Die kleine Souvenirverkäuferin - François Lelord - E-Book
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Die kleine Souvenirverkäuferin E-Book

François Lelord

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Beschreibung

Hanoi in den 90er Jahren: Julien, ein junger Arzt aus Paris beginnt gerade, das durch den Bürgerkrieg zutiefst traumatisierte Land und seine Menschen ein wenig zu verstehen, da bricht ein tödliches Virus aus. Er macht sich unter Umgehung sämtlicher Gesetze in die entlegene Bergregion auf, in der das Fieber wütet. Doch kaum ist er fort, wird eine kleine Souvenirverkäuferin, die er allmorgendlich am See traf, verhaftet. Die Behörden sehen den Kontakt von Einheimischen zu Ausländern nicht gern. Eine Katastrophe, denn von dem Geld, das die junge Frau in ihr Dorf schickt, lebt ihre ganze Familie. Und wie soll Julien sie nach seiner Rückkehr wiederfinden …

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Übersetzung aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95518-8

Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2012 Titel des französischen Originals: La Petite Marchande de Souvenirs Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagabbildung: Martin Puddy / Corbis

Schon in den ersten Unterrichtsstunden hatte Julien diesen Hauch von Spannung zwischen Hoa – Blume auf Vietnamesisch – und sich gespürt. Immerhin waren sie zwei junge Menschen, die ganz nahe beieinander an dem großen Tisch mit den geschnitzten Drachenfüßen saßen, ganz allein in diesem weiträumigen, von Fluren und Treppenhäusern durchzogenen Haus. Es wäre so einfach gewesen, seine Hand auf die der jungen Frau zu legen. Und wenn ihre Köpfe einander nahe kamen, weil sich beide über das Heft beugten, um Juliens Rechtschreibfehler zu korrigieren, hätte er sich ihr zuwenden und sie küssen können. Um ein wenig Distanz zu schaffen, nannte er sie innerlich Mademoiselle Fleur, wie um ihr in ihrer Rolle als Lehrerin mehr Strenge zu verleihen. Sie kam ihm dabei durch eine gewisse Steifheit entgegen.

»Màu Xanh!«, sagte sie mit strenger Stimme.

»Grün?«

»Ja«, sagte sie.

»Aber heißt Màu Xanh nicht eigentlich blau?«

»Das auch«, meinte sie leicht verlegen, als hätte Julien gerade den Finger auf eine Unzulänglichkeit ihrer Muttersprache gelegt.

»Also haben Sie das gleiche Wort für Grün und Blau – aber es sind doch zwei verschiedene Farben!«

»Das ist nicht so einfach …«

Ein Satz, den er seit seiner Ankunft in Hanoi oft gehört hatte. Sobald man dachte, man hätte etwas begriffen, stellte man gleich wieder fest, dass es nicht so einfach war.

»Wenn man ›blau‹ sagen will, sagt man zum Beispiel Màu Xanh tròi … tròi wie der Himmel. Und das bedeutet dann ›himmelblau‹«, erklärte Mademoiselle Fleur in einem Ton, der keine Widerrede zuließ.

»Ach so«, sagte Julien und notierte sich den Ausdruck sorgfältig in seinem Schulheft.

Wie viele junge Menschen, die in ein anderes Land kommen, hatte er die besten Absichten, dessen Bewohner zu verstehen und natürlich auch die Landessprache zu lernen. Aber auch das war nicht so einfach: Nach ein paar Dutzend Unterrichtsstunden glaubten Sie, Fortschritte gemacht zu haben, aber dann mussten Sie feststellen, dass abgesehen vom Lehrer oder vielleicht noch Ihrer Freundin kein Mensch Ihr Vietnamesisch verstand … Übrigens hatte Julien keine vietnamesische Freundin, denn es wäre ihm ein bisschen schamlos und banal vorgekommen, ein Land auf diese Weise zu entdecken, und überhaupt wäre es ihm niemals eingefallen, ein Abenteuer mit einer jungen Frau zu wagen, in die er sich nicht vorher verliebt hatte. Das war eine romantische Sichtweise, die er für sich behielt, denn er glaubte, sich damit lächerlich zu machen.

Ihm war dabei nicht bewusst, dass er anziehend genug war, um auf diesem Gebiet alles andere als lächerlich zu wirken, und dass seine ungewöhnliche Ernsthaftigkeit ihn im Gegenteil noch attraktiver gemacht hätte.

Und so unternahm er nichts, was die unsichtbare Mauer zwischen Mademoiselle Fleur und ihm hätte einreißen können. Er spürte, dass auch sie auf die große Liebe wartete, und die fände sie nicht bei ihm, einem Mann aus dem Westen, der in einer Familie, in der die Töchter auf die Universität gingen, nicht willkommen gewesen wäre. Wenn sie jetzt übereinander hergefallen wären, hätte das nur geheißen, dass sie der Heißblütigkeit der Jugend nachgegeben hätten und der Wärme dieser schwülen Nachmittage, an denen sich die Gewitterwolken über Hanoi zusammenschoben, ohne sich je zu entladen.

Der Unterricht ging weiter – er versuchte, den Unterschied zwischen trắng, der Farbe Weiß, und trăng, dem Mond, herauszuhören. Wie bei jedem Wort änderte eine winzige Verschiebung des Lautes die Bedeutung. Geschrieben sah man es durch die verschiedenen Akzente, aber beim Hören … Bei alledem gratulierte Julien sich trotzdem dazu, in dieser fremdartigen und wunderbaren Umgebung zu leben, die so ganz anders war als das Alltagsuniversum seiner Kindheit und Jugend. Während sich seine Kommilitonen gerade damit abmühten, in ihrer Provinzstadt eine Praxis aufzubauen oder eine Stelle im Krankenhaus zu finden, lernte er eine ungewöhnliche Fremdsprache mit einer jungen Frau, die seinen Freundinnen ganz unähnlich war, und das Ganze in einer ehemaligen Kaiserstadt, die noch die nostalgische Pracht der Kolonialzeit ausstrahlte und gleichzeitig zu einem der letzten Freilichtmuseen des Kommunismus geworden war. Das Leben begann interessant zu werden.

Das stimmte zwar alles, aber Julien wusste auch, dass er sich mit diesem Gedanken selbst tröstete. In Paris war seine Karriere als Arzt und Nachwuchswissenschaftler an jenem Tag beendet gewesen, als er sich geweigert hatte, »Ja« zu etwas zu sagen, was sein Chef von ihm verlangt hatte. Alle waren darüber erstaunt gewesen, denn Julien galt nicht gerade als halsstarriger junger Mann. Aber er war eben von einer Mutter erzogen worden, die Mathematiklehrerin gewesen war und ihm den Respekt vor der Wissenschaft beigebracht hatte, und von einem Vater, der als Richter gearbeitet und ihn die Achtung vor der Wahrheit gelehrt hatte. Und so war es für ihn indiskutabel gewesen, in einer Studie die Forschungsergebnisse ein wenig aufzuhübschen, selbst wenn sie keine so große Bedeutung hatte und in keiner internationalen Fachzeitschrift erscheinen sollte. Man hatte lediglich zeigen wollen, dass ein neuer gerinnungshemmender Wirkstoff weniger Nebenwirkungen hatte als die anderen, was allerdings nicht stimmte und nur nachgewiesen werden konnte, wenn man ein paar störende Fakten unter den Tisch fallen ließ. Der Pharmakonzern, der das neue Medikament herstellte, war ein wichtiger Geldgeber für die Forschung in Juliens Abteilung.

