Hausgemeinschaft mit dem Tod - Franziska Steinhauer - E-Book

Hausgemeinschaft mit dem Tod E-Book

Franziska Steinhauer

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Beschreibung

In einer Plattenbausiedlung in Stenungssund wird ein Mädchen ermordet aufgefunden. Sofort richtet sich das Misstrauen der Nachbarn gegen den 14-jährigen behinderten Lille-Ulv, der dort mit seiner alleinerziehenden Mutter zusammen lebt. Als ein weiteres Mädchen vermisst gemeldet wird, eskaliert die Lage, denn die Bewohner der Siedlung sind sich sicher, den Schuldigen zu kennen. Während die Polizei unter Sven Lundquist noch nach dem zweiten verschwundenen Kind sucht, kommt ein drittes nach der Schule nicht nach Hause - und plötzlich ist auch Lille-Ulv nicht mehr auffindbar.

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Steinhauer

Hausgemeinschaft mit dem Tod

Schweden-Krimi mit Rezepten

Franziska Steinhauer

Hausgemeinschaft mit dem Tod

Der dritte Fall für Sven Lundquist

Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2012 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Britta Gerloff

Umschlag: Thorsten Hartmann

unter Verwendung eines Fotos von designritter/photocase.com

Rezepte: Melanie Ristic und Roland Tauber

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net

ISBN: 978-3-941895-25-6

1

Agneta Paulsson wartete:

Ständig wanderten ihre Augen zwischen Telefon, Handy, Fenster und Wohnungstür hin und her.

30 Minuten schon.

Fast 35.

Verspätungen konnten mal vorkommen, natürlich, das war durchaus möglich. Doch normalerweise rief Simone in so einem Fall an.

Agneta seufzte.

Drückte die Zigarette mit nikotinvergilbten Fingern im längst überquellenden Aschenbecher aus.

Wollte sich mit einer Illustrierten auf die Couch setzen, schaffte es dann doch nicht und kehrte besorgt wieder zu ihrem Aussichtspunkt am Fenster zurück. Zündete sich eine neue Zigarette an.

40 Minuten über die Zeit.

Vor der Scheibe begann es zu regnen.

Der Wind blies die Tropfen klatschend gegen das Fenster. Sie sahen aus wie Tränen.

Ich könnte sie auf ihrem Handy anrufen, überlegte Agneta vernünftig, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Ihre Tochter war in einem schwierigen Alter.

»Wenn ich dich jetzt anrufe, wirfst du mir wieder wochenlang Kontrollzwang und chronisches Misstrauen vor«, flüsterte die Mutter vor sich hin und überlegte, ob sie mit 12 auch so schwierig gewesen war.

»Eher nicht!«, stellte sie energisch fest, stieß sich vom Fensterbrett ab, drückte die Glut in der Blumenerde aus und ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.

Ihre Eltern konnte sie nicht mehr danach fragen. Es war schon ein guter Tag, wenn die beiden sich noch daran erinnerten, eine Tochter zu haben.

Der Alzheimer fraß nicht nur die Erinnerungen der Betroffenen auf. Er zerstörte ihre Persönlichkeit, alles, was sie einmal waren, dachten, konnten, fühlten.

Müde strich Agneta ihre fettigen Haare aus der Stirn und wischte die feuchten Finger am Gesäß ihrer ausgeleierten Jogginghose ab.

»Claudia, wie schön dich zu sehen!«, hatte ihre Mutter beim letzten Besuch erfreut gerufen.

»Agneta. Ich bin Agneta!«

Die Mutter hatte angefangen zu weinen. War über mindestens eine Stunde nicht zu beruhigen gewesen. Beim nächsten Mal solle sie besser darauf verzichten, ihre Eltern zu korrigieren, beschied ihr die Pflegerin des Heims, es verstärke nur die allgemeine Verunsicherung, die der Demenzkranke ohnehin schon zu ertragen habe und verursache eine anhaltende Verstimmung, die den Alltag erheblich belaste. Agneta griff mit bebenden Fingern nach dem Teekessel, goss das Wasser in eine große Tasse und bewegte einen Teebeutel darin auf und ab.

55 Minuten.

»Fünf Minuten gebe ich dir noch, Gottwald. Wenn die Kleine bis dann nicht hier auf der Matte steht, fange ich an zu telefonieren!«

Sie nippte an der blutroten Flüssigkeit, verbrannte sich die Zunge.

»Claudia! Ha! Meine saubere Schwester. Seit Jahren ist sie nicht mehr hier gewesen. All die Arbeit bleibt an mir hängen, während das Madamchen sich einfach mit der Überweisung freikauft!«, fauchte Agneta zornig. »Aber Mama freut sich besonders über einen Besuch von Claudia! Tja, nun ist euch nur die ungeliebte Tochter geblieben, die andere jettet in der Welt herum. Pech auf eure alten Tage!« Sie hob den Teebecher an, als wolle sie ihnen auf die Entfernung zuprosten. »Ausgerechnet die hässliche, schmuddelige, ungepflegte Agneta.« Kein Wunder, dass es Simone bei Gottwald besser gefällt als zuhause bei ihrer Mutter, überlegte sie deprimiert. Bei Papa gibt es einen gepflegten Garten, ein modernes Haus mit Kamin und Designermöbeln, edlen Teppichen und Fernseh- und Musikanlage vom Feinsten und Teuersten. Nicht spießig und billig, abgestoßen und voller Schrammen wie bei mir. Vielleicht kann sie sich von all dem Luxus einfach nicht losreißen!

62 Minuten.

»So, Schluss jetzt, Gottwald, du altes Riesenarschloch! Du weißt ganz genau, was vereinbart ist! Deine Scheißspielchen gehen mir so was von auf die Nerven!«

Agneta griff zum Telefon.

Wählte Simones Handy an.

Es klingelte – und leitete nach dem sechsten Mal den Anrufer auf die Mailbox um. »Hier spricht Simone. Wahrscheinlich quatsche ich gerade mit jemand anderem. Hinterlasse deine Nummer und deinen Namen, ich rufe gleich zurück!«

Tränen drückten sich in die Augen der Mutter. Ob vor Angst, Sorge oder Wut konnte sie nicht sagen.

Bei Gottwalds Festnetzanschluss hatte sie auch kein Glück.

Niemand meldete sich – Gott sei Dank –, sie hätte sich nur ungern mit diesem Flittchen unterhalten, das nun bei ihm lebte. Sein Mobiltelefon lud sie freundlich ein, ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Von diesem Angebot machte Agneta keinen Gebrauch. Wozu auch? Er würde ohnehin nicht zurückrufen.

90 Minuten.

Die vage Sorge wurde zur Gewissheit.

Es musste etwas passiert sein.

Etwas Ernstes, Dramatisches, Tragisches!

Vielleicht hatten die beiden einen Unfall! Sofort sah sie die Bilder vor sich: Zwei Körper in sonderbar verrenkter Haltung, blutüberströmte Gesichter, leblose Gestalten, unnatürlich bleich im zuckenden Blaulicht der herbeigerufenen Rettungsmannschaft. Erkannte entsetzt das hoffnungslose Achselzucken des Notarztes!

Nervös tippte sie eine neue Nummer ein.

»Hier spricht Agneta Paulsson. Meine Tochter ist nicht nach Hause gekommen. Sie ist mit ihrem Vater, meinem Ex, unterwegs. Gottwald Paulsson. Sie meldet sich sonst immer, wenn es eine Verspätung gibt. Aber jetzt kann ich weder sie noch ihren Vater erreichen. Ich habe solche Angst! Du musst mir helfen!«

2

Karell lauschte auf die Schritte über seinem Kopf.

Agneta, dachte er beiläufig, irgendetwas beunruhigt sie. Sein Blick konzentrierte sich wieder auf das Tableau vor ihm auf dem Tisch.

Schon das dritte unheilverkündende Deck. »Sieht wirklich nicht gut aus«, murmelte er. »Schwierigkeiten stehen ins Haus. Und diesmal nicht für mich.«

Karell, der sich, seit er in diesem Carré wohnte, Barbanina nannte, seufzte. »Der Tod! Kein angenehmer Besucher«, ächzte er, als er die letzte Karte umdrehte.

