Handbuch Stilsicher schreiben - Peter Linden - E-Book

Handbuch Stilsicher schreiben E-Book

Peter Linden

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Beschreibung

"Nur die geeignete Stilform erlaubt es, sich im Spannungsfeld zwischen den Erfordernissen eines Themas und der Erwartungshaltung des Publikums richtig zu platzieren. Was soll mit dem Text transportiert, welches Vorwissen darf vorausgesetzt werden? Welche stilistischen Möglichkeiten bietet das Medium, und wie sind die Rezeptionsgewohnheiten der potenziellen Leserschaft? Wer dies geklärt und seinen Platz eingenommen hat, kann souverän berichten, kommentieren, glossieren oder erzählen. Nur dieser Platz verleiht Autorinnen und Autoren: Autorität." Bei der Klärung dieser Fragen hilft das neue Stilhandbuch von Peter Linden. Er führt ein in den Textstil, prüft sprachliche Mittel auf ihre Wirksamkeit und unternimmt Exkurse in den Stil der Mode, der Architektur, des Films und der Musik - durch Interviews u.a. mit Anne-Sophie Mutter, Peter Zumthor und Eckart Witzigmann.

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Duden

HandbuchStilsicher schreiben

Wie Sie wirkungsvolle Texte formulieren

Von Peter Linden

Impressum

RedaktionDr. Kathrin Kunkel-Razum

AutorPeter Linden

Umschlaggestaltung2issue, München

UmschlagabbildungenNoun Project (CC BY 3.0): IconMark (Teilen-Icon), Trident (Teilen-Icon mit Pfeil), Royyan Razka (Füllerspitze), iconesia (aufgeschlagenes Buch), rivercon (Brief), Angel Yuta (Kugelschreiber); Buchstabe T: 2issue, München

LayoutVeronika Neubauer, Berlin

SatzVeronika Neubauer, Berlin

www.duden.de

www.cornelsen.de

1. Auflage, 1. Druck 2023

© 2023 Cornelsen Verlag GmbH, Berlin

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Das Wort Duden ist für die Cornelsen Verlag GmbH als Marke geschützt

Druck und BindungAZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Printed in Germany

ISBN 978 3 411 74079 6

Auch als E-Book erhältlich unter: ISBN 978 3 411 91430 2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

eins

Einführung

Interview: Günter Netzer (Fußball)

Stil braucht seinen Raum

zwei

Jargon und Stil

Interview: Peter Zumthor (Architektur)

Der Stil bin ich

drei

Stilformen

Nachricht

Reportage

Feature

Interview

Kommentar

Kolumne und Blog

Glosse

Essay

Rezension

Porträt

Mischformen

Interview: Thomas Schütte (Bildhauerei)

Fehler, Zufälle, Fantasie

vier

Textaufbau und Storyboard

Bild und Überschrift

Vorspann, Lead und Teaser

Der erste Satz

Der Einstieg

Die Story

Zwischentitel, Absatz, Punkt

O-Töne

Dialoge

Das Storyboard

Pointe und Schluss

Interview: Margarethe von Trotta (Film)

Stil braucht einen Fokus

fünf

Sätze und ihre Wirkung

Satzlänge

Satzbau

Die Perspektive im Satz

Satzzeichen

Redundanz

Interview: Eckart Witzigmann (Haute Cuisine)

Stil ist Weglassen des Unwesentlichen

sechs

Wörter und ihre Wirkung

Nomina

Verben

Adjektive und Adverbien

Wortschöpfungen

Interview: Anne-Sophie Mutter (Musik)

Perfektion ist eine Illusion

sieben

Klänge und Rhythmus

Literaturtipps

Vorwort

Anfang der 2020er-Jahre waren Neuroflash, Jasper und frase in Mode, seit dessen Launch am 30. November 2022 ist vor allem ChatGPT in aller Munde: Unter schreibgeplagten oder gar vom Schreiben überforderten Marketingleuten, Abgeordneten und Medienschaffenden gelten Chatbots, die mittels künstlicher Intelligenz (KI) Texte generieren, als Wundermittel im Kampf um bessere Texte.

Die »Netzcommunity« feiert deren »nachvollziehbare und sinnvolle« Ergebnisse mit hohem »Detailgrad«, verfasst in einer »lesbaren, verständlichen, logischen« Sprache. ChatGPT und Konsorten seien »Gamechanger« im Kampf um mehr Kundschaft, Wählerinnen und Leser, zumal sie Texte inzwischen wahlweise auch in einem Dialekt oder in der Sprache eines Thomas Mann erstellen können.

