Happy End - Romy Lee Stone - E-Book
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Happy End E-Book

Romy Lee Stone

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Beschreibung

 Leidenschaftlich. Spannend. Und vor allem: Nichts für schwache Nerven! Ich rette für ihn. Er tötet für mich. Rufios Waffe zeigt auf Liv. Liv Waffe zeigt auf Rufio. Als Feinde stehen sie sich gegenüber. Bereit, sich gegenseitig zu erschießen. Wie es dazu gekommen ist, versucht Anna, die beste Freundin und Verlegerin von Liv, herauszufinden. Dabei muss sie sich auf ein gefährliches Spiel einlassen, das sie mitten in das Kreuzfeuer des getrennten Paares treibt. Tiefer und tiefer taucht sie in die geheime Welt von Rufio und Liv ein und merkt schnell, dass mehr hinter der Trennung steckt, als es bisher den Anschein machte ... Wird Anna die Fortsetzung des ersten Bandes für ihren Verlag und alle Antworten bekommen oder vorher von den Machtkämpfen der beiden zerfetzt werden? Tropes (wiederkehrende Themen in der Dilogie): Bad Hero Alpha Hero Psycho Enemies to Lovers Time Gap Military Unit Dark Secret Spice Die Geschichte von Rufio und Liv hat die Vibes von: Mr. & Mrs. Smith Bonnie & Clyde Joker & Harley Quinn Bist du bereit, in die dunklen Abgründe von Rufio und Livc abzutauchen und deine Moral von der Klippe zu stürzen? Dann wag dich in die Schlacht, genieße den Wahnsinn in vollen Zügen. Aber sag nicht, du wurdest nicht gewarnt. Ernsthaft: Bitte beachte die Triggerwarnung in den Büchern! Das Lesen der Dilogie wird erst ab 18 Jahren empfohlen! 

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Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Happy End for you

Band II

Romy Lee Stone

1. Auflage

Copyright © 2024 Romy Lee Stone

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anastasia Thiel

Herausgegeben von: Sternfeder Verlag [email protected] www.sternfederverlag.de Druck:

Verlagslabel: Sternfeder Verlag

Bogenstr.8

58802 Balve

ISBN: 9783910956087

Druck und Distribution im Auftrag des Verlags.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich.

Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.

Triggerwarnung

Das folgende Buch enthält potentiell triggernde Inhalte zu den Themen: Tod, Sexismus, explizite Darstellungen und Erwähnungen körperlicher, seelischer und sexualisierter Gewalt gegenüber Menschen und Kindern sowie psychische Erkrankungen.

Playlist

Soldier

Fleurie, Tommee Profitt

Warrior (Stand Up)

Hidden Citizens, Rayelle

Castle

Halsey

Toxic

Besomorph, Coopex, Kaila Hoy

Devil’s Backbone The Civil Wars

Lost It All

Jill Andrews

Heart

Sleeping At Last

Tomorrow We Fight

Tommee Profitt, SVRCINA

Run Baby Run The Rigs

Fire Meet Gasoline Sia

Gangsta - Harley Quinn & Joker Flashback Kehlani

Him & I (with Halsey) E G-Eazy, Halsey

My Home

Myles Smith

Start a war

Klergy, Valerie Broussard

(Die Playlist findet ihr auf Spotify.de: „Happy End For You“ by Romy Lee Stone)

5

Widmung

Für alle Klimbims da draußen.

Was bisher geschah ...

Liv, fünfundzwanzig, begann einen neuen Job als Psychotherapeutin bei einer geheimen Organisation. Rufio traf sie bei ihrem letzten Auftritt als Hobby-Ballerina.

Die beiden sahen sich ein paar Wochen und kamen, wie könnte es anders sein, auch irgendwann zur Sache. Die große Lümmelei. Es wurde so richtig gebuttert. Ihr wisst schon. Nach einer heißen Nacht mit ihm musste sie herausfinden, dass Rufio ihr neuer psychotischer Vorgesetzter war. Rufio war der Befehlshaber der Special Warfare Squad, eine militärische Einheit, die ihn vor allem als „Butcher“ bezeichnete. Sein Vorgehen bei den Einsätzen war von Brutalität und Emotionslosigkeit geprägt. Gefühle sind dem Dreißigjährigen fremd geworden. Doch dann tauchte Liv auf und stellte seine ganze Welt auf den Kopf. Machtspiele oder eher Machtkämpfe, die vor allem Butcher wortwörtlich an die Substanz gingen, beherrschten ihren Alltag. Nach und nach erinnerte sich

Liv, dass Rufio nicht nur irgendein Fremder war. Nein, sie kannte ihn. Er war ihr Nachbar vor über zehn Jahren und bekam hautnah mit, wie sehr Liv unter ihrem gewalttätigen Vater leiden musste. Um sie zu beschützen, ließ er sie und ihre Mutter ab und zu bei sich übernachten und brachte Liv das Kämpfen bei.

Die junge Psychotherapeutin war sich nun sicher: Rufio konnte nicht der Psychopath sein, für den ihn alle hielten. Sie kamen sich näher und beschlossen, es miteinander zu versuchen. Ende gut, alles gut?

Nein, leider nicht.

Livs Mutter tauchte auf und fiel aus allen Wolken, als sie Rufio gegenüber stand.

„Mörder“, schrie sie, und Liv wurde klar, warum ihr Vater wirklich gestorben war. Ein weiterer Einsatz brachte Livs fehlende Erinnerung von dem Tod ihres Vaters endgültig zu ihr zurück. Auf traumatische Weise fand sie heraus, dass nicht Rufio, sondern sie selbst den Gewalttaten ihres Erzeugers ein Ende bereitet hatte. Mit ganzen zwölf Messerstichen richtete sie ihn hin. Rufio und die geheime Organisation, der er angehört, halfen ihr, das Ganze zu vertuschen.

Na ja, und hier ist dann jetzt aber ein Happy End, richtig?

Nope ...

Rufio und Liv schrieben nämlich genau diese Geschichte als Form der Paartherapie auf einer Schreibmaschine auf.

Eine Freundin von Liv, die einen eigenen Verlag hatte, verpackte die Story dann anonymisiert als Roman. Warum Liv die Paartherapie überhaupt verlangte, kam bisher noch nicht raus. Eins stand aber fest: Liv verlangte die Scheidung von Rufio. Warte, was? Wann haben die geheiratet? Das stand da nicht, ihr Lieben. Am Ende ist eine Trennungsvereinbarung der beiden zu erkennen. Nun bleibt den beiden ein Jahr, bis sie sich offiziell scheiden lassen können. Ob es dazu kommt, warum sie sich überhaupt trennten und was nun aus den beiden geworden ist, erfahrt ihr jetzt.

Hier noch einmal die wichtigsten

Namen und Begriffe, um wieder reinzukommen:

SWS: Special Warfare Squad, eine militärische Einheit, bestehend aus elf, ehemals zwölf Mitgliedern, tätig für eine geheime Organisation den USA

Rufio Bihari alias Butcher: Befehlshaber der SWS

Liv Brennon: Psychotherapeutin/ Unterstützung für die SWS bei Einsätzen – Opferbetreuung vor Ort

Ben: Livs bester Freund aus dem Studium, ebenfalls als Psychotherapeut zur Unterstützung der SWS tätig

Sergeant John O’Brien: Ausbilder der SWS, ehemals selbst Soldat, seine Gruppe ist bei einem gefährlichen Einsatz ums Leben gekommen (u.a. Rufios Eltern), nur er überlebte

Tingel: Rufios nerdiges Messer oder eher Dolch(?) oder Schwert(?), keine Ahnung, jedenfalls ein freakiges Ding, wie Rufio es auch ist

Boa: Spitzname für Dana, die Chirurgin der SWS

Antony alias Sunny: Die beste Freundin von Rufio; sie kennen sich aus dem Kinderheim Tiry: Der Scharfschütze der SWS

Cheesy: Der IT-Typ und Rufios Freund

Kampfhund

Ich richtete meine Waffe auf den Feind. Bereit, jeden Einzelnen von ihnen zu vernichten. Der Finger am Abzug, der Atem ruhig, wie bei einem Hund auf der Jagd. Vor mir bildeten sich Staubwolken von aufgewirbeltem Sand. Kurz davor abzudrücken, fokussierte ich noch einmal mit zusammengekniffenen Augen das Ziel. Ich traute meinen Sinnen kaum. Mein Torso wurde von einem Krampf heimgesucht, der mir die Luft raubte. Liv. Als menschliches Schutzschild direkt vor den Alphas. Sie war mehr als das. Ihr bissiger Kampfhund. In der Hand hielt sie einen schwarzen Stab, an dem eine silberne Eisenkette mit Stacheln hing, dazu in der Lage, ihren Opfern die Haut von den Knochen zu reißen. Natrix. So nannte sie dieses Todeswerkzeug. Den Blick starr in unsere Richtung gerichtet, wusste ich, meine Frau war bereit, die SWS abzuschlachten.

