Hannerl und ihr zu klein geratener Prinz - Dolores Schmidinger - E-Book

Hannerl und ihr zu klein geratener Prinz E-Book

Dolores Schmidinger

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 1938. Bei der "Gewerkschaft der Arbeiter im Lebens- und Genussmittelgewerbe" trifft die quirlige Sozialdemokratin Johanna Deweis, die ihre Karriere fest im Blick hat, auf den linkischen Erzkatholiken Josef Schmidinger, der sich als Tenor auf den Bühnen der Welt wähnt. Trotz aller Unterschiede kommt sich das ungleiche Paar näher – aber ob diese Verbindung auf Dauer gutgehen kann? Schauspielerin und Kabarettistin Dolores Schmidinger taucht mit dem ihr eigenen fatalistischen Humor in die (Un-)Tiefen ihrer Familiengeschichte ein und entwirft ein Panoptikum an eigenwilligen Charakteren: Freigeister und Revoluzzer, Genussmenschen und Selbstverleugnerinnen, glühende Nationalsozialisten und bigotte Mitläufer. Entlang der Lebenslinien ihrer Eltern und Großeltern liefert Schmidinger mit spitzer Feder eine Parabel darauf, wie Lebensträume am Alltag zerschellen, Frauen sich (noch immer) für Männer klein machen – und nicht zuletzt darüber, wie Mitläufertum in Zeiten einer Diktatur zum Normalfall wird.

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DoloresSchmidinger

HANNERLUND IHRzu klein geratenerPRINZ

Inhalt

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

IVERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

NEUNZEHNTES KAPITEL

ICH SAGE DANKE AN

ERSTES KAPITEL

Die Barbara wundert sich, dass sie immer dicker wird. Es kann doch nicht sein, dass sie schwanger ist. Ihre Blutung ist zwar zweimal schon ausgeblieben, aber das kommt von den kalten Füßen, die man sich im Weinkeller beim Abfüllen holt.

Und wie sollte sie auch schwanger sein? Schwanger wird man, wenn man mit einem Mann im Bett schläft, oder? Sie hat mit ihrer Schwester in einem Bett geschlafen, aber das ist lange her. Und sie ist einem Männergesicht nicht in die Nähe gekommen – falls die Erntehelferin, die Liesi, recht hat, dass man schon vom Küssen schwanger werden kann. Sogar dem Franz ist sie aus dem Weg gegangen, obwohl er sie immer so angeschaut hat, wenn sie vorbeigegangen ist, vom Kopf über die Brust, und seine Augen sind dann zwischen ihren Beinen hängengeblieben.

Nein, da gibt es keine Sünde in der Ortschaft Oberdürnbach, Gemeinde Maissau in Niederösterreich, im Jahr 1913. Außer hie und da eine Birne von einem Baum stehlen. Da geht alles mit rechten Dingen zu, auch am Hof des Weinhauers Alois Prager und seiner Familie. Die Mutter Caroline, der Stammhalter Alois junior und die Töchter Pauline und Barbara. Ihr Hof liegt am Ende der Ortschaft, dort, wo die Felder anfangen. In der Kellergasse steht das Presshaus mit dem Weinkeller, die weiß gekalkte Fassade mit Efeu bewachsen.

Man hat eine Magd für die Arbeit im Haus und einen Gesellen, der bei der Arbeit im Weingarten hilft. Dem jungen Alois soll einmal das Weinanbauen vererbt werden, aber er will bei der Infanterie marschieren, für Kaiser und Vaterland.

Es geht so dahin mit dem Leben am Hof, wo der Haustrunk immer am Tisch steht: ein Drittel heuriger Wein, zwei Drittel Wasser und drei Esslöffel Zucker. Das hilft gegen den Durst der ganzen Familie.

Die Barbara ist jetzt 23 und hat bisher mit den Burschen nicht viel anzufangen gewusst. Sie ist auch nicht so hübsch wie die anderen Mädchen und versteht es nicht, sich aufzuputzen.

Sie hat kräftige Arme und ein kantiges Gesicht, nicht so ein weiches wie die anderen Mädchen, die sich die Haare mit Zuckerwasser zu Locken drehen.

Seit sie mit zwölf die Volksschule verlassen hat, hilft sie dem Vater im Weingarten und – obwohl er sie noch nie gelobt hat – weiß sie, dass sie es besser macht als ein Mann.

