Hector und die Entdeckung der Zeit - François Lelord - E-Book
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Hector und die Entdeckung der Zeit E-Book

François Lelord

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Beschreibung

François Lelords Bücher »Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück« und »Hector und die Geheimnisse der Liebe« eroberten die Herzen der Leser und die Bestsellerlisten. Hier schickt er seinen Helden in ein neues Abenteuer, und dieses Mal gelingt es Hector, etwas äußerst Flüchtiges einzufangen: die Zeit, die uns Tag für Tag davoneilt. Hector fragt sich: Existiert die Zeit überhaupt, wenn das Vergangene vergangen ist, die Gegenwart augenblicklich Vergangenheit wird und das Zukünftige sich noch nicht ereignet hat?

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.deGewidmet all jenen, die Hector inspiriert haben

ISBN 978-3-492-95334-4

Januar 2017

© 2006 François Lelord

Titel der französischen Originalausgabe:

»Le nouveau voyage d’Hector. À la poursuite du temps qui passe«

Éditions Odile Jacob, Paris 2006

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2006

Umschlag: semper smile, München

Umschlagabbildung: Simone Petrauskaite

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck  

Hector ist kein richtig junger Psychiater mehr

Es war einmal ein junger Psychiater namens Hector.

Eigentlich war er kein ganz junger Psychiater mehr, aber Vorsicht, ein alter Psychiater war er eben auch noch nicht! Von weitem hätten Sie ihn für einen jungen Mann halten können, der seinen Doktortitel noch nicht erworben hatte, aber aus der Nähe erkannten Sie besser, daß er bereits ein richtiger Doktor mit einer gewissen Erfahrung war.

Als Psychiater hatte Hector eine sehr wichtige Eigenschaft: Wenn man mit ihm sprach, wirkte es immer so, als würde er viel nachdenken über das, was man ihm erzählte. Die Leute, die in seine Sprechstunde kamen, mochten ihn dafür sehr, denn sie hatten den Eindruck, daß er über ihren Fall nachsann (was auch fast immer stimmte) und das Mittel herausfinden würde, mit dem es ihnen wieder besser ging. Zu Beginn seiner Karriere hatte sich Hector beim Nachdenken den Schnurrbart gezwirbelt, aber jetzt trug er keinen mehr. Als debütierender Psychiater hatte er sich einen wachsen lassen, um älter auszusehen, und heute war das nicht mehr nötig, weil er eben kein wirklich junger Psychiater mehr war. Die Zeit war, wie man so sagt, nicht spurlos an ihm vorübergegangen.

An den Möbeln seines Sprechzimmers allerdings war sie durchaus ein bißchen vorübergegangen, denn Hector hatte die Einrichtung seiner Anfänge behalten – mit einer altertümlichen Couch, die ihm von seiner Mutter geschenkt worden war, als er sich niedergelassen hatte, mit hübschen Bildern, die er sehr mochte, und sogar einer kleinen Skulptur, die ihm ein Freund aus dem Land der Eskimos mitgebracht hatte: einem Bären, der sich gerade in einen Adler verwandelte, was bei einem Psychiater ziemlich originell war. Von Zeit zu Zeit, wenn Hector den Patienten zuhörte und sich schon allzulange in seinem Sprechzimmer eingezwängt fühlte, blickte er auf den Bären mit den großen Flügeln, die ihm aus dem Rücken wuchsen, und dann träumte er, daß er selbst abheben und davonfliegen würde – aber nur eine kleine Weile, denn schnell kamen ihm Schuld gefühle, wenn er der Person, die da vor ihm saß und von ihrem Unglück erzählte, nicht richtig zuhörte. Hector war nämlich ein gewissenhafter Bursche.

Die meiste Zeit sah er erwachsene Leute, die einen Psychiater zu konsultieren beschlossen hatten, weil sie zu traurig waren oder zu unruhig oder nicht zufrieden mit ihrem Leben. Hector ließ sie reden, stellte ihnen Fragen und gab ihnen manchmal auch kleine Pillen – und oft alles drei zusammen, ein bißchen wie jemand, der mit drei Bällen gleichzeitig jongliert, und mindestens ebenso schwierig ist die Psychiatrie auch. Hector liebte seinen Beruf sehr, zuallererst einmal, weil er oft das Gefühl hatte, nützlich zu sein. Außerdem interessierte ihn fast immer, was seine Patienten ihm erzählten.

Von Zeit zu Zeit sah Hector zum Beispiel eine junge Dame, Sabine, die ihm stets Sachen berichtete, über die er nachdenken mußte. Denn mit Hectors Beruf ist es kurios: Wenn man seinen Patienten zuhört, lernt man eine Menge Dinge, während die Patienten häufig annehmen, man wüßte schon beinahe alles.

