger

Klösterliweg 12

Postfach 57

CH – 6410 Rigi Klösterli

LN@lukasniederberger

www.lukasniederberger.ch

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH

Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse: [email protected]

ISBN 978-3-033-11489-0

Zum Inhalt

Susi Engelhardt ist 79, besorgt auf dem Bauernhof ihres älteren Sohnes Georg in Hirschhorn am Neckar weiterhin den Garten und besucht seit 15 Jahren an der Volkshochschule Heidelberg Kurse in Philosophie, Geschichte und Politik. Seit zwei Jahren chattet sie intensiv mit ihrem 15-jährigen Enkel Jakob, dem Sohn ihres jüngeren Sohnes Paul in Neckargemünd. Ohne Tabus tauschen die beiden ihre Fragen und Ansichten über Sehnsüchte und Ängste, Gefühle und Hoffnungen, Einsamkeit und Eifersucht, Gott und Tod sowie Konsum und Klima aus. Der offene und ehrliche Dialog ermutigt zum offenen Gespräch zwischen den Generationen und bietet wertvolle Impulse zum Nachdenken über den Sinn des Lebens und die Zukunft von Menschheit und Erde.

Zum Autor

Lukas Niederberger (*1964) studierte Philosophie in München und Theologie in Paris. Im Alter von 21 bis 43 Jahren war er Mitglied im Jesuitenorden. Von 1995-2007 leitete er das Bildungszentrum Lassalle-Haus. Und als Geschäftsleiter der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft förderte und erforschte er von 2013-2022 den sozialen Zusammenhalt und zivilgesellschaftliches Engagement in der Schweiz. Seit 2025 fördert er als Geschäftsführer von Pro Patria die lebendigen Traditionen in der Schweiz. Seit 30 Jahren wirkt er als Autor, Referent, Kursleiter, Ritualbegleiter und Berater.

ISBN 978-3-033-11489-0

Inhalt

Warum dieses Buch – und für wen?

Vorwort von Oma Susi

Vorwort von Enkel Jakob

Oma, wie war das früher?

Oma, wie ticken Deine Gefühle?

Oma, wie trifft man gute Entscheide?

Oma, was ist über uns?

Oma, wann handeln wir gut?

Oma, wie finde ich den Lebenssinn?

Oma, wie altert man weise?

Oma, was hält die Gesellschaft zusammen?

Oma, wie retten wir die Erde?

Oma, auf welche Zukunft kann ich hoffen?

Dank

Ausdrücke der Jugendsprache

Warum dieses Buch – und für wen?

Dieses Buch richtet sich an Omas und Opas, die die Fragen – und auch die Sprache – ihrer Enkelkinder besser verstehen wollen; an Eltern von Jugendlichen, die sich mit den Generationen vor und nach ihnen nicht immer leichttun; sowie an Jugendliche, die die Welt ihrer Omas und Opas sowie zahlreiche Zusammenhänge ihres Lebens und der Welt tiefer verstehen wollen.

Beim Schreiben ließ ich mich von Büchern mit Dialogen zwischen Menschen verschiedener Generationen inspirieren: Der Prophet von Khalil Gibran, Palaver von Max Frisch, Sofies Welt von Jostein Gaarder sowie Oskar und die Dame in Rosa von Eric-Emmanuel Schmitt. Ich entschied mich für einen Austausch zwischen einer Oma und ihrem Enkel. Oma Susi (79) lebt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf einem Bauernhof bei Heidelberg und hat ein Flair für philosophische Fragen. Ihr Enkel Jakob (15) hat eine große emotionale und geistige Nähe zu seiner Oma.

Die Themen dieses Buches reichen von der tiefen Innenwelt bis ins weite Universum. Der Chatverlauf startet mit Vergleichen zwischen Kindheitserlebnissen der Oma damals und den Erfahrungen ihres Enkels heute. Danach unterhalten sich die beiden über Gefühle und Entscheidungen, gefolgt von Fragen über Ethik und Religion, Glück und Sinn, Alter und Tod. Schließlich wandern die Themen von der individuellen Ebene in den politischen Bereich und enden mit Gedanken über die Zukunft.