Sie ist auch lieber allein als mit den anderen Mädchen Späße zu treiben, die dann in ein Lachen ausbrechen, als ob Fohlen wiehern würden. Die anderen Mädchen vom Dorf, die ihre Mieder beim Tanzen ganz eng schnüren, dass die Brüste herauszufallen drohen und die Barbara ausspotten, weil bei ihr „nicht viel herausfallen kann“.

Im vorigen Winter, beim Perchtenlauf, als die Burschen in ihren schaurigen Masken behörnt und betrunken mit ihren Ruten auf die Mädchen losgegangen sind, wo sich das männliche Grölen mit dem Gekreisch der Weiber gemischt hat, da war der Franz unter den Anführern. Er hat gar nicht lustig ausgeschaut. Um seinen Körper waren schwarze und braune Felle geschlungen und er hat eine gelbe Fratze vorm Gesicht gehabt, mit einem grinsenden Maul, zwei teuflischen großen Ohren und zwei spitzen Hörnern.

Sie machen ihre Runde, ein Zug von Männern, die sich durch Hässlichkeit zu übertrumpfen trachten, im Wirtshaus ist es losgegangen, der Glühwein in einem Fass, wo man mit Schöpflöffeln sich bedienen kann, daneben die steinernen Krüge, aber die meisten saufen schon aus dem Schöpflöffel.

Unter Gebrüll sind dann die Peitschen zum Einsatz gekommen, und ein ordentlicher Percht hat eine ordentliche Peitsche. Einen Kuhknochen zum Beispiel, mit Lederschnüren dran gebunden.

Zuerst dreschen sie wahllos auf die Leute ein, die ihnen in den Weg kommen, dann auf die heulenden Kinder und schließlich kommen die Mädchen dran.

Der Franz hat die Barbara bei der Taille gepackt und sie im Spaß hinter das Haus der freiwilligen Feuerwehr zu der kleinen Mauer gedrängt, die am Bach entlang geht. Sie hat gelacht und gesagt, dass er sie loslassen soll.

„Geh weg mit dein’ schiachn G’sicht!“

Doch dann hat er ihren Körper umgedreht und über die-Mauer gelegt, so als wäre sein einziges Interesse ihre Hinterseite. Da hat er ihren Rock hochgehoben bis zur Taille und sie hat etwas Warmes, Fleischiges gespürt in sich drin. Und er hat zu stoßen angefangen, das hat wehgetan, aber viele Stöße waren es dann doch nicht und er hat gegrunzt und das Fleischige wieder in seinem Hosensack verstaut

„Franz, wo bist denn?“, haben die Burschen vorne am Dorfplatz gerufen und er hat geantwortet: „Ich komm eh schon!“

Dann hat er sich umgedreht und ist zu den andern gestolpert. Die Barbara hat sich aufgerichtet und den klebrigen Saft mit ihrer Sonntagsschürze von den Schenkeln gewischt.

Und als sie im März zum vierten Mal vergeblich auf das Blut wartet und sich ihr Bauch unter dem Hemd zu einer Kugel formt, da wird ihr klar, dass das warme Fleisch vom Franz doch etwas mit dem Kinderkriegen zu tun gehabt haben muss.

Wen kann man um Rat fragen? Ihre ältere Schwester, die ja selber schon Kinder hat? Sie schämt sich vor der Pauline, weil die ja anständig verheiratet ist mit ihrem Gatten, dem Schragel Anton. Den Herrn Pfarrer soll sie fragen, der vor lauter Frömmigkeit einen Mundgeruch hat, so als wäre der Wein von der Morgenmesse in seinen Eingeweiden sauer geworden?

Den Herrn Doktor in Maissau, der immer verkniffene Mundwinkel bekommt, wenn er die Barbara unterhalb der Taille untersuchen muss?

Aber da ist es schon zu spät. Nichts mehr zu verbergen.

Der Vater pflanzt sich vor ihr auf mit seinem großen, schnurrbärtigen Schädel und brüllt: „Du Hure bringst Schande auf meinen Hof! Du liederliche Hure!“, und die Barbara wundert sich, dass er auf einmal nach der Schrift redet, und da fliegen schon die Ohrfeigen, bis ihr das Blut aus der Nase rinnt.

Also der Franz.