Natürlich war niemand laut geworden; sein Chef hatte gelächelt, als würde ihn die Dickköpfigkeit eines ansonsten sehr begabten jungen Mannes amüsieren, und er hatte den Artikel über die Studie einem anderen Mitarbeiter anvertraut. Aber ein paar Monate später war die Julien versprochene Stelle an den folgsameren Kollegen gegangen. Er hatte mit anderen Wissenschaftlern gesprochen, allesamt Konkurrenten seines Chefs, aber die hatten bereits ihre liebe Not damit, die eigenen Schüler unterzubringen.

Eine Universitätslaufbahn und damit auch die Forschung waren ihm also versperrt. Alles andere – sich als Arzt niederzulassen, für die Pharmaindustrie zu arbeiten oder sich mit einem Krankenhausposten ohne Forschungsaufgaben zu begnügen – wäre ihm wie eine Niederlage vorgekommen. Deshalb war er lieber zu neuen Ufern aufgebrochen, die ihn seine alten Vorhaben vergessen lassen würden: beispielsweise Botschaftsarzt.

Und so kam es, dass er an diesem Tag Mademoiselle Fleur zuhörte, deren Augen hinter der schrägen Lidfalte glänzten und die ihm gerade die phonetischen Feinheiten einer Sprache erklärte, die einem außerhalb ihres Heimatlandes absolut nichts nützte.

Hätte er sich mit Mademoiselle Fleurs Augen sehen können, dann hätte er einen ernsthaft wirkenden jungen Mann erblickt, der klare, beinahe unschuldig scheinende Augen hatte, was umso interessanter war, als diese aus einem länglichen, männlichen Gesicht herausschauten. Es war das Gesicht eines Sportlers oder jungen Offiziers, das gut zu seinem schlanken und muskulösen Körper passte, zu einem Körper, dem man allerdings anmerkte, dass er noch nie im Krieg gewesen war, sondern höchstens am späten Nachmittag mit anderen jungen Leuten aus den eigenen Kreisen Tennis gespielt hatte. Mademoiselle Fleur fühlte sich angezogen von diesem großen Körper, der ihrem Körper so nah war, und von seinem sanften Blick, aber zugleich spürte sie die weichherzige Freundlichkeit eines Mannes, der noch nie hatte kämpfen müssen und weit entfernt war von dem männlich-herben Revolutionärsideal ihres Landes, und in diesem Punkt kam ihr dieser junge Mann wie etwas sehr Fremdes vor in ihrer Welt.

Der Unterricht war zu Ende. Er begleitete Mademoiselle Fleur zwei Stockwerke hinab bis ins Erdgeschoss, wo sie ihr Fahrrad hinter dem Gitter am Eingang sicher abgestellt hatte. Das riesige Haus war von der Botschaft gemietet worden, um mehrere Mitarbeiter zu beherbergen, aber durch das unvorhersehbare Wechselspiel von Absagen und Ernennungen hatte Julien das Vergnügen, es allein zu bewohnen. Als sie den Salon im ersten Stock durchquerten, blieb Mademoiselle Fleur einen Augenblick vor dem riesigen Spiegel mit dem geschnitzten Rosenholzrahmen stehen – die Eigentümer des Hauses, eine Familie von Militärs, hatten eine Vorliebe für altmodisches Mobiliar –, um sich von Kopf bis Fuß zu betrachten. Julien hatte schon mitbekommen, dass Mademoiselle Fleur sich mit einer anderen Studentin und einer Mäuseschar ein kleines Zimmer teilte und dass sie wohl selten Gelegenheit bekam, sich ganz im Spiegel zu sehen. Sie zog ihre Jacke zurecht, die aus einer Art genopptem Kunstleder war, wie man es wohl nur in den früheren Ostblockstaaten herzustellen verstanden hatte. Dann warf sie mit einer raschen Kopfbewegung die Haare zurück und folgte Julien mit zufriedenem Blick. Sie war hübsch in ihrer Schlankheit und mit den schmalen Hand- und Fußgelenken, wie sie hier häufig waren – das Erbe von Hungerszeiten über viele Generationen hinweg in einem Reisdelta, das seine Bevölkerung noch nie ausreichend hatte ernähren können. Ganz zu schweigen von zwei Kriegen und zwanzig Jahren stalinistisch geprägter Wirtschaftspolitik, die das Land endgültig zugrunde gerichtet hatte und von der man sich gerade erst zu verabschieden begann, mit zehnjähriger Verspätung nach dem chinesischen Beispiel.

»Also dann, bis Montag!«

»Ja, bis Montag. Fahren Sie vorsichtig mit Ihrem Rad!«

»Ich bin das doch gewohnt«, sagte sie mit jenem Anflug von Stolz, der sie nie verließ.

Julien blickte ihr hinterher, wie sie in ganz aufrechter Haltung mit dem Rad davonflitzte. Ihre Haare flatterten im Wind, als sie durch die enge Passage fuhr, die zum See des Zurückgegebenen Schwertes führte. Er konnte ihren Stolz verstehen. Sie kam aus einer Kleinstadt im Delta, deren Namen er sich nicht merken konnte, und weil sie so eine gute Schülerin gewesen war, hatte sie an einer renommierten Universität der Hauptstadt französische Literatur studieren dürfen. Aber auch dies war bestimmt nicht immer so einfach.

Nun verließ auch Julien das Haus; gleich war es Zeit für seine Sprechstunde in der Botschaft. Er war der einzige Arzt für die Franzosen in Hanoi, für alle Ausgewanderten und Touristen.Diese Gemeinde war ein großes Dorf, und bei seiner Arbeit fühlte sich Julien oft an die Praxisvertretungen erinnert, die er früher gemacht hatte, nur dass seine Patienten hier im Schnitt jünger waren. Nach seinem kurzen Ausflug in die Forschung und der Arbeit in angesehenen Kliniken bereitete es ihm durchaus wieder Vergnügen, Menschen mit ganz normalen Krankheiten zu behandeln, Kinder mit Fieber zu untersuchen und ihre besorgten Mütter zu beruhigen.

An der Einmündung der Gasse in die breite Allee erwiderte die alte Dame, die dort den ganzen Tag auf ihrem Klappstuhl saß, kaum merklich seinen Gruß. Sie hatte einen kleinen, fahrbaren Verkaufsstand, an dem es Suppe, getrocknete Tintenfische und verschiedene Getränke, darunter eine unbekannte Sorte Mineralwasser in Glasflaschen, gab. Außerdem Zigaretten, die man bei ihr auch einzeln kaufen konnte. Auf Juliens vietnamesischen oder französischen Gruß hatte sie stets nur mit einem leichten Nicken geantwortet. Er war sich sicher, dass sie Französisch verstand; immerhin musste sie als Mädchen noch die Kolonialzeit erlebt haben. Aber vielleicht war ihr die kaum vergangene Epoche noch zu präsent, als es verboten war, das Wort an einen Ausländer zu richten, jedenfalls außerhalb behördlich genehmigter Geschäftsbeziehungen, bei denen ein Beamter vom Innenministerium zugegen sein musste. Zuerst hatte Julien gedacht, dass ihm die alte Dame misstraute, aber auch das war bestimmt nicht so einfach.