Eine Plattform für potenzielle Nutzer von KI warnt zwar davor, die zum Teil kostspieligen Tools zur Erstellung KI-basierter Texte zu überschätzen. Man solle bedenken, »dass auch die beste KI-Text-Generator-Software nicht funktioniert, wenn kein Mensch diese benutzt«. Doch dann folgt eine Einschränkung wie ein Donnerschlag: Menschliche Autorinnen und Autoren können noch nicht zu 100 Prozent ersetzt werden.

Noch nicht! Zu 100 Prozent! Wer möchte, kann den Satz auch so verstehen: Aber bereits zu 99 Prozent. Als Drohung auch an alle Romanautoren, Poetinnen, Drehbuchautoren, Deutschlehrerinnen, ja an die Verfasser origineller Liebesbriefe. Wo immer sie hinhören in diesen Zeiten, souffliert ihnen die Künstliche Intelligenz: Ich bin dir auf der Spur. Ich sitze dir im Nacken. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich dich einhole, überhole, überflüssig mache.

Also doch lieber kein »Handbuch Stilsicher schreiben« verfassen und stattdessen Programmieren lernen und die KI mit Daten füttern? Dieser Schluss wäre so nahe liegend wie falsch. Denn gerade der individuelle Stil, so wird dieses Buch zeigen, lässt sich niemals vollständig in Algorithmen fassen. Stil ist nicht die wahrscheinlichste unter Tausenden möglichen, korrekten Formulierungen. Stil kennt die Standards, aber unterwirft sich ihnen nicht. Manchmal bricht Stil sogar mit all den Konventionen, die andere mühsam in ihre Programme einspeisen.

Und doch: Um Konventionen zu brechen, muss man diese erst einmal kennen. Um gegen Standards aufzubegehren, muss man mit ihnen vertraut sein. Um die überraschend andere Formulierung zu finden, müssen die tausend möglichen korrekten Optionen zumindest zur Hand sein. Deshalb wird dieses Buch unweigerlich auch jenen in die Karten spielen, die an immer besserer Software für ihre Künstliche Intelligenz basteln.

Um sich ihnen dann frontal entgegenzustellen. Denn Stil ist eine Waffe gegen die Entmachtung durch KI. Und wie es aussieht, die einzige.

eins

Einführung

Am Anfang war stilus, der Griffel. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie »Stängel« oder »Schreibgerät«. Im 15. Jahrhundert konnten Experten erkennen, mit welcher Art Griffel, mit welchem Stil also, ein Text geschrieben war.

Bald verlagerte sich die Bedeutung des Worts auf die Kunstepochen: In Musik, Architektur, Malerei oder Bildender Kunst ist von verschiedenen Stilarten die Rede; etwa, wenn es heißt, eine Kathedrale sei im gotischen Stil erbaut. Die deutsche Literatur unterscheidet zahlreiche Epochen zwischen Mittelalter und Neuer Subjektivität.

In der Gegenwart scheint der Stilbegriff mehr und mehr auf das Individuum abzuzielen. »Stil ist die [durch Besonderheiten geprägte] Art und Weise, etwas mündlich oder schriftlich auszudrücken, zu formulieren« — so definiert der Duden Stil. Ähnlich sehen es in ihren Metiers zeitgenössische Musikerinnen, Architekten, Malerinnen oder bildende Künstler.

Wenn heute von Stil die Rede ist, geht also weniger darum, ob jemand den Regelkodex einer Epoche, einer Stilrichtung oder Stilform fehlerfrei befolgt, als vielmehr darum, ob er dies in einer »durch Besonderheiten geprägten Art und Weise« tut. »Gibt es zur jeweiligen Art und Weise keine relevante Alternative, wird sie auch nicht als Stil empfunden«, heißt es bei Wikipedia.

Stil und Publikum

Reichte dies aus, wäre jede Abweichung von der Norm bereits: Stil. Und ebenso jede Besonderheit, jede Marotte, die sich eine Autorin oder ein Autor angeeignet hat. Um dieser Schwäche der Definition zu begegnen, denken wir beim Begriff »Stil« beinahe automatisch ein Adjektiv mit: guter Stil. Diesen gilt es anzustreben, nicht allein durch Besonderheiten und Alternativen, sondern durch überzeugende Besonderheiten und überzeugende Alternativen.

