Hector und die Geheimnisse der Liebe - François Lelord - E-Book
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Hector und die Geheimnisse der Liebe E-Book

François Lelord

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Beschreibung

Auf seiner Reise wird der junge Psychiater Hector zum Abenteurer des Herzens. Er spürt einem Professor nach, der das Geheimnis der Liebe entschlüsselt haben will. Dabei entdeckt er, wie kompliziert die Liebe ist: Kann man nicht für immer verliebt bleiben? Warum liebt manchmal der eine mehr als der andere? Und Hector entdeckt, dass allein die Liebe – für alle Zeit und wo immer wir leben – die Macht haben wird, unsere tiefsten Sehnsüchte zu stillen.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.deGewidmet all jenen, die Hector inspiriert haben

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

8. Auflage 2010

ISBN 978-3-492-95333-7

© 2005 Éditions Odile Jacob, Paris

Titel der französischen Originalausgabe:

»Hector et les secrets de l'amour«

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2005

Umschlag: semper smile, München

Umschlagabbildung: Simone Petrauskaite

        »Man braucht ihm doch nur zu sagen: ›Lieber Doktor, Sie werden uns helfen, das Geheimnis der Liebe wiederzufinden.‹ Dann denkt er ganz bestimmt, es handle sich um eine richtig noble Mission.«

»Glauben Sie, er ist der richtige Mann dafür?«

»Ich denke schon.«

»Man wird ihn überzeugen müssen. Sie haben eine ordentliche Summe zur Verfügung.«

»Ich glaube, vor allem muß man ihm den Eindruck vermitteln, daß er etwas Nützliches tut.«

»Also sollten wir ihm alles sagen?«

»Ja. Das heißt, nicht wirklich alles, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Natürlich.«

Zwei Männer in grauen Anzügen diskutierten spät am Abend in einem großen Büro an der Spitze eines Hochhausturms. Durch die gläserne Außenwand erblickte man die Stadt, die bis an den Horizont mit all ihren Lichtern funkelte, doch die beiden Männer würdigten das Panorama keines Blickes.

Sie schauten sich ein paar Fotografien an, die sie aus einem Aktenordner gezogen hatten. Auf dem Glanzpapier erkannte man einen eher jungen Mann mit träumerischem Blick.

»Psychiater, was für ein seltsamer Beruf«, sagte der ältere. »Ich frage mich, wie sie das durchhalten.«

»Das möchte ich auch wissen.«

Hector und das chinesische Wandbild

Es war einmal ein junger Psychiater, der Hector hieß. Psychiater ist ein interessanter Beruf, aber manchmal auch ein ziemlich schwieriger und sogar ermüdender. Um ihn weniger beschwerlich zu machen, hatte sich Hector ein hübsches Büro eingerichtet und dort Bilder aufgehängt, die er sehr mochte – vor allem eines, das er aus China mitgebracht hatte. Es war eine große Tafel aus rotem Holz, die von sehr schönen chinesischen Schriftzeichen geziert wurde (von Ideogrammen, falls Sie zu denen gehören, die immer das ganz präzise Wort wissen möchten). Fühlte sich Hector erschöpft wegen all des Unglücks, von dem ihm die Leute berichteten, schaute er auf jene goldenen, ins Holz eingeschnittenen chinesischen Buchstaben, und hinterher ging es ihm besser. Auch diejenigen Personen, die ihm im Sessel gegenübersaßen, um von ihrem Unglück zu erzählen, warfen manchmal einen Blick auf die chinesische Holztafel. Und manchmal schien es Hector, als würde ihnen das guttun, sie wirkten dann viel besänftigter. Einige aber fragten Hector, was jener chinesische Satz bedeuten sollte. Dann saß er ganz schön in der Tinte, denn er wußte es nicht. Er konnte das Chinesische nicht entziffern und erst recht nicht sprechen – und das, wo er doch im Fernen Osten eines Tages eine sehr nette Chinesin kennengelernt hatte. Wenn Sie Doktor sind, ist es ärgerlich, den Patienten zeigen zu müssen, daß Sie etwas nicht wissen. Die Patienten glauben nämlich gern, ihr Arzt wisse einfach alles; das beruhigt sie. Also dachte sich Hector schnell einen Satz aus, jedesmal einen anderen, und versuchte genau den zu finden, der dem Fragenden am besten helfen konnte.