Er konnte zu Fuß in die Botschaft gehen, und für ihn war dieser Spaziergang einer der angenehmsten Momente des Tages. Zunächst musste er am See des Zurückgegebenen Schwertes entlanggehen, der das Herz der Stadt bildete. Mit einem Blick grüßte Julien stets die kleine, vom Zahn der Zeit angenagte Steinpagode, die aus dem Wasser emporragte wie der Glockenturm einer untergegangenen Kathedrale. Als Julien den See und seine friedlichen Ufer zum ersten Mal gesehen hatte, die bröckelnden Fassaden aus der Kolonialzeit, die ihn umgaben, den rosa gepflasterten Spazierweg, der sich unter dem Blätterdach der hundertjährigen Bäume dahinschlängelte, die vietnamesischen Familien, die sich in ihrem Schatten ausruhten – im Laufe der Zeit hatte er Flammenbäume, Akazien, Tamarinden, Seemandel- und Frangipanibäume zu erkennen gelernt –, da hatte er sich gesagt, dass er nirgendwo anders auf der Welt leben wollte.

Unter ihrem kegelförmigen Hut sah die junge Frau den französischen Arzt aus dem Haus treten und in die Ba-Trieu-Straße einbiegen. Er war ihr schon oft aufgefallen, wenn er am Ufer des Sees spazieren ging, und doch hatte sie es noch nie gewagt, sich ihm zu nähern, um ihm ihre Postkarten, Stadtpläne, T-Shirts mit der vietnamesischen Flagge oder Sonnenbrillen made in China anzubieten – all den Tinnef, den sie in einer großen schwarzen Kunstledertasche herumtrug und an die wenigen vorbeikommenden Touristen loszuwerden versuchte. Mit dieser Tasche war ihre Mutter zum Einkaufen auf den Markt gegangen – früher, als sie noch dazu imstande gewesen war. Inzwischen redete sie mit den Geistern und wachte mitten in der Nacht laut lachend auf. Man musste sie immer im Haus halten, damit sie den Nachbarn keine Beleidigungen entgegenschrie. Sie war verrückt geworden. Wahrscheinlich hatte ein Geist von ihr Besitz ergriffen, oder ein böser Windhauch hatte sie getroffen. Das wenige Geld, das die junge Frau an den Touristen verdiente, reichte gerade für die Zeremonien mit einem Wunderheiler oder einem buddhistischen Mönch. Bis jetzt hatten sie allerdings nicht das bewirkt, was die Familie sich so sehr erhoffte – wieder eine sanftmütige Mutter zu haben und eine liebende Ehefrau. Stattdessen stieß sie ihren Mann von sich, als wäre er ein Fremder.

Die junge Frau war erst zwanzig, aber das älteste Kind der Familie; ihr folgten eine fünfzehnjährige Schwester Liân, dann kam ihr Bruder Binh und dann noch zwei kleine Schwestern, alle noch zu jung, um etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. Der Vater rackerte sich tagsüber im Kalkwerk ab, und abends kratzte er mit anderen die Kohlereste in den frisch entladenen Frachtkähnen am Fluss zusammen. Dieser Kohlengrus wurde mit Torf gemischt und getrocknet, und dann machten sie daraus Koksbällchen, die er noch vor Tagesanbruch weiterverkaufte, damit die Polizei nichts davon mitbekam, denn dieser kleine Handel war illegal.

Es war ihr aufgefallen, dass ihr Vater in letzter Zeit immer dünner und erschöpfter wurde. Heute musste sie unbedingt etwas verkaufen, denn die Familie hatte Schulden gemacht, um eine berühmte Wunderheilerin aus der Region Ba Vi bezahlen zu können. Ihre Mutter hatte auf dem Kopf einen Korb tragen müssen, in dem Räucherstäbchen brannten, die man zwischen die Opfergaben gesteckt hatte. Auch wenn der Erfolg dieser Zeremonie noch auf sich warten ließ, waren die Schulden schon zu lange unbeglichen; die Zinsen wuchsen, und mit ihnen täglich die Beunruhigung.

Aber der junge Arzt war kein Tourist. Sie wusste, dass er in der französischen Botschaft arbeitete. Irgendwie war es ihr peinlich, mit ihrer Ware auf ihn zuzugehen und an ihm Geld für Heilmethoden zu verdienen, die so weit entfernt waren von der Medizin der Leute aus dem Westen.

Wegen der Mutter hatten sie auch vietnamesische Ärzte konsultiert, die im Westen ausgebildet worden waren oder wenigstens doch in Russland, das ja gleich neben dem Westen lag, aber die kleinen Pillen, die man ihr verschrieb (zu einem zugegebenermaßen etwas niedrigeren Preis als die Behandlungen der Wunderheiler), hatten nichts anderes bewirkt, als dass sie ihre Mutter lethargisch machten. Sie schrie dann nicht mehr herum, schlief jedoch den ganzen Tag, und wenn sie einmal aufwachte, schien sie nichts mehr wiederzuerkennen und wandelte wie eine lebende Tote ums Haus herum, wobei sie die Spötteleien oder die Verwünschungen der Nachbarn auf sich zog.

Um die düsteren Gedanken zu vertreiben, setzte die junge Händlerin sich im Schatten einer Trauerweide auf eine Bank, stellte die Tasche, die ihr schwer zu werden begann, auf den Boden und nahm den kegelförmigen Hut ab (auf die Touristen hatte es immer eine günstige Wirkung, wenn sie das hübsche dreieckige Gesicht einer jungen Asiatin unter dem traditionellen Kegelhut sahen). Dann blickte sie auf den See und die Pagode. Sie schaute gern aufs Wasser, denn seine stille Oberfläche erinnerte sie an den See ihrer Heimatstadt, hundert Kilometer von Hanoi entfernt. Zur Zeit der Franzosen war das ein wichtiger Ort gewesen – mit großen Baumwollfabriken, einer Kathedrale und einem jahrhundertealten Ruf, gebildete Männer und Frauen von starkem Charakter hervorzubringen. Heute jedoch ließ man ihn links liegen, und so war er im schmerzlichen Schlummer der Armut versunken.

Durch die glorreiche Vergangenheit ihrer Stadt hatte die junge Frau allerdings einen christlichen zweiten Vornamen – Maria – und konnte lesen und schreiben, weil sie zwei Jahre auf eine Ordensschule gegangen war (nur dort nahm man Kinder aus den ärmsten Familien auf). Und hatte abends vor dem Einschlafen die Angewohnheit, die Jungfrau Maria um die Heilung ihrer Mutter zu bitten.

