Ich hab sie nicht gezählt - Dolores Schmidinger - E-Book

Ich hab sie nicht gezählt E-Book

Dolores Schmidinger

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Beschreibung

"Wenn die Dolly mit achtzig keine Liebhaber mehr hat, dann wird sie welche erfinden, damit es was zum Erzählen gibt", meinte einmal Kabarettistin Andrea Händler zu ihrer Freundin Dolores Schmidinger. Doch die Sorge ist verfrüht, es gibt einstweilen noch genug zu erzählen, Erotisches, Frivoles und Unartiges aus dem Leben der Dolly S. Etwa von der kleinen Doris, deren Vater sie allzu sehr geliebt hat, von den wilden 68ern, die der freien Liebe frönten, von vier Ehemännern, mit denen sie allerlei Überraschungen erlebte, und von erotischen Abenteuern und Ausflügen, die sie u.a. in die Lack-und-Leder-Szene führten. Natürlich, eine Statistik der Lover lässt sich nicht erstellen - Dolores zählte nicht mit, sondern lebte mehr nach dem Motto: "Der Nächste, bitte!" Das tut aber dem vergnüglichen Einblick in ihr Liebesleben keinen Abbruch. Denn auch wenn nicht alles immer lustig war, hat sie nie darauf vergessen, sich selber nicht ganz ernst zu nehmen. Und schon gar nicht ihre Liebhaber. Deshalb: Lesevergnügen ist garantiert, denn Dolores Schmidinger versteht es meisterhaft, Pointen zu setzen, zu erstaunen, zu überraschen - und manchmal auch ein wenig zu schockieren.

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Dolores Schmidinger • Ich hab sie nicht gezählt

Dolores Schmidinger

Ich hab sie nicht gezählt

Eine unartige Biografie

Inhalt

Vorspiel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Nachspiel

Vorspiel

Wir schreiben das Jahr 2011, ein junger Mann liegt in meinem Bett. Das Bett ist das einzige Möbelstück, das am richtigen Platz steht. Ich bin gerade umgezogen in diese hübsche Mietwohnung mit Garten und überall stehen Kartons herum. Auf dem Boden verstreut liegen Küchenutensilien, Bücher und Kleidungsstücke.

Der junge Mann ist blond und hat einen golden gebräunten Körper, keine Brusthaare und riecht nach Naturkosmetik. Kennengelernt habe ich ihn vor drei Stunden in einem Tanzlokal namens „Jenseits“. Ich war mit meinem platonischen Freund Andi auf Beisltour und wir sind schließlich dort gelandet. Der junge Mann laberte gerade den Barkeeper mit einem Redeschwall zu, und als ich mir ein Cola bestellen wollte, hat er mich beim Arm gepackt und mich auf die Tanzfläche gezogen. Ich habe aber auch besonders gut ausgesehen, heute Abend. Mit meiner knallengen Jean, der weißen Rüschenbluse und einem schwarzen Hut mit aufgestellter Krempe.

Der Andi hat sich irgendwann mit Zeichensprache verabschiedet und mich mit dem jungen Mann allein gelassen. Der war ziemlich aufgedreht, mit stecknadelkleinen Pupillen in seinen herrlich blauen Augen, und er wollte auf der Stelle mit mir schlafen. Drum liegt er jetzt in meinem Bett.

Er ist ein guter Liebhaber, aber er hat einen kleinen Fehler: Er winselt beim Küssen. Das ist gewöhnungsbedürftig. Er legt den Kopf auf meine Schulter und macht Laute wie ein kleiner Hund, der gestreichelt werden will. Dann rutscht er mit dem Kopf stückweise hinauf, küsst mich, und zwischen den Küssen winselt er weiter. Ich muss mich konzentrieren, damit ich in Stimmung komme.

Doch alles verläuft gut, und nach getaner Arbeit schließt er seine wunderschönen blauen Augen und schläft sofort ein. Ehrlich gesagt, ich habe vergessen, wie er heißt, er ist jedenfalls Produzent esoterischer Musik. Vielleicht deshalb das Winseln. Ich mache das Licht aus, rücke weit von ihm weg und dämmere in einen angenehmen Halbschlaf.

Ein lauter Schrei weckt mich und ich drehe das Licht auf. Da sitzt er auf meinem Boden und stößt Klagelaute aus, aber diesmal nicht vor Lust. Er wollte offenbar aufs Klo gehen und ist über einen halbvollen Karton mit Fotos gestolpert, die jetzt um ihn verstreut am Boden liegen.

„Hast du dir weh getan?“, frage ich, und er nimmt als Antwort ein Foto in die Hand, auf dem ich sechsjährig mit einem strengen Seitenscheitel, einem Faltenrock und weißen Socken zu sehen bin.

„Bist das du?“, fragt er.

„Ja, das war an meinem ersten Schultag.“

„Wieso hast du keine Schultüte?“

„Weil es ...“ („1952“ will ich sagen, lasse es aber lieber) „weil es damals noch keine Schultüten gegeben hat.“

„Aha … Und warum schaust du so ernst an deinem ersten Schultag?“

„Weil es damals noch keine Schultüten gegeben hat!“, scherze ich, und seine blauen Augen schauen mich verständnislos an.

„Komm wieder ins Bett.“

Und er kommt und wir tun es ein zweites Mal.