Denn wann immer von Stil die Rede ist, ist unausgesprochen auch von einem Publikum die Rede, das diesen Stil anerkennen und wertschätzen muss. Stil braucht beides, Anerkennung und Wertschätzung, um zu gutem Stil zu werden. Und guter Stil braucht sehr viel Zeit, um womöglich ohne das Adjektiv gut als Stilform in die Geschichte einzugehen. Erst mit dem Abstand einiger Generationen erweist sich also, ob der Jubel des Publikums nur einer modischen Marotte oder einer stilistischen Meisterleistung galt.

Stil ist ein Paradoxon: Er erwächst aus dem Hier und Jetzt, ohne sich an den Zeitgeist anzubiedern. Er ist spontan und einzigartig im Moment des Entstehens, aber nachhaltig und vorbildlich in den Jahrzehnten danach. Stil ist hochaktuell und zeitlos zugleich.

Stil und Stilformen

Die in diesem Buch vorrangig beschriebene Ära der Ausdifferenzierung journalistischer Stilformen ist ein gutes Beispiel für dieses doppelte Spiel. Ausgehend vom Zeitalter der Chronisten und ihren immer gleichen Nachrichten entwickelten sich nach 1895 mit dem Film, der Fotografie, dem Fernsehen, dem Internet und künstlicher Intelligenz die Stilformen Reportage, Feature, Wortlautinterview sowie Storytelling für crossmediale und soziale Kanäle und Netzwerke. Auch die Literatur stand Modell; den Essay gestalteten Pressemenschen zu einer eigenen, journalistischen Stilform um.

Jedes Mal waren avantgardistische Stilisten am Werk, wenn neue Formen entstanden. Sobald das Publikum diese goutierte, folgte die kollektive Autorenschaft und ahmte sie nach. Aus dem stilistischen Wagnis Einzelner waren Stilformen geworden.

Dies gilt auch für den individuellen Schreibstil. Immer sind es zunächst einzelne Kreative, die sprachlich Neues wagen angesichts neuer Aufgabenstellungen. Einzelne, die feststellen, dass die bekannten Erzählkanäle, Erzählstrategien, Satzstrukturen, Ausdrucksformen, ja Wörter oder Zeichen nicht mehr kompatibel scheinen mit den Rezeptionsgewohnheiten eines zunehmend multimedial aktiven Publikums und der zu beschreibenden Wirklichkeit.

Die kurze Pause, den Knacklaut oder Glottisschlag, den Rundfunksprecher*innen zwischen Personenbezeichnungen und Endung setzen, um Genderzeichen auszusprechen, gab es im Deutschen beispielsweise nicht in dieser Funktion, ehe ihn kreative Feminist*innen aus dem Dänischen borgten, wo er in zahlreichen Wörtern regelmäßig vorkommt. Jemand fing damit an, viele folgten: Aus individuellem Stil erwuchs eine Sprechweise, die womöglich bald zur Norm wird.

Die Reise zum eigenen Stil

Wo also ansetzen auf der Suche nach dem persönlichen Stil? Für die noch Suchenden gibt es Tausende Aphorismen, sie gäben wunderbare Abreißkalender her:

Fremden Stil nachzuahmen, heißt eine Maske tragen, schrieb Schopenhauer.

Das richtige Wort am richtigen Ort, das ist die wahre Definition von Stil, behauptete Swift.

Nur in der Wegwerfung des Zufälligen und in dem reinen Ausdruck des Notwendigen liegt der große Styl, dozierte Schiller.

Andächtig nickend und doch kaum schlauer, machen sich die dergestalt Belehrten ans Tagwerk.

Dieses Buch belässt es bei den drei zitierten Weisheiten. Es versucht sich auch nicht an einer Geschichte des Stilbegriffs. Es ist keine wissenschaftliche Abhandlung von Stil in der Literatur. Es kann (und will) kein Kompendium rhetorischer Figuren sein. Und schon gar keine Sammlung von 25, 50 oder 101 goldenen Regeln für den stilsicheren Text. All dies haben andere kompetent und umfangreich erledigt (siehe Literaturtipps); es gäbe keinen Grund, sie zu wiederholen, und nur wenige, ihnen zu widersprechen.