Die einzige Frage, die blieb, war: Würde Liv es schaffen, auch mir das Leben auszuhauchen?

Kapitel 1

Die große Tür lässt sich geräuschlos öffnen. Liv hat mir also wirklich den Schlüssel zu ihrem Haus geschickt. Mein Blick wandert über die Holztreppe zur linken Seite. Direkt davor steht eine schlichte Kommode, darüber hängt ein Spiegel. An der Garderobe daneben sind keine Sachen.

Liv und Rufio sind wirklich weg.

Hinter mir schließe ich die Tür und bleibe wie angewurzelt vor der Treppe stehen. Der Brief, den mir Liv zukommen lassen hat, ist so ominös, dass ich das mulmige Gefühl in meinem Bauch nicht mehr loswerde.

Hey Anna,

wenn du das in den Händen hältst, bin ich nicht in der Lage, dir das Manuskript selbst zu übergeben. Das entbindet mich natürlich nicht von meinem Versprechen, dir eine Fortsetzung zu liefern. Mit dem Schlüssel findest du das, was wir dir noch schulden. Verzeih mir die Umstände, anders geht es nicht.

Fühl dich wie zuhause.

P.S. Es sind noch ein paar Flaschen von dem Merlot da, den wir beide so gern getrunken haben. Er wird dir die Arbeit ein wenig versüßen.

XX Liv.

Bin ich hier überhaupt sicher? Offensichtlich ist es meine Freundin nicht, sonst wäre sie nicht abgehauen ... Mein Herz pulsiert unruhig in der Brust, als ich an der Treppe vorbei in Richtung offener Wohnküche gehe. Vor dem Kamin steht ein beiges Sofa mit Decken und Kissen, das nur allzu gemütlich aussieht. Zwei Stufen führen zu einem großen Tisch mit Stühlen direkt vor einer Glasfront. Eine bergige Landschaft und ein Pool ist alles, was man von dort beobachten kann. Keine lästigen Nachbarn weit und breit. Mit den Fingern fahre ich über die Holzoberfläche des Tisches und sehe links davon eine riesige Küche mit Insel und Bar, die den Essbereich abtrennen. Die Helligkeit und Gemütlichkeit dieses Hauses empfangen mich wie ein netter Gastgeber. Das war das Allerletzte, was man sich bei Personen wie Rufio und Liv vorstellen würde. Äußerlich passen sie hier rein. Doch die beiden umgibt eine dunkle Aura, die sich für mich erst erklärte, als ich ihr Manuskript las.

Mit den Augen suche ich nach einem ausgedruckten Stapel Papier oder wenigstens einen Laptop, auf dem ich ihre Geschichte finden könnte. Was sie mir schulden, ist die Fortsetzung ihres Romans. Der erste Band endet mit einem Cliffhanger, das konnte ich so nicht stehen lassen. Ich habe einen eigenen Verlag, und die Leser erwarten Professionalität und Zuverlässigkeit. Zwar befindet sich mein Haus nur einen Kilometer weit weg von den beiden, aber in den letzten Monaten bekam ich Liv nicht mehr zu Gesicht. Auf Nachrichten antwortet sie lediglich in langen Abständen. Ich mache mir Sorgen, ganz abgesehen von der Veröffentlichung ihres Manuskripts möchte ich wissen, ob es ihr gut geht. Sie ist mittlerweile eine echte Freundin für mich geworden. Ob ich das auch für sie bin, war nicht ganz so leicht einzuschätzen.

Ich gehe den Flur zwischen Küche und Treppe entlang und finde nichts Brauchbares außer ein weiteres Gäste- und Badezimmer. Wieso liegt das Manuskript nicht einfach auf dem Tisch? Was soll das alles? Bin ich vielleicht gar nicht deswegen hier? Geht es um etwas ganz anderes? Frustriert lasse ich mich auf das Sofa vor dem Kamin sinken. Wie ein Schluck Wasser sitze ich darauf, mein Kinn auf der Brust liegend. Rufio und Liv machen mich fertig. Wenn sie hofft, dass ich irgendein Rätsel löse, das sie hier unauffällig versteckt hat, um ihr das Leben zu retten, hat sie falschgelegen. Ich war noch nie gut in sowas.

Mit dem Blick wandere ich über die Bilder an der Wand. Vier Rahmen stehen auf dem schwarzen Kaminsims. Nichts Besonderes. Die Art von Postern, die man gerade überall bei Pinterest zu sehen bekommt. Gefüllt waren sie mit Sprüchen und schlichten Motiven. Es dauert einen Moment, bis mir auffällt, dass einer dieser Sprüche ganz und gar nicht Mainstream ist.

Ein Wort: „Schnitzeljagd.“ Ich verstehe nicht. Meine Übersetzer-App erklärt mir die Bedeutung des deutschen Ausdrucks.

Mit neuer Hoffnung gehe ich darauf zu und ziehe das angelehnte Bild vorsichtig hervor. Nichts. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Ich drehe es um und löse das Metall von der Pappe.

Und tatsächlich. Dahinter ist ein winziger Zettel mit Livs Schrift versteckt.

„Ein Happy End ¬für dich. Für deinen Verlag. Das ist es, weswegen du hier bist. Und das findest du am besten, wenn du eine Zeit lang so lebst wie wir. Schlaf in unserem Bett. Trage unsere Kleidung. Mach Sport wie wir. Fürchte um dein Leben. Ach ja, bloß eine Empfehlung: Hab Sex wie wir. Der ist so viel besser, wenn man den Tod vor Augen hat. Ich vertraue dir, Anna.

Sag einmal laut „Los“, wenn du so weit bist und verbrenne daraufhin diesen Zettel. Am besten in dem Kamin vor dir ;-).“

Mit aufgerissen Augen starre ich auf das Blatt vor mir. Das kann doch nicht ihr Ernst sein! Sollte ihr Ziel gewesen sein, mir Angst zu machen, dann hat sie das erreicht! Skeptisch sehe ich mich um. Ich möchte nicht um mein Leben fürchten! Bloß eine gute Geschichte, die ich veröffentlichen kann. Shit. Liv war cool. Aber auch unberechenbar. Was hat sie mit mir vor?

Mein Mund staubt, so trocken ist er. Ich forme ein „L“ mit den Lippen und breche dann doch wieder ab. Mein Herz hüpft wie ein Flummi in der Brust. Ist es das wert? Ein Manuskript?

Der Verlag bedeutet mir alles, aber bin ich auch dazu bereit, auf die verrückten Spielchen zweier psychisch kranker Menschen einzugehen?

„Los.“

Kapitel 2

„Sicherheitssystem aktiviert.“ Vor Schreck taumele ich einige Schritte zurück. Wo kam denn diese Computerstimme her? Knacks. Knacks. Knacks. Überall höre ich Schlösser, die sich verriegeln. Ein Summen ist aus allen Ecken zu vernehmen.

Und wieder ertönt diese weibliche, monotone Roboterstimme: „Authentifizierung.“

Neben der Haustür, auf dem bisher völlig normal wirkenden Spiegel, leuchtet ein runder Rahmen auf. Mit flauem Magen gehe ich darauf zu. Sobald ich mich darin sehe, blinkt ein Muster voller kleiner Quadrate auf. Sie vergrößern und verkleinern sich, zoomen zum Schluss auf meine Augen. Ein doppeltes Piepsen, und schon erblicke ich nur noch mich selbst. Als wäre nichts passiert.

„Code-Word“, ist die nächste Anweisung des Systems.

Schweiß breitet sich auf meiner Stirn aus. „Was?“ „Code-Word“, wiederholt der Computer.