1. Kapitel

Jetzt bin ich in der ersten Klasse. Es ist kalt und von der Decke hängt eine schwache Glühbirne ohne Schirm. Wir tauchen den Federhalter in die Tinte und schreiben kleine A’s und B’s und C’s in unser Heft. Volksschule. Unsere Klassenvorsteherin, die Schwester Carissima, fragt mich, was nach dem C kommt. Das weiß ich. „Das D“, antworte ich, und die Schwester Carissima sagt: „Du musst lauter sprechen, Dolores, sei doch nicht so schüchtern!“

Sie nennt mich Dolores, obwohl die Mutti ihr ausdrücklich ans Herz gelegt hat, dass man mich „Doris“ nennen soll. Eigentlich heiße ich Maria Dolores, aber die Mutti mag diesen Namen nicht. Der Vati wollte, dass ich so heiße. Er hat vor dem Krieg in Argentinien in einer Missionsstation gearbeitet und war von Heimweh geplagt. Darum hat er der heiligen Mutter Maria gelobt, wenn er einmal eine Tochter hat, soll sie ihren Namen tragen. „Maria Schmerzen“. Maria Dolores. Ja, eigentlich heiße ich „Mutter Schmerzen“. Der Vati ist furchtbar katholisch. Trotzdem glaubt die Mutti nicht an die Version vom Gelöbnis an die Mutter Gottes. Sie vermutet eher, dass er dort unten mit einer gewissen Dolores „ein Pantscherl“ gehabt hat. Drum nennt sie mich jetzt „Doris“.

Die Schwester Carissima ist sehr sanft, aber die Mitschülerinnen sind so fremd und ich fühle mich einsam in der Klasse. Ich habe auch ein bisschen Angst, denn in Religion lernen wir, dass alle Heiden in die Hölle kommen und die ungetauften Kinder in die Vorhölle.

Wir malen einen brennenden Heiden in unser Religionsheft. Der Heide hat schwarze Haut und ein Baströckchen, denn wir haben gelernt, dass die Heiden meistens Neger sind. Die ungetauften Kinder in der Vorhölle brauchen wir nicht zu malen, weil es dort stockdunkel ist, sagt die Schwester Carissima. Die ungetauften Kinder müssen nämlich nicht die ganze Zeit brennen, aber sie können den lieben Gott nicht sehen.

„Und warum können sie ihn nicht sehen, sie haben ja nichts getan?“

Die Schwester wird ungeduldig: „Weil sie die Gnade des Glaubens nicht haben!“

Die Mutti geht am nächsten Tag zur Schwester Carissima und beschwert sich: „Sowas darf man Kindern nicht beibringen, die ungetauften Kinder kommen ganz bestimmt nicht in die Vorhölle, das sind ja Ansichten wie im Mittelalter!“

Und sie erzählt immer wieder davon, dass sie aufgeklärte, moderne Ansichten hat, darauf ist sie nämlich sehr stolz.

Zu Mittag, wenn die Schule aus ist, kommt die Mutti mich abholen. Wir gehen durch den siebenten Bezirk mit seinen baumlosen Straßen nach Hause. Eine Viertelstunde brauchen wir von der Schule der „Schwestern zum Göttlichen Heiland“ in der Kenyongasse bis zu uns in die Kaiserstraße. Die Häuser sind hoch und schauen unfreundlich aus. Drinnen ist es dunkel. Wir wohnen im vierten Stock ohne Aufzug. Und der vierte Stock ist nicht wirklich der vierte Stock, da gibt es noch ein Zwischengeschoss, den Mezzanin. Die Mutti jammert immer wegen der Stiegen. Aber der Vati sagt, sie soll doch ein bisschen mehr Bewegung machen in der freien Natur. Die Mutti hat nichts übrig für die freie Natur, und wenn wir sonntags wandern gehen, sagt sie immer: „Das ist doch viel zu weit für die arme Doris, die hat ja schon Blasen an den Füßen!“

Obwohl ich gar keine Blasen habe. Schließlich geht der Vati alleine wandern.

Unsere Bedienerin heißt Frau Spagolla. Sie ist eine große Frau mit schwarzen Haaren und einer tiefen Stimme. Sie kommt dreimal die Woche bedienen, denn die Mutti putzt sehr ungern. Ich mag die Frau Spagolla, sonst hätte ich sie wohl nicht gefragt, ob sie mir den Popo verhauen will.

Da war ich gerade vier Jahre alt. Ich hab zu ihr gesagt: „Frau Spagolla, du musst mit mir ins Wohnzimmer gehen, die Rollos herunterziehen und mich übers Knie legen. Und dann musst du mir meinen nackerten Popo verhauen.“ Ich glaube, sie hat sich gewundert und war ganz verlegen, aber ich habe ihr so lang keine Ruhe gelassen, bis sie nachgegeben hat. Sie hat mit mir diese Szene gespielt. Nachher war ich enttäuscht, weil sie einen Spaß daraus gemacht hat, es sollte doch ernst sein.

Natürlich hat sie alles der Mutti erzählt, und die hat mich so komisch angeschaut und gefragt: „Ja Doris, wie kommst du denn auf solche Sachen?“

Aber ich habe nichts gesagt.