Im Gespräch mit Sophie, einer Dame, die sich im Vorjahr hatte scheiden lassen und die auf den Vater ihrer Kinder noch immer sehr zornig war, verkündete Hector, der chinesische Satz besage folgendes:

»Wer der verlorenen Ernte zu lange nachtrauert, verpaßt die kommende Aussaat.«

Sophie hatte große Augen gemacht, und hinterher sprach sie mit Hector seltener über jenes abscheuliche Ungeheuer, ihren Exmann.

Und zu Roger, einem Herrn, der dazu neigte, beim Spazierengehen in den Straßen ganz laut mit Gott zu reden (Roger glaubte, auch Gott würde zu ihm sprechen, er hörte dessen Antworten sogar im Kopf widerhallen), zu Roger also sagte Hector, jener Satz bedeute:

»Der Weise wahrt Schweigen, wenn er mit Gott spricht.«

Roger entgegnete, diese Feststellung möge für den Gott der Chinesen gültig sein, aber er, Roger, spreche schließlich zu Gott Dem Herrn, zum einzig wahren Gott, und da sei es normal, wenn er sich laut und klar ausdrücke. Hector stimmte zu, aber weil Gott ohnehin alles hörte und verstand, brauchte Roger eigentlich nicht so laut zu sprechen; im Grunde genügte es, wenn er an ihn dachte. Das würde ihm auf der Straße Unannehmlichkeiten ersparen und ihn künftig davor bewahren, für lange Zeit ins Krankenhaus zu müssen. Doch Roger meinte, Gottes Wille liege eben darin, daß er im Krankenhaus landen solle, denn den wahren Glauben erkenne man in den Prüfungen des Schicksals.

Hector fand, daß die neue Therapie, welche er Roger verordnet hatte, seinem Patienten half, viel besser und viel mehr zu reden, aber andererseits machte es seine Arbeit nicht gerade weniger anstrengend.

Am alleranstrengendsten war für Hector jedoch die Liebe. Nein, nicht die in seinem eigenen Leben, sondern im Leben all jener Menschen, die in seine Sprechstunde kamen. Die Liebe schien eine unerschöpfliche Quelle des Leidens zu sein.

Manche beklagten sich, überhaupt nichts von ihr abbekommen zu haben.

»Herr Doktor, ich langweile mich im Leben und fühle mich so traurig. Wie gern wäre ich verliebt und wüßte, daß mich jemand liebt! Ich habe den Eindruck, Liebe gibt es nur für die anderen, aber für mich nicht.«

Solche Reden führte beispielsweise Anne-Marie. Als sie gefragt hatte, was der chinesische Satz bedeute, hatte Hector sie aufmerksam betrachtet.

Anne-Marie hätte ganz reizend sein können, aber sie zog sich an wie ihre Großmutter und verwendete all ihre Energie auf den Beruf. Hector antwortete: »Wer fischen möchte, muß an den Fluß gehen.« Einige Zeit darauf wurde Anne-Marie Mitglied in einem Chor. Sie hatte auch begonnen, sich zu schminken, und zog sich ein klein wenig modischer an.

Andere beklagten sich über zuviel Liebe. So wie es Leute gibt, die zuviel Cholesterin im Blut haben, war es bei ihnen der Überschuß an Liebe, der ihre Gesundheit gefährdete.