Keine Ahnung, wovon das System spricht! Und was passiert, wenn ich es nicht kenne? Die Antwort darauf kommt schnell.

„Säuberung wird eingeleitet. In 10 ... 9 ... 8 ...“

„Säuberung?“, frage ich panisch. „Auf dem verdammten Brief von Liv steht kein beschissenes Code-Word!“

Über mir taucht ein rotes Licht auf. Es streift durch den Raum und bleibt auf meinem Brustkorb hängen. Automatisch weiche ich aus. Der Punkt folgt mir. Zeigt er etwa die Schussrichtung eines Gewehres an? Nein, bitte nicht. Das darf nicht wahr sein! Niemals würde Liv mich töten lassen. Und da wird es mir bewusst.

Wer sagt mir eigentlich, dass meine Freundin mich in das Haus gelockt hat? Was ist, wenn jemand von ganz oben die Geschichte trotz Anonymisierung ihrer Charaktere herausgefunden hat? Und von wem sie wirklich stammt? Und wer sie veröffentlicht hat? Möchte mich die Organisation rund um die SWS etwa töten? Weil ich zu viel weiß? Bin ich gerade in eine Falle getappt? Mir schnürt sich die Kehle zu.

„5 ... 4 ... 3. “ die Furcht lähmt meinen Körper. Kein klarer Gedanke ist mir mehr möglich. Ich sinke auf den Boden und mache mich zu einer kleinen Kugel. Fest umschließe ich die Knie und erwarte mein Schicksal.

Wieso bin ich nur so ein großes Risiko eingegangen? Mir war bewusst, welche Gefahr mit der Veröffentlichung ihrer Geschichte einhergehen würde, und doch wusste ich es nicht. Nicht wirklich jedenfalls. Aber jetzt war es zu spät.

Bitte nicht ...

„2 ...“

Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf und wieder keine. Aus, Schluss und vorbei.

„1 ...“

Meine Eltern erscheinen vor meinen Augen. Stolz, dann Enttäuschung flackern in ihrem Blick. „Es tut mir so leid, was passiert ist“, flüstere ich. Eine Träne bildet sich in dem Augeninnenwinkel meiner Mum. „Es ist okay, du trägst keine Schuld, Schatz.“

Die Sekunden kommen mir vor wie Stunden. Alles spielt sich verlangsamt ab. Und dann ist es so weit.

„0 ...“

„Boom!“, schreit eine mir nur allzu bekannte Stimme. Liv!

Ich schaue von meinen Beinen auf, doch kann sie nicht entdecken. „Beruhige dich, ich habe dich nur reingelegt. Ich wünschte, ich könnte gerade dein Gesicht sehen. Das hier habe ich lange vor dieser Zeit aufgenommen und eingesprochen. Verzeih mir den Galgenhumor. Du bist bereits durch deine bloße Stimme authentifiziert. Sieh es positiv. Es gibt dir einen lebhaften Eindruck von unseren Tests im Stützpunkt. So lernen wir – unter etwas extremeren Bedingungen – selbst mit Todesangst unsere kognitiven Fähigkeiten einzusetzen. Ich weiß, du wirst erstmal wütend sein. Aber das Gefühl des Überlebens ist ... berauschend. Fühle, was ich fühle.“

Eine kurze Pause des Schweigens vergeht. „Es wäre übrigens einfach ‚Schnitzeljagd‘ gewesen“, fügt Liv lachend hinzu.

Ausdruckslos starre ich in die Luft. Das endlose Nichts in mir weicht einem feurigen Kribbeln. „Du bist ein verdammt irres Arschloch, Liv“ schreie ich und richte mich dabei auf. Dass ich geweint hatte, ist mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht mal aufgefallen. Mit dem Ärmel wische ich mir die Tränen vom Gesicht.

„Fick dich!“, rufe ich hinterher, wohlwissend, dass sie es nicht hören kann.

Kapitel 3

Es hat Stunden gedauert, bis ich mich wieder beruhigt habe. Die Türen sind verriegelt. Ich bin in Livs und Rufios Haus gefangen.

Da mir sowieso vor Aufregung kühl ist und die Wärme eines gemütlichen Feuers gebrauchen kann, gehe ich mit dem Zetteln in der Hand zum Kamin. „Leb wie wir“, lese ich noch einmal die Aufforderung meiner vermeintlichen Freundin. Wie denn, wenn ich hier eingesperrt bin?! Was soll das alles? Voller Wut in den Gliedern knülle ich Livs Brief zusammen.

Mit Tee und einem Buch mache ich es mir auf dem Sofa bequem. Nach einer Stunde muss ich erneut Holz nachlegen. Neben dem Kamin steht ein gut gefüllter Korb. Ich nehme einige in die Hand und schrecke zurück. Ein zischendes Geräusch ertönt und daraufhin ein Knacksen. Es dauert eine Weile, bis ich auf dem Boden die Schwelle entdecke, die sich öffnet.

Mein Herz macht einen Satz. Das Manuskript. Gierig greife ich danach und ziehe es heraus. Gänsehaut breitet sich auf meiner Haut aus. Unter den Dielen befindet sich mehr als nur Papier. Darunter liegt eine ganze Ladung Waffen. Messer, Pistolen, alles, was ein Killerherz begehrt. Das Fach in der Größe einer Ikea-Schublade schließt sich automatisch.

Das Wichtigste halte ich in der Hand.

Der erste Zettel ist ein weiterer Gruß meiner Freundin.

„Wir haben immer eine Wahl, so sagt man doch. Zwei Möglichkeiten. Eine davon ist die Richtige. Wir wissen das. Tief in unserem Herzen.

Bist du wirklich bei uns gefangen, Anna?“

Ich schlucke und bin nicht in der Lage, mich zu bewegen. Nicht einmal umblättern kann ich. Die Psychotherapeutin in sich hat Liv nie abgelegt. Ein- und ausatmen. In den Händen halte ich endlich das Manuskript. Arbeit. Mehr nicht. Privates wird zurückgestellt. Nichts anderes zählt.

Bereits das Gewicht und die Dicke des zweiten Bandes machen mir bewusst, dass das nicht alles sein kann. Und trotzdem, es ist ein Anfang! Eifrig werfe ich Livs Brief zur Seite und blicke mit einem Grinsen auf den Titel:

„Happy End for you“.

Trennungsvereinbarung

Ich starrte die Trennungsvereinbarung in meiner Hand an. Stundenlang stand ich wie eine leblose Statue da und blickte auf Rufios Unterschrift.

Das wollte ich. Jetzt habe ich ihn so weit. Ich wollte es. Ich will ... Ja, doch schon. Es war das Ziel. Das war es, worum ich ihn gebeten hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er endlich darauf eingehen würde. Ich wollte genau das. Ja, ganz sicher. So war es gut. Tränen sammelten sich in den Rändern meiner Augen.

Es war das Richtige. Oder?

Um zu erzählen, wie es dazu gekommen ist, muss ich früher beginnen. Viel früher.

Boom. Boom. Boom. Mein Brustkorb hämmerte, die Luft blieb mir für einige Sekunden aus. Kleine Schweißperlen hatten sich auf der Stirn gesammelt. Müde rieb ich mir die Augen und zog die Beine nah an meinen Körper. Wochen ... ging es mir durch den Kopf ... ganze sieben Wochen und sechs Tage war es her, dass Fio neben mir in diesem Bett gelegen hatte. Ich strich mit der rechten Hand über sein Kopfkissen, steckte die Nase unter das T-Shirt, das ich von ihm trug. Ich bildete mir ein, seinen Geruch noch immer wahrnehmen zu können. Babe, wo bist du nur?

In Gedanken ging ich erneut die Planung des letzten Einsatzes durch.

„Wir werden in ein paar Tagen wieder zurück sein“, hatte Fio bei der Besprechung gesagt. Nun wurde aus einer Mission, die lediglich kurz dauern sollte, zu einer ganz persönlichen Langzeit-Hölle voller Ungewissheit für mich. „Von den Psychs nehmen wir Alex und Ruth mit“, bestimmte mein Freund. Nicht schon wieder. Seit wir zusammen waren, hatte er mich auf keinen einzigen Einsatz mehr mitgeschleppt.