Als er hier einzog, war ihm sofort aufgefallen, wie viele Frauen in den Häusern im Rund lebten. Einsame, die nie einen Partner gefunden hatten, Witwen, denen das Alleinsein nicht gut bekam, überforderte Mütter, deren Männer kein Verständnis dafür hatten, dass sie Erziehung und die Erledigung des Haushalts als Arbeit empfinden konnten und über Müdigkeit klagten, wenn der Gatte nach Hause kam. Karell hatte das Potenzial sofort erkannt. Frauen hatten stets unglaublich viele Fragen zu klären: Wird mein Sohn das Abitur schaffen? Wird meine Tochter mit diesem Mann wirklich glücklich? Geht mein Mann schon wieder fremd? Werde ich bis ins hohe Alter gesund bleiben? Warum kann ich nicht schwanger werden?

Mit diesen Problemen würden sie wohl lieber zu einer Seherin gehen als zu einem Wahrsager. Gedacht, getan. Er genoss es, seine transvestitische Seite ausleben zu dürfen, erschuf für die Kundinnen Barbanina und blieb für die Hausverwaltung Karell. Bisher hatte das Rollenspiel komplikationslos geklappt. Die Kundinnen wollten an Barbanina glauben, das schummrige Licht im Wohnzimmer ließ die bläuliche Verfärbung des Bartwuchses an Kinn und Wangen verschwinden, seidenglänzende Handschuhe bis zum Oberarm verbargen die männlich kräftigen Finger.

Barbanina, die vorgeblich mit ihm verwandte Mitbewohnerin Karells, verließ das Haus praktisch nie. Der junge Mann, der ihr so unglaublich ähnelte, erledigte alle Einkäufe und Behördenbesuche, übernahm selbst Botengänge für sie.

Er selbst hatte schnell bemerkt, wie sehr sie sein eigenes Leben zu dominieren begann, spürte, wie ihm der private Karell mehr und mehr entglitt.

Die meisten älteren Damen beneideten Barbanina um diesen liebevollen Jungen, seufzten wehmütig, wenn sie an ihre eigene Brut dachten, die, einmal großgezogen, weit fortgezogen war und sich in der Regel nur dann meldete, wenn ihr das Wasser bis zum Hals stand und Rettung durch die Mutter vonnöten war.

Nur Ingmar, der Hauswart, schien etwas bemerkt zu haben.

Vor ein paar Tagen hatte Karell ihn »Transe!« zischen hören, als er an ihm vorüberging. Auf so etwas reagierte er natürlich überhaupt nicht, tat so, als sei ihm die Bedeutung des Wortes nicht geläufig oder er habe es schlicht nicht gehört. Ingmar konnte unmöglich mehr als einen Verdacht haben – von irgendeiner Form der Gewissheit war er bestimmt weit entfernt.

»Was nun? Die Karten sprechen eine deutliche Sprache. Soll ich Agneta wissen lassen, welche Botschaft sie haben?«

Wieder wanderten seine Augen zur Decke. Noch immer lief sie hin und her.

»Wahrscheinlich sollte ich mich besser nicht einmischen«, überlegte Karell vernünftig.

Doch Barbanina war eitel.

Sie wollte ein wenig mit ihren besonderen Fähigkeiten angeben.

So griff sie zum Telefon und brachte Karells mahnende Stimme mit einer harschen Bewegung zum Verstummen.

Er fügte sich widerstandslos.

In ihren vier Wänden gab sie den Ton an, hatte er nicht zu mucken.

3

Sven Lundquist schlief unruhig.

Drehte sich von einer auf die andere Seite, stöhnte leise.

Er hatte eindeutig einen schwerwiegenden Fehler gemacht, seine beiden Frauen gegen sich aufgebracht. Das war nicht zu leugnen.

Vorsichtig öffnete er das linke Auge und warf einen forschenden Blick zu Magda hinüber.

Sie schien zu schlafen. Doch das konnte täuschen, mochte einer dieser weiblichen Tricks sein, die sie gut beherrschte und von denen er nur wenig Ahnung hatte. Er war jedenfalls nicht sicher, ob er den gleichmäßigen Atemzügen trauen durfte.

Und das ganze Theater und Gezeter wegen eines stinkenden kleinen Hundes in einem verdreckten Korb an der Hand eines schmuddeligen jungen Mannes mit Dreadlocks!

»Ach, ist der aber süß!«, hatte Lisa gerufen und sich zu dem winzigen Flohtaxi hinuntergebeugt.

Ehe er es noch verhindern konnte, kosten alle ihre zehn Finger durch das Fell des Zwerges mit den großen dunklen Augen.

»Ja, der ist wirklich niedlich«, bestätigte auch Magda und sah den Kleinen … nein, himmelte den Kleinen an.

»Ein Hund! Der muss bei jedem Wetter ausgeführt werden. Bei Wind und Regen, selbst im tiefsten Schnee!«, warnte der Vater.

»Aber das ist doch gar kein Problem«, hatte Lisa behauptet.

»Ach, da staune ich aber! Noch sind Ferien. Aber irgendwann musst du wieder zur Schule gehen! Außerdem lockt der eigene Hund immer auch fremde an.«

»Aber nur die netten«, hatte sich an dieser Stelle das langhaarige Herrchen schmunzelnd eingemischt.

Sven Lundquist ächzte und schlug beide Augen auf.

Magda atmete noch immer ruhig und gleichmäßig.

Ihr Gesicht von ihm abgewandt.

Und so würde es auch bleiben – es sei denn, er fand den jungen Mann und kaufte ihm den haarigen Winzling mit dem verlorenen Blick ab, der dann wahrscheinlich stetig bis zur Größe einer dänischen Dogge heranwachsen würde. Liebe auf den ersten Blick. Da konnten auch die besten Argumente eines Vaters und Ehegatten nichts ausrichten.

Er seufzte erneut.

Seit wann galt »niedlich« als Kriterium für die Auswahl eines neuen Familienmitglieds? Magda hatte ihn, den Witwer mit Kind, doch auch geheiratet, ohne dass auf ihn diese Bezeichnung gepasst hätte! Niedlich, pah!

Dabei war es bis zu jenem Augenblick ein schöner und entspannter Familiennachmittag gewesen.

Lisa hatte sich einen Ausflug zum Kanaltorget gewünscht. Dort stand eine der jüngsten Attraktionen Göteborgs, das Göteborgshjulet.

In 42 Glasgondeln hievte das Riesenrad bis zu 336 Gäste 60 Meter hoch über die Stadt. Ein atemberaubender Ausblick bot sich von dort. Lisa war ganz aufgeregt gewesen, ihre Augen hatten geleuchtet, ihre Wangen geglüht.

Doch von einer Sekunde auf die andere war es mit der gelösten Stimmung vorbei – genau in dem Moment, als sie den »Hundemann« hinter sich ließen.

Das Handy unter seinem Kopfkissen vibrierte.

Rasch zog er es hervor und floh auf den Flur hinaus.

»Ja, Sven Lundquist!«

»Torre Samuelsson. Wir haben die Leiche eines Kindes gefunden. Simone Paulsson. Zwölf Jahre alt. Die Mutter hatte sie am frühen Abend vermisst gemeldet.«

»Wo?«

»Einkaufszentrum in Eriksberg, in der Nähe des Carolinen-Carrés. Der Kerl hat sie in einen Einkaufswagen gelegt, wie ein Stück Käse!«, schnaubte der Kollege zornig.

Schnell schlüpfte der Hauptkommissar in seine Hose, ein Hemd und einen warmen Pullover.

»Lars? Wir müssen los. Leiche eines 12-jährigen Mädchens!«

Am anderen Ende der Leitung war lautes Stöhnen zu hören.

»Mehr weiß ich auch noch nicht. Aber sie war als vermisst gelistet – einen Namen gibt es also schon. Simone Paulsson.«

»Okay. Ich bin gleich bei dir.«

Lundquist kochte sich einen Kaffee. Die Entdeckung eines getöteten Kindes war immer eine äußerst emotionale Belastung für die ermittelnden Beamten. Das Opfer war in diesen Fällen völlig schutzlos, unschuldig und ausgeliefert. Für Lars war es das erste Mal seit der Geburt seines eigenen Kindes, dass er mit solch einem Fall konfrontiert wurde. Der Freund würde schnell feststellen, wie das den Blick auf den Fall veränderte, ihn zu einer persönlichen Angelegenheit werden ließ.

Sven fror.

Morgen würde die Presse sicher wieder über das Böse spekulieren, dem Täter einen Namen für die Ewigkeit verleihen, wie einen Orden.