Der See geriet Julien aus dem Blickfeld, als er in die Avenue Ba Trieu einbog – die Straße der Dame Trieu, die vor ein paar Jahrhunderten, als sie so alt gewesen war wie Mademoiselle Fleur heute, vom Rücken eines Elefanten aus eine Armee befehligt hatte, um das Land von den chinesischen Besatzern zu befreien. Als ihre Truppen schließlich besiegt worden waren, hatte sie sich selbst getötet, um nicht lebend in Feindeshand zu fallen. Die meisten Straßen der Stadt trugen die Namen von Helden oder Generälen, die gegen das Reich der Mitte gekämpft hatten, den großen Nachbarn, der über Jahrhunderte hinweg immer wieder versucht hatte, das Land zu versklaven. Das Kriegerische, das davon zurückgeblieben war, spürte Julien noch im Blick von Mademoiselle Fleur, wenn er sie auf die Widersprüchlichkeiten in ihrer Sprache aufmerksam machte

Es war Mitte Dezember, und die letzten Wochen waren so angenehm wie selten gewesen – mit einem blauen Himmel und endlich etwas kühleren Nächten. Aber wie ein Feind, den man schon besiegt glaubte, unternahm die Hitze heute einen letzten unerwarteten Angriff, und obwohl die Sonne dunstverschleiert war, zwang sie Julien doch, in den Schatten der Bäume zu gehen, an denen überall Fahrräder lehnten. Die Straße war voll von jenen Leuten, deren Anblick ihm inzwischen vertraut war, ohne dass er sie deshalb verstanden hätte: auf den staubigen Gehwegen überall spielende Kinder, die ihn als einzige direkt ansahen und ihm ein wagemutiges Hello zuwarfen, Fahrradschlauchflicker mit ihren wassergefüllten Schüsseln, Verkaufsstände, die von einer ganzen Familie betrieben wurden, wobei die Großmutter auf ihrem Stuhl döste, die Mutter ihre Kunden bediente und der Hosenmatz in den Armen einer jugendlichen Tante lag. Außer in den alten Verwaltungsgebäuden war jetzt in jedem Haus ein Geschäft untergebracht, und all diese Läden waren auch so etwas wie zur Straße hin offene Wohnzimmer, aus denen man Julien nachschaute, denn er war einer der wenigen Ausländer in dieser Stadt. Im Vorübergehen hatte er manchmal das Wort bac si, Doktor, aufgeschnappt. Offenbar wussten also alle, wer er war, und das kam ihm nicht ungelegen. Ärzte genossen weltweit ein hohes Ansehen und erst recht in einem armen Land, in dem Bildung einen großen Stellenwert hatte. Auch die Polizisten des Viertels in ihrer zur Straße hin offenen Wache wussten es. Julien sah sie jeden Tag mit höchster Konzentration Dame spielen; die Mützen hatten sie neben das Spielbrett gelegt, und das lebhafte Treiben auf der Straße schien sie überhaupt nicht zu stören. Die ganze Allee ähnelte einem großen Dorf oder vielmehr einer Abfolge von kleinen Dorfplätzen, die Julien unter den nur scheinbar gleichgültigen Blicken der Einwohner überquerte.

Eine sehr schöne junge Frau im traditionellen Seidenkleid kam mit dem Rad aus einer Seitengasse geschossen und streifte ihn; auf dem Gepäckträger saß ein kleiner Junge in weißem Hemd und mit dem roten Halstuch der Pioniere. Sie lenkte ihr Gefährt geschickt über den Gehweg und wurde dann Teil des leisen Stroms der Radfahrer, wobei die Zipfel ihres Kleides im Wind flatterten – eine geflügelte Göttin, wie man sie auf einem Propagandaplakat hätte zeigen können. Ein betagter Vietnamese, der seine Wasserpfeife aus Bambus auf der Schwelle seines Hauses rauchte, hatte Juliens Blicke bemerkt und lächelte ihm zu.

Julien fühlte Verlegenheit in sich aufsteigen; er zeigte nicht gern, wie leicht entflammbar sein junges Herz war. Und doch lächelte er zurück.

Man musste kein Arzt sein, um zu erkennen, dass Schwester Marie-Angélique kurz davor zu sein schien, zu ihrem Schöpfer zurückzukehren.

Ihr kleiner, runder Kopf war ins Kissen eingesunken, graue Haare umgaben ihr Gesicht wie ein Glorienschein, und mit geschlossenen Augen sog sie mühsam den Sauerstoff ein, der ihr aus einer riesigen angerosteten Metallflasche mit kyrillischer Aufschrift in die Nasenlöcher strömte. Ein Schweißfilm glänzte auf ihrem Gesicht, sie schien zu schlafen; bei jedem Ausatmen hob sich ihre Oberlippe ein wenig und brachte einen leisen Pfeiflaut hervor, was die Patientin beinahe kindlich wirken ließ. Julien fragte sich, ob es nicht ihr letzter Schlaf war und ob hinter diesen schon so friedlichen Zügen noch ein Bewusstsein zuckte.

»Sie ist gestern Abend angekommen«, sagte Professor Ðặng in fast akzentfreiem Französisch.

Der Professor hatte seine Sprachkenntnisse vervollkommnet, als er ein junger Mann gewesen war und im Pariser Viertel Saint-Germain-des-Prés gelebt hatte. Seine Eltern, die aus begüterten französischsprachigen Familien stammten, waren nach der Niederlage der Franzosen und der Etablierung des kommunistischen Staates aus Hanoi geflüchtet und hatten sich in Saigon niedergelassen. Bald aber brodelte es zwischen dem von den Amerikanern unterstützten Regime in Saigon und dem vom Ostblock unterstützten Regime in Hanoi, und so hatten sie Ðặng zum Medizinstudium nach Paris geschickt, damit er dem drohenden Krieg entrinnen konnte. Verlorene Liebesmühe, denn kaum hatte der junge Ðặng seinen Doktor gemacht (es war die Zeit, als seine Kommilitonen im Quartier Latin Pflastersteine warfen), hatte er sich zum Entsetzen seiner Angehörigen der Partei von Onkel Ho und den Revolutionstruppen angeschlossen, den Erzfeinden seiner Eltern. Als Freiwilliger war er in den Dschungel gegangen, an den Ho-Chi-Minh-Pfad, und hatte dort im amerikanischen Bombenhagel Tag und Nacht verwundete Soldaten gepflegt, von denen die meisten am Ende aber trotzdem gestorben waren.

Ðặng wurde noch immer ganz wehmütig bei dem Gedanken an Frankreich, und vielleicht hatte er aus jenen Jahren auch die Gewohnheit beibehalten, seine inzwischen weißen Haare lang zu tragen, wodurch er eher einem Pariser Künstler ähnelte als einem Professor der Medizin.

»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind«, sagte er lächelnd zu Julien.

Trotz des Hierarchiegefälles, des großen Altersunterschieds und der politischen Differenzen, die sie hätten trennen können (immerhin war Professor Ðặng Chefarzt im größten Krankenhaus der Stadt und damit zwangsläufig auch hoher Parteifunktionär), machte es ihm stets Vergnügen, Julien zu sehen. Nach einem seiner Besuche hatte er ihn sogar in die Krankenhauskantine eingeladen – ein außerordentliches Ereignis, das alle Gespräche des Personals hatte verstummen lassen, als sie den Raum betreten hatten. Aber heute war Julien im Dienst; man hatte ihn in seiner Eigenschaft als Botschaftsarzt gerufen, und begleitet wurde er vom Gesundheitsattaché Brunet, der ebenfalls Arzt war und eine Laufbahn beim Militär hinter sich hatte. Brunet, ein kräftiger Kerl, wirkte noch benebelt von seiner üblichen nächtlichen Sauftour.

Schwester Marie-Angélique war Französin und in Vietnam nur zu Besuch. Julien studierte gerade auf der Tafel über dem Bett, welche Medikamente man ihr mit der Infusion verabreichte, als sich die Augen der Schwester plötzlich öffneten. Sie waren so blau wie der Himmel in der Normandie. Als sie Julien und Brunet sah, lächelte sie.