»Es ist schrecklich, ich sollte einen Schlußstrich ziehen, ich weiß ja, daß unsere Geschichte vorbei ist, aber ich kann einfach nicht aufhören, daran zu denken. Pausenlos. Glauben Sie, daß ich ihm schreiben sollte oder rufe ich ihn lieber an? Oder soll ich unten vor seinem Büro warten und versuchen, ihn abzupassen?«

Solche Fragen stellte Claire. Sie hatte, was gar nicht selten vorkommt, eine Affäre mit einem Mann, der nicht mehr frei war, und zu Beginn fand sie es amüsant, denn sie sagte zu Hector, daß sie gar nicht verliebt sei. Schließlich hatte sie sich aber doch richtig verliebt und der Herr übrigens auch. Dennoch hatten sie beschlossen, sich nicht mehr zu sehen, weil die Ehefrau dieses Herrn begonnen hatte, den Braten zu riechen, und weil er sie nicht verlassen wollte. Und da begann Claire wirklich zu leiden, und als sie Hector fragte, was das chinesische Bild sagen wollte, mußte er erst einmal ein bißchen überlegen. »Errichte dein Haus nur auf deinem eigenen Acker.« Claire brach in laute Schluchzer aus, und Hector war nicht besonders zufrieden mit sich.

Er begegnete auch Männern, die an der Liebe litten, und diese Fälle waren noch viel schlimmer: Männer trauen sich erst, zu einem Psychiater zu gehen, wenn es ihnen sehr, sehr schlecht geht oder wenn sie schon alle ihre Freunde mit ihrer Geschichte vergrault haben und anfangen, zu oft zur Flasche zu greifen.

Wie Luc, ein etwas zu netter Bursche, der sehr litt, wenn ihn die Frauen verließen – vor allem, weil er sich meistens die weniger freundlichen aussuchte. Wahrscheinlich kam das daher, daß auch seine Mutter einst nicht besonders freundlich zu ihm gewesen war. Hector sagte ihm, das chinesische Bild bedeute »Wenn dir der Panther angst macht, jage die Antilope«, aber er hatte den Satz noch nicht beendet, da fragte er sich, ob es in China überhaupt Antilopen gab. Luc erwiderte: »Das ist ein ziemlich hartes Sprichwort. Die Chinesen sind grausam, nicht wahr?« Da wußte Hector, daß die Sache noch nicht gewonnen war.

Manche, eigentlich sogar recht viele, und zwar Männer wie Frauen, beklagten sich darüber, eine bestimmte Person früher sehr geliebt zu haben, heute aber nicht mehr. Allerdings verspürten sie für jene Person, mit der sie meist zusammenlebten, immer noch Zuneigung.

»Ich sage mir ja auch, daß es nach so vielen Jahren vielleicht ganz normal ist, und im großen und ganzen verstehen wir uns doch gut. Aber es ist schon Monate her, daß wir das letzte Mal Sex hatten … Ich meine, miteinander …« Da geriet Hector ein bißchen ins Stottern, wenn er der chinesischen Bildtafel einen nützlichen Sinn abgewinnen wollte, oder es fielen ihm solche Banalitäten ein wie »Der Weise erkennt das Schöne an allen Jahreszeiten«, aber daran glaubte er ja selber nicht.

Manche klagten, sie würden zwar Liebe verspüren, aber nicht für die richtige Person.

»Oje, oje, ich weiß genau, daß es mit ihm eine Katastrophe wird – wie üblich … Aber ich kann einfach nicht anders!«

Genauso sagte es Virginie, die von einem leidenschaftlichen Abenteuer ins nächste schlitterte, und zwar mit Männern, die Frauen sehr gefielen, was zu Beginn richtig aufregend war und später ziemlich schmerzlich. Für sie fand Hector den Satz: »Wer auf die Jagd geht, muß jeden Tag neu ausziehen, aber wer das Feld bestellt, kann dem Reis beim Wachsen zuschauen.«

Virginie fand es erstaunlich, was die Chinesen mit gerade mal vier Schriftzeichen alles ausdrücken konnten, und Hector spürte, daß sie ein bißchen pfiffiger war als er.