»Das Böse!«, knurrte er. »Das verwenden die Reporter immer dann, wenn ihnen unfassbar erscheint, worüber sie berichten müssen. Unerklärliche Gewalt und Grausamkeit. So, als sei man schicksalhaft ausgeliefert. Vielleicht wissen sie ja nicht, dass sie damit den Täter im Grunde zum willenlosen Opfer des Bösen machen – praktisch unschuldig schuldig.« Und damit auch vor Gericht nicht schuldfähig, setzte er verbittert in Gedanken hinzu.

Eriksberg. Ein schöner Stadtteil. Zumindest für die, die in den Häuserzeilen wohnten, deren Fenster den Blick auf den Hafen freigaben. Bunte, moderne Fassade, halbhohe Wohnblocks. Meeresfeeling zum Frühstück auf dem Balkon. Die Mieter in den dahinterliegenden Häusern hatten weniger Glück. Sie rochen zwar das Meer, was mal mehr, mal weniger angenehm sein mochte, aber konnten es nicht sehen.

»Hoffentlich kriegen wir den Kerl schnell!«, murmelte er über der dampfenden Flüssigkeit, trat ans Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus.

Es regnete.

Schon wieder. Oder etwa immer noch?

Wenig später sprang er auf den Beifahrersitz eines Familienvans und Lars brauste los.

»Britta und Ole kommen ins Büro und recherchieren den Hintergrund der Familie«, erklärte Sven. »Oft gibt es in diesen Fällen ein privates Motiv. Bernt hört sich am Tatort um. Es geht nicht immer um Missbrauch oder Vergewaltigung«, setzte er hinzu und fragte sich, ob er damit nicht in erster Linie sich selbst beruhigen wollte.

Lars grunzte nur unwillig.

»Ärger?«

»Der Kleine hat ein bisschen Fieber und quengelt.«

Dann schwieg er.

Stierte durch die Scheibe auf die nasse Straße.

Der Scheibenwischer quietsche.

Trotz der frühen Stunde hatten sich schon viele Schaulustige hinter der polizeilichen Absperrung versammelt. Einige schwiegen betroffen. Andere tuschelten aufgeregt, stellten erste Mutmaßungen an. Wieder andere ergingen sich stimmgewaltig in allgemeinen Tiraden über den Zustand der schwedischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert, den Verfall von Sitte und Anstand.

Sven kannte das alles von früheren Tatorten.

»Voyeure!«, knurrte er grimmig.

Er hielt Ausschau nach Torre Samuelsson.

»Hier! Ich bin Torre«, winkte ein schlanker, hochgewachsener Kollege verhalten und führte sie hinter einen aufgespannten Sichtschutz.

»Tja – ungewöhnliche Auffindesituation. Wir haben das Tuch gespannt, um die Gaffer nicht auf ihre Kosten kommen zu lassen. Die fotografieren hier sonst alles mit ihren Handys und stellen die Bilder und Videos sofort ins Netz. Eigentlich sollte man die alle wegen Behinderung der polizeilichen Ermittlungen einsperren!« Torres Gesicht, schmal und vor Erregung gerötet, zeigte deutliche Spuren des Schreckens.

»Wo liegt das Kind?«

»Komm!«

Torre führte sie in eine entlegene Ecke.

»Er hat das Mädchen in einen Einkaufswagen gelegt. Zusammengerollt wie ein Hündchen.«

Lundquist zuckte zusammen. Torres Vergleiche waren ihm zu blumig und auf tierische Vergleiche reagierte er heute allergisch.

Sie hatten den Bereich für die abgestellten Einkaufswagen erreicht.

Scheinwerfer leuchteten diesen Teil aus.

»Der Fotograf ist schon fertig. Der Rechtsmediziner kommt gerade. Dr. Jussi Andersson, glaube ich. Dort!« Torres fleischiger Finger deutete auf eine untersetzte drahtige Gestalt, die mit energischem Schritt näher kam.

Sven nickte.

Sein Blick kroch über die surreale Szene, die sich ihm bot.

Hinter sich hörte er Lars kräftig ausatmen.

Sie war deutlich zu groß für ihr letztes Bett gewesen.

Der Täter hatte den Körper auf eine rote Fleecedecke gebettet, den Stoff an Ellbogen und Knien etwas hochgezogen, als wolle er verhindern, dass sich der Draht schmerzhaft in ihre Extremitäten drücken konnte. Doch bis zur Stirn hatte die Unterlage nicht gereicht. Sven bemerkte, wie sich das Gewebe der Stirn durch die Gitter quetschte. Blutansammlungen verfärbten bereits die Wange und den Arm, auf dem der Kopf gelegen hatte. Bläulich und geschwollen sah dieser Bereich aus. Er zwang sich, jede Einzelheit zu erfassen, ignorierte das flaue Gefühl in der Magengegend, das ihn an Tatorten regelmäßig überfiel. Die grellen Lampen zerrten jedes Detail gnadenlos deutlich hervor. Die fahle Haut des Mädchens, ihre nackten mageren Beine unter dem bunten Rock, das hochgerutschte T-Shirt über der vollständig entwickelten Brust, die sorgfältig unter dem Kopf gekreuzten Arme, die langen Haare, die seitlich über das Gesicht fielen. Vielleicht hat der Täter sie mit Absicht so drapiert, damit er nicht in die Augen der Kleinen sehen musste, überlegte Lundquist. Hatte er den Mord bedauert, sich seiner Tat wegen geschämt? Hör auf, maßregelte er sich selbst, es ist viel zu früh, darüber Spekulationen anzustellen.

»Keine Schuhe?«, fragte er dann mit belegter Stimme.

»Nein. Auch keine Jacke.«

»Wie mag sie wohl gestorben sein«, ließ sich Lars Knyst vernehmen. Seine Stimme klang scharf. Er war in seiner professionellen Haltung nicht schnell zu erschüttern. Sven überlegte, ob die Distanz zum Tod bei seinem Freund durch die Geburt seines Sohnes sogar noch zugenommen hatte. Vielleicht wirkte das Vatersein bei ihm wie Ölzeug gegen das Grauen. »Auf den ersten Blick ist nichts zu erkennen. Blut könnte natürlich in die Decke gesickert sein. Da sie rot ist …«

»Dazu bin ich ja jetzt hier!«, klärte eine schneidende Stimme die Situation und ein Lundquist unbekanntes Gesicht schob sich in den Kegel des Scheinwerfers. »Jussi Andersson, Rechtsmedizin. Ich sehe sie mir gleich an, vielleicht kann ich sofort etwas zur Todesursache sagen. Danach nehme ich sie mit. Bericht geht an?« Seine wässrig-blauen Augen streiften den Ermittler mit einem Fischblick.

»Sven Lundquist.«

»Gut. Na, dann.« Der Rechtsmediziner strich die Haare aus dem Gesicht des Mädchens, beugte sich über den Wagen und schnüffelte lautstark. »Leichenstarre hat bereits eingesetzt«, kommentierte er Augenblicke später. »Kein Alkoholgeruch, kein Bittermandelaroma, etwas Chemisches ist allerdings schon zu bemerken. Na, mal sehen.«

»Sucht ihr in der Umgebung nach den Schuhen und der Jacke?« Sven wandte sich erneut zu Torre um.

»Ja, selbstverständlich. Läuft schon.«

»Mädchen in diesem Alter haben in der Regel auch eine Tasche bei sich. Habt ihr die irgendwo entdeckt?«

»Nein, nein. Die Tasche fehlt auch. Kein Handy, kein Schlüssel, nichts. Die Mutter hat bei ihrer Vermisstenmeldung sehr detaillierte Angaben gemacht.« Er winkte einen Kollegen aus dem Hintergrund heran und flüsterte vertraulich: »Das ist Filip. Filip Björk. Er hat die Anzeige aufgenommen. Ist seine erste Leiche.« Laut fragte er: »Gibt es Aussagen zu einer Tasche?«

Der Kollege nickte müde.

Sven musterte den spirrligen Mann skeptisch. Statt einfach zu antworten, begann der gesamte lange Körper Filips sich zu schlängeln. Selbst die Arme beteiligten sich an dieser großen Geste der Rat- und Hilflosigkeit.

»Was soll ich sagen?«, begann er mit Fistelstimme. »Als sie kam, dachte ich doch nicht eine Sekunde daran, dass etwas passiert sein könnte. Die Mutter war unglaublich aufgeregt, dabei waren ja mal gerade zwei Stunden über die vereinbarte Zeit verstrichen. Das kommt doch vor! Aber sie hat sofort Beschuldigungen gegen ihren Exmann erhoben. Hat geschrien, er habe mit Sicherheit seine Hände im Spiel. Natürlich bemühte ich mich darum, sie zu beruhigen, aber das funktionierte nicht. Und nun das!« Anklagend deutete er mit dem Kopf auf den Einkaufswagen.