Das erste Mal war Sabine in Hectors Sprechstunde gegangen, weil ihr bei der Arbeit zu viele Emotionen hochkamen. Sabine arbeitete in einem Büro, und ihr Chef war nicht nett zu ihr, er brachte sie oft bis an den Rand der Tränen. Zum Weinen versteckte sie sich selbstverständlich immer, aber ganz schön ärgerlich war es trotzdem.

Nach und nach ließ Hector das Gefühl in ihr entstehen, daß sie vielleicht etwas Besseres verdient hatte als einen unnetten Chef, und Sabine gewann genügend Selbstvertrauen, um sich eine neue Stelle zu suchen, und jetzt war sie glücklicher.

Allmählich hatte sich Hectors Arbeitsweise gewandelt. Zu Beginn hatte er den Leuten vor allem helfen wollen, ihren Charakter zu ändern. Das tat er natürlich immer noch, aber jetzt versuchte er ihnen auch zu helfen, ein neues Leben zu finden, das besser zu ihnen paßte. Denn – um einen schönen Vergleich anzustellen – wenn Sie eine Kuh sind, werden Sie es niemals schaffen, sich in ein Pferd zu verwandeln, selbst mit einem guten Psychiater nicht, und es wäre besser, Sie fänden eine hübsche Weide an irgendeinem Fleck, wo man Milch braucht, statt immerfort zu versuchen, auf der Pferderennbahn herumzu galoppieren. Und vor allem sollten Sie keine Stierkampfarena betreten, denn so etwas ist immer eine Katastrophe.

Sabine wäre nicht besonders erfreut gewesen, wenn man sie mit einer Kuh verglichen hätte, die doch ein sanftmütiges und sympathisches Tier ist und außerdem, wie Hector schon immer gedacht hatte, eine sehr gute Mutter. Man muß dazu sagen, daß Sabine auch sehr intelligent war, und bisweilen machte sie das nicht froh, denn wie Sie vielleicht selbst schon bemerkt haben, bedeutet Glück manchmal, daß man nicht alles begreift.

Eines Tages meinte Sabine zu Hector: »Manchmal sage ich mir, daß das Leben ein einziger Betrug ist.«

Hector schreckte hoch.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er. (Das waren seine üblichen Worte, wenn er es beim ersten Mal nicht richtig verstanden hatte.)

»Na ja, man wird geboren, muß sofort funktionieren, in die Schule gehen, arbeiten, Kinder kriegen, und dann sterben einem die Eltern weg, und wutsch, schon wird man selber alt, und es ist vorbei.«

»Aber das dauert immerhin eine gewisse Zeit, nicht wahr?«

»Ja, aber es geht alles so schnell vorüber. Vor allem, wenn man nie Zeit hat, mal richtig innezuhalten. Ich zum Beispiel – tagsüber der Job, abends die Kinder und mein Mann. Und auch er kommt nie zum Atemholen, der Ärmste.«

Sabine hatte einen netten Ehemann (einst hatte sie auch einen netten Vater gehabt, was die Chancen erhöht, gleich beim ersten Versuch einen netten Mann zu finden). Er arbeitete eine Menge, und zwar ebenfalls in einem Büro, und dann hatten sie noch zwei kleine Kinder, von denen das eine gerade in die Schule gekommen war.

»Ich habe immer das Gefühl, mir würde eine Uhr im Bauch stecken«, sagte Sabine. »Morgens muß ich alles vorbereiten, dann rechtzeitig loskommen, um die Kleine zur Schule zu bringen, danach flitze ich ins Büro, und es gibt Sitzungen, zu denen man pünktlich erscheinen muß, während sich die restliche Arbeit immer mehr anhäuft, und auch abends muß ich mich be eilen, das Kind abholen oder pünktlich dasein, wenn das Kindermädchen Schluß hat, und dann ist das Abendessen zuzubereiten, und die Hausaufgaben sind durchzusehen, und dabei gehöre ich ja noch zu den Glücklichen, denn mein Mann hilft mir. Spät am Abend haben wir gerade noch ein paar Augenblicke Zeit, miteinander zu reden, und dann schlafen wir sofort ein, weil wir so erledigt sind.«

Hector wußte das alles, und vielleicht war dies auch ein wenig der Grund gewesen, weshalb er eine Menge Zeit damit verbracht hatte, darüber nachzudenken, ob man es nicht in Erwägung ziehen könnte, es sich vielleicht einmal zu überlegen, ob man sich dafür entscheiden sollte, allen Ernstes daran zu denken, sich zu verheiraten und Babys in die Welt zu setzen.

»Ich wünschte mir, die Zeit würde langsamer verrinnen«, sagte Sabine. »Ich möchte Zeit haben, das Leben auszukosten. Zeit für mich selbst, um all das machen zu können, was mir vorschwebt.«

»Und wie ist es im Urlaub?« fragte Hector.

Sabine lächelte.

»Sie haben keine Kinder, nicht wahr?«

Hector gab zu, daß er tatsächlich kinderlos war, vorläufig jedenfalls.