Es war nämlich so, dass mir der Vati den Popo verhauen hatte. Zum ersten Mal. Bei mir hat es nicht viel zu verhauen gegeben, denn ich war ein braves Kind. Aber an diesem Tag ist er mit mir ins Wohnzimmer gegangen, hat die Türe zugemacht, die Rollos heruntergezogen und hat mich übers Knie gelegt. Dann hat er mit der Hand meinen nackten Popo verhaut. Ich habe geweint und nachher war er ganz lieb zu mir und hat mich gestreichelt.

Am nächsten Tag ist die Mutti mit mir einkaufen gegangen zum Greißler in der Burggasse. Und sie hat der Greißlerin von der Sache erzählt: „Na, gestern hat es die Doris aber von ihrem Vati gekriegt! Aber ihm hat’s ja mehr weh getan als ihr.“

Und ich habe mich geschämt und das Schämen war irgendwie angenehm. Es hat an der Stelle gekitzelt, zu der die Mutti immer „Popschilein“ sagt, obwohl das Popschilein eigentlich weiter hinten ist, und das Gacki aus dem Popschilein kommt. Aber wenn man meiner Mutti glauben darf, gehört auch der vordere Teil, dort, wo das Lulu herauskommt, zum Popschilein.

Und da war auch noch der Vorfall im Badezimmer. Der Vati ist nackt, er nimmt ein Bad, ich stehe am Badewannenrand, neben mir die Mutti.

„Das Kind“, sagt er, „das Kind soll mich ruhig da unten angreifen, damit es lernt, wie ein Mann gebaut ist!“

Und ich greife ihn da unten an.

„Weißt du“, sagt die Mutti, „der Vati meint es nur gut, er hat moderne Ansichten, er ist ja beim Theater.“ Der Vati ist nämlich an der Wiener Volksoper als Tenor engagiert. Ein Tenor ist was ganz Besonderes, er muss ständig Gesangsübungen machen.

Ich habe den Vati sehr lieb. Ich rieche so gerne an seinem Rosshaarpolster. Im Schlafzimmer stehen die zwei altdeutschen Ehebetten, und auf der Seite vom Vati liegt auf dem normalen Polster noch ein kleiner Polster, der mit Rosshaar gefüllt ist. Das ist wegen dem gesunden Schlaf. Und das Rosshaar riecht nach ihm, nach seinen Haaren, nach seiner Haut. Die Mutti riecht süßlich und nach Zwiebel, wenn sie schwitzt, aber der Vati riecht so angenehm scharf.

Mein Bett steht im Schlafzimmer von den Eltern. Der Vati kommt mit mir spielen, wenn ich im Bett liege. Er kitzelt mich, bis ich nicht mehr lache, und er zieht mir die Decke über den Kopf. Ich hab’ Angst, keine Luft mehr zu kriegen, aber ich sage nichts, damit er weiter mit mir spielt.

Im Sommer sind wir im Mühlviertel auf Sommerfrische. Der Hof liegt ganz einsam in die Landschaft eingebettet, da muss man vom Bahnhof eine Stunde zu Fuß gehen, die Koffer auf dem Leiterwagerl transportieren, das von den blonden kleinen Bauernsöhnen gezogen wird.

Wochentags gibt es Sauerkraut und Knödel und alle essen aus einer Schüssel. Am Sonntag gibt es Geselchtes, der Bauer kriegt das größte Stück.

Sonntag ist auch der Tag des Gerichts für die blonden Bauernkinder. Alle sind in der Scheune versammelt. Die Scheune ist groß wie eine Kirche, und vorne ist ein Trog mit Heu. Das ist der Altar. Da müssen die Straftäter Aufstellung nehmen. Die Zuschauer sitzen am Boden und die meisten lachen schadenfroh, bis sie selbst drankommen. Es riecht nach Holz und getrocknetem Gras und Sonnenstrahlen fallen durch ein Fenster. Dann vollstreckt der Bauer die Buße. Er zieht den Buben die Hose herunter und bearbeitet sie mit der Weidenrute. Einen nach dem anderen. Das Ganze ist feierlich wie eine heilige Messe. Und ich habe wieder das Kribbeln im vorderen Popschilein.

Im Herbst wird mein Bett ins Wohnzimmer umquartiert. Es gibt noch einen Raum in der Wohnung, aber das ist das „Herrenzimmer“, und das ist für den Vati. Er ist der Herr im Haus. Da steht der Flügel, wo er jeden Morgen die Stimme trainiert. „Ahahahaha“ und „Mimimimimi“. Er hätte eine große Karriere machen können, aber er ist halt einen Kopf zu klein und zehn Jahre zu alt, sagt die Mutti.

Jetzt bin ich sechs Jahre alt, mein Gesicht ist rund und ich habe eine kleine Speckfalte über dem Rock. Der Vati interessiert sich immer weniger für mich. Ich bin jetzt die ganze Zeit mit der Mutti zusammen, ich bin ihr Ein und Alles. Wenn ich mit dem Roller fahre, sagt sie immer wieder, ich soll aufpassen und mir nicht weh tun. Und dann falle ich hin und tu mir weh. Die Mutti hat es vorausgesagt. Und beim Schwimmen soll ich vorsichtig sein, damit ich nicht ertrinke.

Einmal bin ich mit dem Vati im Gänsehäufel und ich darf ins ganz große Becken. Plötzlich wird das Wellenbad eingeschaltet und das ganze Wasser bewegt sich und die Wellen sind plötzlich über meinem Kopf. Ich schreie wie am Spieß und der Vati glaubt ich schreie vor Vergnügen. Er steht am Beckenrand und lacht. Von da an lässt mich die Mutti nie wieder mit dem Vati schwimmen gehen. Aber ihm ist das sowieso egal, weil ich jetzt mit der Speckfalte überm Rock nicht mehr seine „Zirpe“ bin, sondern „die Tochter“.