Vorwort von Oma Susi

Liebe Leserin, lieber Leser,

dass ich mit 79 Jahren mein erstes Buch veröffentlichen würde, habe ich in meinen kühnsten Träumen nie für möglich gehalten. Ein Jahr nach Kriegsende bin ich in Neckargemünd bei Heidelberg geboren. Mein kürzlich verstorbener Bruder Peter ist drei Jahre älter und durfte Ingenieurwesen studieren. Ich wollte Tierärztin oder Lehrerin werden, aber für eine höhere Ausbildung der Tochter reichte das Geld in der Bauernfamilie nicht. Mit 20 Jahren heiratete ich Ernst. Weil sein Vater im Krieg gefallen war, leitete Ernst damals bereits den elterlichen Hof im nahen Hirschhorn am Neckar, auf dem wir heute noch leben. Ich erzog meine zwei Söhne Georg und Paul, pflegte meine Schwiegermutter und besorge bis heute leidenschaftlich 500 Quadratmeter Garten mit Beeren und Gemüse, Kräutern und Blumen. Als unser Sohn Georg vor 15 Jahren den Hof übernahm und ich mit meinem Mann ins kleinere Nebengebäude zog, regte sich der jugendliche Wissensdurst erneut in mir. Regelmäßig besuche ich seither Kurse in Philosophie, Geschichte und Politik an der Volkshochschule Heidelberg. Mit Leidenschaft lese ich Texte von Sokrates und Platon bis Simone de Beauvoir und Hannah Arendt. Und ich finde es faszinierend, mit jüngeren Studierenden im Coffee Nerd, im Fresko oder im Mildner‘s über soziale, kulturelle und politische Themen zu debattieren. Im Moment befasse ich mich vor allem mit Postwachstum und Kreislaufwirtschaft. Mir ist der Zustand der Erde nicht egal, auch wenn oder gerade weil ich sie bald verlassen werde.

Vor zwei Jahren schrieb mir mein heute 15-jähriger Enkel Jakob verzweifelt eine Chat-Nachricht, auf die ich offenbar verständnisvoll reagierte. Jedenfalls landete schon kurze Zeit später sein nächster Chat auf meinem Smartphone. Und aus der Not wurde eine Tugend. Inzwischen ist das Schreiben von Chat-Nachrichten und E-Mails an Jakob zu einem fast täglichen Ritual geworden. Wir tauschen uns über Gott und die Welt, Intimes und Politisches aus. Es freut mich sehr, dass ich mit meinem Enkel, der 64 Jahre jünger ist als ich und noch das ganze Leben vor sich hat, unsere Erfahrungen austauschen darf.

Ich liebe meine drei Enkelinnen und meine drei Enkel über alles. Aber das tun wohl alle Omas. Jakob ist mir vor allem darum ans Herz gewachsen, weil er schon als Kleinkind kritisch fragte, warum die Dinge so und nicht anders seien. Sein Hinterfragen scheinbarer Selbstverständlichkeiten zwingt mich bis heute zum Nachdenken. Sein Wissensdurst und Interesse sind ungebrochen, von der Mathematik mal abgesehen.

Unsere inzwischen etwa 350 Chats wurden für dieses Buch nicht chronologisch aufgeführt, sondern in zehn Themenbereiche gegliedert. Auf diese Weise konnten unnötige Wiederholungen vermieden werden.

Nun wünsche ich Ihnen viel Freude bei der Lektüre sowie Mut und Lust, unser intergeneratives Projekt in Ihrem eigenen Leben auszuprobieren.

Mit freundlichen Grüßen,

Oma Susi Engelhardt

Vorwort von Enkel Jakob

Hallo,

meine Oma ist eine Swaggernautin. Als Kind ging ich mit meinen zwei Sis Mirjam (18) und Nelly (12) oft bei Oma und Opa auf der Farm chillen. Dort leben auch mein Onkel Georg und seine Frau Franziska und deren Kinder Lea (16), Emil (14) und Carl (11). Oma ist eine izi Ehrenfrau und eine Baking Queen. Sie verwöhnt uns Enkel mit ihrem megahammer Apfelkuchen. O.k., manchmal war Oma so in ihren Garten und in ihre Bücher vertieft, dass sie die Welt um sich herum völlig vergaß. Dann klopfte Opa ein paar Spiegeleier in die Pfanne für uns Kids im Survival-Camp.