»Ich glaube, letzten Endes komme ich auch deshalb in Ihre Praxis«, sagte Sabine. »Diese Konsultation ist der einzige Augenblick, an dem der Zeiger für mich stillsteht und die Zeit voll und ganz mir gehört.«

Hector verstand Sabine gut, um so mehr, als auch er während des Arbeitstages oft den Eindruck hatte, eine Uhr im Bauch zu tragen – und all seinen Kollegen erging es ebenso. Wenn Sie Psychiater sind, müssen Sie immerzu auf die Zeit achten, denn wenn Sie einen Patienten zu lange reden lassen, sitzt im Wartezimmer schon der nächste und wird ungeduldig, und dann geraten Sie mit allen restlichen Terminen in Verzug. (Manchmal war es sehr schwierig, denn es konnte passieren, daß drei Minuten vor Ende der Konsultation, gerade in dem Moment, wo Hector in seinem Sessel hin- und herzurutschen begann, um anzudeuten, daß die Zeit gleich vorüber war, die Person ihm gegenüber plötzlich sagte »Doktor, im Grunde glaube ich, daß meine Mutter mich niemals geliebt hat« und daraufhin in Tränen ausbrach.)

Die Uhr im Bauch, sagte sich Hector. Das war ein Problem für so viele Menschen. Was aber sollte er tun, um ihnen zu helfen?

Hector und der Hundeliebhaber

Ein andermal hörte Hector Fernand zu, einem leicht seltsamen Herrn, der nichts Besonderes an sich hatte, außer daß er keine Freunde besaß. Eine Frau hatte er auch nicht und eine kleine Freundin ebensowenig. Ob das wohl an seiner eintönigen Redeweise lag oder an der Tatsache, daß er ein bißchen wie ein Reiher aussah? Hector wußte es nicht, aber jedenfalls fand er es sehr ungerecht, daß Fernand keine Freunde hatte, denn er war nett und sagte sehr interessante Dinge, wenngleich sie zugegebenermaßen ein wenig bizarr klangen.

Eines Tages sagte Fernand plötzlich: »Wie dem auch sei, Doktor, in meinem Alter bleiben mir eh bloß noch zweieinhalb Hunde.«

»Pardon?« sagte Hector.

Er erinnerte sich, daß sein Patient einen Hund hatte. Eines Tages war Fernand mit ihm in die Praxis gekommen, und es war ein wohlerzogener Hund gewesen, der während der ganzen Konsultation geschlafen hatte. Aber er besaß doch keine zwei Hunde, und noch weniger verstand Hector, was ein halber Hund sein sollte.

»Na ja«, meinte Fernand, »ein Hund lebt so vierzehn, fünfzehn Jahre, nicht wahr?«

Und da begriff Hector, daß Fernand die ihm verbleibende Zeit nach den Leben der Hunde zählte, die er noch als Gefährten würde haben können.

Gleich mußte sich auch Hector daranmachen, die Lebensfrist, die er noch vor sich hatte (die er wahrscheinlich noch vor sich hatte, denn Sie kennen ja weder den Tag noch die Stunde, wie schon vor langer Zeit jemand gesagt hatte, der ziemlich jung gestorben war) – gleich also mußte er seine eigene Lebensfrist in Hundeleben zählen, und er schwankte zwischen drei und vier. Natürlich sagte er sich, daß diese Berechnungen noch kippen konnten, falls die Wissenschaft außergewöhnliche Fortschritte dabei machen sollte, einem das Leben zu verlängern, aber letzten Endes würden sie vielleicht doch nicht kippen, weil man dann wohl auch das Leben der Hunde verlängern würde – und dies, wohlgemerkt, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen.

Hector berichtete seinen Freunden von jener Methode, das eigene Leben nach Hundeleben zu berechnen, und sie reagierten völlig entsetzt: »Aber das ist ja schrecklich!«

»Und außerdem ist es doch sehr traurig, an den Tod seines Hundes zu denken.«

»Genau! Ich werde mir nie wieder einen anschaffen – der Tod unseres kleinen Darius war einfach zu bitter!«

»Du triffst wirklich Leute, die total plemplem sind!«

»Die Zeit in Hunden zählen! Warum nicht gleich in Katzen oder Papageien?«

»Und wenn er zu Hause eine Kuh hätte, würde er in Kühen zählen, oder was?«

Als Hector all seinen Freunden dabei zuhörte, wie sie über Fernands Idee sprachen, begriff er, daß ihnen eine Sache überhaupt nicht gefiel: Wenn man sein Leben in Hunden zählte, erschien es gleich viel kürzer. Zwei, drei oder vier Hunde, selbst fünf – das verschafft uns nicht gerade den Eindruck, daß wir noch eine lange Spanne Zeit vor uns hätten!