Und mit acht habe ich noch mehr Speck angesetzt und da verliere ich endgültig seine Liebe. Ekelhaft, ein molliges Kind. Die Mutti ist ihm auch zu mollig. „Das Weib“, nennt er sie.

„Warum hab ich einen kleinen Mann geheiratet?“, klagt die Mutti immer wieder. „Er mag es gar nicht, dass ich größer bin als er, ich kann überhaupt keine Stöckelschuhe mehr anziehen.“

Und ihr Busen ist auch zu groß. Und er ist birnenförmig. Dabei sollte er apfelförmig sein.

Wir stehen im Schlafzimmer, das Ehepaar Schmidinger, getraut, bis dass der Tod sie scheidet, und ihre kleine Tochter Maria Dolores, Doris genannt. Wir sind nackt. Der Vati ist ärgerlich. Er quetscht die linke Brust von der Mutti, spielt mit ihrer Brustwarze.

„Da schau“, sagt er zu mir, „schau, die Brustwarze geht nach innen, sie soll aber herausstehen, gib acht, dass das bei dir nicht auch so wird!“

Und er fasst mir an meine Brustwarze auf der kleinen, flachen Brust.

Und ein andermal sagt er: „Deine Mutter wäscht sich nicht, und du sollst dich auch mehr waschen, du stinkst!“

Und als mahnendes Vorbild geht er, nachdem er sein großes Geschäft verrichtet hat, ins Badezimmer, sperrt sich ein und man hört das Wasser plätschern. Lange bleibt er dort drinnen.

Manchmal darf ich mit den Theatersachen vom Vati spielen. Die sind im Herrenzimmer, im obersten Fach von der Kommode. Da gibt es einen Schminkkasten mit Schminke in verschiedenen Farben. Die meisten sind schon ein bisschen eingetrocknet, denn der Schminkkasten ist fünfzehn Jahre alt. Aber der Vati hebt ihn auf und wartet auf die Gelegenheit, dass er ihn wieder benützen darf, wenn er endlich wieder große Rollen kriegt. Ich kenne mich gut aus mit Opern und Operetten, der Vati hat viele Klavierauszüge. Das sind Bücher, wo die ganzen Noten von einer Oper drinnen stehen. Dem Vati seine Partie ist mit rotem Bleistift angestrichen. In den neuen Klavierauszügen ist nur sehr wenig angestrichen.

Drum will uns der Vati verlassen und ein Engagement in Deutschland annehmen. Aber die Mutti glaubt, es ist ihretwegen. Darum lässt sie sich den Busen kleiner machen. Dann wird alles wieder gut werden, es graust ihm halt vor großen Busen.

„So eine Operation ist eine gewagte Angelegenheit, und sie muss medizinisch begründet werden!“, sagt die Mutti. Also begründet die Busenärztin, dass der Busen die Mutti so sehr nach vorne zieht, dass ihre Wirbelsäule sich krümmt.

Die Mutti kommt also aus dem Spital mit einem kleinen Busen und der Hausarzt verschreibt ihr den Appetitzügler „Prelodin“, weil es dem Vati ja auch vor molligen Frauen graust.

Aber es nützt nichts. Der Vati bleibt zwar in Wien und hadert mit dem Schicksal, dass er nur mehr kleine Rollen singen darf, aber die altdeutschen Betten werden auseinandergeschoben. Der Vati schläft jetzt im Herrenzimmer, wo er ja auch hingehört, als Herr des Hauses.

Eine Scheidung kommt nicht infrage, das kann man der kleinen Doris nicht antun. Die Mutti ist gut aufgelegt, wenn sie ihre Appetitzügler nimmt, voller Energie, und die Bedienerin Frau Spagolla braucht nur zweimal in der Woche bedienen kommen.

In Sachen Kinderbetreuung wird sie abgelöst von der Tante Reserl, die ist klein und zart und hat ein Gesicht wie ein Hamster. Sie ist die ältere Schwester vom Vati.

Die Schmidinger-Familie ist aus Steyr, aus ärmlichen Verhältnissen und die Großmutter hat zwölf Kinder zur Welt gebracht. Sieben sind am Leben geblieben, eins davon war die Tante Reserl. Sie hat schon mit vierzehn in Dienst gehen müssen, nach Wien zu einem reichen Ehepaar, und ist treu bei ihrer Herrschaft geblieben bis zu deren Tod. Und dann hat Gott sie belohnt und sie hat die Wohnung geerbt. Eine Wohnung, die im ersten Stock liegt und deshalb noch dunkler ist als unsere.