In Neckargemünd besuche ich die Realschule. Omas E-Mails weiten meine Brain-box. In unseren Chats ist kein Platz für Banalverkehr. Ihre Lieblingsautoren vom uralten Griechenland sind nicht gerade Hype, aber der Chat mit Oma über Sex, Money und Gott ist voll fett. Meine Bros beneiden mich dafür. Es ist mega schade, dass Oma längst in einem Museum stehen würde, wenn sie ein Auto wäre. Der Tag, an dem Oma sterben wird, wird mein SDOL (sadest day of life). Ihre Chats sind meistens länger als meine. Sie hat mehr Zeit zum Schreiben und weiß mit ihren zusätzlichen 64 Lebensjahren mehr zu berichten über sich und die Welt. Oma textet mich nie mit Stories von früher voll. Sie ist nie cringe.

P.S. Falls Du meine Sprache nicht raffst, gibt es am Ende des Buches Übersetzungshilfen.

Have fun beim Lesen,

Jakob (meine Bros nennen mich Jake)

Oma, wie war das früher?

Hallo Oma, weißt Du eigentlich, dass mich meine Bros beneiden, weil ich mit Dir über alle möglichen und unmöglichen Themen austauschen kann und Du mir erzählst, wie es früher so lief? Manche BF haben wie ich ein izi Verhältnis mit ihren Omas, sogar besser als mit ihren Müttern. Aber niemand tauscht mit seiner Grandma über Intimes und Politisches aus. Du bist echt die GOAT-Oma. Manchmal necken mich meine Bros wegen unseres Austauschs und fragen, wie Du eigentlich den Urknall und den Untergang der Dinosaurier erlebt hast. Für mich bist Du ein Geschichtsbuch auf zwei Beinen. Mich interessiert, was Du in Deiner Kindheit und Jugend erlebt hast. Und ich finde es de luxe, dass Du nicht sagst, dass früher alles besser war. Falls ich in 60 Jahren meinen Enkelkindern sagen werde, dass früher alles besser war, musst Du mir unbedingt im Traum erscheinen und mich mit einem Schmunzeln an meine traumatischen Mathe-Prüfungen in der Jugend erinnern. Mich interessiert auch, wie Du aktuelle Veränderungen wahrnimmst. Ich habe oft das Gefühl, dass die Zeit wie ein Jet an uns vorbeirast. Manchmal würde ich das Rad gerne anhalten. Ich habe nicht Mühe damit, dass alles im Fluss und im permanenten Wandel ist. Aber bitte nicht 24/7 und an 365 Tagen im Jahr. Ich fand die Corona-Lockdowns mega, als die Welt mit ihrer Dauerhektik eine Zeitlang wie stillstand, obwohl ich meine Bros nicht treffen konnte und das Handball-Training ausfiel. g2g, cul8r, Jakob