„Was hast du dieses Mal für eine Ausrede, mich hier zurückzulassen?“, fragte ich ihn auf dem Gang, wo wir unbeobachtet waren.

Er grinste breit und legte den Kopf schief. Fio nahm mich nicht ernst. „Mir hat besser gefallen, was die anderen aus deinem Team zu der Besprechung beigesteuert haben.“ Mit zusammengepressten Lippen fixierte ich ihn. Er bekam den bösesten Blick ab, den ich parat hatte.

„Klar. Witzig. Wirklich. Du hast mir versprochen, dass du mich nicht mehr kategorisch ausschließen würdest. Wegen dir bin ich bald arbeitslos. Ms. Black hat mir bereits mit der Kündigung gedroht.“ Fios Grinsen verschwand nicht, er hatte wohl nicht mal ein schlechtes Gewissen. An dem Leuchten in seinen Augen erkannte ich, dass genau das sein Ziel war.

„Es gibt da noch ein Versprechen, das ich gegeben habe.

Und das ist wichtiger als das, was ich dir gegeben habe.“ Fragend sah ich ihn an.

„Eins an mich selbst. Ich beschütze die, die ich liebe. Koste es, was es wolle. Gewöhn dich dran.“

Auch wenn er gute Absichten hatte, rechtfertigte es nicht, was er mir damit antat. „Rufio, hast du mir zugehört? Ich verliere meinen Job!“

Er wandte sich mit einem Schulterzucken ab. „Kollateralschaden.“

Entschlossen stampfte ich ihm hinterher. „Das ist nicht deine Entscheidung. Niemals werde ich dir das verzeihen!“

Sich umdrehend sah er mir tief in die Augen. „Damit kann ich leben. Aber nicht damit, deinen Tod verursacht zu haben.“ Liebe. Vereinnahmend. Zerstörerisch wie ein Tornado. Sie ging zu weit, nahm mir Möglichkeiten. Was mich wütend machte, war jedoch etwas ganz anderes. Um sicherzugehen, dass er gesund und an einem Stück zurückkam, wollte ich bei ihm sein. Im Grunde war ich nicht besser als er. Genau deswegen konnte ich ihm sein Verhalten nicht übel nehmen.

Immer und immer wieder ging ich in dieser Nacht die Diskussion mit ihm durch. Vielleicht hätte ich irgendwas sagen können, dass ihn umgestimmt hätte. Ich sah einfach zu, wie er verschwand. Kein letzter Kuss. Keine letzte Umarmung. Ein verhaltenes Nicken. Mehr bekam er von mir nicht. Und warum? Weil ich ihm beweisen wollte, wie sauer ich war. Und was hatte ich nun davon? Jetzt würde ich ihn vielleicht nie wiedersehen. Dunkelheit zog in mir ein, knabberte meine Seele an. Ich schrie in das Kissen unter mir. „Verdammte scheiß Liebe! Ich hasse dich, Rufio!“ Ich hasste dieses Leben, in das er mich presste. Hasste es, was es aus mir machte. Ich erkannte mich nicht wieder. Von mir war nur noch ein Abklatsch der Frau über, die ich mal mochte. Jetzt war ich dieses mickrige, bedauerliche Etwas, das in Gedanken nur bei einem anderen Menschen war und sich nicht mehr auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Ew. Nur schwerfällig hievte ich mich aus dem Bett. Alles kam mir so anstrengend vor. Zähneputzen, Sachen anziehen, Haare richten ... der reinste Klotz.

Im Stützpunkt halbwegs menschlich riechend angekommen, lief ich dem Sergeant über den Weg. „Gibts was Neues von ihnen?“

Er blieb stehen und sah mich mitleidig an. „Wie ich schon sagte, es ist ganz normal, dass mal etwas schiefgeht und sie länger wegbleiben.“

Das beantwortete meine Frage nicht. Auffällig. „John O’Brien, wenn Sie irgendwas wissen, müssen Sie es mir mitteilen.“

„So?“, er zog die Augenbrauen in die Höhe. „Muss ich das? Nein, denke nicht. Du bist nur ein Psych.“

Nur ein Psych, wiederholte ich in Gedanken. Na und?

Mich nach anderen umschauend, stellte ich fest, wir waren allein.

„Sie wissen doch, dass Fio und ich ein Paar sind“, flüsterte ich. Außer dem Sergeant, Antony und Cheesy wusste keiner davon. Eine kleine Falte bildete sich auf

Johns Stirn. „Seid ihr verheiratet?“

Kopfschüttelnd antwortete ich: „Nein.“

Der Serge zuckte mit den Schultern. „Dann muss ich dir nicht mal sagen, wenn der Bengel stirbt.“

Okay, damit hatte er die Grenzen klar gemacht. Ihn um Informationen zu bitten, stand mir nicht zu. Mit gesenktem Kopf heulte ich auf Knopfdruck los. Die meisten Männer konnten Frauen nicht weinen sehen. Nahezu zuckersüß, schluchzte ich, – glucksend und kindlich. Und nimm das John: „Tut mir leid. Ich dreh bald durch. Nicht zu wissen, ob es ihm gut geht, lässt mich wahnsinnig werden. Entschuldigen Sie mein respektloses Verhalten.“

Der vernarbte Mann stöhnte genervt. „Ist ja gut“, murmelte er. Seine Lippen bildeten nur einen Strich, ihm waren die Tränen sichtlich unangenehm. „Wir haben heute eine Aufnahme von den Autos erhalten, mit denen sie unterwegs waren. Sie sind zerschossen und zerstört. Wahrscheinlich mussten sie zu Fuß weiter.“ Mir blieb für eine Sekunde das Herz stehen. Meine Tränen waren nun nicht mehr gespielt. „Leichen auf den Bildern?“ Die Angst vor dieser Antwort lähmte mich. Ich hielt die Luft an.

O’Brien schüttelte den Kopf. „Keine auf den Aufnahmen. Sie stammen von einer Überwachungskamera aus der Nähe.

Man erkennt nicht viel. Wir müssen einfach abwarten.“

Einfach, wiederholte ich in Gedanken. So unfassbar einfach, dieses Warten!

Der Tag verging nur in Zeitlupe. Ich hatte eine Patientin am Morgen, aus meinem ersten und einzigen Einsatz als Psych. Mehr hatte ich nicht zu tun. Als Psychologin bestand meine Arbeit nur aus den Opfern, die von der SWS gerettet wurden. Allerdings nur, wenn ich auch dabei war, da ich so einen direkten Bezug zu ihnen hatte. Und da ich auf dem Trockenen saß, hatte ich keine Aufgabe mehr.

Sport. Essen. Neue Studien zur Traumatherapie lesen. Schlafen. Das war mein Alltag. Verzweifelt rief ich abends meinen Freund Ben an. Ich hatte ihn schon eine Weile nicht mehr im Stützpunkt angetroffen. Doch auch ein paar Stunden mit ihm konnten mich nicht wirklich ablenken. Ben hatte sich nicht daran gewöhnt, dass ich mit Fio zusammen war. Im Gegenteil, er drängte mir erneut seine Meinung zu ihm auf, warnte mich vor seiner Psyche und weigerte sich, ihn genauer kennenzulernen. So schrecklich es klang, aber seit ich mit Fio zusammen war, entfernte ich mich mehr und mehr von meinem besten Freund. Ich ertrug es einfach nicht, wenn er etwas Schlechtes über Fio sagte.

Auch heute hatte Ben nicht ein gutes Wort an ihm gelassen. Seine Warnungen verfolgten mich in dieser Nacht bis in meine Träume. Immer wieder wachte ich auf, bis ich gegen vier Uhr gar nicht mehr einschlafen konnte.

„Hau ab, solange du noch kannst. Mit Butcher wirst du sowieso keine echte Zukunft haben. Die Einsatztruppe überlebt das nicht bis zur Rente. Und du glaubst doch nicht, dass dieser Psychopath freiwillig gehen würde, selbst wenn er könnte. Das muss dir doch bewusst sein.“

Ich trug Fios T-Shirt, steckte meine Nase darunter und nahm einen tiefen Atemzug.

„Wann kommst du nur wieder, Babe?“, fragte ich flüsternd in die Dunkelheit.

„Du kommst doch wieder, oder?“, fügte ich wimmernd hinzu. Nach irgendeiner Form von Nähe suchend fasste ich über sein Kopfkissen.