»Wie nett … von Ihnen«, flüsterte sie.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Schwester«, sagte Brunet mit fester Stimme und beugte sich zu ihr hinunter. »Wir werden uns um Sie kümmern!«

Brunets militärische Vergangenheit ließ sich durch seine Mischung aus Steifheit und Vertraulichkeit nicht verleugnen. Er war bekannt für sein Interesse am Nachtleben der Stadt, das allerdings nicht sehr abwechslungsreich war. Geschützt von seinem Diplomatenpass, stürzte er sich ins Abenteuer, und dem Botschafter wurde jedes Mal übel, wenn ihm zu Ohren kam, welche neuen Eskapaden sich sein Mitarbeiter in den finsteren Gassen geleistet hatte.

»Können wir bitte mal die Röntgenbilder sehen?«, fragte Julien.

»Selbstverständlich«, erwiderte Ðặng.

Und mit einer einzigen Geste setzte er die Wachschwester, die bisher reglos wie eine Statue dagestanden hatte, in Bewegung. Ihre Haare steckten unter einer altmodischen Schwesternhaube. Mit ihrer langen bleichen Hand zog sie die Röntgenaufnahmen aus der Krankenakte. Julien tat nun das, wovon man an allen medizinischen Fakultäten der Welt ausdrücklich abrät: Er hielt die Bilder vor das Fenster, um sie sich anzusehen. Durch die hellen Zonen, die von Schwester Marie-Angéliques dünnen Rippen und von ihren kindlichen Schulterblättern gebildet wurden, sah er das Blattwerk eines Frangipanibaumes und den grau gewordenen Himmel. Aber man brauchte kein gutes Licht, um festzustellen, wie schlimm es um sie stand: Die Lungen sahen wie mit Wolken verhangen aus, und stellenweise waren sie genauso weiß wie die Rippen. Die Schwester würde schon bald ein Beatmungsgerät brauchen, und hier hatte man nur die Wahl zwischen einer Maschine aus sowjetischen Zeiten und einer etwas neueren aus China. Es sei denn, sie hatten damals eine großzügige Spende aus der DDR bekommen, dem einstigen Bruderland, das in der Qualität seiner Fabrikate unübertroffen war.

»Wir lassen sie ausfliegen«, sagte Brunet. »Sie muss auf eine technisch besser ausgestattete Intensivstation.«

Julien und Ðặng blickten sich an; sie waren beide betroffen über Brunets undiplomatische Art. Julien wusste, dass Professor Ðặng sie nicht nur hatte kommen lassen, weil es der offizielle Weg war, sondern auch, weil er nicht wollte, dass eine französische Nonne in einem vietnamesischen Krankenhaus starb. Ihm war vollkommen klar, dass sie in ihrem Zustand rasch ein Beatmungsgerät brauchte und dass er weder über die besten Apparate verfügte noch über Reanimationsteams wie ein reiches Krankenhaus im Westen. Und anders als manche seiner Kollegen behauptete er auch nicht, dass nichts auf der Welt dem glorreichen vietnamesischen Gesundheitssystem gleichkomme. Gerade deshalb aber hätte der Professor ein wenig mehr Rücksichtnahme verdient gehabt und nicht die Grobheit eines Brunet, der Ðặngs Einschätzung der Lage oder die Qualität seiner Klinik öffentlich anzuzweifeln schien. Julien las die Wirkung der Worte Brunets auf den Gesichtern der Wachschwester und Doktor Minhs, des jungen bebrillten Arztes, der gerade mit hinzugekommen war.

Steif wie ein Soldat und in abgehacktem Englisch resümierte Doktor Minh die Ergebnisse der klinischen Untersuchung – Fieber, ratternde und röchelnde Töne bei der Auskultation – und die bisherige Behandlung. Man hatte vor allem Antibiotika und Kortikoide eingesetzt, die offenbar aber nicht angeschlagen hatten. Die bakteriologischen Untersuchungen hatten bislang nichts erbracht, und das Blutbild sprach für eine Virusinfektion. Die Schwester war aus einem kleinen Hotel in der Innenstadt hierhergebracht worden, aber sie hatte gerade eine Reise in den Norden hinter sich. Dort hatte sie ein Waisenhaus besucht, das von vietnamesischen Ordensgenossinnen geführt wurde, denn die Mitglieder ihrer Kongregation gab es auf der ganzen Welt.

»Sie hat halt eine schwere Grippe«, sagte Brunet.

Jedes Jahr starben auf der Welt tatsächlich Millionen Menschen an Grippe. Aber meistens erlagen sie nicht dem Virus selbst, sondern der zusätzlichen Infektion durch einen banalen Krankheitskeim, der ihrem geschwächten Organismus den Rest gab. Schwester Marie-Angéliques Lunge sah allerdings nicht so aus, als habe sie ein banaler Keim befallen.

Plötzlich durchfuhr Julien eine beunruhigende Idee.

»Falls dies keine bakterielle Sekundärinfektion ist …«, sagte er.

Er fing Ðặngs Blick auf und spürte, dass der Professor im selben Moment dasselbe gedacht hatte.

»… sondern die Auswirkungen des Virus selbst sind, sollten wir die Patientin vielleicht isolieren?«

»Isolieren?«, fragte Brunet, dessen breite Hand noch immer auf der zerbrechlichen Schulter der Schwester ruhte.

Sie ausfliegen?«, fragte der Botschafter. »Aber wohin?«

»Nach Bangkok«, meinte Brunet. »Dort gibt es Topkrankenhäuser.«

Julien spürte die leichte Gereiztheit des Botschafters angesichts des Ausdrucks »Topkrankenhäuser«. Die Sprache der Diplomatie hatte bei ihm die Alltagssprache und wahrscheinlich sein ganzes Wesen überwuchert. Aber der Mann hatte auch seine Vorzüge: ein wahres Verständnis für seinen Auftrag, Verantwortungsbewusstsein gegenüber seinen Untergebenen, eine gewisse strategische Sicht … Für die ganz große Karriere fehlte es ihm, wie Julien vermutete, vor allem an Härte. Madame, die aus den gleichen Kreisen der Provinzaristokratie stammte wie der Botschafter, war dafür bekannt, dass sie sich gemeinsam mit den Frauen der anderen Auslandsfranzosen in wohltätigen Werken verausgabte – man sammelte Geld, um armen Familien im Delta einen Büffel kaufen zu können, oder richtete Kochkurse für Straßenkinder aus. Außerdem lehrte sie die jüngsten Schüler den Katechismus.

Um den großen Tisch des Sitzungsraumes saßen der Attaché für soziale Fragen – ein hochgewachsener junger Mann, der sich um heimgekehrte Frankovietnamesen kümmerte, die nicht an ihre französischen Renten herankamen, gelegentlich auch um einen Touristen, der in der Patsche steckte und keine Versicherung hatte –, der Erste Botschaftsrat – eine jüngere Ausgabe des Botschafters und sicher bald selbst Botschafter –, der Zweite Botschaftssekretär, der Robert hieß – ein Typ in den Dreißigern, der ganz aus Muskeln und energischem Kinn bestand und jeden Morgen fünf Kilometer um den See rannte. Er kam aus dem Verteidigungsministerium, und allen war klar, dass er eigentlich für den Geheimdienst arbeitete. Robert ergriff jetzt das Wort: »Aber diese Nonne ist doch ansteckend! Müssen wir sie wirklich verlegen?«

»Wenn sie bleibt, wo sie ist, wird sie dran glauben müssen«, meinte Brunet.