»Es war vollkommen richtig, die Mutter erst mal zu beruhigen. Meist tauchen die Mädchen spätestens am nächsten Tag wieder auf. Müde mit einem dicken Kater! Dies hier ist der Ausnahmefall. Ich muss wissen, ob sie eine Tasche dabeihatte, eine Jacke, wie die Schuhe aussahen.« Sven Lundquist bemühte sich bewusst um einen ruhigen Ton. Der junge Mann war so schon aufgelöst genug.

»Eine bunte gewebte Tasche. Grundton rot. Eine dunkelgrüne Jacke mit bunten Patchworkanteilen. Eine dünne Regenjacke, oliv, ähnlich wie Ölzeug, die Schuhe: Sneakers von Puma, schwarz mit einem grünen Raubtier im Sprung.«

Nichts davon war bisher gefunden worden.

Ein lautes Räuspern.

Sven drehte sich um und begegnete wieder dem gefrierenden Blick des Rechtsmediziners.

»Auf den ersten Blick sage ich vorsichtig und ohne Gewähr: keine blutverdächtigen Anhaftungen oder Verfärbungen außerhalb des Körpers. Weder am Wagen, noch auf Decke oder Kleidung. Um ihre Lippen herum findet sich eine verkrustete weiße Abrinnspur. Sehr diskret, das meiste in dem zur Fleecedecke gerichteten Mundwinkel. Analyseergebnisse kann ich natürlich nicht bieten«, der Arzt, der die Statur eines Bodybuilders hatte, grinste schief, was ihn fast sympathisch erscheinen ließ, »aber ich tippe auf eine Art von Vergiftung. Möglicherweise hat der Täter ihr ein Barbiturat verabreicht, sie betäubt. Wenn man es so ausdrücken will, könnte man von einem gewaltfreien Mord sprechen. Danach legte er sie schlafen.«

»Hm. Keine Verletzungen? Demnach keine Angriffs- oder Abwehrspuren.«

»Nichts, nein, zumindest nichts, was sich eindeutig als solche erkennen lässt. Weder Risse an der Kleidung noch – bei der ersten oberflächlichen Inaugenscheinnahme – am sichtbaren Bereichs des Körpers. Im Nacken ist ein dunkler Bereich, den muss ich mir aber im Obduktionssaal genauer ansehen, hier ist schwer zu erkennen, um was es sich handeln könnte. Die Fingernägel sind lackiert, der Lack wohl nicht beschädigt. Ich werde vorsichtshalber die Hände dennoch sichern, damit ich unter ihren Nägeln nach Fremdgewebe suchen kann. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass ich bei der Sektion noch irgendwo Kampfspuren oder Verletzungen entdecke. Diese Scheinwerfer hier sind natürlich nicht optimal, kleine Wunden entgehen mir, durch die Schattenbildung entsteht die Illusion einer Verletzung. Einstiche zum Beispiel können unscheinbar wirken und sind erst unter dem Licht der OP-Lampe auszumachen. Möglicherweise hat er sie nach der Tat wieder angezogen – und ihr wollt ja wohl nicht, dass ich sie hier völlig entkleide? Blut geht gleich zur ersten Analyse, dann sehen wir weiter.«

Der Rechtsmediziner wollte sich schon umwenden und gehen, da hielt Lundquist ihn zurück.

»Halt! Der Todeszeitpunkt würde uns schon weiterhelfen.«

»Ja, das sehe ich ein. Aber wenn ich jetzt sage, vor etwa sechs Stunden mit einer Abweichung von etwa drei nach oben und unten, wäre das keine wirklich genaue Angabe, oder? Aller Wahrscheinlichkeit nach am gestrigen Abend. Nach der Obduktion! Ich schicke euch den engeren Zeitraum sofort rüber, wenn ich meine Untersuchungen abgeschlossen habe. Jede andere Aussage wäre unseriös!«

Lundquist nickte.

»Strangulationsmarken?«

»Ich glaube nicht, aber, wie gesagt, bei dem Licht ... Ich könnte nicht einmal erkennen, ob irgendwo ein Fingereindruck zu finden ist. Diese Decke ist an keiner Stelle auch nur feucht, das ist das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann.«

»Sie war heute mit ihrem Vater unterwegs. Scheidungsregelung nehme ich an. Du weißt schon, gemeinsames Sorgerecht oder irgendeine Form von Besuchsregelung. Als er sie nicht pünktlich nach Hause brachte, wurde die Mutter nervös«, fasste Sven zusammen und sah aus dem Augenwinkel, wie Filip noch eine Nuance blasser wurde.

»Habt ihr schon versucht, den Vater zu erreichen?«, erkundigte sich Lars mit gesenkter Stimme, als wolle er das Mädchen nicht stören.

»Ja, sicher. Sofort und dann in regelmäßigen Abständen auf dem Festnetz und dem Mobiltelefon. Aber es ist wohl ausgeschaltet, die Mailbox geht vor dem ersten Klingeln ran«, erklärte der junge Polizist.

»Er heißt?«

»Gottwald. Gottwald Paulsson.«

»Der Gottwald Paulsson?«

»Vielleicht. Wir wissen es noch nicht und der Name ist nicht so ungewöhnlich. Adresse steht hier auf dem Zettel, hat uns die Mutter so angegeben.« Torre reichte Lars ein grünes Stück Papier. »Eine Streife ist vorbeigefahren – niemand öffnet, kein Licht.«

Notfalls mussten sie eine Handyortung beantragen.

Solange das Mobilfunkgerät noch funktionierte.

Sven nickte Lars zu.

Das Zeichen zum Aufbruch.

»Einer muss es ihr ja schließlich sagen«, murmelte Lundquist den Kollegen beim Gehen zu und zuckte traurig mit den Schultern.

Ingmar sah auf seinen Verantwortungsbereich hinaus.

Verantwortungsbereich – das Wort gefiel ihm.

Es verlieh seiner Tätigkeit Wichtigkeit und Würde, so, als sei er unverzichtbar, bräche hier das blanke Chaos aus, sollte seine Aufmerksamkeit nachlassen oder seine helfende Hand etwa nicht zur Verfügung stehen. Hauswart zu sein war eben mehr, als tropfende Wasserhähne reparieren zu können.

Die beiden Männer fielen ihm sofort auf.

»Polizei!«, murmelte er ungehalten. »Wo gehen die jetzt hin?

Um diese Zeit!«

Lautlos öffnete er sein Fenster, um sich hinauslehnen zu können.

»Zu Agneta wegen Simone? Oder zu Emma wegen Ulv?«, überlegte er. »Wegen Herumlungerns kommen die sicher nicht so früh am Morgen. Die gehen zu Agneta. Simone hat was ausgefressen, ganz bestimmt. Vielleicht haben sie das nutzlose Gör irgendwo aufgegriffen – in einer privaten Sexbar oder auf dem Straßenstrich. Würde passen. So eine schamlose Schlampe!«

Der Hauswart beobachtete die Fremden, bis sie den Hauseingang erreicht hatten, in dem Agneta wohnte, dann schloss er das Fenster wieder.

»Manchmal kommt so ein mieses Weibsstück auch um. Würde mich gar nicht wundern, wenn jemand Simone gekillt hätte«, erklärte er Ansgar, dem klugen Wellensittich und setzte Kaffeewasser auf. »Dann kehrt ja vielleicht endlich Ruhe in unser Carré ein!«

Doch diese Hoffnung Ingmars sollte sich nicht erfüllen.

Agneta Paulsson stand in kindlicher Schrift auf dem angeschimmelten Namensschild.

Ihr Schatten tigerte an den Fenstern vorbei, von links nach rechts, von rechts nach links. Ab und zu hielt sie an, presste sich offensichtlich ein Telefon ans Ohr, ging dann weiter.

»Sie versucht Gottwald zu erreichen«, mutmaßte Lars.

»Oder sie ruft das Handy von Simone an«, ächzte Sven und schob seine zitternden Finger tief in die Hosentaschen.

»So eine Scheißsituation!«, fluchte der Freund. »Wenn man auch noch annehmen muss, der eigene Vater …«

»Vielleicht hat Gottwald sich umgebracht. Erweiterter Suizid. Das passiert bei Sorgerechtsfällen öfter, als man vermuten möchte. Dann wird sie sich ewig Vorwürfe machen. Nichts wäre geschehen, wenn sie Simone nicht hätte gehen lassen«, knurrte Lundquist und drückte auf den Klingelknopf.

