Halt mich fest, dann werd ich stark - Wolfgang Bergmann - E-Book

Halt mich fest, dann werd ich stark E-Book

Wolfgang Bergmann

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Beschreibung

Wolfgang Bergmann weiß um die Zerbrechlichkeit der kindlichen Seele. Er macht sich zum Anwalt der Kinder und betrachtet die Welt aus ihrem Blickwinkel: Er stellt ihre Fragen an die so unverständliche Welt der Erwachsenen. "Halt mich fest, dann werde ich stark" nimmt uns mit auf eine spannende Entdeckungsreise in die Welt der modernen Eltern-Kind-Beziehungsforschung. Deren faszinierende Ergebnisse werden wie spannende Liebesgeschichten erzählt. Bergmann zeigt, worauf es ankommt, damit Kinder und Eltern glücklich sind. Der renommierte Psychotherapeut und Familienvater weiß, wovon er spricht. Er macht uns deutlich: Das Glück der Kinder ist abhängig von einer intakten Eltern-Kind-Beziehung. Daraus ergeben sich klare politische Forderungen für familien- und kinderfreundliche Lebensbedingungen, die Bergmann mit Verve vorträgt. Denn eines ist klar: Wir brauchen Kinder, und Kinder brauchen Nestwärme. Halt mich fest, dann werd ich stark von Wolfgang Bergmann als eBook!

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Seitenzahl: 257

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Wolfgang Bergmann

Halt mich fest, dann werd ich stark

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Für Yvonne, ohne die [...]VorwortVom Stillen zur Sprache, ein ÜberblickI. Teil Bindungen und EntwicklungenSaugend, schluckend und enorm neugierig: die ersten Lebenswochen und frühe Bindung»Das bin ja ich« – ein Kind wird bei seinem Namen gerufenWas war am Anfang? Die Liebe und das WortMia sieht einen VogelMias Ball oder: warum alles so kompliziert istAlles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei: die Objektpermanenz des Herrn PiagetÜberall steht etwas herum!Großvaters WunderautoMia oder: das Glück der KinderWas Sprache bedeutet und wie sie Ängste banntAlles ist fort – wie aus Angst Mut wird»Schau mal, Papa, ich fliege!«Die ersten Monate und die MoralAlles im Griff – trotzdemII. Teil Gestörte Bindungen oder:Ohne Bindung kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine FreudeFreunde? Ich habe Hunderte …!Mary und die FremdeIn der Fremde – Kinder im Experiment »fremde Situation«Unstillbar und unheilbar, frühe WundenBilder einer weiblichen DestruktionVergebliche Liebe, keine VergebungEine beinahe glückliche FamilieIch bin dann mal totKinder in Pflege, versorgt und unruhig. Eine nicht ganz traurige GeschichteAggressive Kinder: wild und böse, oft traurigIII. Teil Geglückte BindungenFroh im ZooGute Eltern, Glück gehabtLiteratur

Für Yvonne, ohne die dieses Buch niemals fertig geworden wäre

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Vorwort

Und wenn ich mit tausend Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wär ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle.

PAULUS, BRIEF AN DIE KORINTHER

Was wissen wir eigentlich über die ganz Kleinen, unsere Neugeborenen, die Säuglinge? Wie genau kennen wir ihre Gefühle und wie viel verstehen wir von den aufregenden Entdeckungen, die unsere einjährigen Kinder durchleben?

Überall gibt es Standards, Tabellen, in denen genau aufgezeigt ist, was ein Kind mit wie viel Wochen und Monaten alles können soll. Wahre Leistungskontrollbögen werden da in Sonntagszeitungen und Elternmagazinen verbreitet. So muss sich ein Kind mit soundso viel Monaten bewegen können. Dann muss es krabbeln, dann sich auf die eigenen Beine stellen und dann laufen können. Alles klingt wie genormt. Soundso viel Worte muss es dann sprechen, so viel teilweise vollständige Sätze mit spätestens, aber allerspätestens zweieinhalb Jahren hervorbringen und so weiter und so weiter.

Wir tun uns als Eltern und den Kindern keinen Gefallen damit. Ich selber beispielsweise sprach, wie meine Mutter glaubwürdig versichert, mit zwei Jahren noch kein einziges Wort, sondern gab befehlsartig hervorgestoßene Urlaute wie oh, ah und uh von mir (womit man in meinem Umfeld auch eine Zeitlang gut zurecht kam). Dann begann ich erst mit gut zweieinhalb bis drei Jahren zu reden. Und heute? Heute muss man mich bei meinen Vorträgen mit vorgehaltener Schusswaffe zum Schweigen bringen! Kurzum, von Tabellen und Standards halte ich wenig. Sie machen Eltern nur Angst. Meist sind sie auch noch falsch, weil sie nämlich Durchschnittswerte zeigen. Aber kein Kind ist »durchschnittlich«. Jedes ist etwas »Besonderes«.

Von dieser Besonderheit unserer Kinder ist seltsamerweise fast nie die Rede. Auf die käme es aber an. Wie lernt ein Kind eigentlich, was Freude und was Traurigkeit ist? Haben Sie darüber je auch nur einen einzigen Satz gefunden? Bestimmt nicht. Was ist eigentlich eine gute Bindung zu Mama und Papa oder zu anderen Erwachsenen, die einem Kleinkind in den ersten Lebenswochen über den Weg laufen? Wie nimmt ein Kind sie wahr? Welche Bedeutung haben sie für das Kind? Wie lernt ein Kind sie zu unterscheiden?