Jetzt verstand er besser, weshalb Fernand den Leuten ein bißchen angst machte mit seiner sonderbaren Sicht auf die Dinge. Hätte er sein Leben in Kanarienvögeln oder Goldfischen gezählt, wäre er womöglich leichter zu Freunden gekommen.

Mit seiner Einsamkeit und seiner bizarren Art hatte Fernand den Finger auf ein wirkliches Problem in Sachen Zeit gelegt. Eine Menge Poeten hatten davon seit jeher gesprochen und Sabine auch: die dahinfliegenden Jahre, die Flucht der Stunden, die zu schnell verrinnende Zeit.

Hector und der Junge,

der die Zeit beschleunigen wollte

Von Zeit zu Zeit kamen auch Kinder in Hectors Sprechstunde, und dann waren es natürlich die Eltern, die es so beschlossen hatten.

Keine Kinder, die richtig krank waren, sondern eher solche, deren Eltern es schwerfiel, sie zu verstehen, oder auch allzu traurige, allzu ängstliche oder allzu zappelige Kinder.

Eines Tages unterhielt er sich mit einem kleinen Jungen, der amüsanterweise ebenfalls Hector hieß. Petit Hector langweilte sich in der Schule schrecklich, die Zeit schien ihm dort viel zu langsam zu verstreichen, und so hörte er nicht richtig zu und hatte hinterher miese Noten.

Der große Hector fragte den kleinen: »Und was würdest du dir heute von allen Dingen auf der Welt am meisten wünschen?«

Petit Hector brauchte nicht eine Sekunde nachzudenken: »Ich will sofort erwachsen sein!«

Hector war überrascht. Er hatte damit gerechnet, daß Petit Hector antworten würde »Meine Eltern sollen wieder zusammenkommen« oder »Ich möchte bessere Schulnoten haben« oder vielleicht »Ich möchte mit meinen Freunden in den Ski urlaub fahren können«.

Er fragte Petit Hector, weshalb er auf der Stelle erwachsen werden wolle.

»Um selbst zu entscheiden!« antwortete Petit Hector.

Wenn er nämlich jetzt sofort ein Großer wäre, erklärte der kleine Hector weiter, könnte er selbst bestimmen, um wieviel Uhr er schlafen ging, wann er aufstand, wohin er in die Ferien fahren und welche Freunde er sehen wollte; er könnte sich vergnügen, womit er mochte, er brauchte die Erwachsenen nicht zu sehen, die er nicht sehen wollte (die neue Freundin seines Vaters beispielsweise), und er könnte einen richtigen Beruf haben, denn in der Schule zu sitzen war doch kein richtiger Beruf, und außerdem hatte man es sich auch gar nicht ausgesucht, und trotzdem mußte man dort Stunden und Jahre damit zubringen, die Zeit schneckenhaft langsam dahinkriechen zu sehen und sich furchtbar zu langweilen.

Hector dachte, daß sich Petit Hector falsche Vorstellungen vom Erwachsenenleben machte, denn immerhin mußten auch die Großen Dinge tun, die sie nicht gern taten, und Leute treffen, die sie lieber gemieden hätten. Das sagte er ihm aber nicht, denn für den Augenblick war es keine schlechte Sache, wenn Petit Hector von einer glücklichen Zukunft träumte, wo es doch mit seiner Gegenwart nicht so rosig aussah.

Und so fragte er Petit Hector: »Aber wenn du jetzt auf der Stelle ein Erwachsener wärst, würde das doch auch bedeuten, daß du schon eine ganze Menge Jahre hinter dir hättest und daß dir eine kürzere Spanne Leben übrigbliebe. Würde dich das nicht ärgern?«

Petit Hector überlegte.

»Einverstanden – das ist ein bißchen, als wenn man im Videospiel ein Leben weniger hat, ärgerlich ist das schon … Aber es verdirbt einem doch nicht den Spaß am Weiterspielen!«

Und dann blickte er Hector an.

»Ärgert es Sie denn, daß Sie schon ein oder zwei Leben weniger haben?«

Und der große Hector sagte sich, daß Petit Hector eines Tages vielleicht Psychiater werden würde.

Hector denkt nach

Wenn sein Arbeitstag zu Ende war, dachte Hector oft an all die Menschen, denen er zugehört hatte und die ihren Kummer mit der Zeit hatten.

Er dachte an Sabine, die die Zeit gern angehalten hätte.

An Fernand, der die Zeit in Hundeleben zählte.

An Petit Hector, der die Zeit beschleunigen wollte.

Und er dachte noch an viele andere …

Hector verbrachte immer mehr Zeit damit, über die Zeit nachzudenken.