Der Franz Brandl, angehender Weinhauer, wird vor das Familiengericht geladen. Aber ein wirkliches Gericht wird das nicht werden, der Tisch ist fein gedeckt, das Brot und die Würste und der Speck und die weißen Teller und drei Flaschen vom speziellen Jahrgang stehen da. Eine zünftige Jause für später, wenn alles wieder gut sein wird.

Der Franz trägt den Sonntagsanzug und hat ein Sträußchen Vergissmeinnicht zusammengepflückt. In seine strohblonden Haare hat er einen akkuraten Seitenscheitel gezogen und seine linke Hand umkrampft die Krempe von seinem Hut.

Der Vater macht eine Handbewegung, dass sich der Franz niedersetzen soll. Der setzt sich auf den Sessel, der neben dem Ofen an die Bank geschoben worden ist.

Die Familie ist um den Tisch versammelt. Der Vater mit den geplatzten Adern im roten Gesicht, die Mutter mit der gestreiften Sonntagsbluse und einer Silberkette, die bis zum Gürtel herunterhängt, die ältere Schwester Pauline und ihr Angetrauter, als Beispiel für eheliche Tugendhaftigkeit, die Großmutter mit ihrem weißen Kopftuch, mit dem kleinen Toni Schragel am Schoß, neben sich die vierjährige Anna, die jetzt endlich eingeschlafen ist, und der Besucher, der das Vergissmeinnichtsträußchen auf dem Tisch abgelegt hat.

Nur die Barbara steht an den Türstock gelehnt und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Der Vater lacht auf einmal und sagt mit gespielter Feierlichkeit: „Schau, jetzt braucht es noch eine Extraeinladung, das Fräulein Barbara!“

Und er betont „das Fräulein“ mit einer übertrieben galanten Verbeugung.

Dann steht der Franz auf, nimmt das Vergissmeinnichtsträußchen wieder in die Hand, räuspert sich und fragt den Vater in missglücktem Hochdeutsch: „Herr Prager, täten Sie mir die Hand von Ihrer Tochter Barbara geben?“, und er wischt sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Der Vater deutet, dass er sich wieder hinsetzen soll.

Dann schenkt er den speziellen Jahrgang ein, schnuppert am Glas, ob der spezielle auch wirklich speziell ist – ein Welschriesling 1907 – und macht eine längere Pause, als müsste er sich das alles sehr gut überlegen. Dann schlägt er dem Franz auf die Schulter: „Na dann, Herr Schwiegersohn! Aber bald muss die Hochzeit sein, damit man die schlimmste Schande noch verhüten kann!“

Und alle lachen und stoßen an mit dem 1907er.

Und sie prosten der Barbara zu, die noch immer beim Türstock steht.

„Komm doch jetzt her“, sagt die Mutter, „und hör auf zu trotzen.“

Die Barbara löst sich vom Türstock, geht langsam zum Tisch und beugt sich zum Franz hinunter. Ganz nah kommt sie seinem Gesicht.

„Und warum willst mich heiraten, ha?“

Der Franz wird rot und fängt an irgendetwas zu stottern, aber sie unterbricht ihn.

„Warum? Aus Anstand, aus Angst vor dem Vater – und wegen was noch?“

„Na, weil ich …“ stammelt der Franz.

„Weil du was? Weil du mich lieb hast? Nein, nein, da war nicht von Liebe die Rede. Oder war das Liebe, was du mit mir gemacht hast, hinten am Bach? Nicht einmal einen Kuss hast du mir gegeben!“

Der Franz ist jetzt so rot, als ob er Fieber hätte und schaut auf den Teller mit den Würsten.

Aber die Barbara hört nicht auf.

„Mir graust’s vor dir, ich will dich nicht, und die Schand’ werd ich ganz allein mit mir selber ausmachen.“ Und dann spuckt sie ihm ins Gesicht. Und rennt hinaus, weiß Gott wohin.

Und die anderen lassen sich halt den 1907er schmecken.

ZWEITES KAPITEL

Also erblickt das Kind „Johanna Prager“, Mutter „Barbara Franziska Prager“, Vater „Querstrich“, am dritten September in Oberdürnbach, Gemeinde Maissau, durch einige energische Griffe der Hebamme Rosalia Hengstschläger das Licht der Welt.