Dieses Buch zielt vielmehr darauf ab, all jene, die selbst schreiben, auf eine Reise einzuladen. Eine Reise, an deren Ende im besten Fall eine Entdeckung steht: die des eigenen Stils. In erster Linie gilt die Einladung jenen, die Gebrauchstexte verfassen, Texte für Presse und soziale Medien, Reden, Texte für Pressestellen oder Kunden, Briefe. Doch auch Schriftsteller und Dichterinnen sind herzlich willkommen.

Die Reise führt durch die Welt der Textformen hin zu modernem Storytelling und Konzepten der Textdramaturgie. Sie führt hinein in die flexible Struktur deutscher Sätze. Sie führt tiefer zu einzelnen Wortarten und zur Bedeutung und Wirkung einzelner Wörter. Sie endet schließlich beim reinen Klang, dem Klang der vorgetragenen Rede oder des still gelesenen Texts.

Immer wieder werden Ihnen Beispiele begegnen — so viele wie nötig, so wenige wie möglich. Denn Beispiele drohen stets, als Schablonen für den perfekten Text missverstanden zu werden. Copy und paste — so funktioniert Stil nicht. Auf dieser Reise sollen die Beispiele lediglich helfen, genauer hinzusehen und hinzuhören. Manchmal beleuchten sie allzu Vertrautes aus der Sicht einer anderen Sprache, manchmal im Vergleich mit Film oder Fotografie. Manchmal zeigen sie ungewöhnliche Alternativen. Und zuweilen das Grauen der aller Besonderheiten beraubten Banalität.

Vom Fußballspielen, Bauen, Bildhauen, Filmen, Kochen und Musizieren

Unterwegs werden Sie auf ein halbes Dutzend Persönlichkeiten treffen, die in anderen Metiers ihren eigenen Stil gefunden und so den Stil vieler beeinflusst haben.

Fußballweltmeister Günter Netzer erzählt, weshalb sein unverwechselbarer Stil nur im geschützten Raum einer Mannschaft gedeihen konnte. Der große Schweizer Architekt Peter Zumthor berichtet von der Bedeutung immerwährenden Suchens. Deutschlands größter zeitgenössischer Bildhauer Thomas Schütte spricht über den Wert von Fehlern und Zufällen; Kultregisseurin Margarethe von Trotta vom exakt richtigen Abstand zu Thema, Protagonistinnnen und Protagonisten. Starkoch Eckart Witzigmann schildert, wie er lernte, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, und Starviolinistin Anne-Sophie Mutter erklärt, weshalb der richtige Ton nicht immer der beste ist.

Bei allen sechs ist es wie stets bei großen Stilisten: Sobald Expertinnen und Experten ihr Wirken beschreiben, fallen Adjektive wie unverwechselbar oder einzigartig und Nomen wie Handschrift oder Persönlichkeit. Sie sind weit über das Stadium hinausgelangt, in dem ihre Arbeit lediglich als makellos oder perfekt eingestuft wurde. Sie haben einen Stil kreiert, der bloße Perfektion hinter sich gelassen hat.

All das bedingte jedoch die jahrzehntelange, mühsame Erlangung ebendieser Perfektion. Etwas durch Besonderheiten prägen, das kann überzeugend erst gelingen, wenn man dieses Etwas ohne Besonderheiten beherrscht — die wenigen Genies vielleicht ausgenommen. Wie Netzer, Zumthor, Schütte, von Trotta, Witzigmann und Mutter haben beinahe alle großen Stilistinnen und Stilisten als fleißige, ehrgeizige und neugierige Schüler begonnen und es bis zur Meisterschaft getrieben. Und sich erst dann die Freiheit genommen, sich selbst zu verwirklichen.

Dennoch ist ihnen Selbstverwirklichung niemals Selbstzweck. Sie erscheint nie grob und allzu offensichtlich. Sie erschließt sich den Sinnen besser als dem Denken, den Gefühlen rascher als der Analyse. Sie besteht aus gut gewählten Momenten des gezielten, womöglich kaum spürbaren Tabubruchs, des gut dosierten Regelverstoßes. Egal, ob dieser beim Thema, in der Struktur, der Wahl der Zutaten oder auf der Ebene der klanglichen Harmonie stattfindet.