»Wenn es wirklich der Gottwald Paulsson ist, eher nicht. Er war gerade letzten Monat wieder in den Schlagzeilen. ›Keinen Cent für die Bedürftigen‹ hat er gefordert, ›sonst erkennen die nie den Wert der eigenen Hände Arbeit‹. Emotionen würde ich bei dem nicht vermuten. Der ist kalt wie ein Eiswürfel!«

Die Frau, die sie an der Wohnungstür mit weit aufgerissenen Augen erwartete, wirkte seltsam ruhig.

»Polizei?«

»Ja. Wir würden gern reinkommen.«

»Ihr habt Simone gefunden! So ist es doch?«

Knyst schob mit einem harten Ruck die Tür zu und schloss die neugierigen Ohren der Nachbarn vom weiteren Gespräch aus.

»Es tut uns furchtbar leid, aber Simone ist tot.«

Sie weinte nicht.

Stand gefasst mit seitlich baumelnden Armen mitten im Wohnzimmer.

»Wo ist Gottwald«, fragte sie drohend. »Wo ist er?«

»Wir wissen es nicht. Er ist nicht zu erreichen«, antwortete Lundquist irritiert. Er hatte eigentlich erwartet, die Mutter würde nach dem Wo und Wie des Todes ihrer Tochter fragen.

Agneta ließ sich in eine abgewetzte Couch fallen.

»Er war heute anders als sonst. Das habe ich sofort gehört, als er anrief. Ich habe Simone geraten, ihm abzusagen, doch sie wollte nicht. Gottwald holte sie dann ab, wie üblich. Er war gestresst – ich sehe das bei ihm gleich. Sein Kinn bekommt dann tiefe Grübchen.«

Fahrig griffen Agnetas Finger nach einer Schachtel Zigaretten, schüttelten eine heraus. Gierig nahm sie den ersten Zug und goss sich aus einer halbleeren Flasche einen neuen Whisky ein.

»Es wirkt nicht. Ich versuche es schon seit Stunden, aber der erhoffte Nebel stellt sich nicht ein.« Sie trank das Glas auf ex. »Simone war in einer schwierigen Phase. Die Pubertät brach sich Bahn. Das macht aus niedlichen Mädchen zickige und anstrengende Gören. Gottwald war gereizt und aggressiv, wollte sich aber dennoch nicht überreden lassen, auf den Tag mit seiner Tochter zu verzichten. Er hat seit einiger Zeit eine neue Bettgenossin. Über kurz oder lang wird er sie genauso betrügen, wie er es mit mir getan hat. Aber mir kam es so vor, als hätten sie jetzt schon Streit gehabt.« Nach tiefem Luftholen setzte sie zornig hinzu: »Gottwald ist ein Arschloch!«

Sie schwieg.

Nach einer langen Pause erkundigte sie sich leise nach dem Wie.

»Wir wissen es noch nicht genau. Simone wird untersucht und der Rechtsmediziner findet heraus, wie sie gestorben ist.«

»Hat er … sie vergewaltigt?«, hauchte Agneta ihre nächste Frage.

Lundquist war erleichtert, ihr sagen zu können, dass er auch das nicht wusste.

»Ist Gottwald so etwas wirklich zuzutrauen? Dass er sich an der eigenen Tochter vergreift?«

»Ihm ist alles zuzutrauen!«, schrie sie plötzlich unbeherrscht. »Wenn er etwas will, dann nimmt er es sich. Da wird nicht gefragt oder gar an der Richtigkeit des eigenen Tuns gezweifelt. Lest ihr keine Zeitung? Genau so ist Gottwald, er verstellt sich nicht ein bisschen für die Presse!«

Lars und Sven wechselten einen kurzen Blick. Also doch der Gottwald Paulsson. Leiter eines Unternehmens, das Software entwickelte und Hardwarelösungen für seine Kunden nach individuellen Bedürfnissen zusammenstellte. Einer der Reichen in Schweden, dachte Knyst grimmig.

Nur das leise Prasseln des Regens gegen die Fenster war zu hören.

»Wo?«

»Sie wurde in einem der Einkaufswagen neben dem Supermarkt im Köpcenter entdeckt. Der Täter hatte sie auf eine weiche Decke gebettet. Die Kollegen suchen in der Nachbarschaft nach ihrer Tasche und der Jacke. Vielleicht hat der Mörder sie irgendwo weggeworfen, weil biologische Spuren von ihm darauf zu finden wären.«

Das Wort »Spermaspuren« verwendete er nicht.

»Biologische Spuren. Blut, Haare, Sperma, Fingerspuren, Hautpartikel. Ich sehe auch fern!«, schnappte Agneta.

Eine neue Zigarette.

»Mein Gott! Ich gehe dort auch einkaufen. Das kann ich nun nicht mehr. Am Ende schiebe ich den Wagen durch den Gang, in dem mein kleines Mädchen gelegen hat!«

Nun weinte sie doch.

Suchte hektisch nach einer Packung Papiertaschentücher, putzte sich die Nase, schniefte, schluchzte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

»Können wir jemanden anrufen, der dir jetzt beisteht?«

»Wen denn? Alle meine Freunde waren Gottwalds Freunde. Nach der Scheidung blieben sie beim Geld. Bei mir war nichts zu holen. Seht euch doch hier um! Ich lebe vom Staat und den paar Krümeln, die Gottwald unter seinem Frühstückstisch zusammenkehrt!«

Sie schniefte wieder.

»Und nun hat er mir das Einzige genommen, was mein Leben noch lebenswert gemacht hat!«

Lundquist setzte sich zu ihr auf die Couch.

»Warum bist du so sicher, Gottwald habe Simone getötet?«, erkundigte er sich leise.

»Weil er mich hasst. Er versucht seit unserer Scheidung, mich endgültig zu vernichten, aus seinem Leben zu tilgen. Er muss einen Unterhalt für Simone bezahlen. Doch das Kind ist nicht so dämlich wie seine Mutter. Sie hat immer wieder mal weitere Forderungen an ihn. Solche, die Geld kosten. Er knirscht sicher bei jedem Mal mit den Zähnen, wenn er löhnen soll.«

»Gottwald ist geizig?«

»Na, wie glaubst du wohl, kommt man zu Reichtum? Durch Knickerei und Geiz. Wenn du keine Krone ausgibst, legt sie sich zu den anderen auf dem Konto – so vermehren sie sich. Das ist das ganze Geheimnis!«, zischte sie bitter. »Simone hat sich von seinem Gejammer nicht beeindrucken lassen. Sie wollte nicht so enden wie ich.«

Verlegen heftete Lars seinen Blick an seine Schuhspitzen.

Ist das nun Selbstmitleid oder hält Gottwald die beiden wirklich finanziell an der kurzen Leine?, grübelte er. Wir müssen nachprüfen, ob es Unterhaltsregelungen gibt, mag sein, Agnetas Notlage ist mehr gefühlt denn real.

Die Mutter schluchzte leise, grabbelte ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch aus der Hosentasche und versuchte ungeschickt, es auseinanderzuzerren, um eine benutzbare Stelle zu finden.

»Er hasst mich. Sein ganzes Denken kreist nur um die Frage, wie er mich verletzen kann. Ich weiß, dass es ihm darum geht, mich zu zerstören, auszulöschen! Simone zu töten sähe ihm ähnlich – der letzte Schlag gegen Agneta!«

»Du hast ihn damals verlassen?«

»Ja.«

»Warum?«

Ihr verschleierter Blick traf ihn und neben Trauer und Verzweiflung erkannte Sven noch etwas anderes: Angst.

»Wir versuchen uns ein Bild zu machen. Von eurer Beziehung, von der zu Simone, von Gottwald.«

»Er war ein perverses Schwein!«, brach es aus der Mutter hervor und sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Sven bemerkte, wie sehr ihre Hände dabei zitterten. »Ich weiß nicht, ob du über ausreichend Fantasie verfügst, dir vorzustellen, was ein Kerl wie … Gottwald … einer Frau antun kann. Sadistische Spielchen, Quälereien, Demütigungen – das volle Programm. Allein seine körperliche Überlegenheit macht Gegenwehr zwecklos. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, war es leid, ständig Lügen zu erzählen, um die blauen Flecken zu erklären, das schon wieder geschwollene Auge, den gebrochenen Arm, die Platzwunde über der Augenbraue. Simone wuchs heran; der Gedanke, er könnte auf die Idee kommen, sich an ihr zu vergehen, gab dann den Ausschlag. Ich suchte mir professionelle Unterstützung und reichte die Scheidung ein.«

»Du hast ihn angezeigt?«, wollte Lars wissen.