Die Tante Reserl soll sich ganz lieb um mich kümmern, weil sie doch in ihrem Herzen auch ein Kind geblieben ist. Sie ist unschuldig, sie hat dem Manne entsagt, das Fräulein Therese Schmidinger. Aber sie hat ja ihren Jesus. Die aufgeklärte und moderne Mutti sagt: „Die Tante Reserl hat den religiösen Wahn!“ Die Tante Reserl glaubt nämlich an die Weissagungen des Pater Pio. Der hat die Wundmale Christi an den Händen und trägt deshalb Handschuhe ohne Finger. Und er sagt die große Strafe Gottes für die Sünden der Menschen voraus. Drei Tage Finsternis. Die Tante Reserl besteht darauf, dass auch in unserer Wohnung immer geweihte Kerzen vorhanden sind, für den Fall, dass die Weissagung eintritt. Die Kerzen liegen in einer Lade im altdeutschen Kasten, der unser Wohnzimmer schmückt. Er ist mit allerlei geschnitzten Sachen verziert, Obst und Blättern und seltsamen Tierköpfen, Wildschweinen, Hirschen und Füchsen.

„Ein Albtraum zum Abstauben!“, sagt die Frau Spagolla.

Der Kasten ist mir unheimlich und vor allem die geweihten Kerzen und die Aussicht auf drei Tage Dunkelheit machen mir Angst. Aber noch schlimmer ist es, wenn mir die Tante Reserl aus der „Katholischen Bilderbibel“ vorliest. Das ist ein riesiges schwarzes Buch mit schwarzweißen Zeichnungen. Und da gibt es ganz hinten, nach „Die Erscheinung des Menschensohnes“ ein Bild mit dem Namen „Das siebente Siegel“.

„Das ist die Vision des Johannes!“, sagt die Tante Reserl. „Vom letzten Strafgericht!“ Und sie lächelt dabei.

Ritter hoch zu Pferd stechen mit Schwertern auf Menschen ein. Einer der Reiter nimmt statt dem Schwert eine Sense und hat einen Totenschädel als Kopf. Die Menschen am Boden heben die Hände und flehen um Gnade. Ein alter Mann beugt sich über eine sterbende junge Frau, der ein totes Baby aus der kraftlosen Hand rollt. Sogar die Gesichter der Pferde sind angstverzerrt. Und oben drüber, in einer Wolke, thront der liebe Gott und wird von jungen Männern angebetet, die weiße Kleider tragen und auf Harfen spielen.

Das Kind weiß, dass das Weltgericht nur die Sündigen trifft und nicht die Menschen, die reinen Herzens sind, aber man kann nie ganz sicher sein, was eine Sünde ist und was nicht. Tante Reserl jedenfalls ist reinen Herzens, und wenn sie ein Bad nimmt, behält sie die Unterwäsche an. Und sie hat Freude am Leben, obwohl sie katholisch ist. Da kommt es schon einmal vor, dass sie gegen die Völlerei sündigt. Sie isst gerne von den Ölsardinen, die es am Freitagabend gibt, aber am Sonntag isst sie vom Henderl nur den Pürzel, als Selbstzüchtigung. Und wenn sie nach Mariazell wallfahren geht, gibt sie rohe Erbsen in die Wanderschuhe, als Buße für ihre Sünden.

1956 bekommt die Mutti einen Eiskasten. Der Vati hat sich lange geweigert, so viel Geld auszugeben, aber schließlich hat er nachgegeben. Er ist geizig, sagt die Mutti, schrecklich geizig.

„Aber der Geiz ist doch eine Todsünde!“, sagt die Tante Reserl.

„Na ja, sehr sparsam halt!“, antwortet die Mutti ungeduldig, sie ist schlecht aufgelegt, weil ihr die Prelodin ausgegangen sind.

„Man kann sich ja nie irgendwelche Vergnügen leisten, von dem bisschen Haushaltsgeld“, sagt sie, „dabei verdient er doch genug als Bundesangestellter. Und man muss sich ja genieren, wenn er im Gasthaus einen einzigen Groschen Trinkgeld gibt!“

Sie kramt in der Handtasche und findet dort ihr letztes Prelodin. Sie schluckt es mit einem Glas Wasser hinunter.

„Aber man kann es ja verstehen“, sagt sie dann in mitleidigem Ton, „seine Familie war schrecklich arm, wie er ein Kind war. Und da hat er das Sparen halt im Blut.“

Ich stelle mir vor, wie sich die gesparten Groschen im Blut meines Vaters ansammeln und immer mehr werden. Eines Tages wird er wohl zu scheppern anfangen.

2. Kapitel

Inzwischen bin ich elf geworden und besuche das Gymnasium der „Schwestern zum Göttlichen Heiland“. Jetzt habe ich auch Freundinnen gefunden. Besonders gern habe ich die Apollonia Jedlitschka und die Amelia Biber. Die sind auch mollig, die Apollonia kann man sogar als dick bezeichnen. Sie hat weißblonde Haare und runde, fette Hände, wie die kleinen Engel auf den Heiligenbildern. Manchmal trägt sie ein Sommerkleid, das mit kleinen ägyptischen Pharaonen bedruckt ist. Und die Amelia Biber mit ihrem dunklen Pagenkopf muss eine Brille tragen, die Arme.

Dann gibt es noch die Helga Blaschke, die hat einen blonden Rossschwanz, und es werden hinter ihrem Rücken unschöne Dinge geflüstert. Ihre Eltern sind nämlich Sozialisten und da weiß man ja, wie man zu der schönen Gemeindewohnung am Urban-Loritz-Platz kommt.

Am Mittwoch gibt es bei der Helga immer einen Kindernachmittag. Die Blaschkes haben einen Fernseher und wir dürfen uns den Kasperl ansehen. Dazu gibt es Kakao und Kuchen.