All dies bedeutet übrigens, dass sich Stil am besten in einem Ambiente der Freiheit entwickeln kann. In einer Umgebung, die Kreativität höher schätzt als Gehorsam, in einer Gesellschaft, die es möglich macht, Entscheidungen zu treffen, anstatt immer nur Erwartungen zu erfüllen. In einer solchen Gesellschaft gedeihen nicht nur bessere Künstlerinnen und Künstler, sondern auch ein besseres Publikum. Eines, das Ungewöhnliches zu schätzen weiß und gelegentliches Scheitern als Ausdruck von Mut wertet — nicht von Schwäche.

Wie man dieses Buch lesen sollte

Gehen Sie auf diese Reise nicht, ohne sich zuvor einen oder zwei selbst verfasste Texte bereitzulegen. Denn es wird Momente geben, in denen Sie stutzen, vergleichen wollen, überprüfen, ändern, verwerfen oder doch beharren. Sobald solche Momente eintreten, hat dieses Buch sein wichtigstes Ziel erreicht: Zweifel und Unbehagen auszulösen.

Das »Unbehagen«, so erklärte einst der Stilkritiker Ernst-Alexander Rauter seinen Schülerinnen und Schülern, sei sein Kompass, sein Ratgeber, ja sein Freund. Sobald der Leseprozess stockte, er eine Passage plötzlich für banal hielt, er ein Wort beim lauten Lesen nicht Silbe für Silbe aussprechen mochte, sobald er eine Alternative nicht fand, aber doch insgeheim suchte, hat dieses Unbehagen eingesetzt. Und dann ließ ihm ein Text keine Ruhe mehr.

In der Eile des Tagesgeschäfts wird das Unbehagen häufig ignoriert. Eine innere Stimme souffliert dann: Nicht so wichtig, die Lesenden werden es schon verstehen. Der Redaktionsschluss mag so eingehalten werden. Guter, geschweige denn unverwechselbarer, eigener Stil entsteht so nicht.

Interview

Günter Netzer (Fußball)

Stil braucht seinen Raum

Herr Netzer, als Sie Anfang der 70er-Jahre zuerst Europa- und dann Weltmeister wurden, fiel vielen Menschen im In- und Ausland erstmals auf, wie sehr sich der Spielstil der deutschen Nationalmannschaft verändert hatte. Was war da passiert?

——— Das war einfach plötzlich da. Es war eine günstige Fügung, dass sich da die richtigen Menschen trafen, um etwas Großes zu leisten.

Da war also niemand, der sagte, kommt, lasst uns aufhören, den Rasen umzupflügen, versuchen wir es stattdessen mal mit Eleganz?

——— Die Ursache lag eher in der Auswahl der dazu geeigneten Spieler durch den Bundestrainer.

Viele erklären sich den Wandel dennoch mit der Rolle Franz Beckenbauers und mehr noch mit Ihrer Spielweise. In der Hall of Fame im Deutschen Fußballmuseum ist die Rede von Ihrem »eigenen, unverwechselbaren Spielstil«.

——— Beckenbauer hat durch seine Spielweise den Fußball tatsächlich maßgeblich verändert. Bei mir selbst wäre ich da vorsichtiger. Erst als wir im Verein damals die Abwehr gestärkt hatten, konnte ich wirklich so etwas wie einen eigenen, offensiven Spielstil entwickeln. Diese langen, weiten Pässe, die ich gespielt habe, waren damals unüblich. Doch mein Vereinstrainer Hennes Weisweiler erkannte das Potenzial und sagte: »Selbst wenn du 30 Fehlpässe gespielt hast, spiele den 31. Pass. Du hast meine volle Unterstützung.«

Sie waren nicht nur wegen kreativer Pässe berühmt, sondern auch wegen ihres dynamischen und doch eleganten Laufstils. Haben Sie diesen bewusst kreiert oder ist das auch einfach passiert?

——— Das hat sich langsam entwickelt über die Jahre. Vor allem die Dynamik habe ich mir beinahe autodidaktisch zugelegt. Meine langen Haare haben den Eindruck, den die Zuschauer dabei gewannen, natürlich verstärkt. Aber es war wiederum vor allem der Trainer, der mir den Raum gegeben hat, diese Fähigkeiten einzubringen, indem er mich zum Beispiel weitestgehend von Defensivaufgaben befreite.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie Vergleiche verschiedener Fußballgenerationen ablehnen. Hat jede Generation ihren eigenen Stil und ihre eigenen Günter Netzers?