„Psychopath“, hauchte ich und lächelte zwischen dem Schluchzen. Ein Psycho mit Herz vielleicht. In Gedanken schwand ich zu einem der Momente, in denen ich genau hier mit dem Kopf auf Fios Brust lag und mich davon überzeugte, dass Rufio der Mann war, den ich in ihm sah. In den ich mich ein zweites Mal verliebt hatte. Wir waren bereits sieben Monate zusammen. Selbst nach dieser Zeit konnte ich nicht aufhören, ihn zu testen. Vertrauen lag mir schwer, und meine anfänglichen Zweifel an seinem lieben Kern hatten sich noch nicht gänzlich gelegt. Menschen zeigten in alltäglichen Situationen erst ihr wahres Gesicht.

Vor allem im Stress, wenn sie müde waren oder Alkohol tranken. Fio hatte mich bis jetzt nicht einmal enttäuscht.

Tief und fest schlief Fio gegen zwei Uhr nachts. Der Wecker klingelte um fünf. Mit der Wange schmiegte ich mich an seine nackte Brust und schlang das Bein um seine Mitte. „Ich kann nicht schlafen“, flüsterte ich ihm ins Ohr. Langsam öffnete er die Augen. Obwohl ich ihn einfach geweckt hatte, wurde er nicht sauer. Im Gegenteil. Seine Finger streichelten sanft über meinen nackten Rücken.

„Was hält dich wach?“ Wenn er leise redete, rasselte seine Stimme und jagte mir ein Kribbeln durch den Bauch. Obwohl er so müde aussah, schenkte er mir mit seinem Blick seine gesamte Aufmerksamkeit.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ein Karussell voller Erlebnisse und Sorgen.“

„Möchtest du darüber sprechen?“

Das schlechte Gewissen, ihn geweckt zu haben, machte sich in mir breit. Mit einem Schmunzeln sagte ich: „Nein.“

Er presste mir einen Kuss auf die Stirn und zog mich fester an sich. „Gut, dann erzähle ich dir eben eine Geschichte.“

Verwundert sah ich zu ihm auf, aber er ließ sich nicht beirren. Ich war doch kein Kind mehr.

„Es war einmal ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge. Sie liefen jeden einzelnen Tag in einen nahegelegen Wald. Sie kletterten auf Bäume, bauten sich Betten aus Blättern und aßen Beeren, bis sie die Flitzekacke bekamen

...“

Mir entglitt ein kindliches Grunzen. „Basiert diese Geschichte etwa auf einem Jungen namens Rufio und einem Mädchen namens Antony?“

Sanft legte Fio mir die Hand auf den Mund. „Pscht. Schlaf. Ich erzähle hier die Story.“

Es dauerte keine zehn Minuten, da konnte ich die Augen nicht mehr aufhalten. Seine ruhige Stimme, die Wärme seiner Brust unter meiner Wange, der Rhythmus seines Herzschlags, all das wirkte so beruhigend, dass ich sanft wegdämmerte.

Scheiß Kerl

Von einer Seite zur anderen wälzte ich mich im Bett. Nicht mal, mich in Erinnerungen zu flüchten, konnte meine kreisenden Gedanken aufhalten.

Ich schaltete die Nachttischlampe an und setzte mich auf. Verzweifelt hielt ich mir die Hand vor den Mund und die Nase, um nicht zu hyperventilieren. Vor dem Bett sank ich auf den Holzboden und wusste nicht weiter. „Er kommt zurück. Ihm ist nichts passiert“, redete ich auf mich ein. Doch es half nicht. Die Dunkelheit hatte es sich in mir gemütlich gemacht.

Ich glaubte eigentlich nicht an Gott, oder irgendetwas anderes Übermächtiges, aber sollte ich mich irren, wollte ich nichts unversucht lassen.

Auf Knien verschränkte ich die Finger ineinander. „Keine Ahnung, wie man mit dir redet, also nimm es bitte nicht respektlos auf. Wenn du da oben wirklich bist und Einfluss auf uns hast, dann muss ich dich dringend um einen Gefallen bitten. Es wird auch das erste und letzte Mal sein, versprochen “, ich wischte mir die Tränen ab, die erneut in mir aufstiegen.

„Bring mir Fio zurück.“ Sobald ich es ausgesprochen hatte, brachen alle restlichen Dämme, die meine Ängste zurückgehalten hatten. Noch nie zuvor hatte ich in meinem Leben so eine Sehnsucht nach einem Menschen verspürt. Noch nie eine so intensive Verbindung. Alles würde ich gerade dafür geben, um ihn bei mir zu haben. Sicher und gesund. Der Gedanke, ihm könnte etwas passiert sein, fraß mich wie Würmer eine Leiche auf.

„Er ist bestimmt nicht dein Lieblingsmensch. Und ja, ich weiß, er ist nicht gerade ein Engel, sondern eher der Teufel persönlich. Untertrieben formuliert“, ich räusperte mich und jetzt glitt mir sogar ein kleines Schmunzeln über die Lippen, als ich mir die Ironie des Betens für Menschen wie ihn vor Augen führte. „Aber es heißt doch, du liebst all deine Kinder. Also auch Rufio, richtig? Glaub mir, er ist nicht ausschließlich böse. Da ist so viel Gutes in ihm. Schon klar, da draußen sieht man das nicht. Genau genommen sündigt er. Häufig. Fast täglich wohl eher.“ Ich gab meine Rechtfertigung für ihn auf. Da war keine, zumindest nicht im biblischen Sinne. „Fio ist wie er ist. Was soll ich sagen? Böse und gut. Gut und böse. Viel wichtiger: Mein Mensch. Der Mann, den ich liebe ... verdammt, ich bin verzweifelt. Denn ohne ihn – ich würde klar kommen, so ist das nicht, irgendwie zumindest – doch es wäre die Hölle auf Erden.“ Das war die absolute Wahrheit. Die nächsten Tränen stiegen auf. „Ich flehe dich an, nimm ihn mir nicht weg. Du hast sicher genug andere, die du bestrafen kannst. Nicht Fio, nicht mich, bitte nicht. So sehr es mich schmerzt, das zuzugeben: Ich brauche ihn. Er ist meine Familie, mein Zuhause, der Sauerstoff, den ich zum Überleben atme.“

Noch eine Weile verbrachte ich auf Knien und stand dann endlich auf. Zurück in den Alltag. Obwohl ich kaum Hunger hatte, quälte ich mir was zu essen rein und zwang mich in den Fitnessraum am Stützpunkt. Ich stand gerade auf dem Laufband und rannte meinen Sorgen davon, als die Sirene anging. Ein quälender Ton, der nur kurz aufheulte. Hastig drückte ich auf Stopp und blieb wie angewurzelt auf dem Gerät stehen. Dieser bestimmte Ton konnte nur eines bedeuten: Die SWS oder zumindest einige von ihnen waren zurück. Unfähig mich zu bewegen, blieb ich an Ort und Stelle. Innerhalb eines Augenblicks würde sich meine Welt für immer verändern können. Lähmende Leere fixierte meine Glieder. Mit großen Augen starrte ich in Richtung des Ganges, den ich hervorragend durch den gläsernen Raum einsehen konnte. Bewegung. Hastig stürmten Sanitäter zum Fahrstuhl. Der Sergeant hinterher. Das Laufband und ich waren eins. Hier würde ich zukünftig leben und sterben. Wie ein Baum mit dem Erdboden war ich damit verwurzelt. Unfreiwillig. Mit den Händen umfasste ich die Griffe vor mir, presste die Finger so fest darum, dass meine Knöchel weiß wurden. „Geh nachsehen“, flüsterte ich mir selbst zu. Vielleicht ist Fio unversehrt zurück. Vielleicht war er es aber auch nicht. Vielleicht war er tot. Tränen liefen mir übers Gesicht, heiß wie Lava. Scheiße, so musste sich die Hölle anfühlen.