»Kann sein, aber jedenfalls verringert es die Gefahr einer Epidemie.«

»Aber sie ist Französin und eine Nonne, verdammt noch mal!«

»Sie ist schließlich freiwillig nach Vietnam gekommen«, sagte Robert auf eine Weise, die verriet, dass er das Problem als erledigt betrachtete.

Julien sah, wie der Botschafter sich erneut verkrampfte. Der Tonfall, den die Diskussion zwischen Brunet und Robert angenommen hatte, missfiel diesem Mann, der so auf Harmonie bedacht war. Er wandte sich Julien zu.

»Was denken Sie denn, mein lieber Julien?«

Es war Julien schon immer schwergefallen, in einer Sitzung das Wort zu ergreifen – nicht so sehr aus Schüchternheit, weil er der Jüngste war, sondern eher, weil Sitzungen auf ihn eine betäubende Wirkung hatten, die ihn an die Schläfrigkeit erinnerte, welche ihn als Kind im Klassenzimmer regelmäßig übermannt hatte.

»Vielleicht ist es ja ein ganz banales Virus«, sagte er. »Die Schwester hat womöglich einen Immundefekt; wir werden das untersuchen. Aber falls sie ansteckend sein sollte, ist eine Verlegung wahrscheinlich schwer zu organisieren. Man kann sie ja schlecht zusammen mit Touristen in ein ganz normales Linienflugzeug stecken.«

Er wandte sich Brunet zu, denn er hatte das Gefühl, sich gerade in dessen Aufgabenbereich eingemischt zu haben.

»Eine Militärmaschine!«, sagte Brunet und wandte sich seinerseits Robert zu.

»Das ist nicht meine Sache«, meinte dieser, obwohl er doch aus der Armee kam.

»Wir werden mit dem Militärattaché darüber reden, wenn er wieder zurück ist«, sagte der Botschafter.

Der Militärattaché war auf Dienstreise in Haiphong, um eine französische Fregatte zu begrüßen, die dort gerade zu einem Zwischenstopp festgemacht hatte. Er hoffte, bei dieser Gelegenheit einen Rüstungsvertrag mit vietnamesischen Funktionären zu unterzeichnen, die man an Bord eingeladen hatte. Die stets wieder enttäuschte Hoffnung auf diese Unterschrift hatte bereits seinen Vorgänger zermürbt.

»Ich werde versuchen, ihn sofort zu erreichen!«, sagte Brunet.

»Viel Glück«, meinte der Botschafter.

Mit dem Telefonieren klappte es nur schlecht, und die Investitionen ins Mobilfunknetz lagen auf Eis, weil sich auch diese Verhandlungen mit der Regierung und der Armee endlos hinzogen.

»Aber gibt es nicht auch in Hanoi ein besseres Krankenhaus?«, fragte der Sozialattaché.

»Noch nicht«, erwiderte Brunet. »Es gibt Australier, die hier eine Klinik aufmachen wollen, auch Leute aus Singapur, aber die Behördenwege sind kompliziert. Ðặngs Station ist schon die beste.«

Der Botschafter quittierte dies mit einem einsichtigen Nicken.

»Und diese Schwester, hat sie hier irgendwelche Bekannten?«

»Ja, sie bekommt jeden Tag Besuch von vietnamesischen Nonnen aus Hanoi. Sie haben sogar vorgeschlagen, sie in ihrem Kloster aufzunehmen, sobald es ihr besser geht.«

»Mein Gott«, sagte der Botschafter, »da könnte sie ja alle übrigen anstecken.«

»Die glauben doch sowieso ans ewige Leben …«, meinte Brunet und lachte.

Die Züge des Botschafters verhärteten sich.

»Hat sie in Frankreich Angehörige?«, fragte er den Sozialattaché.

»Ja, wir haben schon Kontakt zu ihnen aufgenommen. Eine Nichte schien besonders besorgt zu sein. Aber bis jetzt hat noch niemand angeboten, nach Hanoi zu kommen. Außerdem wissen sie ja auch, dass die Nonne hier nicht allein ist und ihre Schwesternschaft sich um sie kümmert … Es ist übrigens ihr zweiter Aufenthalt in Vietnam. Auch beim ersten Besuch war sie in diesem Waisenhaus.«

»Und gibt es dort im Norden schon weitere Erkrankungen?«, erkundigte sich Robert. »So würde man wenigstens gleich wissen, ob es eine Epidemie ist.«

»Professor Ðặng hat die Behörden unterrichtet, und jetzt werden Untersuchungen angestellt.«

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Allen war klar, dass man nur schwer an die Ergebnisse dieser Untersuchungen herankommen würde.

»Also gut«, fuhr der Botschafter fort, »Brunet – Sie informieren sich, ob man die Kranke mit einer Militärmaschine ausfliegen kann. In der Zwischenzeit können wir nur hoffen, dass unsere vietnamesischen Freunde alles in ihrer Macht Stehende tun werden, damit sich unsere unglückliche Landsmännin wieder erholt. Unsere ganze Anteilnahme richtet sich …« Er hielt inne. Julien war sich sicher, dass die Botschafterin, sobald sie von der Sache erfuhr, Gebete für Schwester Marie-Angélique organisieren würde. Der Blick des Botschafters heftete sich auf ihn.

»Julien, es wäre gut, wenn Sie ihr jeden Tag einen Besuch abstatten könnten. Ist das möglich?«

»Selbstverständlich.«

»Aber bringen Sie uns nicht ihre Mikroben mit«, meinte Robert ohne ein Lächeln.

»Sie liegt auf der Isolierstation, und wer sie sehen will, muss Schutzkleidung anlegen.«

»Sehr gut«, sagte der Botschafter mit der Befriedigung eines Menschen, der ein Problem als gelöst betrachtet.

Juliens Blick traf sich mit dem von Brunet. Sie wussten beide, dass er die Schwester an der Schulter berührt hatte, auch wenn er danach in den Behandlungsraum geeilt war, um sich die Hände zu desinfizieren.

Bevor sie fortgegangen waren, hatte Ðặng eine Liste aller Personen erstellt, die seit der Ankunft der Nonne engeren Kontakt zu ihr gehabt hatten. Brunets Namen hatte er nicht hinzugefügt, obwohl er an ihn gedacht haben musste. Aber Brunet hätte sich ohnehin geweigert, auf die Isolierstation eines vietnamesischen Krankenhauses zu kommen. Man hätte ihn höchstens bitten können, nicht mehr in die Botschaft zurückzukehren, aber Julien hatte nicht die Kraft gehabt, das zur Sprache zu bringen. Hatte er es aus Feigheit unterlassen? Oder vielleicht aus Freundschaft? Aber Brunet war ja nicht sein Freund. Oder konnte er einfach noch nicht glauben, dass es sich hier um eine Epidemie handelte? Immerhin konnte die betagte und zerbrechliche Nonne auch einfach nur an einer schweren Grippe erkrankt sein.

Man hatte Blutproben an das Saigoner Institut für Hygiene und Epidemiologie geschickt, wie das einstige Institut Pasteur inzwischen hieß. Nun wartete man auf die Untersuchungsergebnisse.

Nach seiner Sprechstunde – an diesem Tag war es eine endlose Reihe ängstlicher Mütter gewesen, die das leichteste Fieber oder der kleinste Durchfall ihrer Kinder doppelt so sehr beunruhigte wie im gewohnten Klima ihrer französischen Heimat – ging er wieder nach Hause.