Hector ist gewissenhaft

Hector stellte fest, daß beinahe alle Leute, die in seine Sprechstunde kamen, von zweierlei Sorgen geplagt wurden. Die einen hatten Angst vor der zu rasch verrinnenden Zeit, und dies ist eine ziemlich lästige Angst, denn gegen die Schnel ligkeit der Zeit können wir nicht groß was ausrichten. Es ist ein bißchen, als wenn wir auf einem galoppierenden Pferd säßen, das nicht auf unsere Kommandos hört. (Genau das war Hector schon einmal passiert, und es hatte ihm mächtig Angst eingejagt.) Andere Leute wiederum fanden, daß die Zeit zu langsam dahintröpfelte, und für sie war es, als säßen sie auf einem Esel, der einfach nicht lostraben wollte. Man muß dazu anmerken, daß es vor allem die jungen Leute waren, die Hector so etwas sagten, oder auch Leute, die sich sehr unglücklich fühlten und bessere Zeiten herbeisehnten, und währenddessen schien ihnen jeder Tag Wochen zu dauern.

Hector dachte, daß er den von der Zeit geplagten Leuten vielleicht helfen konnte, indem er ihnen kleine Übungen vorschlug, mit denen sie zum Nachdenken angeregt wurden.

Hector griff nach seinem Notizbüchlein. Er dachte an Fernand und schrieb:

Zeit-Etüde Nr. 1: Berechnen Sie Ihre Lebensfrist in Hundeleben.

Dies war vielleicht eine gute Übung, wenn man sich klar machen wollte, daß man mit den Dingen, die man gerne machen würde, nicht zu lange warten soll. Andererseits konnte sie einem noch größere Angst einjagen vor der verstreichenden Zeit und besonders vor der Frist, die einem selbst blieb. War es wirklich eine so gute Übung? Hector erinnerte sich, einst in der Schule gelernt zu haben, daß gewisse Philosophen ein Leben für gut hielten, in dem man sich tagtäglich vor Augen führte, daß es einmal zu Ende sein würde. Es hatte sogar einen gegeben, der jeden Abend zum Schlafengehen Musik erklingen und Sänger an sein Bett treten ließ, die ihm vorsangen »Er hat gelebt!«, ganz als wäre es jedesmal sein Begräbnis. Aber Hector wußte ja, daß manche Leute ein bißchen verrückt waren, selbst unter den Philosophen (ja selbst unter den Psychiatern, aber erzählen Sie das nicht weiter).

Hector dachte an Petit Hector.

Zeit-Etüde Nr. 2: Listen Sie alles auf, was Sie sich als Kind zu tun und zu werden vorgenommen hatten, wenn Sie erst einmal erwachsen sein würden.

Auch diese Übung konnte einem dabei helfen, sich mit dem zu beeilen, wozu man Lust verspürte. Sie konnte einen jedoch auch entmutigen, indem man sich nämlich sagte, daß es sowieso schon zu spät war. Gern hätte Hector eine Übung gefunden, die unter allen Umständen funktionierte.

Er dachte an Sabine.

Zeit-Etüde Nr. 3: Messen Sie an einem bestimmten Tag die Zeit, die Sie für sich selbst haben. Schlafen zählt nicht mit (außer wenn Sie es im Büro tun).

Es war wiederum schwer vorauszusehen, was diese Übung brachte.

Manche Leute würden dabei merken, daß sie nicht eine einzige Minute für sich selbst hatten, sondern ihre ganze Zeit für andere Menschen hergaben – er mußte an Sabine denken –, manche Leute hingegen würden sich bewußt werden, daß sie nichts anderes zu tun hatten, als sich zu amüsieren oder an sich selbst zu denken. Aber Hector hatte schon herausgefunden, daß diese Leute davon nicht immer glücklich wurden und einige sich sogar umbringen wollten!

Als Hector die drei Übungen beisammen hatte, spürte er deutlich, daß seine Liste noch ein wenig kurz war. Wenn er den Leuten, die in seine Sprechstunde kamen, weiter gut zuhörte, konnte ihn das vielleicht auf neue Ideen bringen …

Und falls das nicht genügte? Nun, darüber konnte man auch später noch nachdenken.

Hector und ein Herr,

der die Zeit zurückdrehen will

»Schau an«, sagte sich Hector, »ich spüre, da ist eine neue Idee im Anmarsch.«

Er hörte gerade Hubert zu, einem Herrn, der in der Forschung arbeitete, wie man so sagt. Hubert war Astronom: Er schaute die Sterne an und horchte sie aus, und zwar mit Apparaten, die so teuer waren, daß sich mehrere Länder der Welt zusammentaten, um sie sich leisten zu können, und dann stellten Hubert und seine Kollegen sehr komplizierte Berechnungen an, mit denen sie herausfinden wollten, wie es vor sehr langer Zeit mit der Welt angefangen hatte. Und sie fragten sich sogar, was vor dem Anfang der Welt gewesen war, und selbst, ob die Zeit damals schon existiert hatte, aber das würde jetzt ein bißchen kompliziert zu erklären sein und auch nicht ganz einfach zu verstehen.