Als wäre nichts passiert, als hätte meine Welt nicht in den letzten Wochen wegen ihm stillgestanden, schlenderte Rufio aus dem Fahrstuhl, raus in den Gang. Er plauderte losgelöst mit dem Serge. „Wir sind illegal zurück ins Land gereist. Uns blieben keine Fahrzeuge, Pässe, Telefone, nicht mal Geld. Wir sind übers Meer mit anderen Flüchtlingen hier angekommen.“

Die Luft wollte nicht in meine Lungen strömen. Sie blieb einfach draußen, als hatte ich es nicht verdient, sie einzuatmen. Sie machte sich über mich lustig, tanzte vor mir Polka. Angestrengt versuchte ich, sie einzufangen, um nicht zu ersticken, aber sie weigerte sich. Im Sekundentakt kämpfte ich mit ihr, rangelte und nur selten gewährte sie mir einen Zug. Auf und ab bebte mein Brustkorb, flehte nach Sauerstoff.

Rufios Gesicht wandte sich zu mir, seine Augen erfassten mich. Nein, nicht. Auf der Stelle rannte ich heraus an ihm und dem Sergeant vorbei und schloss mich in der nächstgelegenen Toilette ein. Ob sie etwas zu mir gesagt hatten, wusste ich nicht, ich war nicht mehr in der Lage auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Dafür fehlte mir ein überlebenswichtiges Elixier.

„Festung“, ging es mir durch den Kopf. Eine Mauer vor Rufio. Das war es, was ich in dieser Kabine suchte. Abstand. Als würde ich aus dem Wasser auftauchen, röchelte ich nach Luft. Dort, durch Wände von ihm getrennt, in meiner sicheren Umgebung, umarmte mich das Leben wie eine Mutter ihr weinendes Kind. Verdammt, ich hatte eine Panikattacke, wurde mir mit jedem hechelnden Atemzug bewusst. Aber wieso dann, wenn er unversehrt hier erschien? Warum nicht davor? Was machte mir gerade so eine Angst? Meine Hände an den Wänden rechts und links von mir erzeugten ein quietschendes Geräusch, während ich auf die Fliesen sank. Erschöpft berührte ich meinen Brustkorb, wo die letzten Zuckungen des Bebens noch nachhallten. Kalter Schweiß tropfte mir auf die Hose. Ich war klitschnass, und das nicht vom Sport.

„Liv, geht’s dir gut?“, hörte ich die Stimme meines Lieblingsmenschen.

„Lass mir bitte Freiraum“, brachte ich nur leise hervor. Fios Schritte hallten auf dem Boden des WCs. „Wenn du mir sagst, dass alles okay ist, bin ich weg.“

„Bin ich weg“, wiederholten meine Gedanken seine kratzige Stimme. Immer und immer wieder. Und da wurde mir bewusst, was das Problem war. Ich hatte Angst, nicht nur davor, dass Rufio sterben könnte, sondern vor dem, was es mit mir machen würde. Was diese Beziehung bereits mit mir anstellte. Ich brauchte keinen physischen Abstand, sondern emotionale Distanz, um zu überleben. „Hau endlich ab!“, rief ich durch die Tür und merkte, wie mich die pure Verzweiflung über meine Lage heimsuchte.

Natürlich hörte er nicht. Ein quietschendes Geräusch, die Tür ging auf und ich blickte geradewegs in sein makelloses Gesicht. Offensichtlich hatte ich nicht abgeschlossen. Fio hockte sich zu mir auf den Boden. Bis in die letzte Ecke kroch ich, um mir Raum vor ihm zu schaffen.

„Lass mich.“

Er gab mir keinen Abstand und zog mich an den Knöcheln zu sich.

Nach ihm tretend sagte ich: „Verpiss dich.“ Wut gesellte sich zu der Angst in mir, klatschte ihr ab und verabschiedete sie mit einem Winken. Jetzt war sie dran.

„Ich kann das nicht, das ist zu viel“, meckerte ich und schubste ihn von mir. Fios körperliche Überlegenheit machte es mir unmöglich, mich zu wehren. Schneller als ich gucken konnte, war ich in seinen Armen. Ganz fest presste er mich an sich. Stille herrschte um uns herum, man konnte nur meine glucksenden Geräusche hören.

Seine Nähe weichte jeden Widerstand in mir auf, wog mich in wohliger Wärme. Mein Herz beruhigte sich und schlug einen gesunden Rhythmus ein. Fio lebte. Er war wieder da. Nur langsam begriff ich es. Es vergingen in dieser Position bestimmt zehn Minuten, ohne dass Rufio ein Wort sagte.

In seinen dreckigen Pulli murmelnd unterbrach ich das Schweigen. „Du stinkst“. Trotzdem nahm ich noch mal eine Nase voll, wie ein Junkie von seinem Koks.

Er lachte auf. „Sorry. Es war nicht gerade eine Luxusreise zurück in die Staaten.“

Alles in mir schrie nach Flucht. Das war zu viel. Genau deswegen hatte ich mich so gewehrt, mich erneut in diesen Mann zu verlieben. Die Angst davor war begründet. Es brachte mich um. Nahm mir alles, was mich ausmachte. Ließ mich vergessen, mein Leben in vollen Zügen zu genießen. Gleichzeitig war unsere gemeinsame Zeit wie ein Rausch und nichts sonst fühlte sich so belebend an. In seiner Nähe, war ich zuhause. Angekommen. Sicher. Wenn er sich in Lebensgefahr befand, fiel ich. Zu tief.

„Du darfst mir nicht so wichtig sein.“ Auf seiner Brust legte ich das Kinn ab. Sanft strich er mir durch die Haare.

„Mach das nicht. Schieb mich nicht von dir. Ich fange dich sowieso wieder ein, das weißt du doch. Außerdem ist es zu spät. Du steckst längst drin. Aber vielleicht tröstet dich das ...“ Ich runzelte die Stirn. „Was?“

„Wir stecken in diesem Gefühlsmist gemeinsam drin. Mir geht es mit dir genauso. Das zwischen uns kann uns zerfetzen, aber auch zusammensetzen. Lass uns Letzteres wählen.“ Er presste mir einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Die Wut in mir begrüßte die Dankbarkeit. Sie war eingewickelt in einer warmen Decke und hielt einen Kakao in der Hand. Jetzt wurde es kuschelig. Als ich endlich zuließ, was ich die ganze Zeit verdrängt hatte, weinte ich los. Das Gesicht drückte ich an seinen Hals, die Finger presste ich in seinen Rücken.

„Das waren die schlimmsten Wochen meines Lebens, du scheiß Kerl.“ Sein Brustkorb wackelte kurz, ein amüsierter Laut entglitt ihm.

„Wie wäre es mit Wiedergutmachung?“

Ein kleines Stück löste ich mich von ihm, doch ich sah ihn nur verschwommen. Zu viel salzige Flüssigkeit hatte sich in den Augen gesammelt.

„Das kannst du nicht“, erwiderte ich und wischte mir die Tränen vom Gesicht, um eine klarere Sicht zu bekommen.

„Nicht sofort. Aber vielleicht, wenn du mir dafür genug Zeit gibst.“ Sein Blick wurde ernst. Ich bemerkte, wie er schluckte. Die aufgelockerte Stimmung von eben verschwand durch den Spalt unter der Kabine. Kleine elektrische Impulse luden die Luft auf, prickelten auf meiner Haut.

Obwohl nichts darauf hindeutete, fühlte ich es. Ich wusste genau, was er vorhatte. Ausgerechnet in diesem Moment, indem ich am liebsten mit ihm Schluss gemacht hätte, um wieder aufatmen zu können und mich vor diesen vereinnahmenden Gefühlen zu schützen, versuchte er mich fester an sich zu binden. Meine Kehle wurde zu einer Wüstenlandschaft. Ich wich von Fio zurück, fasste hinter mir an die Toilette und setzte mich auf den geschlossenen Deckel. Mehr Abstand gab die Kabine nicht her. Er hockte auf beiden Knien am Boden.

„Wie wäre es, wenn du mir den Rest unseres Lebens dafür Zeit gibst?“ Herzstillstand. Ruf den verdammten Notruf, flehten meine Organe. Fio fummelte an seinem Hals herum und zog unter dem Pulli eine Kette hervor. Daran hing das Soldatenerkennungsembleme, bei der SWS lediglich bestehend aus einem Code und direkt davor ... ein Ring. Ein verdammter Ring. Wie konnte mir das bisher nie aufgefallen sein? Ach ja, der scheiß Kerl brachte mich nunmehr schon ein dreiviertel Jahr um meine Arbeit! Er trug die Kette, wie der Rest der SWS bei klassischen militärischen Einsätzen. Dog Tag nannten sie sie und allein das sagte genug darüber aus. Soldaten waren nicht mehr wert als ein Nutztier. Zweck der sogenannten Hundemarke war die Identifizierung eines toten Soldaten, der beispielsweise durch eine Bombe entstellt war. Bei mir bildete sich bei dem bloßen Gedanken daran Gänsehaut aus.