Andere hatten genug Liebe, schafften es aber dennoch, sich Sorgen zu machen: »Es stimmt schon, wir lieben uns. Aber ist sie die Richtige für mich? So eine Hochzeit ist ja nicht irgendwas. Wenn man mit jemandem verheiratet ist, dann ist das fürs ganze Leben. Und eigentlich möchte ich noch meine Freiheit auskosten …« Diese Menschen bat Hector im allgemeinen, von ihrem Vater und ihrer Mutter zu erzählen und davon, wie die beiden miteinander zurechtkamen.

Andere wieder fragten sich, ob sie noch auf die große Liebe hoffen durften, ob sie überhaupt gut genug waren für dieses Gefühl.

»Also, ich weiß wirklich nicht, wer mich attraktiv finden sollte. Ich glaube, im Grunde bin ich keine besonders interessante Person. Und sogar Sie, Herr Doktor, sehen aus, als würden Sie sich mit mir langweilen.« In solchen Momenten wurde Hector hellwach und widersprach heftig. Hinterher ärgerte er sich über sich selbst, denn die richtige Erwiderung wäre gewesen: »Was bringt Sie auf diesen Gedanken?«

Und so bekam Hector von vielen Leuten zu hören, die Liebe oder der Mangel an Liebe hindere sie am Schlafen, am Denken, am Lachen und manchmal sogar am Leben. Bei solchen Patienten mußte Hector wirklich aufpassen, denn er wußte, daß man sich wegen der Liebe umbringen konnte. Eine große Dummheit! Machen Sie das bloß nicht, und wenn Sie mit dem Gedanken spielen, konsultieren Sie schnell jemanden wie Hector, oder rufen Sie einen echten Freund oder eine echte Freundin an.

Auch Hector war schon verliebt gewesen, und er erinnerte sich, wie sehr man wegen der Liebe leiden kann, wie man Tage und Nächte damit verbringt, pausenlos an eine gewisse Person zu denken, die einen nicht mehr sehen will, und wie man sich fragt, was man am besten tun soll – schreiben, telefonieren oder schlaflos im Bett liegen, es sei denn, man leert sämtliche Fläschchen der Minibar in einem Hotelzimmer jener Stadt, in die man extra gekommen ist, um die gewisse Person zu sehen, die einen aber, wie schon gesagt, nicht sehen will. Heute halfen ihm solche Erinnerungen natürlich, die Menschen besser zu verstehen, denen es ebenso erging. Hector erinnerte sich auch an die netten jungen Frauen, die er hatte leiden lassen, und heute war er nicht gerade stolz darauf: sie hatten ihn geliebt, und auch er hatte sie geliebt. Mal war er Henker gewesen, mal Opfer, und bisweilen hatte er beides erlebt und mit ein und derselben Freundin. Die Liebe ist nämlich kompliziert, und am schlimmsten ist, daß sie sich nicht voraussehen läßt.

Inzwischen waren alle diese Qualen Vergangenheit für Hector (das glaubte er jedenfalls zu Beginn der Geschichte, aber Sie werden ja sehen); er hatte eine gute Freundin namens Clara, die er sehr liebte und von der er geliebt wurde, und beide dachten sogar daran, ein Kind miteinander zu haben und womöglich gar zu heiraten. Hector war zufrieden, denn letztendlich sind Liebesgeschichten sehr anstrengend, und wenn Sie jemanden gefunden haben, den Sie mögen und der Sie mag, hoffen Sie ja auch immer, es möge Ihre letzte Liebesgeschichte sein.

Gleichzeitig, und das ist wirklich bizarr, fragen Sie sich aber, ob es Sie nicht ein bißchen traurig machen würde, wenn es wirklich die letzte Liebesgeschichte wäre. Da sehen Sie schon, wie kompliziert die Liebe ist!