In der Sonne war es noch heiß, und er überlegte, ob er am Seeufer verweilen sollte oder lieber schnurstracks in sein Zimmer in der zweiten Etage zurückkehrte, wo es den einzigen Ventilator im Haus gab.

Aber wie so oft war er wie getrieben, unzufrieden mit sich selbst; er musste jetzt einfach eine Weile laufen. An der Seeuferpromenade angelangt, blieb er im Schatten der Bäume. Dort schweiften bereits einige Touristenpaare aus dem Westen umher, ein bisschen niedergedrückt von der Hitze und der Zeitverschiebung, und stellten ihre überernährten Körper in der Kleidung von Jugendlichen zur Schau. Auf den Bänken setzten vietnamesische Großväter mit Baskenmützen ihre gemurmelte Konversation fort und achteten nicht weiter auf die Ausländer. Manchmal gesellten sich alte Damen in Seidenhosen zu ihnen, Frauen mit so unbewegten Mienen, dass sie schon wie mumifiziert wirkten. Direkt am Rand des grünen Wassers hockten ein paar Angler in Unterhemd und Anzughose – Jeans hatten in Vietnam noch keinen Einzug gehalten – und warteten wie offenbar immer vergeblich darauf, dass sich die Wasseroberfläche kräuselte. Später, wenn der Abend anbrach, würden sich hier Großmütter und Kinder in geblümten Pyjamas einstellen und junge Liebespaare. Aber jetzt war die Stunde der Händler und Souvenirverkäuferinnen; viele von ihnen waren kaum dem Teenageralter entwachsen; sie begannen ihre Kreise um die Touristen zu ziehen wie Pferdebremsen, die über das wehrlose Vieh herfallen; sie bedrängten sie mit ihrem Lächeln und ihrem Buy for me, Sir!, wobei sie ihren Ramsch herzeigten und betonten, sie brauchten das Geld, um zur Schule gehen zu können. Die Weißen mussten sich der Übermacht geschlagen geben und blieben schließlich stehen; sie glaubten, sich aus der Affäre ziehen zu können, indem sie ein T-Shirt kauften oder eine Serie von Postkarten, und zwar für einen Preis, der für ihren Geldbeutel verschmerzbar, für hiesige Verhältnisse jedoch extravagant hoch war. Ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht: Sobald sie irgendwo etwas erstanden hatten, stürzte man sich nur noch heftiger auf sie. Man hatte ihre Gutherzigkeit gewittert und appellierte jetzt an ihren Gerechtigkeitssinn. Buy for me, buy for me, too … Kaufen Sie etwas um meinetwillen, damit ich da rauskomme, damit ich wenigstens für einen Tag der Armut entfliehe, damit ich meine Familie ernähren kann … All dies steckte in diesem Buy for me, und es stand von vornherein fest, dass die Frage nach dem Preis der Ware zweitrangig war. Nach seiner Ankunft hatte sich Julien einige Tage lang diesem Ritual gebeugt, dann hatte er den unangenehmen Eindruck gewonnen, jedes Mal eine Art Steuer zahlen zu müssen, sobald er sich an den See begab. Und so hatte er sich künftig standhaft geweigert, ihnen noch etwas abzukaufen. Schließlich war er ja kein Tourist! Die kleine Gemeinschaft hatte ihn verstanden, sie wussten ja, dass er nicht in den Ferien hier war. Schon seine Kleidung verriet es jedem – stets langärmelige Hemden, lange Hosen und staubige Mokassins. Nur die Anfänger unter den Souvenirhändlern näherten sich ihm manchmal noch.

An diesem Tag jedoch hatte ein Reisebus gerade eine Gruppe französischer Rentner abgesetzt, und die Jagd auf sie schien die Verkäufer kopflos gemacht zu haben, sodass sie sich auf Julien stürzten: »Buy for me, Sir!«

»I live here«, entgegnete er, »I have it already.«

»I know, but buy for me!«, ließen sie nicht locker. Jedes Mal musste er ablehnen, ohne dass ihre Beharrlichkeit nachließ, ihr Lächeln wurde immer gekünstelter, seine Weigerung immer schroffer, und es war wie ein entnervendes Hindernisrennen, bis er schließlich seinen Lieblingsplatz nahe am Wasser erreichte, einen kleinen Art-déco-Pavillon, wo sich einst schon die Kolonialherren im Schatten der Bäume erfrischt haben mussten. Hier gab es Gartentische aus rostigem Metall und eine wenig abwechslungsreiche Speisekarte, die Julien aber genügte.

Er verscheuchte einen letzten Händler; erschöpft und wütend gelangte er endlich zu einem Stuhl im Schatten. Die Bestellung gab er bei einem mürrischen jungen Kellner auf, dann wartete er und versuchte, sich wieder zu beruhigen, seinen Groll auf sich selbst, auf die Vietnamesen, auf Brunet, auf die ungewöhnliche Hitze dieses Tages.

Auf der Uferpromenade kam ihm eine kleine Verkäuferin mit Kegelhut entgegen. Anders als die übrigen Händler, die bereits mit Poloshirts oder Schirmmützen herumliefen, trug sie noch die althergebrachte Kleidung vom Lande: ein weites Hemd aus ockerfarbenem Leinen, eine leicht ausgestellte schwarze Hose und Sandalen, durch die man ihre nackten Füße sah. Als sie nur noch wenige Meter von Julien entfernt war, setzte sie mit einem schüchternen Lächeln dazu an, ihre Tasche zu öffnen. Mit verkniffener Miene und einer ablehnenden Geste, in der seine ganze Verärgerung enthalten war, gebot er ihr Einhalt. Er konnte gerade noch sehen, wie ihr Lächeln erlosch, und schon hatte sie ihm den Rücken zugewandt.

Man brachte ihm den Mangosaft in einem kältebeschlagenen Glas. Ohne davon zu trinken, blickte er der kleinen Gestalt hinterher, die sich mit der viel zu schweren Tasche unter der unbarmherzigen Sonne entfernte, und das Herz zog sich ihm zusammen.

Sie war die Einzige, die nicht insistiert hatte.

Als es Abend geworden war, stattete er Schwester Marie-Angélique noch einen Besuch ab. Auf den dunklen Fluren des Krankenhauses brannte nur hier und da ein Nachtlicht. Der Schein erinnerte an eine Kerze, und als plötzlich eine Gruppe vietnamesischer Krankenschwestern auftauchte, wirkten ihre glatten Gesichter, um die der sanfte Lichtschein spielte, wie ein Gemälde, als hätte ein gewisser Georges de La Tour einen Abstecher nach Tonkin gemacht.

Die Nonne schlummerte unter ihrem transparenten Kunststoffzelt; sie sah aus wie eine Heilige, die schon in ihrem Schrein ruhte, aber sie atmete noch und träumte vielleicht sogar, denn ein schwaches Lächeln belebte ihr kleines faltiges Gesicht.