„Ich wusste nicht, wo ich ihn zuhause aufbewahren sollte, ohne dass du ihn findest. Also hatte ich ihn einfach im Stützpunkt. Keine Ahnung, warum ich ihn mit auf die Missionen nahm. Wahrscheinlich hoffte der abergläubische Teil in mir, er könnte mir Glück bringen.“

Das war das zweite Mal an diesem Tag, dass mir die Luft wegblieb. Doch jetzt rangelten wir nicht, sie wich nur kurz zurück, um meinem Gehirn einen neuen Kick zu verschaffen.

Kleine Fältchen bildeten sich um Fios Augen herum. „Werd meine Frau, Liv Brennon.“

Fassungslos starrte ich ihn an. Kam da noch was? Er musterte mich, merkte, dass mir irgendwas nicht gefiel, und räusperte sich. Frech grinsend fügte er hinzu. „Bitte.“ Dabei hielt er mir den goldenen Ring entgegen. Da war nicht ein Funken Unsicherheit an ihm zu spüren. Der scheiß Kerl war sich ganz sicher, der Hauptgewinn zu sein. Und das war er – für mich. Doch diese Gewissheit gönnte ich ihm nicht. Noch nicht, jedenfalls. Da hätte wenigstens eine winzige Unregelmäßigkeit in seiner Stimme sein können. Aber nichts da.

Trotzig verschränkte ich die Arme. „Nö.“

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. „Wie bitte?“

„So nicht“, entgegnete ich. „Einen Heiratsantrag auf einem muffigen Klo? Ich habe etwas Besseres verdient als das.“

„Ein so-nicht, ist quasi ein Ja zu einem so-schon“, antwortete er und strahlte über beide Ohren.

Der Kerl war nicht zu fassen. „Du hörst nur, was du hören möchtest, oder?“

Er nickte eifrig und schnappte meine Hand. Mit verzogenem Gesicht entriss ich sie ihm, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Fio packte meine Arme, richtete sich auf und zog mich zu sich. „Du hast sowieso keine Wahl.“ Mir entglitt ein lautes, aber amüsiertes Kreischen, als er meine Hände so bei sich verkeilte, dass er mir den Ring einfach auf den Finger stülpen konnte.

„Nein, niemals!“, schrie ich halb lachend, halb wütend. Und dann fiel mein Blick auf die Hand. Der schlichte goldene Ring sah so aus, als hätte er da schon immer hingehört.

„Fio“, flüsterte ich. Mir blieb die Stimme weg, ich krächzte eher. Fio und ich. Für die Ewigkeit. Neue Tränen verschleierten meine Sicht.

„Du meinst es ernst?“, hakte ich nach. Unsere Machtkämpfe waren grenzwertig, doch das hier wäre selbst für ihn zu viel. Das konnte kein Scherz sein.

Fest umfasste er mein Gesicht. In seinen Augen suchte ich Halt. „Es gab nie einen Zeitpunkt, an dem ich es nicht ernst mit dir gemeint hätte, Liv. Nur einen, der aufgrund unseres Altersunterschieds unpassend war und das, was ich für dich empfinde, moralisch verwerflich, sogar strafbar gemacht hat. Du musstest erwachsen werden dürfen. Das bist du endlich. Jetzt möchte ich alles, was ich von dir bekommen kann. Dein Herz. Deine Seele. Dein Versprechen. Du sollst mir gehören – nur mir. Und jeder soll das sehen können.“

Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Seine Worte lösten ein Kribbeln in meinem Brustkorb aus. Dieses indie-Vollen-gehen, das Fio von Anfang an mit mir verfolgte, gab mir genau die Sicherheit, die ich von ihm brauchte. Doch eines daran ließ eine fette Warntafel in meinen Gedanken aufleuchten. Fio war intensiv, er sagte etwas nicht einfach nur dahin. Sein Wesen schrie danach, mich zu besitzen. Wenn ich es zulassen würde, wären da keine Grenzen mehr. Er würde meine Freiheit verspeisen und meine Unabhängigkeit genüsslich zum Nachtisch fressen. Ich befreite mich aus seinen Händen und blickte wieder zu dem Ring. „Warum so überstürzt, Fio?“

Mit dem Handrücken strich er sich über die Stirn. „Niemand passt so zu mir wie du und ich werde keine unnötige Sekunde damit verschwenden, länger auf den richtigen Moment zu warten. Als mir eben bewusst wurde, dass die Alternative einfach in Syrien zu sterben genauso naheliegend gewesen wäre, wie wieder hier anzukommen, habe ich mich selbst gefragt, ob ich eigentlich total bescheuert bin. Du hättest nie erfahren, wie ernst es mir wirklich mit dir ist. Es gibt keinen richtigen Moment in unserer Situation. Also im Zweifel ein muffiges Klo. Keine Zeit mehr verschwenden. Natürlich hast du etwas Besseres verdient. Aber du hast auch einen besseren Mann verdient. Trotzdem erträgst du mich. Und das lasse ich mir nicht zweimal sagen.“

Den Blick vom Ring abwendend, sah ich meinen Freund an. Sechsundzwanzig war ich, hatte tausende Männer kennengelernt, aber keiner erreichte mein Herz, meine Seele. Nur Fio. Als ich mich das erste Mal mit vierzehn in ihn verliebte, wäre das hier mein wahrgewordener Traum gewesen. Die damalige Liv hätte mir für dieses „Nö“ von eben eine Backpfeife gegeben. Doch die erwachsene Liv baute lieber Mauern zwischen sich und ihre Gefühlswelt. So war es sicherer. Die Erinnerung an die letzten Monate blitzten vor mir auf. Jeden einzelnen glücklichen Moment hatte ich Fio zu verdanken. So vereinnahmend er war, so wenig lag es in meiner Natur, mich beherrschen zu lassen. Ich war ihm gewachsen. Mit den Augen suchte ich seine wunderschönen Gesichtszüge ab. Ja, ganz sicher. Ihm konnte ich standhalten. Selbst wenn er in der Vergangenheit übergriffig wurde, waren seine Absichten mir gegenüber immer rein gewesen. Damit konnte ich umgehen.

„Irgendwie schaffst du es jedes Mal meine emotionale Festung in den richtigen Momenten einzutreten. Zwar mit Gewalt und einem selbstgefälligen Grinsen, aber wer könnte diesem Gesicht schon böse sein“, sagte ich und fasste an die Wangen meines Freundes. Nein, meines Verlobten.

Seine Finger gruben sich in meine Taille. Ich umschlang seinen Hals und sah den Ring hinter ihm wieder an. Er wollte mich – ein Leben lang. Es ging noch nicht in meinen Kopf rein. Ein warmer Schwall durchzog meinen Brustkorb, ohne jegliche Schwere darin. Eine Prise frischer Frühlingsluft, mitten auf dieser schäbigen Toilette, ließ mich schweben. Da war nicht ein Zweifel in mir. Ich wollte diesen Mann, bis ich die Augen für immer schließen würde. „Du bist mehr, als ich verdient habe. Ich werde deine Frau, Scheißkerl.“

Wenn ich nicht durch emotionale Distanz Frieden für meine gequälte Seele finden würde, dann musste ich mir einen anderen Weg einfallen lassen. Und das würde ich.

Kapitel 4

Kurz lege ich die Seiten beiseite, um mir ein Wasser zu holen. Livs Worte hinterlassen bei mir ein zwiegespaltenes Gefühl. Ja, das klingt alles harmonisch. Doch sie hat sich sicher nicht ohne Grund von Rufio getrennt. Automatisch muss ich mich an die Nacht erinnern, in der ich Liv ein allerletztes Mal gesehen habe.

***

Klopf. Klopf. Klopf. Wild hämmerte es an meiner Tür. Draußen stürmte und regnete es. Pitschnass stand meine Freundin vor der Tür. Ihr Haar klebte tropfend an ihrem Kopf.