Mein lieber Jakob, ich hoffe sehr, dass Du in 60 Jahren zumindest ein wenig von der guten alten Zeit schwärmen wirst, in welcher Du mit Deiner Oma gechattet hast. Aber Scherz beiseite. Ich schaue nicht ungern auf frühere Zeiten zurück, wenn ich aus dem Erlebten etwas für die Gegenwart lernen kann. Ich bin keine Nostalgikerin, die darüber trauert, dass es nicht mehr so ist, wie es früher in Wirklichkeit gar nicht gewesen ist. Ich blicke realistisch auf meine Kindheit und Jugend zurück und glorifiziere die „gute alte Zeit“ bestimmt nicht. Die Lehrer klopften uns mit dem hölzernen Lineal auf die Hände. Frühmorgens mussten wir zur Kirche gehen, wo uns der Pfarrer mit der Hölle drohte, falls wir unkeusch denken und handeln. Und am Wochenende sowie im Urlaub arbeiteten wir meistens daheim auf dem Feld. Mich stört nicht, dass sich unser Leben und die Welt in permanenter Veränderung befinden, sondern dass wir meinen, globale Krisen wie die Klimaerwärmung allein mit technischen Maßnahmen und ohne Verhaltensänderungen lösen zu können. Für viele technische Innovationen bin ich dankbar. In meiner Jugend diktierte ich am Postschalter noch Telegramm-Botschaften. Opa erhielt zur Hochzeit von seinen Eltern unser erstes schwarzweißes TV-Gerät. Später kamen die Tonband-Kassettengeräte auf, dann die VHS-Videorecorder, die Faxgeräte, Ende der Achtzigerjahre der erste Computer und etwas später die E-Mails. Du hast mich jeweils ausgelacht, als ich bis vor drei Jahren ein altes Nokia-Mobiltelefon besaß, mit dem ich nicht chatten konnte. Weil meine verbleibende Zeit auf Erden im Verhältnis zur gesamten Lebenszeit immer kürzer wird, müsste ich an sich wie Du das Gefühl haben, dass die Zeit immer schneller läuft. Aber das ist nicht der Fall, obwohl ich für manche Dinge, die ich früher im Handumdrehen erledigte, heute mehr Zeit benötige. In meinem Privatleben hat sich die Zeit eher entschleunigt, weil ich sie im Garten und in Büchern verbringe. Ich halte die Zeit manchmal förmlich an und weile ganz im Augenblick, falle aus der messbaren Zeit heraus und spüre einen Hauch von Ewigkeit. Auch bei tiefen Begegnungen mit anderen Menschen habe ich jeweils den Eindruck, dass die Zeit stillsteht. Und genauso ergeht es mir, wenn ich mit Dir chatte. Es knuddelt Dich Deine Oma

Liebste Oma, Du hast so viele technische Veränderungen, kulturellen Wandel und politische Umwälzungen erlebt wie keine Generation vor Dir. Ich finde es cool, dass wir so rasch und easy miteinander chatten können. Ich warte jeweils ungeduldig auf Deine Antworten. Früher muss es eine Tortur gewesen sein, als man wochenlang auf Antwortbriefe warten musste. Glaubst Du, dass durch E-Mails und Whatsapp unsere Fähigkeit zum Warten und zur Geduld abgenommen hat? In zwei Stunden lese ich Deine Antwort oder es gibt Liebesentzug (*gig*). XOXO, Jakob

Lieber Jakob, unsere Beschleunigungsgesellschaft fördert zweifellos eine kollektive Ungeduld. Ich finde Ungeduld aber nicht grundsätzlich negativ. Ungeduld gegenüber der Politik, die seit 50 Jahren zögerlich auf die Klimakrise reagiert, finde ich legitim. Auf dem Bauernhof erlebe ich mit der Natur die beste Lehrmeisterin bezüglich Geduld. Die Pflanzen lehren mich, dass Wachstum seine Zeit braucht und dass man Entwicklungsprozesse nicht künstlich beschleunigen kann und soll. In China erzählt man sich die Geschichte von einem Bauer, der sich wunderte, dass die Saat auf seinem Acker so langsam aufging. Schließlich begann er, jeden Morgen ein wenig an den kleinen zarten Halmen zu ziehen und kehrte abends todmüde nach Hause zurück, weil er den ganzen Tag damit zugebracht hatte, dem Getreide beim Wachsen zu helfen. Doch eines Tages lagen die Halme vertrocknet am Boden, weil der Bauer zu fest an ihnen gezogen hatte. Es herzt Dich innig, Deine Oma