Oder noch etwas anderes: Wie versteht so ein Kleines eigentlich, was ein »Ball« ist? Sagen Sie nicht, das weiß doch jeder. Ein »Ball« ist eine höchst mysteriöse Angelegenheit, jedenfalls für ein Kind. Mal ist er groß, mal klein, mal grün, dann wieder grau, mal hart, mal weich. Und trotzdem ist er immer ein Ball. Das soll mal einer verstehen! Nie ein und dasselbe und trotzdem immer mit demselben Namen belehnt. Ein Kind muss (und will!) das alles lernen. Jeder Schritt in die Welt der Abstraktion, der Symbole, später der Sprache ist ein riesiges geistiges Abenteuer. Klassische Philosophie ist nichts dagegen!

Unsere Kinder lernen und lernen: Sogar die eigenen Gefühle müssen gelernt werden, dann der Ausdruck in Mamas und Papas Gesicht, dann der eigene Körper und seine vielen Empfindungen, dann die ganze unendliche Welt der Objekte. Und ganz zuletzt sogar die Sprache, über die sich die schlauesten Menschen seit Jahrhunderten die Köpfe zermartern. Was ist Sprache? Unsere Kinder lernen sie und lernen sich dabei selber kennen. Wenn das kein Wunder ist!

Über all das ist so gut wie nie die Rede. Übrigens auch nicht in den Ausbildungen von Erzieherinnen, Lehrerinnen, Sozialpädagogen und selbst Psychologen. Gott allein weiß, wer deren Lehrpläne verfasst hat. Das Wichtigste wird nicht gelehrt: was kindliche Gefühle sind und wie sie entstehen, was kindlicher Geist und Intellekt ist und was ihn behindert, wie Sprache erworben wird und was dabei stört. All das finden Sie in diesem Buch, und zwar auf eine ganz besondere Art erzählt.

Keine Lebensphase ist so exakt erforscht und in Tausenden von Studien, Verhaltensbeobachtungen und -experimenten und pädagogisch-therapeutischen Einrichtungen erlebt, aufgeschrieben und reflektiert worden, vom natürlichen Wissen der Eltern ganz zu schweigen. Bindungsforschung und neuerdings die Gehirnforschung und seit einem Jahrhundert die Tiefenpsychologie verraten uns vieles, fast alles, über das Seelenleben der kleinen Kinder.

Deshalb müssen wir uns auch gar nicht mit umständlichen Fachbegriffen herumschlagen. Was man wirklich verstanden hat, kann man in einer einfachen Sprache darstellen. Und schließlich reden wir ja von Kindern, von ihrem prallen, vollen, bunten, traurigen und lustigen Leben.

Weil unser Wissen über Kindheit so klar und vielfältig und lebendig ist, habe ich mich zu Folgendem entschlossen. Ich referiere die Entwicklungsstufen der frühen Kindheit nicht, ich schildere sie. Ich erzähle von der kleinen Mia und wie sie ganz verzückt über einen Vogel staunt, der am Fenster vorbei fliegt. An diesem kleinen Beispiel kann ich ganz genau aufzeigen, wie ein Kind anfängt, sich die Welt durch seine Sinne und seine Körperbewegungen verständlich zu machen. Ich erzähle dann weiter, wie diese Körperbewegungen zu »Symbolen« werden. (Dass wir die Welt durch Symbole erleben, ist eine Besonderheit der Menschen. Man muss schon genau hinschauen, um das alles zu verstehen.) Ich habe diese manchmal gar nicht so einfachen seelisch-geistigen Entfaltungen der kindlichen Psyche in kleine und große Geschichten eingekleidet.

Keine Sorge, jede bewegt sich auf dem neuesten Stand der entwicklungspsychologischen Debatten und Forschungen. Anschaulichkeit heißt nicht, dass man vereinfacht. Anschaulichkeit heißt nur, dass man beim Verstehen auch »fühlt«.

Und dann ist immer wieder die Rede von Bindung und Bindungsforschung. Das schönere Wort für Bindung ist »Liebe«. Die Bindungsforschung belehrt uns seit 50 Jahren, dass es keine Intelligenz, keine soziale Kompetenz, kein Mitgefühl und keinen kindlichen Gehorsam und überhaupt kein glückliches Leben ohne frühkindliche Bindung gibt. Von diesen Forschungen erzähle ich auch, jedenfalls von den wichtigsten.

Und schließlich gibt es bindungsverarmte Kinder. Das ist der zweite, der traurige Teil dieses Buches. Aber ohne Hoffnung ist auch dieser Teil nicht. Es gibt keine Kindheit ohne Hoffnung. So wenig, wie es ein Kind-Sein ohne Zukunft gibt.

Zuletzt lassen wir uns im Verlauf des Buches, während wir immer mehr und mehr von unseren Kleinen verstehen, von ihnen und ihrem frohen »Dasein« belehren. Sie haben uns nämlich Wichtiges mitzuteilen, sogar das Allerwichtigste: die Liebe.