Agneta schüttelte den Kopf.

»Ich wollte nur mein Kind und mich in Sicherheit bringen. Weg von Gottwald.«

»Aber hättest du ihn vor Gericht gebracht, wäre ihm sicher kein Umgangsrecht mit Simone eingeräumt worden!«

»Mir hätte doch nie jemand geglaubt! Ich habe keinem je von all dem erzählt – es war mir peinlich. Er wäre als strahlender Sieger vom Platz gegangen, und mir hätte der Richter am Ende gar das Sorgerecht für meine Tochter entzogen! Nein, nein, das durfte ich auf keinen Fall riskieren. Wir hatten eine Art Deal: Ich schweige und er lässt uns in Ruhe. Für seine Firma wäre es keine gute Publicity gewesen, hätte ich ihn … das war ihm bewusst. Deshalb musste er Simone auch immer pünktlich direkt in meine Hand abliefern. Seit der neuen Hure in seinem Leben ist er sexuell ausgelastet. Die macht wohl zu jeder Zeit die Beine breit und kriecht willig vor ihm im Dreck!«

»Hat Simone das erzählt?«

»Nicht mit diesen Worten.«

Sie schwieg, drückte die Zigarette aus, starrte auf ihre zuckenden Finger.

»Du hast versucht, Simone vor einem Missbrauch zu beschützen. Nun bist du dir nicht sicher, ob das auch wirklich funktioniert hat.«

»Hat er sie wirklich nicht …?«, fragte sie ungläubig.

»Wir müssen noch ein paar Stunden warten. Ergebnisse kommen nicht innerhalb von Minuten«, gab Sven zurück, ohne zu erwähnen, was in dieser Zeitspanne mit Simones Körper geschehen würde.

»Man wird sie ...?«, die Mutter rang ebenfalls um eine Verschleierung des Unvorstellbaren, »… untersuchen?«

Lundquist nickte.

»Es ist notwendig. Wir müssen wissen, woran genau Simone gestorben ist«, sagte Lars Knyst unnötig scharf.

»Ich will meine Tochter sehen!«

»Natürlich. Wir müssen dich auch bitten, sie zu identifizieren«, erklärte Sven fast unhörbar. Seine Augen suchten die des Freundes, der auf der Tastatur seines Handys eine Nummer tippte.

»Nichts«, seufzte Lars enttäuscht. »Der Teilnehmer ist nicht erreichbar.«

»Bei mir geht er auch nicht ran!«, knurrte Agneta. »Er hat unsere Tochter umgebracht und nun setzt er sich ab! Mit seinem neuen demütigen Liebchen und jeder Menge Kohle. Die fangen in der Sonne ein neues Leben an und mich lassen sie einsam in der Kälte verrotten! Feiner Plan, Gottwald!«, schluchzte sie und warf sich auf die Couch.

»Wir sind dran. Er kann nicht so einfach verschwinden.« Sven war sich nicht sicher, ob sie seine Worte überhaupt gehört hatte.

»Hatte Simone enge Freundinnen?«, erkundigte sich Lars vorsichtig.

Agneta atmete schwer.

Sie richtete sich wieder auf und wischte sich mit einem Kissen über ihr Gesicht.

»Wenige. Simone hatte nicht genug Geld, um mit ihren Klassenkameradinnen mitzuhalten. Die wollen mit armen Würstchen nichts zu tun haben. Aber so zwei, drei Namen kann ich euch aufschreiben. Eine Mutter weiß nur, was man sie wissen lässt – sollte es noch andere Freunde gegeben haben, werden euch eher die Mädchen weiterhelfen können als ich.«

»Wir würden uns gern in Simones Zimmer umsehen.«

»Den Flur entlang, die letzte Tür links«, presste die Mutter mühsam hervor.

Lundquist öffnete die Tür und blieb überwältigt stehen.

»Sieht aus wie in einer teuren Boutique!«

»Erstaunlich, wo wir doch gerade gehört haben, sie habe mit den anderen finanziell nicht mithalten können«, murrte Lars, der das Gefühl hatte, belogen worden zu sein.

»Vom Vater erpresst, könnte ich mir vorstellen. Schuldgefühle. Manche versuchen sich davon freizukaufen.«

»Hm.« Knyst war nicht überzeugt.

Auf Metallständern hingen unzählige bunte Oberteile, einige Kleider und Jacken, in einem Billy-Regal hatten Hosen und Pullover sowie T-Shirts Platz gefunden.

»Offensichtlich war Pink ihr bevorzugter Farbton«, grunzte Lars. »Bei Jungs zum Glück nicht so angesagt.« Er trat ein, fühlte sich in der Mädchenatmosphäre deutlich unwohl. »Ein paar Hefte auf dem Schreibtisch, ein Laptop, ein paar Bücher, ein CD-Player. Kein Spielzeug – bis auf den Bären im Wohnzimmer.«

»Mit ihrer Kindheit hatte sie offensichtlich abgeschlossen.« Sven zog die oberste der Schreibtischschubladen auf. Lippenstifte und Lidschattendöschen, Kajalstifte und Mascaras rollten durcheinander. In der darunter fanden sich Hefte und ein paar Fotos. »Sieht nicht so aus, als habe sie hier ein Tagebuch rumliegen.«

»Das hat man heute nicht mehr. Weißt du, ich glaube, wir werden eher auf ihrem Laptop etwas in der Art finden. Eine Datei »Tagebuch«, oder vielleicht hatte sie einen Blog.«

Lars wies auf das ebenfalls pinkfarbene Notebook auf dem Nachttisch.

»Theoretisch wäre das sogar sicherer als ein Buch. Wenn der Computer passwortgeschützt ist, kann die Mutter nicht zugreifen. Wir nehmen das Gerät mit«, entschied Lundquist. »Die Kollegen finden vielleicht etwas, das uns weiterhilft.«

Die beiden Männer hatten gar nicht bemerkt, dass Agneta ihnen gefolgt war.

So schraken beide zusammen, als sie plötzlich höhnisch sagte: »Klar, nur zu! Wahrscheinlich findet ihr den Mörder zwischen den Mails! Er wird ihr wohl kaum eine Einladung zum eigenen Tod geschickt haben!«

Sie putze sich die Nase und verkündete dann laut: »Am besten fahren wir jetzt gleich zu Simone!«

»Simone wurde eindeutig von ihrer Mutter identifiziert«, stellte Lundquist fest. »Agneta Paulsson bleibt bei ihrer Behauptung, der Kindsvater, Gottwald, sei der Mörder ihrer Tochter.«

Er legte ein paar Tatortfotos auf den Tisch des Besprechungsraumes.

»Die Detailaufnahmen kommen nach.«

Stumm starrten alle auf die Bilder.

Die Grausamkeit war trotz der umfassenden Perspektive erkennbar.

»Der eigene Vater hat sie dort abgelegt?«, flüsterte Britta.

»Behauptet die Mutter.« Auch Svens Stimme war gedämpft.

Ein polyphoner Klingelton ließ alle zusammenfahren.

»Die Kollegen von der Bereitschaft sind noch einmal zu Gottwalds Adresse gefahren. Dort ist offensichtlich alles dunkel, niemand öffnet.« Knyst schob das Mobiltelefon wieder in die Jackentasche zurück.

»Was für einen Wagen fährt Paulsson eigentlich?«, erkundigte sich Ole.

»Einen weißen Porsche Cayenne. Alle Einsatzwagen sind informiert, wenn er irgendwo abgestellt wurde, werden sie ihn finden.«

»Parkhäuser?«, fragte Sven knapp. So geizig war Gottwald dann wohl doch nicht, schoss ihm durch den Kopf. Wie teuer mochte solch ein Wagen sein? 650.000 SEK? 1.300.000 SEK, nach oben offen?

»Werden gründlich gecheckt.«

Drei Stunden nach der Entdeckung von Simones Leiche behauptete Gottwalds Handy noch immer, er sei nicht erreichbar.