Hubert jedenfalls hatte eine schwere Depression durchgemacht, als er eines Tages merkte, daß er sich zwar die ganze Zeit für die Sterne interessiert, darüber aber nicht genug auf seine Frau geachtet hatte, und so war sie mit einem Herrn fortgegangen, der es im Leben nicht groß zu was gebracht hatte, ansonsten aber ein ziemlich lustiger Kerl war. Hector hatte Hubert zu der Einsicht verholfen, daß er nicht immerzu auf die Vergangenheit zurückkommen durfte (ein bißchen wie bei den Forschungen über den Anfang der Welt verbrachte Hubert seine Zeit nämlich damit, herauszufinden, wann die Geschichte zwischen seiner Frau und jenem Herrn begonnen hatte). Hector erklärte ihm auch, daß es nicht so schrecklich wichtig war zu wissen, bei wem die Schuld lag, sondern daß sich Hubert lieber der Zukunft zuwenden sollte, wobei er freilich versuchen mußte, sich um die nächste sympathische Frau, die ihm über den Weg lief, besser zu kümmern – selbst wenn das die endgültige Theorie über den Ursprung der Welt ein wenig verzögern sollte.

Aber Hubert meinte immer noch: »Ich würde gern in die Zeit zurückkehren, als sie mich noch liebte.«

Und wenn Hubert sagte »als sie mich noch liebte«, konnte er die Tränen nicht zurückhalten, und es war alles sehr traurig.

»Und dann würde ich sie richtig lieben, ich würde aufmerksam sein und nicht wieder die gleichen Fehler machen. Wenn ich doch bloß zurück könnte …«

Mit den hochkomplizierten Studien, die er über die Sterne anstellte, hätte es Hubert eigentlich am besten wissen müssen, daß man in der Zeit nicht rückwärts reisen konnte – jedenfalls hätte so etwas all unsere Erklärungen über das Funktionieren der Welt über den Haufen geworfen –, aber trotzdem mußte er pausenlos daran denken.

»Ach Doktor«, sagte Hubert, »wir in unserem Alter haben auf jeden Fall schon Bilanz zu ziehen.«

Hector zuckte zusammen, denn er hielt sich für viel jünger als Hubert. Er entgegnete nichts, aber hinterher schaute er in den Karteikarten nach, wann Hubert geboren war. Und na ja, Hector war tatsächlich jünger, aber letzten Endes auch nicht so viele Jahre.

Hector war ein bißchen enttäuscht. Die einzige Idee, zu der ihn Hubert inspiriert hatte, war die, daß er kein wirklich junger Psychiater mehr war, und das hatte er schon vorher gewußt. Aber jetzt hatte er es auch gefühlt, und wie den Psychiatern gut bekannt ist, gibt zwischen Wissen und Fühlen im Zweifelsfall das Fühlen den Ausschlag.

Und schließlich hatte Hubert ihn doch noch an etwas Wichtiges erinnert:

Zeit-Etüde Nr. 4: Denken Sie an alle Personen und Dinge, denen Sie gegenwärtig nicht genügend Beachtung schenken, denn eines Tages wird aus der Gegenwart Vergangenheit geworden sein, und dann ist es zu spät.

Hector und eine Dame, die jung bleiben möchte

Gleich nachdem Hubert fortgegangen war, empfing Hector Marie-Agnès, eine ziemlich charmante junge Frau, die dazu neigte, ihren Freunden den Laufpaß zu geben, sobald sie sich ein bißchen zu sehr in sie verliebt hatten. Und so hatte Hector länger mit ihr durchgehalten als all ihre früheren guten Freun de, denn wenn Sie Psychiater sind, dürfen Sie sich nicht in Ihre Patienten verlieben, selbst wenn diese ziemlich nach Ihrem Geschmack sein sollten.

Allmählich dämmerte es Marie-Agnès, daß all ihre guten Freundinnen verheiratet waren und die meisten Männer, die Marie-Agnès interessant fand, ebenso.

»Wenn ich an die tollen Männer denke, die ich, als ich noch jünger war, einfach fallen gelassen habe …«

»Vielleicht waren es nicht die Richtigen für Sie«, schlug Hector vor.

»Oh, doch, und wenn ich heute sehe, was aus ihnen geworden ist, sage ich mir, daß ich doppelt bescheuert war, sie nicht bei mir zu halten.«

»Wie? Alle miteinander?«

»Natürlich nicht! Nur einen.«

»Wird Ihnen diese Erfahrung vielleicht für die Zukunft nützlich sein?« wollte Hector wissen.

»Zukunft? Aber in meinem Alter habe ich doch eine viel geringere Auswahl. Ich glaube, meine Zukunft wird nie wieder so gut wie meine Vergangenheit.«

»Wenn Sie in Zukunft genauso leben wollen, wie Sie es in Vergangenheit getan haben«, sagte Hector, »dann vielleicht.«

»Wollen Sie damit sagen, daß man mit neununddreißig nicht einfach so weiterleben kann wie mit zwanzig?«

»Was meinen Sie denn selbst?« fragte Hector zurück.