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Vom Stillen zur Sprache, ein Überblick

Alle Jahre wieder die Debatte um Gehorsam und Disziplin, dass moderne Kinder schwierig seien, dass sie auch einem geduldigen Erwachsenen den allerletzten Geduldsfaden zerreißen können – das alles ist richtig. Es verweist auf ein tiefer greifendes Problem, das sich in so erschütternder Häufigkeit kindlicher Seelennöte äußert wie die ständig anwachsende Hyperaktivität – ein Medikament gegen Aufmerksamkeitsdefizite gehörte 2007 bei uns zur meist verschriebenen Medizin im Kindes- und Jugendalter – oder die rasant angewachsene Zahl von Essstörungen, von denen nach neueren Studien jedes vierte Mädchen im Teenageralter betroffen ist. Der Ärger über die modernen Kinder, die laut, vertrotzt und rotzfrech durch die Gegend rennen: Wäre all das nicht Anlass genug, darüber nachzudenken, ob sich hinter solchem Verhalten nicht Nöte verbergen, wie sie von Pädagogen und Therapeuten bestätigt werden? Aber solche Debatten finden nicht statt. Ein Grund kann sein, dass es den Autoren der derzeit hoch im Kurs stehenden Ratgeberbücher zur Disziplinpädagogik an Wissen um die Entwicklung fehlt. Es fehlt das Wissen über die früheste Entwicklung der Kinder, über die Phase, in denen die Bindung zwischen Eltern und Kind, deren Liebe und Halt die Fundamente des kindlichen Selbst legen sollen – und es offenbar oft genug nicht tun.

Davon handelt dieses Buch. Weil Disziplin gerade Konjunktur hat, beginnen wir mit einem kleinen Streifzug durch die frühen Entwicklungsphasen, jede einzelne werde ich in späteren Kapiteln vertiefen und detailliert nacherzählen.

Wenn wir von Gehorsam und Disziplin reden wollen, müssen wir uns die frühe Kindheit anschauen, möglichst genau. Das ist gegenüber Erziehungsparolen ein wenig umständlich, vielleicht sogar mühsam, ist aber die einzige Möglichkeit, in einer blassen und teilweise blamablen pädagogisch-psychologischen Debatte wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

In aller Kürze: Säuglinge sind kompetenter, als man lange Zeit glaubte. Sie wenden sich schon wenige Tage nach der Geburt mit weit offenen Sinnen ihrer Umwelt zu. »Umwelt« ist natürlich zuerst und vor allem »Mama«, aber neben ihr erregen auch die Klänge, die Farben und die Bewegungen ringsum das höchste Interesse der Kleinsten. Je ungestörter ihr Vertrauen zum Mütterlichen ist, desto vorbehaltloser spannt sich ihr Geist, wird mit jeder kleinsten Wahrnehmung wacher und aufmerksamer. Damit haben wir das Grundmodell guter Erziehung und behutsamer Autorität bereits formuliert: Die innige seelisch-körperliche Bindung an das Mütterliche – etwas später kommt das Väterliche hinzu – ist die Grundlage dafür, dass Kleinkinder die Welt um sich herum angstfrei und intelligent, verlässlich und aufmerksam aufnehmen und mit ihr vertraut werden.

Auf dieser Basis greift ein Kind begierig nach den Dingen der Welt, erwirbt in immer komplexeren, manchmal wunderbar zu beobachtenden Schritten gleichzeitig ein Gefühl für seinen Körper, seine Geschicklichkeit, seine Intelligenz und lernt die Dinge verstehen – ein unerhört komplexer Vorgang, in dem die elementaren emotionalen und kognitiven Entwicklungen weiter und weiter getrieben und zu immer neuen Einheiten gefügt werden. So reift das kindliche »Selbst«. Diese Reihenfolge ist unumkehrbar: erst die Liebe, dann die Ordnung, schließlich die geistig-sinnliche Erfahrung der »Welt«.

Schauen wir noch etwas genauer hin: Neugierig und mutig oder erschrocken reagiert das Kleinkind auf die vielen Signale der Umwelt. Manchmal vorwitzig und vergnügt, oft aber verängstigt sucht es danach sofort den Kontakt mit Mamas Körper und vor allem ihren Augen. Der mütterliche Blick prägt unser »Ansehen« und »Angesehenwerden« ein Leben lang (das Väterliche knüpft unmittelbar daran an). Sie beschwichtigt die Angst. Woher rührt ihre »Kompetenz«? Die Antwort ist einfach: Bei Mama als Erste hat das Kind gelernt, seine Gefühle festzuhalten, sie zu »er-innern«, damit wurden die Grundlagen eines einheitlichen Selbst gelegt. Konkret sieht das beispielsweise so aus: Mama schaut ihr Kind an, ihr Lächeln macht es froh, es strampelt vergnügt, die Mutter reagiert auf dieses putzige Strampeln mit vermehrter Freude. Sie lernt, die Zeichen und Laute und Bewegungen des Kleinen immer genauer zu entziffern, und das Kind lernt dabei, »seine eigenen Gefühlszustände wiederzuerkennen und auf diese Weise in sich zu verankern«, gleichsam zu lernen. Die Gefühle werden bei der Mutter rückversichert, werden an sie gebunden und wieder holt. Ein seltsamer Lernprozess ist das, den jedes Kind durchläuft: Es lernt sich selber kennen. Sein Selbsterkennen ereignet sich im »Spiegel« der feinfühligen Reaktionen der Mutter, des Vaters und später weiterer vertrauter Personen.