Hector liebt Clara

Eines Abends kam Hector nach Hause, den Kopf noch voll von all den schmerzlichen Liebesgeschichten, die er den ganzen Tag über gehört hatte – daß der eine mehr liebte als der andere oder sich beide zwar liebten, aber nicht vertrugen, oder sich nicht mehr liebten, aber auch anderswo keine Liebe fanden, und noch andere Kombinationen. Denn wenn glückliche Liebe ein schönes, aber ziemlich gleichförmiges Land ist, so umfaßt die unglückliche Liebe zahlreiche sehr verschiedenartige Landschaften – wie es ein großer russischer Schriftsteller bereits einmal mit schöneren Worten ausgedrückt hat.

Clara war noch nicht zu Hause, denn sie hatte dauernd Besprechungen, die sich bis in den Abend hineinzogen. Sie war für ein großes Pharmaunternehmen tätig, das viele wichtige Medikamente herstellte. Weil Clara eine gewissenhafte junge Frau war und viel arbeitete, waren ihre Chefs zufrieden mit ihr und baten sie oft, sie auf Sitzungen zu vertreten oder ihnen dicke Dossiers zusammenzufassen, für deren Lektüre ihnen die Zeit fehlte.

Hector hörte es gern, daß die Chefs Vertrauen in Clara setzten, andererseits mochte er es nicht, daß sie so spät nach Hause kam und oft ganz abgekämpft war, und außerdem hatte sie dann nicht immer gute Laune, denn auch wenn die Chefs eine Menge auf sie gaben, luden sie sie doch nicht zu den wirklich wichtigen Versammlungen mit den richtig großen Chefs ein; dorthin gingen sie allein und taten so, als hätten sie selbst die ganze Arbeit gemacht oder als wären die guten Ideen ihrem eigenen Hirn entsprungen.

Aber welche Überraschung – heute kam Clara mit einem breiten Lächeln auf den Lippen nach Hause.

»Schönen Tag gehabt?« fragte Hector, der sich freute, Clara so lächelnd zu erblicken.

»Oh nein, nicht gerade toll, lauter Besprechungen, die mich am Arbeiten gehindert haben. Alle haben die Panik, weil das Patent für unser umsatzstärkstes Medikament ausläuft! Da werden die Preise tüchtig purzeln …«

»Aber trotzdem siehst du zufrieden aus.«

»Das kommt bloß, weil ich dich sehe, mein Lieber.«

Und sie fing an zu lachen. Wissen Sie, solche Scherze machte Clara, wenn sie über Liebe sprach. Zum Glück war Hector daran gewöhnt, und er wußte, daß sie ihn wirklich liebte.

»Das stimmt sogar«, sagte Clara, »aber ich freue mich auch, weil wir eingeladen sind.«

»Wir beide?«

»Ja, oder eigentlich bist du eingeladen, aber ich darf dich begleiten.«

Clara zog einen Brief aus ihrer Aktentasche und reichte ihn Hector.

»Sie hätten ihn dir per Post schicken sollen, aber sie wissen, daß wir uns schon eine Weile kennen.«

Hector las den Brief durch. Ein sehr bedeutender Herr aus Claras Pharmakonzern hatte ihn abgefaßt, einer jener richtig großen Chefs, die sie nicht oft zu Gesicht bekam. Er schrieb, daß er Hector sehr schätze (wie sich Hector erinnerte, hatten sie sich auf Psychiaterkongressen zweimal die Hand geschüttelt) und auf seine Teilnahme an einem vertraulichen Treffen zähle, bei welchem Mitarbeiter des Pharmaunternehmens ihn zu einem höchst wichtigen Thema befragen wollten. Er hoffe sehr, daß Hector sein Erscheinen zusagen werde, und versichere ihn seiner vorzüglichen Hochachtung.