Hallo Oma, akla? TNX für Deine Inputs. Du hast mir einmal erzählt, dass Bauerfamilien früher keinen Urlaub kannten und nicht jeden Sommer an einen Meeresstrand düsten. An unserer Schule jetten manche Schüler jedes Jahr zwei bis drei Mal nach Afrika oder Asien. Wenn ich sie nach dem Urlaub jeweils frage, was sie dort erlebt haben, stelle ich fest, dass sie weder Einheimische kennenlernten noch etwas über deren Kultur erfuhren. Sie chillten in abgeschlossenen Resorts den halben Tag sinnbefreit am Pool und zogen Videos rein. Voll cringe. GN8, GuK, Jakob

Liebster Jakob, ich habe mit dem Thema Urlaub und Reisen meine liebe Mühe. Einerseits wird alles unter den Begriff Tourismus gewürgt und kaum differenziert zwischen Urlaub und Reisen, obwohl zwischen ihnen ein himmelweiter Unterschied besteht. Und andererseits gelten heute sowohl Erholungsurlaub als auch Reisen als Statussymbole und werden entsprechend kommerzialisiert. Dass Leute um den halben Erdball fliegen, um sich im Urlaub zu erholen oder auf sogenannten Reisen Selfies zu knipsen und Label-Dinge zu kaufen, ist absurd. Social Media hat bewirkt, dass junge Menschen immer öfter dorthin reisten, wo Freunde und Influencer:innen Tiktok präsentierten, was sie gerade sehen, essen oder kaufen. Junge Touristen suchen zunehmend Urlaubsorte aus, die auf Instagram besonders überraschend wirken. Man will sich möglichst nichtkonform geben, tut dies aber gerade uniform und fremdbestimmt. Bis vor 300 Jahren reisten Menschen, um Nahrung zu finden, Krieg zu führen oder den Glauben zu verbreiten. Im 18. Jahrhundert kam das Reisen als Form des Lernens auf. Goethe reiste inkognito per Postkutsche von Karlsbad im heutigen Tschechien nach Sizilien und zurück und befasste sich unterwegs mit mineralogischen, meteorologischen, geologischen, geographischen, botanischen, kulturellen, sozialen, religiösen, historischen, archäologischen, bildnerischen, musikalischen und architektonischen Fragen, malte und modellierte, schrieb Gedichte, diskutierte mit Philosophen und pflegte erotische Beziehungen. Wenn heute chinesische Touristen in Scharen durch Heidelberg gepfercht werden, stehe ich jeweils fassungslos da. Ich halte den Tourismus für ein überschätztes Kompensationsritual für fremdbestimmte Arbeitssklaven und fantasielose Rentner. Am besten erhole ich mich daheim im Garten. Und am liebsten reise ich in meinen Träumen. Dir würde ich von Herzen gönnen, für ein Jahr andere Kulturen in fernen Ländern zu erleben – wie meine Freunde, die vor 60 Jahren per Anhalter nach Indien trampten – damals natürlich ohne GPS und Tripadvisor. In Liebe, Deine Oma

GOAT-Oma, vermutlich konnten Deine Bekannten damals auf ihrem Trip nicht täglich mehrere Chats, Selfies und Videoclips nach Hause senden und gratis mit Bild und Ton via Facetime und Whatsapp miteinander telen. Wer früher weg war, war echt afk. Mama ruft, ich gehe snacken. Auf meiner Liste stehen noch viele Fragen, die ich Dir über Deine Jugendzeit stellen möchte. Zuoberst steht: Welches war Dein wildestes Abenteuer? GlG, GuK, Jakob

Mein lieber Jakob, ich habe weder die Abenteuer von Odysseus noch von Huckleberry Finn erlebt. Ich fand es abenteuerlich genug, mit Opa den Hof zu führen und dort zwei Jungs und fünfzig Vierbeiner aufzuziehen. Heute kultiviere ich ein harmloses, aber spannendes Abenteuer. Wenn ich in Heidelberg Kurse besuche und nicht gerade im Schlossgarten oder auf dem Philosophenweg spazieren gehe, flaniere ich bewusst planlos durchs Stadtzentrum. Manchmal komme ich mit jemandem ins Gespräch, werde in einem Laden durch ein Musikstück verzaubert oder werde berührt durch ein Telefongespräch neben mir auf der Parkbank. Der Ausdruck Abenteuer bedeutet, dass man Dinge auf sich zukommen lässt. Im englischen Wort adventure und im französischen Ausdruck aventure kommt dieser Zusammenhang klarer zum Ausdruck. Unser Chat ist für mich auch ein Abenteuer, weil wir Fragen und Meinungen auf uns zukommen lassen. Wie Kolumbus auf dem Atlantik, wissen wir beide heute nicht genau, wohin uns unsere Reise führen wird. In Liebe, Deine Reisegefährtin Oma