Noch einmal etwas anschaulicher: Mama lernt ja auch, sie reagiert immer feinfühliger, sie weiß jetzt, mal ist das Strampeln ihres Kindes nur Zeichen von Müdigkeit, mal pure Lebensfreude. Darauf reagiert sie mal beschwichtigend, mal selber ganz froh, mal auch ein ganz klein wenig ärgerlich. Aus diesen »Antworten« der Mutter – ihrem Blick, dem Tonfall ihrer Stimme, ihren Handlungen – wird das Kleine mit sich selber vertraut. Im Kern dieses Selbst-Vertrauens befindet sich nun Mama, später andere vertraute Menschen. Jetzt weiß es schon, dass Freude und diese ganz besondere Art zu strampeln zusammengehören, jetzt verstärkt es seine Freude ganz selbsttätig, indem es sie mit vermehrtem Strampeln, mit mehr Bewegungen und Lauten zum Ausdruck bringt. Das seelische Selbst reift, die kommunikativen Fähigkeiten auch.

Danach greift seine Aufmerksamkeit immer gezielter über Mama hinaus, fremde Gesichter zeigen sich an ihrer Seite, manche machen Angst. Andere, wie das väterliche, wirken irgendwie vertraut. Diese brummende Stimme, diese tapsigen Schritte von »Papa« hat das Kleine gespeichert. Es hat Papa zugleich mit Mamas Worten, ihrer Nährung und Fürsorge auch schon »aufgesogen«. Auch der Vater ist in die Gefühlsgewissheiten der ersten Lebenswochen einbezogen.

Wenn Papa beispielsweise sein Kind wickelt, dann erweitert sich dessen Vertrauensraum: »Schau an, dieser halbfremde Mensch mit der seltsamen Bass-Stimme wickelt mich genauso vorsichtig wie Mama!«

Oft macht ein Papa das viel vorsichtiger. Mütter haben zu ihrem körperlichen Umgang mit Kleinkindern eine Art intuitives Vertrauen, das auf Außenstehende oft ziemlich grob wirkt. Männer sind vorsichtiger, gehemmter, jedenfalls umständlicher. Das sind dann schon feine Unterschiede in der kindlichen Wahrnehmung, die die spätere Differenzierung der Geschlechter vorbereiten. Wer meint, dass das geistige Leben von Kleinkindern simpel ist, hat keine Ahnung.

Papa lacht anders, singt oder brummt anders, grummelt auch schon mal vor lauter Anstrengung und Unsicherheit angesichts dieses winzigen Wesens, später kann man mit Papa anders Türme bauen oder den Ball anders und kräftiger gegen die Wand schleudern – anders eben. Mit der Vielfalt der gespeicherten Eindrücke greift das kindliche Verstehen über das Mütterliche hinaus. Jetzt will es die Welt erobern, benötigt aber die »gespeicherte« innige Bindung immer als Basis. Behutsam, aber entschlossen wendet sich das Kleine der Welt der Menschen und Dinge zu. Ein unvergleichliches Abenteuer beginnt.

Inzwischen ist das Kind ein oder anderthalb Jahre alt geworden. Mit den Fingerspitzen berührt es ein Bauklötzchen, schiebt es dann heftig weg von sich, betrachtet gespannt die eigenartige Bewegung des Gegenstandes, während der von ihm wegkullert, und schließlich brüllt es los, weil es ihn »aber sofort!« zurückhaben will und weil das eigensinnige Ding sich dem kindlichen Wunsch nicht fügt. Es hat seinen »eigenen Sinn«, folgt einer eigenen Ordnung. Wie mühsam das alles zu lernen ist! Das Kleinkind muss nun, vielleicht auf Knien, zu ihm hinkrabbeln und -rutschen, es nimmt dabei die Besonderheiten des Räumlichen und des eigenen Körpers in diesem Raum ganz nebenbei auf, um jenes begehrte »Objekt« Bauklötzchen wieder in Besitz zu nehmen.

Mit staunenden Augen und behutsam tastenden Bewegungen versucht es herauszufinden, wo in dieser glatten Fläche und der harten Kante der denkwürdige Eigencharakter des Dings, sein Kullern und sein Liegenbleiben, verborgen sind. Aber das Klötzchen gibt sein Geheimnis nicht preis, seine Funktionen sind ihm nicht anzusehen. Nun muss das Kind über das rein Sinnliche hinausgreifen, hin zu ersten Schritten der Abstraktion, um solche Befremdlichkeiten zu erfassen.

Sein wacher unermüdlicher Verstand empfängt eine erste Information darüber, dass die Dinge zwar einerseits so sind, wie sie sich anfühlen, aber andererseits zusätzliche Besonderheiten haben, eigenartige Bewegungen, unkalkulierbare Abläufe – ein Bauklötzchen hat andere als ein Ball. Und als sei das nicht alles schon kompliziert genug, treten diese Objekte obendrein auch noch untereinander in Kontakt. Ein Ball kann beispielsweise einen Turm aus Bauklötzen glatt umschmeißen, und die Klötzchen kullern dann in alle Richtungen wild drauflos. Materie, Funktion und Kausalität – was für eine verrückte spannende Welt das ist. Das Kind lernt und lernt.