——— So ist es. Die Qualität der Vorbereitung, die Spezialisierung im Trainerteam, die Intensität der Betreuung durch Sportärzte — all das entwickelt sich rasend schnell weiter. Deshalb sind Vergleiche meiner Zeit mit der Gegenwart unsinnig und unfair. Jede Generation hat ihren Stil und ihre Figuren, die es in der nächsten Generation schon nicht mehr geben wird.

Also wird es nie wieder einen Pelé geben?

——— Eine Lichtgestalt wie Pelé ist schon deshalb nicht mehr möglich, weil sich heutzutage jeder Spieler noch viel mehr als früher einem größeren Plan unterordnen muss. Was nichts daran ändert, dass er für uns Alte immer der Beste aller Zeiten bleiben wird.

Es fällt auf, dass Ihre besondere Art, Fußball zu spielen, einherging mit einem besonderen Lebensstil. Sie trugen (und tragen) lange Haare, sie fuhren (und fahren) einen Ferrari, Sie galten (und gelten) als extravagant. Diente all dies der Schaffung der Marke Günter Netzer oder liegt in diesen Dingen das Wesen Ihrer Persönlichkeit?

——— Aus heutiger Sicht wäre der Begriff »Marke« berechtigt, das wird ja sogar gesucht und eingefordert. Aber damals? Da gab es so etwas doch gar nicht. Ich hatte ein paar avantgardistische Freunde und verkehrte in solchen Kreisen. In London wäre ich damit vielleicht gar nicht aufgefallen, aber in Mönchengladbach? Die Leute sagten: »Der sieht ja fürchterlich aus, aber immerhin spielt er vernünftig Fußball.« Wenn ich den Ball nicht getroffen hätte, hätten die mich zum Teufel gejagt.

Das klingt, als hätten Sie sich das Recht, Ihren eigenen Stil zu entwickeln, erst verdienen müssen.

——— Zumindest in den Augen bestimmter Teile der Gesellschaft. Meinen Freunden aus Kunst oder Medien fiel das weniger schwer. Von denen habe ich sehr viel gelernt, auch dass das Leben eines Showmans nicht unbedingt kompatibel ist mit dem eines Hochleistungssportlers. Aber manches habe ich eben doch mitgenommen in meinen Alltag als Fußballer.

Künstler stehen auch häufig für eine Art Rebellion. 1973 haben Sie sich im Pokalfinale gegen den 1.FC Köln ohne das Votum Ihres Trainers selbst eingewechselt — und kurz darauf in der Verlängerung das entscheidende 2:1 für Borussia Mönchengladbach geschossen. Fällt das nur zufällig in die Zeit unmittelbar nach den Revolten der 1968er oder lag darin auch eine Art Auflehnung gegen die Autorität?

——— Die 68er hätten das tatsächlich gerne so gesehen. Die wollten mich damals in ihre Nähe bewegen, sie dachten: Der Netzer könnte ja einer von uns sein. Aber ehrlich gesagt, habe ich das nie so gesehen oder gewollt. Der Titel »Rebell« steht mir nicht zu. Im Innersten war und bin ich eher schüchtern.

Das deckt sich mit einer weiteren Einschätzung aus der Hall of Fame: Ihr Stil habe sich nie gegen etwas gerichtet, sondern stets allein positiv auf Sie selbst.

——— Stimmt. Aber ohne Egoist zu sein. Ich habe nie für die Galerie gespielt, sondern für das große Ganze. Wenn wir verloren haben, habe ich gelitten, auch wenn ich gut gespielt hatte.

Ihre Autobiografie trägt den Titel »Aus der Tiefe des Raumes« — ein Bonmot, das die meisten untrennbar mit Ihrem Namen verbinden. Generell fällt auf, dass Sie geschliffene Formulierungen ebenso schätzen wie den vollendeten Steilpass. Woher kommt diese Affinität zur Sprache?