Im Kuvert steckte ein weiteres Blatt, auf dem man den Schauplatz des geplanten Treffens sehen konnte – ein hübsches, ganz aus Holz errichtetes Hotel, dessen Fenster sich auf einen schönen Strand mit Palmen öffneten und auf ein sehr blaues Meer, das jene ferne Insel umspülte. Hector fragte sich, weshalb die Tagung so weit weg stattfinden sollte, denn schließlich konnte man ebenso gut nachdenken, während man zu Hause im Sessel saß. Er sagte sich aber, daß die Pharmaleute ihm auf diese Weise einfach zu verstehen geben wollten, wie wichtig ihnen die ganze Sache war.

Es gab noch einen dritten Bogen, welcher ankündigte, daß Hector selbstverständlich nicht nur alle Reisekosten erstattet bekomme, sondern daß man ihn für seine Ratschläge extra bezahlen werde. Als er die Summe sah, glaubte er zunächst, sich um eine Null getäuscht zu haben, aber nein, beim zweiten Hinschauen war es noch immer derselbe Betrag.

»Ob das ein Tippfehler ist?« fragte er Clara.

»Nein, die Summe stimmt schon. Die anderen bekommen auch so viel. Es ist auch ungefähr das, was sie verlangt haben.«

»Wer sind denn die anderen?«

Sie nannte Hector die Namen der eingeladenen Kollegen. Hector kannte sie beide. Es waren ein sehr betagter Psychiater, der immer eine Fliege trug und sich auf seine alten Tage darauf spezialisiert hatte, traurige reiche Leute zu behandeln (von Zeit zu Zeit empfing er auch ein paar Arme, denen er nichts in Rechnung stellte), und eine drollige kleine Dame, die ihrerseits auf Leute spezialisiert war, die ihre Mühe hatten mit dem, was Verliebte miteinander tun, und verrückte Summen dafür zahlten, es wieder hinzukriegen.

»Schön, schön, und außerdem ist das eine kleine Ferienreise für uns«, meinte Hector.

»Für dich«, sagte Clara. »Ich werde dort die gleichen Gesichter sehen, die ich schon in den Sitzungen den ganzen Tag vor mir habe.«

»Wenigstens schaffen wir es mal, gemeinsam wegzufahren«, sagte Hector.

»Übertreib nicht, schließlich waren wir in Italien …«

»Das war, weil du dort hinterher einen Kongreß hattest. Immer ist es deine Arbeit, die über alles entscheidet.«

»Möchtest du lieber, daß ich zum Hausmütterchen werde?«

»Nein, ich möchte gern, daß du aufhörst, dich ausbeuten zu lassen, und daß du zu vernünftigen Uhrzeiten nach Hause kommst.«

»Ich bringe dir gute Neuigkeiten mit, und du fängst schon wieder zu meckern an!«

»Angefangen hast du.«

»Von wegen! Du hast zuerst …«

Hector und Clara zankten sich noch eine ganze Weile, und am Ende gingen sie schlafen, ohne miteinander zu reden oder sich einen Gutenachtkuß zu geben. Da sah man wieder einmal, daß die Liebe keine einfache Sache war, selbst für Psychiater nicht.

Irgendwann in der Nacht wachte Hector auf. In der Dunkelheit ertastete er den kleinen Leuchtkugelschreiber, mit dem er etwas notieren konnte, ohne Clara zu wecken. Er schrieb: »Ideale Liebe wäre, wenn man sich niemals streitet.«

Er überlegte. Ganz sicher war er sich nicht.

Er wagte es nicht, diesen Satz »Regel« oder »Lektion« zu nennen. Lektionen über die Liebe erteilen zu wollen war ein bißchen lächerlich. Er dachte an »Reflexion«, aber das war ein zu schweres Wort für einen so einfachen Satz. Es war doch nur ein kleiner Gedanke, ein wenig wie eine Blüte, die gerade aufzugehen beginnt und von der man noch nicht weiß, wie sie voll entfaltet einmal aussehen wird. So war es, sein Satz war eine kleine Blüte.

Er schrieb: Kleine Blüte Nr. 1: Ideale Liebe wäre, wenn man sich niemals streitet.