Papa ist jetzt immer wichtiger geworden, er scheint ja alle diese Zusammenhänge zu verstehen und »im Griff« zu haben. Papa sichert mehr als alle anderen Menschen diese symbolische und sinnliche Welt, während Mama durch ihre pure Präsenz die Gewissheit der Bindungen stiftet, die allem Verstehen vorausgehen. Bindung und das Lernen der eigenen Gefühle vermengen sich, so erwacht der kindliche Verstand bei gleichzeitiger Vertiefung seiner Ich-Gefühle.

Was hat dies alles mit Gehorsam und kindlicher Tyrannei zu tun? Nun, liegt das nicht auf der Hand? Durch die Bauklötzchen ebenso wie durch Papas Brummeln und »komisches Wickeln«, durch Mamas Brust und ihre Augen und ihre Haut und ihren Geruch ist das Kind – um eine Kleistsche Formulierung aufzunehmen – »mit sich selber bekannt geworden«. Das so gereifte Selbst richtet nun seine Laute immer gezielter auf die Dinge und auf seine Gefühle – es spricht. Sprache ist der letzte Schritt zur »Selbst-Bewusstheit«, sie ist, wie Heidegger schrieb, »die Heimat des Menschen«.

Diese wichtigsten Personen der frühen Kindheit sind im Kern des kindlichen Selbst verankert, in seiner Sinneswelt, seinem Körperempfinden und all den vielen symbolischen Ordnungen (bis hin zur »Muttersprache«). Mama und Papa sind in gewisser Weise dieser Kern. Je verlässlicher sie in der Psyche gesichert sind, desto intensiver und vorbehaltloser nimmt ein Kind jene komplexen Welterfahrungen auf. Je ungesicherter sie sind, desto mehr bleiben alle geistigen und sinnlichen Erfahrungen mit Hemmung und Angst behaftet. Je zuverlässiger die vertrauten Bindungen, desto mutiger und intelligenter greift das Kind über sie hinaus und wird, indem es die Welt mit Sinnen und Verstand einatmet, immer autonomer, klüger, geschickter und kommunikativer. So erklärt sich diese Formel: Die Ordnungen der Dinge sind von den Gefühlen zu Mama und Papa durchdrungen.

Je plastischer, lebendig-vielfältiger die Ordnungen der Welt gelernt werden, desto tiefer die Bindung, die sich in jedem kleinsten Selbsterwerb des Kindes betätigt und bestätigt. Und anders ebenso: Je mehr Dressur und Lenkung, desto unsicherer werden die Gefühle für Mutter und Vater. Das ist das fast schon komisch anmutende Paradox: Frühe Gehorsamserziehung im Sinn von Kontrolle und Lenkung bewirkt viel zu oft, dass das Vertrauen zum Mütterlich-Väterlichen erschüttert wird. Zugleich damit wird Intelligenz und soziale Feinfühligkeit eines Kindes beschädigt.

Noch mal in einer anderen Formulierung, weil es so wichtig ist: Kinder lieben ihre Eltern, sonst würden sie die Eigenart der Objekte und des sozialen Zusammenlebens nie verstehen und empfinden. Je geringer diese Liebe, desto störrischer, verängstigter und einsamer das Kind. Gehorsamspädagogik erzeugt just solche zerstörerischen und selbstzerstörerischen, verwirrten und ahnungslosen Kinderseelen. Ist das schwer zu begreifen? Wirklich?

Manchmal freilich trifft der ungeübte kindliche Wille hart auf die Ordnung der Dinge oder die Wünsche der Eltern. Das sind kleine Katastrophen für das kindliche Selbst. Nun gilt es, diese Katastrophen zu mildern, zu trösten. Trost schafft Bindung, Bindung schafft Gehorsam.

Inzwischen ist das Kind vielleicht drei Jahre alt, verfügt über Wille und Sprache – Konflikte sind unvermeidlich, manchmal sind sie heftig und müssen auch ausgetragen werden. Aber niemals so, dass das beschriebene Fundament des kindlichen Selbst, seiner Autonomie und seines Gehorsams – wir haben jetzt verstanden, dass diese drei zusammengehören – beschädigt oder gar erschüttert werden. Mamas beruhigende Stimme, ihre wärmende und nährende Nähe, Papas freundliche Tollpatschigkeit und sein Spiel mit Bauklötzchen, Ball und anderen wunderschönen Dingen – das ist die Substanz, die noch im ärgsten Konflikt trägt.

Die Disziplinpädagogik, die soeben im Aufwind ist, hat das nicht verstanden. »Da muss man mal dazwischengehen, das Kind muss Ordnung lernen« – schauen wir nur hin, nie sind die komplexen Ordnungen der kindlichen Seele gemeint, sondern immer nur die muffigen Normen der erwachsenen Welt in ihrem langweiligsten und ärmsten Zustand. Gute Pädagogik aber verbindet und verbündet beide, die Ordnungen der Welt und die Liebes-Ordnung der Seele, und zerreißt sie nicht. Eigentlich ist alles ganz einfach.