Die Johanna – von allen „Hansi“ genannt, liebkosend und vor allem, um beim Reden eine Silbe zu sparen – ist brav und schläft viel, man muss ihr nicht dauernd den Mohnzuzl ins Goscherl stecken.

Die Großmutter, die für die Kinder zuständig ist, hat der Barbara gezeigt, wie das geht: Man nimmt ein kleines Stück Tuch und füllt es mit einer Mischung aus Mohn und Honig, dann bindet man einen Faden um das hintere Ende und fertig ist der Zuzl. Der Mohn macht die Kinder schläfrig.

Wenn die Barbara der Hansi eine von ihren Brüsten gibt, dann spürt sie etwas Unangenehmes in ihrem Bauch, etwas, das nicht sein darf, denn man muss sein Kind lieben über alles in der Welt. Aber die Barbara hat dunkle Haare und das Kind ist strohblond wie sein Vater. Wie der Franz, den sie doch aus ihrem Gedächtnis löschen wollte.

Dass der Mutterinstinkt ganz von allein kommen wird, sagt ihre Schwester Pauline. Aber der Instinkt will sich vorläufig nicht einstellen.

Den Kaiser Franz Ferdinand haben sie erschossen. Und darum ist jetzt Krieg. Barbaras Bruder Alois marschiert bereits bei der Infanterie, für Kaiser und Vaterland.

Die Fotografen haben viel zu tun in ihren Ateliers, denn in jeder Ortschaft lassen sich die jungen, fröhlichen Burschen abbilden, in ihren besten Anzügen, die Hüte geschmückt mit weißen Seidenblumen und üppigen Gebilden aus Kunstfedern, die Bräute des Krieges, die dem Feind ordentlich eins draufhauen werden.

Vom Krieg merkt man nicht viel in Oberdürnbach. Die Front ist weit entfernt, aber trotzdem kommen die Nachrichten, und es werden täglich mehr, und man muss Partezettel drucken lassen: „Schmerzvoll geben wir bekannt …“, „Er starb den Heldentod für das Vaterland …“, „Ruhe in Frieden!“

Und es gibt ein Begräbnis, obwohl der Körper irgendwo anders ruht, in zerfetzten Kleinteilen.

Die Barbara will nach Wien, Arbeit finden, Geld verdienen.

Die kleine Hansi könnte vorläufig bei der Pauline bleiben, weil sie doch so ein braves Kind ist. Und die Großmutter mit dem weißen Kopftuch ist ja auch noch da.

Außerdem ist ihr das Leben in der Stube nicht mehr erträglich, weil der Vater nichts mit ihr spricht.

Früher, wenn sie beim Essen um den Tisch gesessen sind und der Vater seine Suppe in den Teller geschöpft bekam, da hat er immer gesagt: „Geh Madl, gib mir das Salz uma!“, und dann hat ihm die Barbara das irdene Salzfässchen hinübergeschoben.

Und jetzt, wenn er die Suppe im Teller hat, sagt er an niemand bestimmten gerichtet: „Salz!“, obwohl das Fässchen ohnehin schon neben seinem Teller steht.

Und dann gibt es eine Anzeige in der Bezirkszeitung, dass in der Niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke „Am Steinhof“ dringend Pfleger und Pflegerinnen gesucht werden, Dienstwohnung und Verpflegung inbegriffen.

Die Barbara fährt mit dem Personenzug von Maissau nach Wien, dritter Klasse, sitzt auf der harten Holzbank, isst einen Apfel und ist ziemlich aufgeregt, obwohl sie schon einmal in Wien gewesen ist, die Mutter ist mit ihr gefahren, als ihr gebrochener Arm geschient werden musste.

Sie fährt mit der Elektrischen Tramway Nr. 47 hinauf zum Irrenhaus.

Das schaut nur gar nicht aus wie ein Irrenhaus, sondern wie eine Gruppe von vornehmen, großen Sommerhäusern, und hinten kann man eine Kirche sehen, die ausschaut wie ein orientalischer Palast.

Und das alles nur für Verrückte und Narren? Eine Verschwendung!

Der nicht ganz nüchterne Portier in seinem Häuschen neben dem Eingangstor schickt sie ins Personalbüro:

„Gradausss ins Haupt…Hauptgebäude, undan erste Tür rechssss. Ssssie miassn nachn Magista Keppla fragen, schönes Fräulein!“, und er zieht seine Kappe und verbeugt sich. Dabei verliert er das Gleichgewicht und fällt auf die Knie.