»Ach«, sagte Marie-Agnès, »so um die Zwanzig, das ist trotzdem der schönste Abschnitt des Lebens.«

Hector dachte, daß dies nicht für jedermann zutraf, aber bei Marie-Agnès stimmte es wahrscheinlich.

»… man ist so unbekümmert, man kann sich die Männer aussuchen, lebt frei dahin, denkt nicht daran, wie die Zeit verrinnt, und hat das Gefühl, es liege noch endlos viel Leben vor einem … Wie gern würde ich wieder dorthin zurück!«

»Sie sagten, Sie würden das nutzen, um sich schnell einen guten Ehemann auszusuchen …«

»Ja … na gut, da widerspreche ich mir. Vielleicht würde ich alles genauso machen wie damals.«

»Warum also der Vergangenheit nachtrauern?« fragte Hector.

»Wegen des Gefühls, daß ich noch ein endlos langes Leben vor mir hatte«, meinte Marie-Agnès, »denn jetzt habe ich dieses Gefühl nicht mehr.«

Hector hatte Untersuchungen zu diesem Thema gelesen. Es gibt einen Moment, an dem einem das Leben, das man noch vor sich hat, wie eine unendlich lange Stoffbahn erscheint, aus der man Kleider aller Art schneidern kann, und dann gibt es einen Augenblick, in dem man merkt, daß die Stoffrolle ein Ende hat und man gut messen und rechnen muß, um noch eine einzige Garderobe herauszubekommen. (Natürlich haben Sie von Anfang an gewußt, daß die Rolle ein Ende hat, aber Wissen und Fühlen sind bekanntlich nicht dasselbe.) Je nach Person stellte sich der Eindruck, daß die Stoffbahn ein Ende hatte, ungefähr dann ein, wenn man noch zweieinhalb bis drei Hunde vor sich hatte. Die Psychiater nannten so etwas eine midlife crisis, und es verschaffte ihnen eine Menge Arbeit.

»Ach, Doktor, und könnten Sie mir noch ein Rezept für meine Vitamine ausstellen?«

Und Hector fiel wieder ein, daß Marie-Agnès, wenn sie schon die Zeit nicht aufhalten konnte, doch jedenfalls versuchte, die Auswirkungen der Zeit auf ihren Körper aufzuhalten, und da mangelte es nicht an sehr guten Tricks: Es gab mit Vitaminen angereicherte Ergänzungsmittel und für diese Ergänzungsmittel wiederum Ergänzungsmittel in allen möglichen Farben, und Marie-Agnès bestellte sie per Internet; dreimal wöchentlich ging sie ins Fitneßstudio und machte eine Menge Gymnastik, und es stimmte schon, daß sie, wie auch Hector manchmal bemerkte, immer noch eine verdammt gute Figur hatte. Wenigstens viermal pro Tag aß sie Gemüse und Obst (was ihrer Mutter Freude machte, denn früher hatte sie es nie geschafft, ihre kleine Marie-Agnès zum Gemüseessen zu überreden); Zigaretten mied sie inzwischen ganz und gar, Wein trank sie auch nicht mehr viel, und von den Fetten nahm sie nur die guten zu sich, das heißt, nicht solche, die von Kühen oder Schweinen stammten – ein Grund mehr, diese sympathischen Tierchen nicht zu essen.

Vor allem aber vermied es Marie-Agnès, sich von der Sonne bräunen zu lassen, denn sie wußte, daß es die Haut alt machte, und für ihr Gesicht nahm sie mindestens drei verschiedene Sorten von Cremes, je nachdem, ob es morgens, tagsüber oder abends war, und die für den Abend nannte sich »Anti-Aging-Creme«.

Hector dachte, daß all dies bestimmt sehr gut für die Gesundheit war und Marie-Agnès noch eine ganze Weile jünger aussehen lassen würde, aber trotzdem hinderte es die Zeit nicht daran, weiter zu verrinnen.

Und übrigens mußte auch Marie-Agnès bisweilen das gleiche denken, denn eines Tages sagte sie zu Hector: »Wenn ich mich im Spiegel des Fitneßstudios herumhüpfen sehe oder vor meiner Batterie von Cremes stehe, frage ich mich manchmal, welchen Sinn das eigentlich hat. Warum soll man sich nicht einfach gehen lassen … Warum nicht einfach lachen über diesen ganzen Plunder? Denn im Grunde ist es eine Sklaverei.«

Sklaven unseres Wunsches, jung zu bleiben – Hector fand diese Idee richtig gut, aber er wußte auch, daß Marie-Agnès noch eine ganze Weile solch eine Sklavin bleiben würde, denn der Blick der Männer war für sie noch sehr wichtig.