Liebste Oma, Du warst vielleicht nicht mit dem VW-Bus in Indien und warst auch nicht Punk. Aber Ihr hattet bestimmt mehr Freiheiten als wir Jungen heute. Manche Eltern von Freunden haben Apps installiert und wissen jederzeit, wo sich ihre Kinder befinden. Sie schreiben ihren Kindern mehrmals täglich Whatsapp-Nachrichten, rufen sie regelmäßig in der Schule an und lassen sie nie allein mit der S-Bahn nach Heidelberg fahren. Manche dieser Helikopter- oder Rasenmäher-Eltern sind voll upgespaced. Gab es das bei Euch auch? Viele Eltern meines Handball-Teams feuern bei jedem Spiel ihre Kinder an. Ich finde das voll assig. Aber wenn Du mit Opa mal zu einem Turnier kommen wollt, fände ich das cool. Oh, muss los, XOXO, Dein Jakob

Mein liebster Jakob, ich habe von diesem Phänomen gehört. Wenn wir als Kinder ein bis zwei Wochen in einem Ferienlager weilten, hörten unsere Eltern nie etwas von uns – und umgekehrt. Die heutige Technik erlaubt den Eltern eine Rundum-Kontrolle. Das gestaltet das Loslassen und Vertrauen schwierig. In unserer Generation hatten die Familien viel mehr Kinder und konnten unmöglich alle gleichzeitig kontrollieren. Mein Vater kannte meine beste Freundin auch nach ihrem hundertsten Besuch noch nicht beim Namen. Und weil auch die Schulklassen sehr viel grösser waren als heute und oftmals mehrere Klassen im selben Zimmer unterrichtet wurden, blieben viele Kinder unter dem Radar, die heute auf Grund gewisser Auffälligkeiten sofort psychologisch abgeklärt und therapiert würden. Heute ist das Bedürfnis nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit immens und führt oft zu unerwünschten Kontrollsystemen und geht auf Kosten der Freiheit. Es gibt niemals eine absolute Sicherheit im Leben und in der Welt. Das einzig Sichere im Leben ist der Tod. Wir müssen lernen, Unsicherheiten zu akzeptieren und konstruktiv mit ihnen zu leben. Nun muss ich unbedingt meine Beeren zudecken, es ist Hagel angesagt. Herzlichst drückt Dich Deine Oma

Liebste Oma, mit Deinem Werbeblock fürs Aushalten von Unsicherheit würde man Dich bei keiner Versicherung einstellen. Ich bin froh, dass meine Eltern uns Kindern voll vertrauen und uns viel Freiheit lassen. Schon mit elf durfte ich mit der S-Bahn allein zu Euch fahren. Oma, Du hast in einer Deiner letzten Mails von den technischen Veränderungen der letzten 70 Jahre gesprochen. Was hat Dich besonders beeindruckt? XOXO, gtg, Jakob

Liebster Jakob, als ich in Deinem Alter war, besaß nicht mal jede Familie ein Festnetz-Telefon. Statt zu telefonieren, ging man kurz bei den Nachbarn und Freunden vorbei. Wenn ich die Mädchen und Jungs in Deinem Alter auf ihren Smartphones Messages tippen sehe oder Eltern am Handy beobachte, während sie mit ihren Babys im Kinderwagen kaum Kontakt pflegen, frage ich mich, was längerfristig an neuen Aufgaben auf die Orthopädie und Familientherapie zukommen wird. Gleichzeitig weiß ich, dass ich wohl selten etwas von Dir hören würde, wenn Du kein solches Gerät hättest. Paradox finde ich, dass heute rund um die Uhr kommuniziert wird und sich gleichzeitig so viele Menschen einsam fühlen. Diese beiden Fakten bringe ich nicht so ganz zusammen. Innig drückt Dich Deine Oma