Der Magister Keppler residiert hinter einem enormen Schreibtisch aus poliertem Eichenholz, vor ihm steht ein Telefonapparat aus Metall mit einer runden Wahlscheibe.

Beim Herrn Magister Keppler ist das meiste spitz: die Nase, der Mund mit den vorstehenden Zähnen, der Bauch, der über seinem Hosenbund sitzt wie ein riesiges Ei und die Enden von seinem Schnurrbart, die mit Pomade nach oben gerichtet wurden.

„Also kurz und gut“, sagt der Magister Keppler leicht näselnd, um zu zeigen, dass er ein Angehöriger der Oberschicht ist. „Wir haben einen eklatanten Personalmangel, weil jetzt Unmengen von Soldaten direkt vom Schlachtfeld hier eingeliefert werden!“

„Ist das hier nicht eine Anstalt für Verrückte?“, fragt die Barbara höflich.

„Das ist es eben!“ Der Magister springt auf. „Sie leiden alle an einer unheimlichen, neuen Geisteskrankheit! Man nennt es ‚Kriegszittern‘.“ Der Herr Magister Keppler beugt sich über den Schreibtisch und verfällt bei dem Wort „Kriegszittern“ in einen Flüsterton, als ob in dem Wort an sich schon der Satan sitzen würde.

„Aber Sie werden ja schon bald mit eigenen Augen sehen“, sagt er, „wie diese Kreaturen sich gebärden. Offiziell heißt es natürlich ‚Patienten‘, ‚Verrückte‘ darf man nicht mehr sagen! Merken Sie sich das.“

Er holt seine Taschenuhr aus der Weste und wirft einen Blick darauf. Dann steht er auf.

Ob sie am Montag anfangen kann? In der neu errichteten Baracke 35 wird sie wohnen. Gleich neben dem Pavillon 8, der voll ist mit den Kriegszitterern. 90 Kronen in der Woche, Verpflegung und Unterkunft umsonst.

Vor der Rückfahrt am Nachmittag kauft sich die Barbara am Franz-Josefs-Bahnhof eine Leberkässemmel und da kommt auf einmal so ein komisches Gefühl, wie wenn ein Knopf in ihren Eingeweiden sich von allein entwirren würde. Freiheit! Bald wird sie sich viele Leberkässemmeln kaufen können!

Drei Tage später gibt es dann am Bahnhof in Maissau einen Abschied, alle sind sie da, sogar die Mädchen vom Dorf, die jetzt nicht mehr kichern, sondern ganz ehrfurchtsvoll der Barbara die Hand reichen, einer, die ganz allein in Wien ihr Geld verdienen wird!

Nur der Vater ist zuhause geblieben.

Die Barbara mit dem zerbeulten Pergamentkoffer und einer Jause – ein Laib Brot, ein Stück Geselchtes und eine Flasche Apfelmost –, alles in ein kariertes Geschirrtuch gehüllt. Sie beugt sich aus dem Zugfenster und die Hansi wird ihr noch einmal in die Arme gereicht. Aber die Barbara weint nicht.

DRITTES KAPITEL

Die Baracke 35 ist ein ebenerdiges Holzgebäude, inmitten der zweistöckigen Backsteinpavillons für die Irrsinnigen – die Barbara korrigiert sich im Kopf: die Geisteskranken –, wo die meisten Fenster vergittert sind. In der Baracke gibt es eine Küche und moderne Baderäume und saubere Aborte.

Den großen Raum in der Mitte der Baracke hat man mit Holzwänden in verschiedene Zimmer unterteilt.

Die Barbara bewohnt jetzt das Zimmer Nr. 7, und sie kann von ihrem Fenster aus auf ein Stück Weingarten sehen, der einen Hügel hinaufwächst. Aber sie ist keine sentimentale Trutschen, und schon gar nicht eine mit Heimweh.

Man hat ihr ein Holzbett hereingestellt, eine grobe Felddecke liegt darauf und verwaschenes Bettzeug. Ein einfaches Nachtkästchen gibt es, einen Sessel und einen maroden Kasten, dem ein Teil der Hinterwand fehlt. In der Ecke steht ein wackliger Eisenständer mit einer emaillierten Waschschüssel und einem Krug. Auf den Boden der Waschschüssel hat ein Künstler einen Vergissmeinnichtstrauß gemalt.