Und dann kommt eines Tages der Mittwoch, an dem ich mit Halsentzündung im Bett bleiben muss und beim Kindernachmittag nicht dabei bin. Und gerade da passiert der Skandal. Die Mädchen haben … man traut sich’s fast nicht laut sagen … die Mädchen haben … „Doktor gespielt“!

Das sozialistische Ehepaar Blaschke muss zur Direktorin, zur strengen Schwester Victoria. Und die spricht ein Machtwort – die Kinderjause darf nicht mehr stattfinden. Ich werde in das Geheimnis ums Doktorspielen nicht eingeweiht. Alle blicken verschämt zu Boden und schweigen. Was kann denn am Doktorspielen so schlimm sein? Doktor ist doch ein ehrenwerter Beruf. Doktorspielen ist doch besser als Kaufmannsladen spielen, oder gar Räuber und Gendarm. Und wie genau geht das Doktorspielen und wieso haben die Doktor gespielt ohne mich?

Wir haben jetzt verschiedene Lehrkräfte, und da gibt es sogar weltliche Damen. Aber das Latein bringt uns eine Klosterschwester bei, die Schwester Oswalda. Ihr Gesicht ist verkniffen und den Mund zwickt sie so zusammen, dass er nur einen Strich bildet.

Die Schwester Oswalda fühlt sich berufen, über die unschönen Dinge des Lebens mit uns zu sprechen. Sie klärt uns auf. Eines Tages legt sie das Lateinbuch zur Seite und spricht vom Geschlechtlichen.

„Der Mann“, sagt sie, „der Mann ist von Natur aus schlecht und von einer Frau will er nur das eine.“

Was das eine ist, darauf geht sie nicht weiter ein. Und wir sollen „um Gottes Christi Willen“ unserem Trieb nicht nachgeben. Sie hat sich ereifert und spricht mit erhobener Stimme: „Die Frau ist geboren, in Schmerzen die Kinder zu gebären. Nur wenige sind auserwählt, ein Leben im Kloster in vollkommener Keuschheit zu verbringen. Die anderen müssen ihr hartes Los ertragen und sich verheiraten. Aber ihr sollt die Liebe nicht als Vergnügen ansehen, sondern als gottgewollte Bürde!“

Sie ist aufgestanden und hat ihren Zeigefinger in die Luft erhoben, aber wir sind nicht sonderlich beindruckt, weil die meisten eh schon Bescheid wissen über das Geschlechtliche. Nur das Mariechen Asperger fängt bitterlich zu weinen an. Sie ist die Tochter eines Kinderpsychiaters.

In Englisch haben wir die Schwester Walpurga, die ist ganz blass vom Leben im Kloster. Wenn sie das Wort für Zukunft auf die Tafel schreibt, „Futurum“, kürzt sie es immer ab. „Fut“. Und einige Mädchen kichern, ich habe keine Ahnung, warum. Und wie ich in der Mittagspause mit der Apollonia auf der Mariahilfer Straße spazieren gehe, sage ich empört und laut: „Warum lachen alle, wenn die Schwester Walpurga dieses Wort an die Tafel schreibt? ,Fut‘, was heißt Fut?“

Und plötzlich drehen sich die Leute nach mir um und schauen so komisch. Da weiß ich, dass „Fut“ ein böses Wort ist.

Und dann kommt der Tag mit dem Zuckerlmann. Die Eltern warnen uns vor den Zuckerlmännern, die Kinder auf der Straße ansprechen, mit dem Zuckerlsackerl in der Hand. Vor so einem soll ich mich hüten, sagt die Mutti, auch wenn er verspricht, dass er einen Ort weiß, wo die Zuckerl am Baum wachsen. Da soll ich ganz schnell davonlaufen, sonst geht es mir schlecht. Aber bis jetzt hat noch keine bei uns in der Schule einen Zuckerlmann gesehen. Noch dazu sind wir schon zu alt, um an einen Zuckerlbaum zu glauben.

Doch dann gehe ich einmal von der Schule nach Hause, und wie ich am untersten Treppenabsatz bin, bemerke ich plötzlich, dass mir ein Mann gefolgt ist. Und der hat doch tatsächlich ein Zuckerlsackerl in der Hand und sagt, ich soll mit ihm mitkommen. Genau, wie es die Mutti vorausgesagt hat. Ich fürchte mich ganz entsetzlich und renne die Stiegen hinauf bis zu unserer Wohnungstür.

Die Mutti ist ganz aus dem Häuschen, und weil sie eine aufgeklärte, moderne Frau ist, geht sie mit mir gleich zur Polizei. Die Beamten sind sehr nett und ich werde in einen Raum geführt, wo ich mir Fotos von Zuckerlmännern anschauen muss, ob meiner vielleicht dabei ist. Aber die Gesichter sind mir alle fremd und ich darf nach Hause gehen.

Ich frage mich, wo man diese Männer alle festgenommen hat. Wahrscheinlich müssen die Polizisten ins Zuckerlgeschäft gehen und warten, bis ein Verdächtiger kiloweise Zuckerl kauft. Und von da an kann ich vor Angst nicht mehr alleine das Haus betreten, die Mutti muss mich immer vom Haustor abholen.