Wenn das alles verstanden worden ist, dann – aber erst dann! – darf Papa vor lauter Ärger auch mal kräftig auf den Tisch hauen. Wahrscheinlich beeindruckt er, nach einem Wort von Willy Brandt, »nicht einmal den Tisch«, aber es tut Papas Seele gut. Dann darf Mama auch mal drauflos-meckern, weil ihr eben gerade so ums Herz ist, sie wird schon rechtzeitig wieder aufhören. Dann darf es Streit und Konflikt geben, aber eines niemals – Lieblosigkeit.

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I. TeilBindungen und Entwicklungen

Ein Kind lernt die Welt kennen

Saugend, schluckend und enorm neugierig: die ersten Lebenswochen und frühe Bindung

Schmatzend und schluckend und glucksend in still beruhigter Zufriedenheit – so liegt der Säugling an Mamas Brust und wird genährt. Das Kleine atmet Mamas Geruch ein, spürt ihre Haut, greift mit unsicheren Fingern nach ihr – ein Bild, das die Kulturgeschichte der gesamten Menschheit umfasst, in der westlich-abendländischen Kultur findet es sich mystisch überhöht seit Jahrhunderten in den Marien- und Jesusbildern, Skulpturen, Ikonen. Die beeindruckendsten unter ihnen zeigen ein rein irdisches Glück: Mutter und Kind, ganz innig vertraut.

Mamas Stimme, Mamas Atem, die Bewegungen ihres Körpers, die Vertrautheit ihrer Haut, all dies sind seelisch und somatisch prägende Tatsachen. In dieser Lebensphase ist zwischen dem Seelischen und Körperlichen überhaupt nicht sinnvoll zu unterscheiden. Was hier seelisch zustößt, wächst in gleicher Weise in Körper und Seele hinein.

Wenn ein Kind, gestillt und still geworden, ruhig und zufrieden sein Köpfchen zu Seite neigt – jetzt ist es müde, jetzt will es einschlafen, und der Geschmack und der Geruch des mütterlichen Körpers gleiten mit in den Schlaf hinein –, dann beginnt, was die Forschung ein wenig umständlich »Bindung« nennt. Schöner und genauer gesagt: Es ist die innigste Liebesgeschichte von allen. Mehr Nähe gibt es zwischen zwei Menschen nicht, auch nicht in der geschlechtlichen Vereinigung.

In solcher Bindungsintensität lernen die Kinder ihre Gefühle kennen. Alles geschieht im Spiegel des mütterlichen Blicks. Sie fühlen: Mama lächelt, jetzt durchströmt mich ein Gefühl von Wärme und Wohlsein – selbst der nüchterne Psychoanalytiker Heinz Kohut spricht schwärmerisch vom »Glanz im Gesicht der Mutter« –, oder umgekehrt: Mama schaut traurig, jetzt durchrinnt mich ein Gefühl von trunkener Leere, ein Nicht-Gefühl, als sei ich gar nicht in der Welt angekommen.

Mamas Lächeln ist das Versprechen des Lebens, Mamas Körper ist die Sicherung des Lebens, Mama ist die Quelle des Daseins. So tief reicht diese ganz eigene weibliche Kompetenz, sie ist unaustauschbar. Die einzigartige Bindungsinnigkeit zwischen diesen beiden kann von niemandem ersetzt werden. Solche Bindung duldet keinen »Ersatz«, sonst scheitert sie, und mit ihr das Lernen von Gefühlen, von Selbst und Welt. Wir werden im zweiten Teil dieses Buches erfahren, wie nachhaltig, ja, wie lebenslang Bindungsstörungen dieser frühen Phase andauern.

Schluckend und glucksend sind diese Bindungserfahrungen von unbewussten Erinnerungen an das vorgeburtliche Sein begleitet – die Neurophysiologen haben neuerdings herausgefunden, dass sich die Einzigartigkeit dieser Bindung bis in die Ausschüttung hormoneller Botenstoffe und die von ihnen stimulierten Verschaltungen in bestimmten Gehirnarealen nachvollziehen lässt.

Die Mutter-Kind-Bindung hat einen Doppelcharakter. Zum einen hat sie Momente einer »Symbiose«. Symbiose, das Verschmelzen und Ineinanderfließen zweier leiblicher Wesen, so war es im Mutterleib. So wird es, lautete lange Zeit die Vermutung bestimmter Psychoanalytiker, auf der Seite des Kindes halluzinierend-tagträumerisch nach der Geburt innerpsychisch weitergeführt. Freud selber sprach in Anlehnung an einen französischen Dichter von »ozeanischen Gefühlen«. Ozeanisch ist das Unendliche, das sich weit und wie ewig ausdehnt, verschwimmt und gleitet, in unaufhörlichen gleichförmigen Bewegungen. Ist dies die seelische Verfassung der Neugeborenen?

Eine andere Überlegung liegt näher: Ja, es gibt diese symbiotischen Momente! Sie sind zutiefst beglückend, und vielleicht sind wir alle ein Leben lang unbewusst auf der Suche nach ihnen, nach Bewusstseinszuständen, in denen das autonome »Ich-Gefühl« ganz erlischt und ein symbiotisches Weltgefühl von uns Besitz ergreift. Aber die neuere Forschung lässt wenig Zweifel daran, dass schon die Säuglinge eigene »Kompetenzen« mitbringen. Sie sind offenbar neugierig auf die Welt, von den ersten Lebenstagen an, lauschen und schauen, verwirrt, neugierig, und wenn sie sich ausreichend beschützt fühlen, keimt in ihnen ganz früh die Lust auf diese fremde Welt, Objektlust, verschwistert mit der natürlichen Daseinsfreude der ganz Kleinen.