Später war er mit Brunet in der Bar des Hotels Métropole verabredet. Schon in der majestätischen Empfangshalle mit ihrem Marmorfußboden, den dunklen Edelhölzern und den Porzellanleuchten machte es ihm wieder Freude, in diesem Luxushotel im alten Stil zu sein. Es war wiederbelebt worden, um hohe ausländische Delegationen würdig empfangen zu können und die wenigen Touristen, denen der Sinn danach stand, eines der letzten verbliebenen Länder des Ostblocks kennenzulernen. Er erwiderte den Gruß der jungen Frauen an der Rezeption, die das traditionelle Kleid trugen, das áo dài, wie er von Mademoiselle Fleur gelernt hatte, wobei auch dies wieder nicht so einfach war, denn das »d« wurde wie ein stimmhaftes »s« gesprochen. Das geschlitzte Seidenkleid schien auf den ersten Blick dezent mit seinen langen Ärmeln und seinem hohen Kragen, aber es war sehr körperbetont geschnitten und verriet deshalb viel über seine Trägerin, und in den ersten Jahren des neuen Regimes, das sich am Vorbild des prüden China Maos orientierte, war es verboten gewesen. Die Frauen lächelten bei Juliens Ankunft, sie kannten ihn schon – einen liebenswerten und zurückhaltenden Gast, der zu alledem noch ein gut aussehender junger Mann war.

Plötzlich aber hatte er so etwas wie eine unheilvolle Vision: Er sah die Rezeption verwaist daliegen, das Hotel war zu einem in der Nacht funkelnden Mausoleum geworden, während sich die Stadt ringsum durch die Epidemie geleert hatte.

Er verscheuchte das düstere Bild und erwiderte das Lächeln von Miss Thuyết (was »Fräulein Schnee« bedeutete), die hinter dem langen Empfangstisch aus Rosenholz stand. Aus ihren nur leicht geschlitzten Augen strahlte ein intensiver Blick; ihre Stirn wölbte sich wie von geheimen Gedanken, und die Lippen waren ein wenig zu voll, als würden sie unfreiwillig von ihrer Sinnlichkeit künden. Fräulein Schnee war die einzige Empfangsdame, bei der Julien ein gewisses Interesse an seiner Person vermutete. Aber die Dienstvorschriften und das unvermeidliche Gerede bauten unüberwindliche Hindernisse zwischen ihnen auf – wenn Julien sie denn überhaupt hätte überwinden wollen. Er hütete sich sogar davor, nähere Bekanntschaft mit Fräulein Schnee zu schließen, spürte er doch, dass sie beide etwas gemeinsam hatten: einen Hang, die Liebe tragisch zu nehmen. Und so ging er rasch an der Frau vorüber, die er insgeheim die Emma Bovary von Tonkin nannte.

Brunet saß mit aufgestützten Ellenbogen an der Theke, die das auf einen tropischen Garten hinausgehende Restaurant säumte. Er war allein und hatte sein Bier schon fast ausgetrunken. Die Theke war so schwarz und glatt wie die Oberfläche eines Konzertflügels und bestand aus zwei Bögen, in deren Zentrum Nung seines Amtes waltete, einer der Barmänner, die Julien kannte. Nung war jenseits der vierzig und sprach Französisch; als er ein Kind gewesen war, hatte man diese Sprache in Hanoi noch gesprochen, und das Russische war noch nicht zur Zweitsprache der Eliten geworden. Bei aller Zurückhaltung hatte er einen Sinn für Humor, und Julien konnte ihn gut leiden. Natürlich musste er auf diesem Posten auch die Behörden auf dem Laufenden darüber halten, was ihm von den Gesprächen seiner ausschließlich ausländischen Kunden, vorwiegend Geschäftsleuten, zufällig zu Ohren kam.

»Guten Abend, Nung.«

»Guten Abend, Doktor. Hatten Sie einen guten Tag?«

»Einen hervorragenden.«

Nung lächelte, als freute er sich über diese gute Nachricht, aber vielleicht wollte er auch durchblicken lassen, dass ihm schwante, der Tag sei gar nicht so hervorragend gewesen. Er akzeptierte jedoch, dass Julien in seiner Rolle als Angehöriger der Botschaft blieb und ihm nichts enthüllte.

Brunet war anscheinend schon nicht mehr beim ersten Bier, und obwohl der alte Ventilator die Luft über ihren Köpfen durchrührte, war ihm der Schweiß auf die breite Stirn getreten. Er hatte das Sakko ausgezogen, aber die Krawatte umbehalten – ein letztes Relikt von guten Manieren, das er im weiteren Verlauf des Abends auch noch ablegen würde. Seine Miene war finster, vielleicht wegen schlechter Nachrichten aus Saigon.

»Gibt es Neuigkeiten in Sachen … Proben?«

Auch wenn Nung nicht in der Nähe stand, wollte Julien das Wort »Virus« vermeiden.

»Bis jetzt haben sie nichts gefunden …«

Eine Blutprobe von Schwester Marie-Angélique war mit einer Militärmaschine ans ehemalige Institut Pasteur nach Saigon geschickt worden.

»Die Sache macht mir Sorgen«, meinte Brunet. »Vielleicht ist es doch was Schlimmeres als Grippe?«

»Auf jeden Fall ist es ein Atemwegsvirus, also weniger schlimm als die Viren, die Enzephalitis hervorrufen. Die Schwester hat noch immer ein funktionstüchtiges Gehirn …«

Brunet zuckte mit den Achseln, und Julien hörte, wie er »Ebola« murmelte. Er setzte zu der Erklärung an, dass das Ebola-Virus die Menschen auf ganz andere Weise umbrachte, indem es nämlich alle Organe gleichzeitig angriff, und dass dieses berühmte Virus nicht hier auftrat, sondern in Afrika … Aber dann hielt er inne: Brunet war schließlich selbst Arzt, er wusste das alles selbst. Was ihn quälte, war wohl eher der Gedanke an ein neuartiges und ebenso gefährliches Virus, mit dem er sich vielleicht bereits angesteckt hatte.

Brunet schaute auf den Tomatensaft, den Nung gerade zusammen mit einem Gewürzset vor Julien hingestellt hatte.

»Na so was, Sie sind ja nicht gerade ein fröhlicher Zecher! Auch Sie sollten sich mal ein wenig entspannen!«

»Ich brauche das nicht.«

Und doch fühlte er sich unwohl. Mit dem Scharfblick des Trinkers hatte Brunet ihn durchschaut: Er war niemals ganz entspannt, und Alkohol änderte daran übrigens gar nichts.

»Vielleicht killt es zumindest das Virus«, sagte Brunet.

Er versuchte zu scherzen, aber man sah ihm seine Angst an.

»Mein lieber junger Fachkollege, helfen Sie mir mal auf die Sprünge: Wo liegt die Inkubationszeit bei Viren?«

»Kommt drauf an. Bei den meisten Viren, die den Verdauungstrakt oder die Atemwege befallen, sind es zwischen drei Tagen und einer Woche. Bei Ebola können es bis zu drei Wochen sein.«

»Verdammt!« Und dann sagte Brunet gar nichts mehr.

»Aber Sie haben sich doch die Hände desinfiziert, nachdem Sie die Schwester berührt haben. Machen Sie sich keine zu großen Sorgen. Außerdem hat es im Krankenhaus keinen einzigen neuen Fall gegeben. Vielleicht ist es gar keine Epidemie!«

»Ja, aber was ist mit den anderen Ordensschwestern dort oben im Norden?«

»Ðặng hat uns doch gesagt, dass die Behörden der Sache nachgehen.«

»Sicher, aber werden sie uns die Wahrheit sagen?«

»Warum sollten sie nicht?«

Brunet schaute ihn verwundert an, als hätte er eben erst begriffen, dass sein Gegenüber geistig leicht zurückgeblieben war.

Ende der Leseprobe