Die Mutti sitzt jetzt nächtelang vor ihrer Strickmaschine, die sie auf Raten gekauft hat, damit sie sich mit dem Verkauf von Pullovern und Westen etwas dazuverdient. Und von dem Geld gehen wir dann heimlich ins Kino, wenn der Vati Vorstellung hat. Und jeden Donnerstag sowieso, da ist er nämlich in der „Schlaraffia“. Die Schlaraffia ist ein Verein, wo die Männer die Kultur pflegen. Der Vati wollte nämlich nicht zu den Freimaurern gehen, obwohl sie es ihm angeboten haben. Denn der Papst verbietet den aufrechten Katholiken, Freimaurer zu werden.

„Und außerdem sind die Freimaurer von Juden unterwandert“, sagt der Vati.

Die Mutti meint, dass es vom Vati taktisch klug wäre, das Angebot anzunehmen, denn die Freimaurer halten zusammen wie Pech und Schwefel, und da würde er endlich Karriere machen.

Denn die Schlaraffen schieben sich keine G’schäfterl zu, sie kommen zusammen und machen ganz harmlose Sachen. Sie pflegen Freundschaft, Kunst und Humor. Die verstehen einen Spaß, sie haben Namen wie im Mittelalter. Sie sind „Ritter“. Der Vati zum Beispiel ist der „Ritter David das Lercherl von Steyr“. Und da gibt es noch den „Ritter Orpheus“ und den „Ritter Riacherl“. Und sie tragen Narrenmützen, als ob das ganze Jahr Fasching wäre. Die Mützen haben Ohrenklappen mit Glöckchen dran. Und begrüßen tun sie sich mit „Lulu!“.

Und die Gattinnen und Kinder dürfen nur bei der Weihnachtsfeier dabei sein. Dann heißt die Mutti „Burgfrau David“, und ich bin die „Burgmaid David“. Und wenn der nette Kollege vom Vati, der in Wirklichkeit Peter Wehle heißt, auf mich zukommt und sagt: „Lulu, Burgmaid David“, dann muss ich sagen: „Lulu, Ritter Gschisti Gschasti!“

Sogar wenn einer stirbt, steht auf der Parte „Ein aufrichtiges Lulu!“

Also ist der Vati am Donnerstagabend bei seinen Schlaraffen und kommt sehr spät nach Hause. Und dann sagt die Mutti: „Wenn die Katz aus’m Haus ist, dann tanzen die Mäus’!“

Und wir schauen in die Zeitung, was im Kino gespielt wird. Wie gesagt, der Vati darf nicht wissen, dass wir so viel ins Kino gehen. Erstens wegen dem rausgeschmissenen Geld, aber vor allem, weil ich da viel zu spät ins Bett komme. Am nächsten Tag muss ich ja in die Schule. Drum erlaubt mir die Mutti manchmal, die Schule zu schwänzen, damit sie dem Vati was zu Fleiß tut. Und sie schreibt mir jedes Mal eine Entschuldigung für das Fernbleiben vom Unterricht. Da habe ich Ohrenschmerzen, oder entzündete Mandeln, oder Brechdurchfall.

„Wenn das der Vati wüsste, der würde schimpfen!“, sagt die Mutti.

Dabei hat es der Vati längst aufgegeben zu schimpfen, er sagt gar nichts, geht in sein Herrenzimmer und knallt die Tür zu.

Die Mutti muss sich einen Kredit aufnehmen in einer privaten Kreditanstalt, wo man keinen Ausweis zeigen muss. Und dann gehen wir einkaufen. Sie gönnt sich ein neues Handarbeitsheft und ich darf mir im Spielwarengeschäft ein Stofftier aussuchen. Ich entscheide mich für einen Pudel von der Firma „Steiff“, den ich „Petronius“ taufe. Es läuft nämlich im Kino mein absoluter Lieblingsfilm, „Quo Vadis“. Der ist ab zwölf und ich bin erst elf, aber das ist eben das Aufregende.

In „Quo Vadis“ geht es um die verfolgten Christen, die den Löwen zum Fraß vorgeworfen werden, weil der Kaiser Nero das so will. Und es gibt den „Petronius“, einen tapferen Helden, der zu den Christen hält. Deshalb will ihn der Kaiser Nero töten, aber er kommt ihm zuvor und schneidet sich die Pulsadern auf. Seine Sklavin Eunice nimmt dann das Messer und schneidet sich auch die Pulsadern auf. Sie stirbt aus Liebe zu ihm. Das beeindruckt mich sehr, Sklavin sein und aus Liebe sterben! Na ja, vielleicht nicht gleich sterben, aber immerhin Sklavin sein.

Und als ich eines Tages bei der Amelia zu Besuch bin, spielen wir „Sklavin und Herrin“. Das Spiel habe ich erfunden und die gutmütige Amelia muss sich nach meinen Angaben richten.

Bei der Amelia gibt es eine riesige Tischdecke mit Fransenborte, die bis zum Boden hinunter reicht. Die ist über den Esstisch gebreitet, wenn nicht gegessen wird. Da drunter richten wir uns eine Katakombe ein. Die Amelia nimmt die Klavierdecke als Tunika und schmückt ihre Haare mit der Halskette ihrer Mutter. Als Fächer nimmt sie den Flederwisch, mit dem die Weingläser in der Vitrine abgestaubt werden. Dann muss sie die böse Herrin sein. Ich bin eine arme Christin, die sich in der Katakombe versteckt. Sie entdeckt mich, ich werde ihre Sklavin und tue alles, was sie mir befiehlt. Aber am Schluss bin ich dann ungehorsam und sie muss mich in heißem Öl braten.