GOIG (Greatest Oma in Germany), es ist schon krass, dass ich fast 24/7 online sein muss, um die Chats meiner Bros mitverfolgen zu können und nichts Wichtiges zu verpassen. Menschen wie mich nennt man Smombies – und unsere Altersgruppe die head-down-generation. Weltweit diskutiert man über Smartphone-Verbote an Schulen, weil die Handy-süchtige Jugend psycho und asozial sei. An diesem verregneten Wochenende bin ich aber afk und räume mal wieder mein Ghetto auf. Steine, die ich bei Bergwanderungen aufhob, werfe ich ungern weg. In einer Dose habe ich sogar Haare gefunden von Platon, Eurem früheren Hund. Ich erinnere mich mega gerne an die Zeit vor dem Kindergarten, als ich sehr oft bei Dir und Opa war. An welche Momente Deiner frühen Kindheit erinnerst Du Dich besonders gut und gerne? HDML, Dein Tagträumer Jakob

Mein lieber Jakob, ich bin froh, dass Ihr bei uns auf dem Hof gar keine Lust auf Smartphone hattet, weil Ihr ständig draußen an der frischen Luft gespielt habt. Nur ganz kurz zur Smartphone-Diskussion: Meine Eltern nahmen uns jeweils die Radiogeräte weg, weil sie überzeugt waren, dass Pop- und Rockmusik die guten Sitten verderben würden. Ich setze stets auf Pädagogik und Vermittlung von Kompetenzen statt auf Verbote. Ihr müsst doch lernen, mit diesen Geräten so umzugehen, dass Ihr die Geräte beherrscht und nicht sie Euch. Wie bei den fossilen Brennstoffen, Nahrungsmitteln und Drogen geht es auch bei Smartphones und Sozialen Medien nicht um Verzicht, sondern um einen Umgang, der die langfristigen Folgen für die Mitwelt und Nachwelt ernstnimmt. Themawechsel. Deine Kindheitserinnerungen haben mich sehr gefreut. Deine Aufenthalte als Kleinkind bei uns auf dem Hof sind mir so präsent, als wäre es gestern gewesen, auch wenn wir Dich schon lange nicht mehr Jock oder Köbli nennen. Du wolltest jeweils auf den Kühen, Ziegen, Schafen und auch auf Platon reiten. Dieser war aber nicht ganz so begeistert wie Du. Als vor 5 Jahren in unserem Wohnzimmer der Christbaum brannte, wurden leider all unsere Fotoalben zerstört. Seither versuche ich Erlebnisse noch bewusster mit Hirn und Herz zu erinnern. Das Erinnern hat für mich nicht nur eine individuelle Bedeutung. Mir wird auch die kollektive Erinnerungskultur immer wichtiger. Es interessiert mich, wie Gesellschaften mit ihrer Vergangenheit umgehen. Wenn beispielsweise die Ausrottung bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen geleugnet wird oder wenn Denkmäler historischer Helden abgerissen und Straßen umbenannt werden, werde ich hellhörig. Im Moment sterben die letzten Zeug:innen des Holocaust. Die Menschheit darf diesen Tiefpunkt der Menschheit und Menschlichkeit niemals vergessen. Die Erinnerung ist wichtig, um frühere Fehler nicht zu wiederholen. Oh, Du wolltest ja wissen, an welche Kindheitserlebnisse ich mich besonders gut und gerne erinnere. Stationierte amerikanische Soldaten der Garnison in Heidelberg schenkten uns Kindern jeweils Kaugummi. Ich habe den Geschmack noch heute auf der Zunge. Lots of love, your chewing Grandma