»Glaubst du, er ist untergetaucht?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, knurrte Sven zurück. »Stell dir vor, Gottwald war, nachdem er Simone nach Hause gebracht hatte, im Kino. Das Telefon stellt er aus, er will nicht gestört werden. Auf dem Rückweg vergisst er, es wieder einzuschalten. Und wir verdächtigen ihn deshalb des Mordes an seiner Tochter?«

Ole runzelte die Stirn. »Vielleicht hatte er ja wirklich einen Unfall. Nicht schlimm genug, um ins Krankenhaus gebracht zu werden, aber so, dass er sich ausruhen möchte. Kopfschmerzen?«

»Klar!«, fauchte Britta. »Die Mutter erzählt uns von ihrer Angst, Gottwald könne sich an der Tochter vergreifen und die Männer hier am Tisch glauben an einen Unfall! Zögern, ihn als potenziellen Täter in Betracht zu ziehen!«

»Wenn sie wirklich angenommen hätte, das Mädchen sei in akuter Gefahr, hätte sie es nicht mit ihm gehen lassen«, warf Lars ein.

»Es gibt Männer, gegen deren Willen kannst du dich als Frau nicht so ohne weiteres auflehnen – und wie eine starke Frau kommt Agneta mir nach eurem Bericht nicht vor.«

»Britta! Wir wissen nichts, gar nichts bisher. Und schon gleich überhaupt nichts, was den Verdacht nahe legen könnte, Gottwald sei pervers. Das muss alles erst gegengecheckt werden«, stellte Sven klar.

»Er ist eine schillernde Persönlichkeit, provoziert gern mit seinen Äußerungen, ist in der Boulevardpresse stets präsent. Sein Unternehmen bietet maßgeschneiderte Softwarelösungen und Support für kleine und mittelständische Firmen an. Im letzten Jahr ist allerdings ein Einbruch zu verzeichnen – wohl als Auswirkung der Finanzkrise. Immerhin beschäftigt er 75 Mitarbeiter und hat bisher, trotz des Rückgangs der Aufträge, niemanden entlassen«, fasste Ole seine Rechercheergebnisse zusammen.

»Die bunten Gazetten berichteten von seiner Scheidung vor vier Jahren und sind nun voll von Artikeln über seine neue Liebe. Angeblich wollen er und Ingelore noch in diesem Sommer heiraten.«

Bernt stürmte ins Büro und schob sich mit einem verdutzten Gesichtsausdruck hinter den Tisch. »Oh, ich habe mich in der Zeit geirrt«, murmelte er kurzatmig.

»Nein, Bernt, wir hatten gar keine Zeit vereinbart. Gottwald ist noch immer nicht gefunden.« Lundquist nickte dem Kollegen freundlich zu.

»Ja, also dann: Ich habe die Neugierigen am Fundort des Mädchens ein bisschen ausgefragt. Agneta und Simone sind nach der Scheidung in die Wohnung an der Celsiusgatan gezogen. Den Leuten ist gleich aufgefallen, dass es sich um Sozialhilfeempfänger handeln muss. Möbel wie aus dem Sperrmüll, Klamotten schäbig. Besonders bei Agneta. Einige behaupten, sie habe zwei Jogginganzüge, mehr nicht, und beide schrecklich abgetragen, zu weit und nicht von irgendeiner Marke. Simone dagegen war durchaus schicker gekleidet. Mit modischem Outfit für die Schule. Einige der Gaffer kannten die Familie schon länger. Gottwald kam bei Männern wie Frauen nicht gut weg. Sie meinten, er sei unberechenbar und Agneta habe gerade noch rechtzeitig die Reißleine gezogen. Warum, blieb nebulös. Aber in meinen Ohren klang es so, als wäre sie sonst möglicherweise eines gewaltsamen Todes gestorben, wie man so sagt. Ein Zeuge wusste außerdem zu berichten, Gottwald nehme gern an Randalefahrten ins Ausland teil.« Er grinste.

»Neandertalererbgut!«, warf Britta grimmig ein.

»Er habe einen nahezu unstillbaren Hunger nach Sex und Gewalt. Um diese Gier zu befriedigen, fährt er manchmal zu geheimen Treffen und kloppt sich dort gnadenlos. Die Verabredung findet übers Internet statt. Nicht selten sind es über 200 Männer, die sich auf einer Waldlichtung, zum Beispiel irgendwo in Polen, die Glieder zertrümmern und die Visage zu Brei hauen. Abartig, wenn ihr mich fragt. Seine oft nicht unerheblichen Blessuren heilt er angeblich hier zu Hause aus. Nach einer Woche ist das Gesicht meist wieder vorzeigbar, der Rest wird mit einer akzeptablen Erklärung präsentiert.« Bernt schüttelte verständnislos den Kopf. »Seltsame Freizeitbeschäftigung, kann ich da nur sagen.«

»Seine Frau hat auch berichtet, er sei ausgesprochen brutal«, ergänzte Lars.

»Nun, ein Jürg Plotter weiß das auch. Seine Schwester wurde von Gottwald zu einem Vorstellungsgespräch ins Büro bestellt, man trank einen Kaffee. Plötzlich muss er wohl über die junge Frau hergefallen sein. Sie wurde so schwer verletzt, dass sie stationär im Klinikum bleiben musste. Anzeige hat sie natürlich nicht erstattet!«

Knyst versuchte es wieder unter der Handynummer von Gottwald.

»Nichts!«

»Die Namen und Adressen der Zeugen sind notiert, damit wir nachfragen können, woher sie all diese Details wissen«, beendete Bernt seine Aufzählung.

»Auf den ersten Blick wirkte Simone nicht, als sei sie brutal ermordet worden. Wenn Gewalt zur Natur von Gottwald gehört, kann er sie entweder sehr gut kontrollieren oder er war es nicht«, murrte Sven. »Wir müssen auf das Ergebnis der Obduktion warten.«

»Wer geht?«, erkundigte sich Ole.

»Ich!«, entschied Sven, ohne zu zögern. »Es ist besser, wenn ich das übernehme.«

Köpfe senkten sich, Schuhsohlen rieben unangenehm laut über den Bodenbelag.

»Sollte lieber einer machen, der keine Kinder hat«, grummelte Bernt.

»Ich gehe! Keine Diskussion!«, polterte Lundquist.

Eine längere Pause entstand.

»Gegen Mittag wieder hier. Vielleicht finden die Kollegen bis dahin Schuhe, Jacke und Tasche von Simone. Britta, es wäre gut, wir wüssten mehr über Simones Umfeld. Ole, bleib du an den Finanzen von Gottwalds Firma dran, daneben sind die Zeugen, deren Namen Bernt gelistet hat, einzubestellen. Besonders dieser Jürg und seine Schwester.«

4

Dr. Jussi Andersson wartete schon.

»Hej!«, begrüßte er den Hauptkommissar und hob kurz eine Hand als Gruß.

»Morgen.«

Der Händedruck des Rechtsmediziners war weich und doch kraftvoll – ganz anders, als Sven erwartet hatte.

»Die Kleidung des Mädchens ist bereits abgeholt worden, alle Taschen waren leer. Nicht einmal ein Taschentuch war zu finden. Absolut nichts. Gerade in dem Alter stecken sie doch ständig was ein – weil sie es rumzeigen wollen, weil es glitzert, weil sie nicht wissen, was es ist. Aber hier? Wie frisch gewaschen und ausgeschüttelt.«

»Sie war mit ihrem Vater unterwegs. Vielleicht mag der solche Sammelei nicht. Ich frage ihn danach.«

Der schmale Körper lag auf dem frostig anmutenden Edelstahltisch.

Der voll ausgeprägten Leichenstarre wegen in der gleichen Haltung, in der man ihn in den frühen Morgenstunden aus dem Wagenkorb geborgen hatte.

»Wir mussten die Drahtstäbe an einigen Stellen zerschneiden. Sonst hätten beim Herausheben Artefakte entstehen können, die eventuell fälschlich dem Tatgeschehen zugeordnet worden wären.«

Das erbarmungslose Licht der OP-Lampe leuchtete auf das Mädchen hinunter.

Lundquist schluckte hart.

An den Knien, den Armen und der Stirn hatte das sich eindrückende Drahtgeflecht ein deutlich sichtbares, weißes Gittermuster auf der sonst livide verfärbten Haut hinterlassen.

»Alle Auflageflächen zeigen das – dieses Gitter zeichnet sich abgemildert durch die Decke mehr oder weniger stark auf dem Körper ab. An Stirn und Knien besonders deutlich.«

Sven nickte kommentarlos.