Ihre Uniform liegt auf dem Bett, frisch gestärkt: eine blaue Bluse, ein schwarzer Rock und eine blaue Schürze. Ernst und würdig, so soll sie aussehen, aber da gibt es noch ein weißes, keckes Häubchen mit einem gerüschten Rand, so wie Rotkäppchens Großmutter es trägt, und sie fragt sich, wie sie damit tollwütigen Patienten einen Respekt einflößen soll.

Der Oberpfleger führt sie herum. Zuerst stellt er sich vor und legt seine Finger salutierend an seinen borstigen Haaransatz.

„Gestatten, i bin der Oskar.“

„Ich bin die Barbara.“

Sie hält ihm die Hand hin und er ergreift sie und drückt, als ob er einen Schraubstock eingebaut hätte.

„Damit du gleich siehst, wer da das Sagen hat!“, dann lässt er sie los und lacht von ganzem Herzen, weil sie sich vor Schmerzen krümmt.

Er hat Muskeln wie ein Ringer vom Heumarkt und an seinem Gürtel ist ein gewaltiger Schlüsselbund befestigt.

„Und das Wichtigste, Fräulein Barbara: Von der Leitung der Anstalt haben wir die Anweisung, die Patienten höflich und korrekt zu behandeln! Der Professor ist nämlich ein ‚Humanist‘. Natürlich Freimaurer, und ganz arisch san ma wahrscheinlich ah net.“ Er zitiert den Professor und parodiert gepflegtes Deutsch:

„‚Meine Herren, das sind Menschen, die in Schützengräben verschüttet waren, verängstigte Menschen, die tage- und wochenlang den Tod zu fürchten hatten, Sie müssen Geduld haben und viel Mitgefühl!‘ Aber unter uns, Fräulein Barbara. Meiner Meinung nach sind das Simulanten, die nicht mehr an die Front zurückwollen. Mitgefühl!“ Er spuckt auf den Boden. „Ich sag Ihne’ was, ohne Gewalt geht da gar nix. Sie werden sehen.“ Er zeigt eine von seinen tellergroßen Händen: „A ordentlicher Bracholder ist am Ende das Einzige, was hilft!“

„Was ist denn ein Bracholder?“, fragt die Barbara und denkt an ein nervenstärkendes Kraut, das die Patienten verabreicht bekommen.

Aber der Oskar sagt ganz ernst: „Ein Bracholder ist – vornehm ausgedrückt – eine heftige Ohrfeige. Auf Deutsch: A mordstrumm Watschen!“, und er lacht schallend, obwohl er kein Lächeln im Gesicht hat.

„Also … schau ma uns das Kasperltheater einmal an.“

Er nimmt einen seiner Schlüssel und öffnet die Türe zum Pavillon 8, wo die Kriegszitterer untergebracht sind. Die Barbara hat noch nie einen Wahnsinnigen gesehen und starrt auf das, was sich ihr bietet.

Der Oskar nimmt einen Flachmann aus seiner Jackentasche, schraubt ihn auf und überreicht ihn der Barbara. Wortlos macht sie einen Schluck und muss husten, dass ihr der Rotz aus der Nase rinnt.

„Doppelt gebrannter Obstler, der fahrt ein wie der Teufl, was?!“, sagt der Oskar stolz und nimmt die Flasche wieder an sich.

Im Zimmer stehen zwölf Betten, die meisten sind momentan belegt. Die Männer darin scheinen zu schlafen, aber der eine strampelt mit den Beinen in einem gleichmäßigen Rhythmus, als ob er Turnübungen machen würde. Der zweite setzt sich immer wieder auf und fährt sich mit dem Zeigefinger über die Nase. Die drei anderen stöhnen im Schlaf.

„Die hab’n grad ihre Ration gekriegt“, sagt der Oskar, „a bisserl Morphium für die einen, die leichteren Fälle bekommen Chloralhydrat. Da schlafen s’ wie die Engerl – sollte man meinen.“

Er schaut nach rechts, wo einer vom Bett aufstehen will, sich aber nicht auf den Beinen halten kann und zusammenfällt wie eine Marionette, der ihr Spieler abhandengekommen ist.