Mutter und Kind, sie sind gleichsam die Urbilder des ganz und gar »Versöhnten«, des Einigen, weltlos Entrückten. Aber sosehr es Momente solcher Entrückung geben mag – und ich bin überzeugt davon, dass sie unsere mystischen Gefühle speisen, unseren Aufbruch ins Vollendete, Erlöste stimulieren, so lange das Leben währt –: Die ganze seelische Wahrheit sind sie nicht.

Früh schon tritt ein Drittes, ein Anderes zwischen Mutter und Kind. Zum einen besteht es darin, dass auch die liebevollste Mutter niemals versorgend genug sein kann. Ein Kind hat Hunger und schreit, es friert und verlangt schreiend nach Wärme. Gewiss, eine liebevolle Mutter eilt herbei, die Stillung tritt ein, die Wärme wird gegeben. Aber vor dem schönen beglückenden Gefühl des Genährt- und Umhülltseins gab es doch den Absturz aus jenem »Einigen« in eine tiefe, rohe Abhängigkeit, den Sturz des Säuglings in elementare Bedürftigkeiten. Markierungen von abhängiger Wut, ohnmächtiger Bedürftigkeit, der Intensität von Vernichtungsängsten vergleichbar, stellen sich ein. Das ist das eine.

Ein Zweites: die Wahrnehmung der Welt, das Lauschen des Kindes, weg von Mamas Stimme, ihren Augen, ihrem Gesicht, hin zu den Schritten, die sich der kleinen Wiege nähern, den fremden Gesichtern, die sich über den Kinderwagen beugen, das strampelnde, krähende Vergnügen an den vielen anderen Ereignissen einer unbekannten Welt.

Mamas Liebe, aber auch »Mama kommt nicht, ich hungere«, Zorn und Empörung, aber auch Neugier und Lauschen auf die Welt: Alles formt und prägt die frühen Tage und Wochen des Säugling und Neugeborenen.

Nein, nichts ist einfach in der kindlichen Entwicklung, das gilt von den ersten Sekunden seines Daseins an.

Trotzdem gibt es Wertigkeiten, markante und weniger markante Prägungen. Beweisbar ist nichts, mir aber erscheint es seit je ganz offensichtlich, dass die symbiotischen Momente, so häufig sie gestört und unterbrochen werden, letztlich doch das Muster des Vertrauens in die Welt und in das reifende Selbst des Körpers und der Gefühle bilden. Zu ihnen kehren unsere Seelen im späteren Liebesverlangen zurück. Symbiose erleben wir auch als Liebende selten, sie dauert nicht an, aber sie prägt und bildet den Grundstock dauerhafter Beziehungen, über Krisen hinaus.

Vergleichbares geschieht zwischen dem Neugeborenen und der Mutter. Keine »Zweiheit« von leiblichen Existenzen kann ganz und gar in eine Symbiose, ein Zusammenfließen in eine Einheit, zurückkehren. Doch die Momente, die der Symbiose nahekommen, prägen von den frühesten Anfängen der Psyche an unser Glücksstreben, das erst stirbt, wenn wir selber sterben.

Zeitweise symbiotisch – vielleicht können wir uns auf diesen Terminus einigen. Zeitweise befinden Mama und Kind sich in einem atemberaubend feinfühligen Austausch der Gesten, der Stimmlaute, der Augen in besonderer Weise. Säuglinge schauen, wenn sie gestillt werden, in Mamas Augen, sie tun es auch, wenn Mama, während sie den Kinderwagen schiebt, (mit »dudu« und »dada«) auf das Kleine einredet. Nein, nicht auf den Mund, auf die Augen starrt das Kleine – und schauen wir nur auf uns selbst: Noch im eifrigsten Gespräch, im heftigsten Disput blicken wir unserem Gegenüber nicht auf den Mund, der die Worte, Thesen, Provokationen usw. formt, sondern in die Augen. Wir suchen im Gegenüber immer das tiefere Geheimnis des anderen, das an die Bindung der ersten Lebenswochen erinnert. Unser Lernen von Welt und Selbst hat hier seine Prägungen empfangen.

Und ein Letztes: Der Kontakt freilich, der sich zwischen Mutter und Kind einstellt, greift schon bald über das Symbiotisch-Einheitliche hinaus. Beide kennen und erkennen ihre Laute, ihre Körper, ihre Gefühlsäußerungen und antworten darauf, beide reagieren mit Feinfühligkeit aufeinander. Mama lächelt, und das Kind strampelt vor Freude, was Mama zu einem vertiefteren Lächeln verleitet. Und weiter: Der schlaue Säugling bemerkt sehr wohl, dass er mit einer bestimmten Art des Strampelns oder einem breiten Grinsen mitten in seinem runden Babygesicht Mamas Freude hervorrufen kann. Wenige Wochen später setzt er dieselben Gesichtsbewegungen als gelernten kommunikativen »Trick« ein. Er manipuliert Mama, und indem er es tut, lernt er seine Gefühle und Gefühlsäußerungen noch ein wenig genauer kennen. Mamas Antworten wiederum »regulieren« seine zahllosen bindungssuchenden Zeichen, Gesten, Laute – so haben wir alle uns selber kennengelernt. Nie waren wir »autonom«, zu keiner einzigen Phase unseres Lebens, wir waren und sind bezogen auf den oder die »anderen«, Mama vorweg, von Anfang an. So bleibt es.