Er dachte noch ein bißchen mehr nach, und das war schwierig, denn die Augenlider fielen ihm zu. Er schaute auf die schlafende Clara.

Kleine Blüte Nr. 2: Mit den Menschen, die man am meisten liebt, streitet man sich manchmal am meisten.

Hector und Clara gehen an den Strand

Ein Abschnitt des Inselstrandes schien einem Völkchen von kleinen rosa Krabben zu gehören, die pausenlos aufeinanderkrochen oder sich bekämpften. Hector beobachtete sie und begriff rasch: Es waren die Männchen, die auf die Weibchen krabbelten, aber wenn sie miteinander kämpften, waren es die Männchen unter sich. Und weshalb kämpften sie wohl miteinander? Natürlich um auf die Weibchen krabbeln zu können. Selbst für Krabben schien die Liebe eine ziemlich schwierige Angelegenheit zu sein, vor allem für jene Männchen, die im Kampf eine ihrer Scheren einbüßten. Das erinnerte Hector an einen Satz, den ein Patient ausgesprochen hatte, als es um eine Frau ging, die er sehr liebte: »Statt mich mit dieser Person einzulassen, hätte ich mir lieber einen Arm abschneiden lassen sollen!« Aber da übertrieb er natürlich, denn anders als bei Krabben wachsen bei uns die Arme nicht nach.

»Na, du scheinst sie ja sehr zu mögen, deine Krabbenfreunde?«

Das war Clara, die gerade in einem schicken und ganz weißen Badeanzug an den Strand gekommen war. Ihre Haut hatte sich schon ein bißchen zu bräunen begonnen, und Hector fand sie überaus appetitlich.

»Bist du verrückt geworden, paß auf, wir sind hier nicht allein. Und außerdem wimmelt es von Krabben!«

Doch gerade beim Beobachten der Krabben war Hector auf gewisse Gedanken gekommen; allerdings sah er jetzt auch, daß die Leute vom Pharmakonzern auf der von Pfählen getragenen Terrasse des größten Holzhauses einen Aperitif tranken und in seine und Claras Richtung schauten. Der Sonnenuntergang war herrlich, die Wellen verebbten mit einem sanften Plätschern auf dem Strand, und Clara sah ganz golden aus in der Abendsonne. Hector sagte sich: »Schau an, das ist ein Augenblick des Glücks.« Er hatte schon gelernt, daß man solche Momente nicht einfach vorbeigehen lassen durfte.

In jenen fernen Landstrichen bricht die Nacht sehr rasch herein, und bald trafen sich alle zum Abendessen im großen Bungalow. Und was gab es als Vorspeise? Krabben!

»Wir freuen uns wirklich sehr, daß Sie alle unserer Einladung gefolgt sind«, sagte der höchst wichtige Herr vom Pharmaunternehmen, der auf den Namen Gunther hörte. Er hatte einen leichten Akzent und breite Schultern. Er war sehr groß, kam aber aus einem kleinen Land, das sich auf Schokolade und Pharmakonzerne spezialisiert hatte.

»Also dann«, sagte seine Mitarbeiterin Marie-Claire, eine große Rothaarige mit einem blendenden Lächeln und sehr schönen funkelnden Ringen an den Händen. Hector hatte schon bemerkt, daß sie sich mit Clara nicht gut verstand.

Der eingeladene alte Psychiater sagte gar nichts: Er konzentrierte sich auf seine Krabbe. Die Fliege hatte er abgelegt, und seltsamerweise wirkte er im Polohemd noch älter. Das ist eine gute Lehre, dachte Hector. Im hohen Alter sollte man stets eine Fliege tragen. Er begann zu überlegen, was man sehr betagten Damen empfehlen konnte. Vielleicht einen Hut?

»Ich war schon einmal hier«, sagte Ethel, die kleine Dame, die Expertin in Sachen Liebe war, »und ich fand es wunderbar«.