»Die Untersuchung mit einer Speziallampe ist bereits abgeschlossen. Einige Fasern konnten wir sicherstellen, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass sie nur von ihrer eigenen Kleidung stammen. Kein Blut, kein Sperma auf der Haut.«

»Keine Vergewaltigung?« Sven wollte gerade erleichtert aufatmen, da hörte er den Rechtsmediziner antworten.

»Kein Sperma auf der Haut. Alles andere klären wir jetzt. Es wird sich zeigen, ob wir Hinweise auf einen sexuell motivierten Mord finden.«

»Hast du Einstichverletzungen entdeckt?«

»Nein. Bisher nicht. Sieh mal, ihre Haut ist fast makellos. Nicht einmal ein Hämatom ist zu sehen. Allerdings findet sich am linken Unterarm eine zirkuläre, nicht unterblutete Wunde.« Sven betrachtete die beschriebene Stelle, runzelte die Stirn.

»Nicht unterblutet? Also nach Eintritt des Todes entstanden, meinst du? Vielleicht trug sie ein Armband und der Täter riss es ihr vom Arm.« Er rieb sich am linken Unterarm, ertappte sich dabei und zog die Finger hastig zurück. »Du weißt schon, als Trophäe.«

»Möglich. Könnte aber auch auf dem Transport passiert sein. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass der Fundort auch Tatort war. Allerdings hat der Täter den Körper zügig zum Fundort transportiert, die Leichenflecken sind nur teilweise zur rechten Körperhälfte hin gewandert. Das tun sie nur in einem Zeitraum von wenigen Stunden.«

Jussi Andersson hob die Haare im Nacken etwas an. »Ich habe Hinweise auf die Einwirkung stumpfer Gewalt entdeckt, die bei den schlechten Lichtverhältnissen heute Morgen nicht zu bemerken waren. Hier ist deutlich eine doppelt konturierte Intrakutanblutung zu erkennen. Diese beiden Striemen. Sieht aus wie von einem sehr schmalen Metallrohr.« Er räusperte sich. »Ein hart geführter Handkantenschlag käme eventuell auch infrage.«

»Karate, Kendo? Etwas in der Art? Das würde den Kreis der Verdächtigen deutlich beschränken.«

»Wie gesagt, ein dünnes Metallrohr ist ebenfalls denkbar.«

»Warum zwei Abdrücke?«, wunderte sich der Ermittler.

»Das sind die Stellen, an denen die Waffe mit der größten Wucht auftrifft. Das Gewebe dazwischen weicht aus, der Rand wird stark gequetscht. So entsteht ober- und unterhalb des Tatwerkzeugs je ein Striemen.«

Andersson schickte Lundquist in den Flur hinaus. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, gab er dem Sektionsassistenten einen Wink. Schweigend griffen vier Hände zu.

Als Lundquist wenig später wieder eintrat, lag Simone ausgestreckt auf dem Rücken. Er schauderte, wollte gar nicht wissen, wie es dazu gekommen war.

Eine gefühlte Ewigkeit lang beobachtete der Ermittler mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu die Arbeit des Rechtsmediziners. Dessen Hände eröffneten mit geübten Bewegungen den Körper des Mädchens, legten Organe frei, entnahmen und wogen sie, der Assistent dokumentierte die Gewichte, notierte Analyseanfragen.

Zwei Stunden später wusste Lundquist, wie Simone gestorben war.

Der Gerichtsmediziner hatte ruhig und präzise gearbeitet, sprach in ein Diktiergerät, das in einer Halterung über dem Seziertisch befestigt war. Seine Stimme klang angenehm, die Worte waren grausam.

»Kein Sperma in Mund und Kehle«, der zweite Mediziner untersuchte entnommenes Gewebe an einem anderen Arbeitstisch voller Gerätschaften, von denen Sven nicht hätte sagen können, um was es sich handelte.

»Todesursache ist Genickbruch. Siehst du? Der dritte, vierte und fünfte Halswirbel sind getroffen worden.«

»Und das Pulver?«

»Ich tippe auf ein Barbiturat. Erst ruhig gestellt, dann getötet.«

In das folgende Schweigen hinein fragte Sven: »Braucht man viel Kraft, um einen Genickbruch herbeizuführen?«

»Du meinst, ob auch eine Frau den Mord begangen haben könnte? Ja! Entschlossenheit ist notwendig, eine gewisse Sportlichkeit. Ich habe vor einiger Zeit einen Fachartikel gelesen, der sich mit dem Mord an einem Jugendlichen beschäftigte, den Gleichaltrige umgebracht haben. Sie ließen ihn in den Bordstein beißen und sprangen in sein Genick.«

Lundquist schüttelte sich.

»Wie alt waren die denn?«

»Zwischen vierzehn und sechzehn.«

»Da ist noch ein Detail, das für deine Ermittlungen von Bedeutung sein könnte: Das Mädchen war erst zwölf, sagst du?«, fragte Jussi Andersson plötzlich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Sven nickte, quetschte ein »Ja, warum?« aus der Enge des Halses hervor.

»Sie hatte sexuelle Kontakte. Das Hymen ist gerissen und zwar nicht erst vor kurzem. Es gab einen Jungen in ihrem Leben!«

Der Hauptkommissar bemühte sich, diese Neuigkeit zu verarbeiten.

»Ist das üblich? Mit zwölf?«, fragte er etwas später ratlos. »Wie alt mag der Freund sein?«

»Heute probieren die Heranwachsenden früh allerhand aus. Drogen zum Beispiel. Aber eben auch sexuelles Handeln. Viele der 10-Jährigen haben Sexvideos auf ihren Handys, bei denen die Eltern heiße Ohren bekämen, könnten sie einen Blick darauf werfen.«

Er musterte den Ermittler nachdenklich. »Man hat mir erzählt, dass du auch eine Tochter hast. Wie alt ist sie denn?«

»Sechs. Und in vier Jahren hat sie ihren ersten Sex?« Svens Augen funkelten angriffslustig.

Der Rechtsmediziner beschloss, das Thema nicht zu vertiefen.

»Der Mageninhalt«, dozierte Dr. Jussi Andersson und wies auf eine Edelstahlschüssel, »ist ganz unverkennbar. Das ist praktisch nicht zu verwechseln. Pommes, Burger, Cola, ein Dessert. Vielleicht ein Softeis. Sie war also in einem Fast-Food-Restaurant. Die Mahlzeit wurde nicht mehr verdaut, was bedeutet, dass der Tod kurz nach dem Verzehr eintrat. Die genaue Analyse wird zeigen, was er ihr eingeflößt hat. Das Medikament befand sich wahrscheinlich in der Cola. Der Täter muss es vorher aufgelöst oder in flüssiger Form besessen haben, er konnte ja schlecht mit einem Holzspatel im Getränk des Mädchens herumrühren, bis die Tabletten sich aufgelöst hatten. Das dauert viel zu lang. Ist auffällig. Sie wäre eventuell misstrauisch geworden.«

»Weiße Krümel in der Cola? Nein, das geht nicht! Das würde ja sogar mir auffallen«, stimmte Lundquist zu.

»Ach, weißt du, manchmal ist das nur eine Frage der passenden Erklärung. Zum Beispiel könnte der Mörder eine Fritte hineinfallen lassen. ›Ach, wie ungeschickt von mir. Sieh mal, nun sind ein paar Krümel in der Cola, stört dich das?‹ und schon ist für das Kind alles klar.«

»Simone war zwölf«, wehrte Sven schwach ab.

»Ja, aber das muss ja nicht bedeuten, dass sie nicht manchen Menschen gern geglaubt hat, oder?«, grinste Jussi breit. »Meine Schwester war auch so. Was der Lehrer gesagt hat, war alles Quatsch, erst wenn unser Vater es bestätigte, wurde es wahr. Ihm und seinem Wissen hat sie bedingungslos vertraut. Aber, um wieder auf das Tablettenproblem zurückzukommen, einfacher wäre es, sie vorher aufzulösen – allerdings hast du dann eine milchig trübe Flüssigkeit, meist nicht homogen. Das Krümelproblem bleibt, sie sind nur kleiner.«

Während er sprach, räumte er einige Gerätschaften zur Seite und signalisierte dem Helfer, er könne damit beginnen, den Körper wieder zu schließen. Der zweite Mediziner beschriftete in der Zwischenzeit die letzten Proben, die zur Analyse vorbereitet werden sollten.

»Ansonsten war das Mädchen völlig gesund. Und da wir weder Sperma noch typische Hämatome entdeckt haben, ist sie wohl auch nicht Opfer einer Vergewaltigung geworden. Wir