——— Je älter ich wurde, umso wichtiger wurde es mir, kultivierter, feiner, sensibler zu formulieren. Es ist mir eine große Freude, dass ich mich auch sprachlich immer besser ausdrücken und bewegen konnte.

zwei

Jargon und Stil

Wie eng die Begriffe Stil und Persönlichkeit mittlerweile verwoben sind, zeigt sich am deutlichsten in der Werbung für Mode und Kosmetik. Unaufhörlich werden Frauen und Männer mit der Aufforderung traktiert, sich gefälligst um einen ganz individuellen »Style« zu bemühen. Paradoxerweise soll das ausgerechnet dadurch gelingen, dass bestimmte Erzeugnisse aus industrieller Massenproduktion gekauft und angelegt werden.

Da diese Lüge leicht durchschaubar ist, nutzt die Werbung Prominenz aus Sport und Kunst als Botschafter. Fußballer oder Schauspielerinnen, die in ihren Bereichen womöglich tatsächlich Stilikonen geworden sind, sollen suggerieren, dass dieses Haarwaschmittel oder jener Markenschuh tatsächlich etwas beigetragen hätte zu ihrem Image.

Autoren oder Autorinnen können ihren Stil zum Glück weder kaufen noch transferiert bekommen. Sie müssen ihn schon selbst entwickeln. Auch in der Mode ist es ja so, dass individueller Stil eben nicht von der Stange kommt. Und am anderen Ende der Skala auch nicht für sehr viel Geld zu kaufen ist. »Ein Drittel klassisch, ein Drittel sportlich, und der Rest? Da spielt man!« — so definierte eine Pariser Modeexpertin einmal gegenüber der Modezeitschrift VOGUE ihren Stilbegriff.

Von wegen Konfektion!

Stangenware Jargon

Die Stangenware in der Mode ist in etwa das, was auf dem Gebiet der Sprache Jargon heißt. In einzelnen Komposita wird dies sichtbar: Von »Fachjargon« ist die Rede, von »Milieujargon« oder »Szenejargon« und auch immer wieder vom so typischen »SPIEGEL-Jargon«. Jedes Mal ist damit die mehr oder weniger stark reglementierte Sprache einer größeren Gruppe definiert. Und die unausgesprochene Verpflichtung, diese zu bedienen.

Das ist keine gute Nachricht für den SPIEGEL. Nicht etwa, weil Jargon in seiner ursprünglichen Bedeutung im Französischen einmal so etwas wie »unverständliches Gemurmel« bedeutete. Sondern, weil sie darauf verweist, dass Lesende des SPIEGELs tausendfach den Eindruck gewonnen haben, unterschiedliche Autorinnen und Autoren würden ihre Texte zu unterschiedlichen Themen auf immer gleiche Weise niederschreiben.

Dieser typische Jargon ist vielleicht eine der besten Erklärungen dafür, weshalb der Betrüger Claas Relotius für frei erfundene Reportagen gefeiert wurde: Das strenge Befolgen des hauseigenen Jargons fand in den zuständigen SPIEGEL-Redaktionen offenbar so viel Gefallen, dass man darüber die kritische Überprüfung der Fakten unterließ. Hätte sich Relotius über all dem auch noch als Stilist versucht, wäre er viel früher aufgefallen und aufgeflogen.

Vom Jargon zum Stil

Große Stilisten verweigern sich der sprachlichen Stangenware, weil diese nur in Ausnahmefällen Thema, Verfasser und Publikum zugleich gerecht wird. Im Normalfall bedarf das Spannungsfeld zwischen der Persönlichkeit der Autorin oder des Autors, den Erfordernissen des Themas und den Erwartungen der Lesenden einer immer neuen Vermessung.

Ein paar Fragen an sich selbst können helfen: Was hat das Thema mit mir zu tun? Weshalb berührt es mich? Wo ist die Stelle, zu der ich mit ehrlicher Neugierde vordringen möchte? Und wie kann ich später davon berichten oder erzählen? Wen will ich damit faszinieren, gewinnen, überzeugen?

Jeder Autor, jede Autorin wird diese Fragen anders beantworten. Das ist nicht nur kein Problem, sondern ein Gewinn für alle. Wenn die Antworten allerdings jedes Mal nichts oder niemanden lauten, muss das Thema neu justiert werden.

Auch dabei helfen Fragen. Worin liegen die Aktualität und die Relevanz? Sollte der Fokus womöglich doch auf einer einzelnen Person oder einem Detail liegen? Oder, im Gegenteil, auf Kontext und Metaebene?