Fürsorge fördert Stresstoleranz

Wie tiefgreifend solche frühen mütterlichen Fürsorgehandlungen sind, wurde unlängst von einem klinischen Psychologen und Neurobiologen an der kanadischen Universität Montreal vorgestellt. Er hatte an Ratten untersucht, wie weit sich die mütterliche Fürsorge auf die »Stresstoleranz« der Kinder auswirkt. Stresstoleranz bedeutet, dass ein Kind in der Lage ist, auch quälende Situationen wie Alleinsein oder Überfordertsein auszuhalten, ohne dabei seelisch Schaden zu nehmen. Der Neurobiologe Michael Meaney fand heraus, dass die Nager, die von ihrer Mutter häufig abgeleckt wurden, deutlich weniger Angst bei belastenden Situationen zeigten, deutlich weniger anfällig für Stress waren als diejenigen Kleintiere, die von einer weniger liebevollen Mutter aufgezogen wurden. Die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen (»Stress«) auszuhalten oder an ihr zu scheitern und mit Verwirrung und Aggression zu reagieren, wurde durch die Fürsorge der Mutter geprägt. Die Intensität der Stressreaktion, die das Tier im frühesten Alter zeigte, bleibt ein Leben lang erhalten.

Meaney ist Mediziner und Neurobiologe und interessierte sich deshalb besonders für die »molekularen Mechanismen«, die dieser Beobachtung zugrunde liegen. Er formulierte es so: Wenn eine Rattenmutter ihren Säugling leckt, sich also fürsorglich verhält, dann wird bei diesem kleinen Tier ein Botenstoff namens Serotonin freigesetzt. Dieser Botenstoff löst Veränderungen in den Nervenzellen einer Hirnregion aus, die die Gehirnforscher »Hippokampus« nennen. Dieser Gehirnbereich wiederum spielt bei der Regulation von Stress eine große Rolle, hier wird nämlich die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol reguliert. Nun wird es etwas kompliziert, aber es handelt sich ja auch um Biologie (wie habe ich dieses Fach in meiner Schulzeit gehasst!): Serotonin löst chemische Veränderungen in den Nervenzellen aus, und zwar auf folgende Weise: An bestimmten Stellen, im Genom werden sogenannte Methylreste abgebaut und insofern werden diese Nervenzellen aktiver, sozusagen »geputzt«. Dadurch werden Rezeptoren produziert, an denen das eben schon genannte Stresshormon namens Cortisol andockt. Durch dieses Andocken wird die Stressreaktion gehemmt.

Je mehr solche Rezeptoren vorhanden sind, umso intensiver vermag es die Stresssituation zu hemmen. Umgekehrt gilt das leider auch. Bei jenen Jungratten, die wenig umsorgt wurden, sind diese »Andockstellen« durch Methylgruppen besetzt. Dadurch wird die Funktion blockiert. Also werden weniger Rezeptoren produziert, an denen das Stresshormon andockt und insofern relativ unschädlich gemacht wird. Kein Wunder also, dass Stressreaktionen bei solchen, wenig umhegten, wenig »abgeleckten« oder schöner gesagt, weniger geliebten Jungratten sehr viel ausgeprägter sind als bei den anderen. Und noch etwas, was jeder Familientherapeut bestätigen kann und in jeder familientherapeutischen Ausbildung auch gelehrt wird, findet hier seine neurobiologische Bestätigung. Die Jungen von »Rabenmüttern«, die wenig abgeleckt wurden, werden selber wieder zu schlechten Müttern. Sie sind selber eine Generation später ebenfalls nicht in der Lage, sich ihren Kindern zuzuwenden, fürsorglich, feinfühlig, mit körperlicher und seelischer Innigkeit. So wird das Fürsorgeverhalten, oder wieder schöner gesagt: die Liebe oder die Gefühlskälte von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Das ist leider nicht nur bei den Ratten so!

»Das bin ja ich« – ein Kind wird bei seinem Namen gerufen

Wenn ein Kind morgens aufwacht, blickt es in eine fremde Welt. Nein, genau genommen blickt es gar nicht. Es schaut vielmehr unruhig hin und her, bewegt den kleinen Körper, so weit es das vermag, zur Seite und zurück. Es atmet Eindrücke ein, das Tageslicht, Laute, vielleicht aus der Küche, hoffnungsvoll aufgenommene Laute: Vielleicht kommt Mama gleich – sonst muss das Baby nachhelfen mit einem kräftigen, oft durchdringenden Schreien. Das heißt dann: »Wieso kümmert sich hier keiner um mich?« Aber Mama oder Papa erscheinen ja.

Und schauen wir nur hin. Alle Eltern, jedenfalls alle, die ein bisschen Liebe zum Kind in ihrem Herzen bewahrt haben, haben ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie sich zu der kleinen Schlafstätte hinabbeugen. Sie geben Laute von sich, jeden Morgen, Tag für Tag, immer wieder und beinahe gleichklingend: »mein Kind«, oder schon den Namen des Kindes, »Mariechen«.