„Alles okay?“, fragte ich verwundert. Selbstverständlich bat ich sie rein. Erst im Licht des Flurs erkannte ich, wie wenig sie eigentlich an hatte. Kurze Baumwollshorts und ein dazu passendes Croptop. Sie sah sich immer wieder um, als versuche sie sicherzugehen, dass ihr niemand folgte.

„Klar, ich wollte dich nur sehen.“ Das klang nicht überzeugend. Dann hätte sie wohl Zeit gehabt, sich einen Regenschirm zu schnappen. Schnell holte ich ihr ein Handtuch. Als sie sich damit abtrocknete, bemerkte ich einige Blutergüsse und blaue Flecken an ihren Armen und Beinen.

„Oh Gott, Liv, bist du auf der Flucht? Hat dir jemand wehgetan?“ Erschrocken hielt ich die Hand vor den Mund. Liv und Rufio machten gerade eine Trennung durch und ausgerechnet in der Nacht erschien sie gehetzt vor meiner Tür? Hatte er etwas damit zu tun?

Sie runzelte die Stirn und sah langsam zu mir auf, als würde sie die Folgen der Gewalt erst jetzt bemerken. „Nein, ich weiß, wie das aussieht – besser als ich sollte – aber Anna, du musst mir glauben, das war nicht Fio! Verstehst du? Er tut mir nicht weh.“

Skeptisch betrachtete ich sie. „Woher stammen sie dann?“

„Anna, ich arbeite bei einer Geheimorganisation, wie du ja bereits weißt. Was glaubst du wohl?“

Nur schwerlich ließ ich mich von meinem Verdacht abbringen. Irgendwie würde das in mein Bild von Rufio passen. Und zu Livs merkwürdigen Verhalten in den letzten Monaten.

„Anna ...“, flüsterte Liv und neigte den Kopf. „Es ist süß, wie sehr du dich um mich sorgst. Glaub mir, du wärst die Erste, der ich mich anvertrauen würde. Doch glaub mir vor allem das: Ich würde Fio die Eier abreißen, wenn er mir auch nur ein Haar gegen meinen Willen krümmen würde. Keinen Mann dieser Welt werde ich jemals diese Macht über mich haben lassen.“

Das überzeugte mich ein kleines bisschen mehr. Immerhin kannte ich ihre Geschichte. Und trotzdem blieb ein Restzweifel. Bei einem Charakter wie ihm mit einem Ego der Größe des Grand Canyons ... Man wusste es nie genau.

„Was machst du hier mitten in der Nacht?“, hakte ich nach.

Liv kam ein Schritt auf mich zu. Ihre Miene wurde ganz sanft. „Das sagte ich schon. Ich wollte dich sehen.“

„Mehr nicht?“

Ein Kopfschütteln. „Danke, dass du so spät noch aufgemacht hast. Trinken wir ein Gläschen Merlot?“ Ich zeigte in Richtung Wohnzimmer.

„Wirst du mir je erzählen, woran es bei euch gescheitert ist?“, traute ich mich, beim zweiten Nachschenken zu fragen. „Ich habe das letzte Kapitel bei mir.“ Sie rannte zu ihrer Tasche und kramte ein paar Zettel heraus.

„Es wird wohl ein Cliffhanger“, kündigte sie seufzend an.

„Liv, dann müsst ihr mir eine Fortsetzung liefern“, sagte ich strenger, als es beabsichtigt war.

Sie nickte verständnisvoll und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. „Es ist gerade viel los. Aber ich verspreche dir, ich setze alles daran, weiterzuschreiben – solange es mir möglich ist.“

Mit gerunzelter Stirn sah ich sie an. „Wieso sollte es dir nicht mehr möglich sein?“

Gedankenverloren starrte Liv in die Luft. Sekunden oder sogar Minuten vergingen, in denen sie nichts sagte. Dann endlich brach sie das Schweigen. „Es war wirklich schön, dass wir uns noch einmal sehen konnten.“

Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, sprang sie auf. „Ich muss los.“

Sie stürmte zur Tür und zog aus ihrer Sporttasche einen Pulli. „Warte. Rede mit mir!“, forderte ich. Keine Chance.

Mit der Hand am Griff drehte sie sich noch mal um. „Bald brauche ich deine Hilfe. Im Gegenzug liefere ich dir das Manuskript. Du musst Rufio zum richtigen Zeitpunkt unbedingt wissen lassen, was darin steht. Er muss es erfahren. Versprich mir das.“

„Wieso machst du das nicht selbst?“, hakte ich nach, griff in Richtung ihrer Hand und verfehlte sie. Liv verschwand im dunklen Regen. Die Autotür knallte zu und schon war sie weg.

Lola

Ich kam gerade aus der Umkleide und wollte mich auf den Weg nach Hause machen, als ich auf dem Flur des Stützpunktes Rufio lang laufen sah. Es war bereits dunkel und der schlecht beleuchtete Gang ließ mich kaum sein Gesicht erahnen. Seine schweren Stiefel schallten bei jedem weiteren selbstbewussten Schritt in meinen Ohren. Wie ein Magnet zog er mich an, sofort setzte ich mich in Bewegung, um auf ihn zuzugehen. Auf seinen Lippen glaubte ich, ein verschmitztes Grinsen zu erkennen. Normalerweise verhielt ich mich distanziert auf der Arbeit, doch gerade war niemand hier. Also ging ich schneller und konnte nicht verhindern, mein ganzes Gebiss vor Freude freizulegen. Es waren nur wenige Tage, an denen wir uns nicht gesehen hatten und selbst die reichten, um die Sehnsucht nach ihm unerträglich werden zu lassen.

Ein quietschendes Geräusch ertönte. Lola. Sie öffnete die Tür des Gemeinschaftssaales zwischen uns. Erst schaute sie kurz mich an, bis sie sich Rufio zuwandte. Verdammt, du störst!, zischte ich in Gedanken. Lola war eine vierundzwanzig Jahre junge Agentin, die als stillgelegt galt und ihrem erlernten Beruf einer Kunsthändlerin nachging. In letzter Zeit tauchte sie häufiger im Stützpunkt auf. Warum, wusste ich nicht genau.

„Was für eine Ehre, Ihnen zu begegnen“, sagte Lola in Rufios Richtung und stolzierte auf ihn zu. Meine Schritte wurden langsamer.

„Was für eine Ehre, dass Sie sich an mich erinnern“, erwiderte er in einem amüsierten Ton.

Ist das etwa sein Ernst? Ging er auf ihren Flirt ein? Vor mir, seiner Verlobten?

Sie lachte auf und blieb kurz vor ihm stehen. „Sicher, wie könnte ich nicht? Du bist unter uns so etwas wie eine Berühmtheit. Unsere Anwärter für deine Position versuchen dir nachzueifern und beobachten dich aufmerksam.“

Konnte sie sich noch mehr einschleimen? Das würde Rufios sowieso schon eingebildetes Wesen direkt wieder in Höhen beflügeln, die ihn unerträglich machen würden.

Beide drehten sich in meine Richtung und kamen auf mich zu. Als ihre Blicke mich trafen, schaute ich schnell nach unten. Sie sollten nicht glauben, ich würde mich für sie interessieren. Ganz lässig an die Wand gelehnt, drückte ich den Fahrstuhlknopf. Nebenbei belauschte ich sie weiterhin aufmerksam. Zu mir stellten sich Antony und Ben, die ebenfalls darauf warteten, dass die Tür endlich aufging und wir zu unseren Autos in die Tiefgarage konnten.

„Und Liv, was machst du heute Abend noch?“ Ben schaute mich erwartungsvoll an, doch ich antwortete nicht, um Rufios Unterhaltung nicht zu verpassen.

„Was machst du hier, Lola?“, hörte ich Rufio sie fragen.

„Ehrlich gesagt, verhandeln wir gerade darüber, ob ich die SWS verstärken soll. Ihr seid mit elf Mitgliedern sowieso weniger als die Gruppen vor euch. Ich könnte euch eine Hilfe sein. Doch ich meinte, dass das deine Entscheidung sei. Nicht meine. Du musst einschätzen können, ob ich mich in euer Team einfügen könnte. Ausgebildet bin ich nun mal in der Zusammenarbeit mit anderen. Wie siehst du das, Butcher?“