Schließlich gilt es auch Fragen bezüglich der Lesenden zu beantworten. Wer wird oder soll diesen Beitrag lesen? Wie sehr darf Interesse, ja Vorfreude vorausgesetzt werden? Die Spendensammlerinnen und -sammler einer katholischen Mission erzählten einmal in einem Schreibseminar, wie wenig sie bewirken, wenn sie eine Hungersnot in nackten Zahlen skizzieren. Und wie viel, wenn sie diese anhand einer einzelnen Geschichte beschreiben. Umgekehrt werden Fußballfans sicher nicht glücklich, wenn ihnen die Bundesligatabelle als Reportage erzählt wird.

Es ist großen Stilisten anzumerken, wie sehr sie am Ende mit ihrem Thema, aber auch mit ihrem Publikum verschmelzen. Und wie innerhalb dieser Symbiose große Momente der Überraschung und Begeisterung entstehen. Momente der Freude und der Trauer, der Tränen und der Gänsehaut.

Ja, und Momente der Erkenntnis.

Interview

Peter Zumthor (Architektur)

Der Stil bin ich

Herr Zumthor, als ich auf dem Weg hierher nach Ihrem Atelier suchte, brauchte ich gar keine Adresse. Es genügte, sich die Häuser anzusehen. Wie kommt es, dass man ein Gebäude von Peter Zumthor sofort erkennt?

——— Meine Häuser sind Autorenarbeiten. Sie entstehen in einem künstlerischen Prozess. Ich beginne immer wieder von Neuem, lasse mich inspirieren vom Ort, seiner Geschichte, seiner Topografie und von der Bauaufgabe. So entstehen stets Originale. Die Form meiner Bauten ist immer anders.

Spricht das nicht sogar ein wenig gegen die Feststellung, dass man an Ihren Bauwerken sogleich Ihre Handschrift erkennt?

——— Ich denke nicht. Die Bauten strahlen wohl etwas aus, das mit meiner Person zu tun hat. Wer sie betrachtet, spürt Dinge, die mich berühren. Ich orientiere mich nicht an einer bestimmten Stilrichtung. Ich will die Dinge immer neu und selbst denken.

Was man umgekehrt sicherlich nicht sagen kann. Es gibt eine Reihe von Architekten, die sich an Ihnen orientieren.

——— Das stimmt und es freut mich. Aber viele arbeiten auch wie ich — als Suchende. Die Verwandtschaft besteht dann nicht in den stilistischen Formen, sondern im Prozess des Entwerfens. Von diesen Querbezügen profitiere auch ich wiederum enorm.

Als Sie 1986 hier in Haldenberg Ihr Atelier bauten, gab es nirgendwo vergleichbare Gebäude mit diesen so auffälligen, vertikalen Latten. Jetzt sehe ich sie überall, in Vorarlberg, im süddeutschen Raum. Von Weitem wirken diese Latten schlicht, beinahe unterkühlt.

——— Ich bin in der klassischen Moderne groß geworden mit viel funktionalistischer Ideologie. Man wollte die einfachste Form finden. Inzwischen bin ich fast 80 und kann größere Bereiche überblicken. Aber diese Freude ist mir geblieben: essenziell zu sein. Der Prozess des Entwerfens ist in der Regel einer des Weglassens.

Haben Sie sich irgendwann entschlossen, so zu arbeiten, oder ist das einfach passiert?

——— Meine Arbeitsweise hat sich über einen langen Zeitraum entwickelt. Etwas sehr Persönliches war wohl von Anfang an da. Mit der Zeit habe ich es mehr und mehr wahrgenommen und bin meinen Intuitionen gefolgt. Beschlüsse lagen selten zugrunde, eher die Zufälligkeiten des Lebens. Ohne dass ich das zunächst erkannte.

Zu den wichtigsten Zufällen des Lebens gehören die Umstände der Kindheit. Liegen die Wurzeln Ihrer Arbeitsweise, Ihres Stils in dieser Zeit?

——— Schon als Zehnjähriger verbrachte ich viele Tage in der Werkstatt meines Vaters und baute aus Holz Schiffe und Flugzeuge nach. Zum Beispiel die Super Constellation von Lockheed. Die kannte ich nur von Fotos und habe so lange gefeilt und geschliffen, bis ich sie genau getroffen hatte. Die Fragen von damals sind übrigens noch heute wesentlich für mich: Dünner, dicker, kürzer, länger, kantiger, geschmeidiger?

Am Anfang steht also das Handwerk?