Als Marie-Agnès gegangen war, machte er es ihr nach und schaute sich im Spiegel über dem Kamin an, und dabei entdeckte er, daß er – und da war kein Zweifel möglich – zum ersten Mal in seinem Leben ein paar weiße Haare hatte, knapp über den Ohren und ganz deutlich zu erkennen.

Also war er kein wirklich junger Psychiater mehr.

Am Ende sagte er sich, er müsse wie jedesmal, wenn er ein wichtiges Thema im Kopf hin- und herschob, unbedingt mit seiner Freundin Clara darüber reden.

Aber er nahm sich noch die Zeit zu notieren:

Zeit-Etüde Nr. 5: Stellen Sie sich Ihr Leben als eine große Rolle Stoff vor, aus welcher man alle Kleidungsstücke geschneidert hat, die Sie seit Kindheitstagen getragen haben. Stellen Sie sich dann vor, welche Garderobe Sie aus der restlichen Rolle noch schneidern könnten.

Hector liebt Clara, Clara liebt Hector

Mit Hector und Clara, das war eine lange Geschichte, selbst wenn sie beide noch ziemlich jung waren.

Wir werden versuchen, es Ihnen zu erklären, aber wie bei allen Liebesgeschichten ist es nicht immer leicht zu verstehen, sogar für die nicht, die selbst in die Geschichte verwickelt sind.

Clara und Hector hatten sich auf einem großen Kongreß für Psychiater kennengelernt, der von einem Konzern ausgerichtet worden war, der Medikamente herstellte und in dem Clara arbeitete – zu viel arbeitete …

Hector hatte Clara ernsthafte Fragen nach den Medikamenten gestellt, und Clara hatte sie auch ganz ernsthaft beantwortet, aber gleich danach hatte Hector sie zum Lachen gebracht, und wieder danach hatte er sie angerufen, und wieder danach hatten sie festgestellt, daß sie beide verliebt waren.

Und jetzt lebten Clara und Hector zusammen.

Manchmal dachten sie daran, zu heiraten oder ein Baby in die Welt zu setzen, aber meistens war es so, daß sie nicht zur gleichen Zeit daran dachten. Bisweilen brach Hector zu einer Reise auf, und dabei, man muß es schon sagen, war es ihm passiert, daß er Dummheiten gemacht hatte, und eine Zeitlang hatte er nicht recht gewußt, wie es mit ihm stand.

Clara hatte sich ihrerseits gefragt, ob Hector und sie es wohl je schaffen würden, ein Ehepaar zu werden, und manchmal hatte auch sie nicht mehr recht gewußt, wie es mit ihr stand.

Aber in diesem Moment unserer Geschichte lebten Hector und Clara zusammen und dachten gerade mal wieder nach, ob sie nicht heiraten und ein Baby bekommen sollten.

Ob sie es wohl schaffen werden? Wenn Sie das Buch bis zum Ende durchlesen, werden Sie es wissen!

Jedenfalls sprach Hector mit Clara eines Tages über dieses seltsame Phänomen: Fast niemand war mit der Zeit zufrieden. Und nachdem er von einigen Überlegungen seiner Patienten berichtet hatte, sprach er auch über sein Gefühl, kein richtig junger Psychiater mehr zu sein.

Clara aber sagte zu ihm: »Ach, ihr Männer hinkt wirklich immer ein Stück hinterher!«

Und sie erklärte Hector, daß sich der Eindruck, nicht mehr so ganz jung zu sein, bei Frauen schon viel früher einstellte.

»Woran merken sie es denn?« wollte Hector wissen.

»Das Nachrücken der Konkurrenz«, sagte Clara.

Hector begriff nicht gleich, was Clara damit ausdrücken wollte, und das beweist, daß Psychiater auch nicht immer so pfiffig sind. Clara fuhr fort: »Und dann fühlen wir Frauen ohnehin viel stärker, wie die Zeit verrinnt. Wenn man jung ist, redet man sich lange Zeit ein, das wahre Leben werde ein bißchen später anfangen, und eines Tages wird einem klar, daß dieses ›Später‹ schon Vergangenheit ist. Meistens passiert das in dem Augenblick, wenn man im Gesicht die ersten Fältchen entdeckt, die anderen noch verborgen bleiben. Manchmal sage ich mir, daß ich mit meinem ewigen ›Später‹ eines Tages erleben werde, daß es zu spät ist. Zum Beispiel, um ein Kind zu bekommen …«

Und sie schaute Hector an, und der schaute Clara an.

All das zeigt, daß Clara zwar wie eine optimistische junge Frau aussah, aber in manchen Augenblicken dennoch in tiefes Nachdenken versank. Das wußte Hector allerdings schon, und überhaupt war es einer der Gründe, weshalb er Clara liebte.

Hector sagte sich einmal mehr, daß zwar nicht jeder über das Verstreichen der Zeit redete, aber alle Welt darüber nachdachte. Außer vielleicht die Babys, aber selbst da konnte man es nicht genau wissen.

Ende der Leseprobe