Hi Granny, Du kommst vermutlich gerade vom Garten und hast frische Erdbeeren gepflückt oder warst in ein philosophisches Werk vertieft. Deine Kaugummi-Story kannte ich nicht. Ist ja voll fett. Du bist für mich eine wichtige Zeugin des 20. Jahrhunderts. Na, immerhin der zweiten Hälfte (*gig*). Vorgestern dachte ich im Geschichtsunterricht an Dich. Frau Schmitt berichtete von einer Studie, die die Arbeit der deutschen Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Legende bezeichnet. Ich habe von Papa oft gehört, dass die Generation Deiner Mutter selbstlos und tatkräftig den Schutt der zerbombten Häuser wegräumte und die Städte wieder aufbaute. Die neue Studie zeige auf, dass die Frauen nur einen Bruchteil der Trümmer aufräumten. Den Großteil hätten männliche Kriegsgefangene und Maschinen erledigt. Ich kann nicht nachprüfen, was damals geschah. Kannst Du mir sagen, wie das genau war? TNX und GuK, Jakob

Mein geliebter Enkelsohn, diese neue Studie über die Trümmerfrauen deckt sich durchaus mit meinen Kindheitserinnerungen. Politiker verwenden das Narrativ der Trümmerfrauen gerne, wenn es darum geht, den deutschen Fleiß der Kriegsgeneration zu glorifizieren. Gleichzeitig gab es im und nach dem Krieg selbstverständlich zahllose Frauen, die mittellos waren und sich mit Aufräumarbeiten Essensmarken verdienten. Eurer Lehrerin ging es im Unterricht wohl weniger darum, ob es ausschließlich, hauptsächlich oder kaum Frauen waren, die unsere Städte von Schutt befreit und neu aufgebaut haben. Sie versuchte vielmehr aufzuzeigen, wie wir unsere Geschichte mit sinnstiftenden und emotionalen Erzählungen zu beeinflussen versuchen. Strategie- und Kampagnen-Büros der Parteien arbeiten gezielt mit Narrativen. Die einen erzählen vor Wahlen die Geschichte unserer globalisierten und digitalisierten Gesellschaft, während andere heimatliche Gefühle in uns wecken und uns als jodelndes Bergvolk darstellen. In den USA wurde lange Zeit das Narrativ des aufstrebenden Tellerwäschers kultiviert, obwohl diese Karriere nur sehr wenigen Menschen gelang. Auch das Narrativ, dass meine Generation den Wohlstand in unserem Land durch harte Arbeit und Sparsamkeit aufgebaut habe, kann ich nicht mehr hören. Wir sind durch wirtschaftlichen Handel reich geworden, zu dem auch der Import kolonialer Güter aus Minen und Textilfabriken gehörte, wo Kinder und Sklaven arbeiten mussten. Herzlich drückt Dich Dein mobiles Geschichtsbuch Susi

BOE (Best Oma ever), es ist so spannend, wenn ich Dinge aus dem Geschichtsunterricht mit Deinen persönlichen Erfahrungen verbinden kann. Unsere Schulklasse geht nächste Woche ins Alterszentrum Betagte besuchen. Frau Schmitt meinte, dass es wichtig sei, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Sie meinte zudem, dass Altruismus im Sinn des selbstlosen Wirkens früher automatisch vererbt worden sei und dass wir Jungen den Gemeinsinn und die Gemeinnützigkeit neu lernen müssten. Stimmt das? Es drückt Dich Dein junger Hupfer Jakob

Mein lieber Jakob, ich habe von meinen Vorfahren kein altruistisches Gen für Selbstlosigkeit geerbt. In ländlichen Gegenden erlebte ich Gemeinsinn eher als gesellschaftlichen Zwang. Die meisten Frauen strickten abends und am Wochenende Socken, die der Frauenverein dann an Armutsbetroffene verschenkte. Dass sich heute trotz verbreitetem Individualismus und Egoismus viele junge Menschen gemeinnützig engagieren, finde ich wunderbar. Wahrscheinlich fürchtet Eure Lehrerin, dass Eure Generation nur noch am Handy hängt und schlicht keine Zeit mehr findet, um etwas für die Gesellschaft zu tun. Ich drücke Dich, Oma