So ist es ausgemacht. Aber die Amelia will mich nicht in Öl braten, das tut ja weh! Na gut, dann soll sie mich wenigstens mit dem Flederwisch verhauen. Aber da klingt schon die Stimme ihrer Mutter aus der Küche: „Kinder, wollt’s ein Gurkerl aufs Wurstbrot?!“

Und wieder ist es mir nicht gelungen, meine Fantasien in die Tat umzusetzen.

In der Schule warnt man uns vor „Schmutz und Schund“. Vor der Zeitschrift „Bravo“, vor den „Tarzan“-Heften und überhaupt vor allem, was nicht zur anständigen Literatur gehört. Auch die „Micky Maus“ zählt zu Schmutz und Schund, und wenn wir ein Micky-Maus-Heft in die Schule mitbringen, wird es von den Schwestern einkassiert.

Ich stelle mir vor, wie die Bräute Christi dann abends in ihrer Zelle die Hefte unter dem Kopfpolster hervorziehen und über Donald, Goofy oder die Panzerknacker lachen. Wahrscheinlich müssen sie das am nächsten Tag beichten: „Hochwürden, ich habe gesündigt! Ich habe das Schmunzeln nicht unterdrücken können, wenn sich Onkel Dagobert die Taler auf die Glatze prasseln lässt!“

„Es sei dir vergeben! Bete drei Vaterunser, mein Kind!“

Aber unsere neue Schülerin, die Inge Horvath, erzählt von einem Buch, das noch verbotener ist als die Schmutz-und-Schund-Hefte.

Die Inge ist einmal sitzengeblieben, sie ist fast dreizehn und schon sehr entwickelt, sie hat einen richtigen Busen. Und die langen, dunkelbraunen Haare reichen ihr bis zur Taille. In der Schule nimmt sie ein Gummiringerl und macht sich einen Rossschwanz, aber erst seit die Schwester Oswalda ihr gedroht hat: „Du schaust ja aus wie die Sünderin Maria Magdalena! Wenn du dich nicht ordentlich frisierst, schneid ich dir die Haare ab!“

Die Inge lebt in liederlichen Verhältnissen, so wird getuschelt, weil sie keinen Vater hat und die Mutter arbeiten geht. Deshalb wohnt sie bei ihrer Großmutter.

Das Buch jedenfalls, von dem die Inge spricht, heißt „Lolita“, geschrieben von einem Herrn Vladimir Nabokov. Die Erwachsenen unterhalten sich nur im Flüsterton über „dieses skandalöse Buch“, und wenn ein Kind ins Zimmer kommt, reden sie ganz schnell von etwas anderem. Deshalb gibt es wenig Hoffnung, dass wir es zu lesen kriegen. Wir wissen, dass skandalöse Bücher vom Papst verboten sind und auf einer schwarzen Liste stehen.

Aber die Inge will wenigstens die Schwester Elvira ärgern, die Leiterin der Schulbibliothek. Deshalb gehen wir in das Kellergeschoss, wo die Schwester Elvira mit ihren Büchern zu Hause ist. Ganz scheinheilig fragt dann die Inge: „Schwester Elvira, wir wollen uns das Buch „Lolita“ von Vladimir Nabokov ausborgen. Haben Sie das in Ihrer Bibliothek?“

Das Gesicht der Schwester Elvira läuft rot an und auch ihr Doppelkinn, das aus dem weißen, steifen Schwesternkragen hervorquillt. Dann dreht sie sich um und lässt uns stehen.

Am nächsten Tag muss die Mutti zur Schwester Direktorin und die Großmutter von der Inge ist auch da. Die wählt die Kommunisten, erzählt man sich, und da muss es ja eines Tages zum Schlimmsten kommen. Der Vorfall mit der Schulbibliothek ist nämlich nicht einzige Verfehlung, die „das impertinente Fräulein Inge“ sich geleistet hat. Sie hat sich einen Bikini gekauft und den anstößigen Zweiteiler ausgerechnet in der Lateinstunde hergezeigt.

Und eines Tages ist sie mit tiefroten Lippen in die Schule gekommen, sodass ihr die Schwester Oswalda den Lippenstift mit dem Tafelschwamm abwischen musste. Und um Gottes Christi willen, woher hat sie das Geld für solche frivolen Dinge?

„Ich habe das Geldbörsel von der Oma geplündert“, sagt die Inge stolz.

Und jetzt macht sie Männerbekanntschaften. Dazu geht sie ins „Dianabad“ schwimmen. Und was sie da erzählt … dass sie jetzt nicht mehr das Geldbörsel zu plündern braucht, dass sie jetzt genug Geld von den männlichen Badegästen bekommt.

Jedenfalls halten es die Lehrerinnen für das Beste, wenn die Inge ins schuleigene Internat kommt. Aber die Inge gibt nicht auf. Eines Tages hängt sie drei rosa Unterhöschen und einen Strumpfbandgürtel beim Internatsfenster hinaus. Das schlägt dem Fass den Boden aus und sie wird von der Schule gewiesen.

Mit zwölf habe ich meine erste Blutung. Und zwar gemeinsam mit meiner Freundin Apollonia. Es ist 10-Uhr-Pause und wir gehen aufs Klo, eine lange Reihe von Zellen, mit Klopapier aus grauem Krepp.