Sie nannte den Namen eines anderen großen Konzerns, der sie auf dieselbe Insel eingeladen hatte, und Hector sah, wie über das Lächeln von Gunther und Marie-Claire ein Schatten der Verärgerung huschte.

Aber Ethel bemerkte davon nichts; wir haben ja schon erwähnt, daß sie eine drollige kleine Dame war, die immerzu gute Laune hatte, was für die Leute, die in ihre Sprechstunde kamen, ein wahrer Segen sein mußte.

»Wissen Sie, daß das Rote bei den Krabben die Geschlechtsteile sind?« fragte sie. »Im Verhältnis zu ihrer Körpergröße sind sie ganz schön gut bestückt!« Und sie lachte ihr drolliges kleines Lachen. Hector sah, daß der Hotelchef, ein kräftiger Bursche mit dunklem Teint, ihre Bemerkung aufgeschnappt hatte und jetzt auch ein leichtes Lächeln auf den Lippen trug.

Mit am Tisch saßen auch ein paar junge Männer und Frauen, die für den Konzern arbeiteten, und man spürte, daß manche von ihnen später selbst Chefs werden würden. Eine von diesen jungen Frauen lächelte Hector zu und sagte: »Ihr letzter Artikel hat mir sehr gefallen. Was Sie darin schreiben, ist ja so was von wahr!« Es handelte sich um einen Beitrag, den Hector für ein großes Magazin geschrieben hatte und in dem er erklärte, weshalb so viele Menschen einen Termin beim Psychiater brauchten.

Hector antwortete, er höre das Kompliment gern, aber gleichzeitig sah er, daß Clara nicht sehr glücklich war über seine kleine Unterhaltung mit der jungen Frau. Später flüsterte sie ihm ins Ohr: »Das ist eine, die sich immer interessant machen muß!«

Der alte Psychiater hatte seine Krabbe jetzt fertig geschält und begann, das Häufchen Fleisch, das er in der Mitte seines Tellers zusammengeschoben hatte, behutsam zu verzehren.

»Selbst beim Essen alles nach Methode, mein Lieber«, sagte die kleine Dame und lachte. »Erst die Anstrengung, dann das Vergnügen!«

Der alte Psychiater entgegnete, ohne seine Nase vom Teller zu erheben: »Sie wissen doch, meine Liebe, daß es in meinem Alter leider nicht mehr ohne Anstrengung klappt.«

Darüber mußten alle lachen, denn dieser trockene Humor war eine Spezialität des alten Psychiaters.

Er hieß François, und Hector konnte ihn gut leiden.

Am Schluß der Mahlzeit wünschte Gunther allen eine gute Nacht, denn morgen würden sie recht früh aufstehen müssen, und dann fügte er noch hinzu:»Guter Rat kommt über Nacht«, wobei es ihn offensichtlich sehr freute, wie schön er diese Redewendung gelernt hatte.

Hector sitzt in einer Besprechung

»Heute morgen«, sagte Gunther, »sind wir nun also alle versammelt, weil wir Ihre Eingebung benötigen. Unser Labor entwickelt die Medikamente der Zukunft. Aber wir sind uns klar bewußt, daß wir unsere marktbeherrschende Position nur behaupten können, wenn unsere Arzneien den Patienten wirklich helfen, und wer kennt die Patienten besser als Sie?«

Er setzte den Zuhörern noch eine Weile auseinander, was für fabelhafte Leute Hector, der alte Psychiater François und Ethel, die drollige kleine Dame, waren. Alle saßen wie am Vortag beisammen, in einem schönen Raum ganz aus Holz und mit Blick auf den Strand.

Durch die großen Fenster, die keine Scheiben hatten, betrachtete Hector das Meer. An diesem Morgen war es ganz grau unter dem bewölkten Himmel, was den Palmen ein melancholisches Aussehen verlieh. Am Abend zuvor war Hector eingefallen, daß man von diesem Strand aus einfach nur tagelang schnurstracks über das Meer zu fahren brauchte, um schließlich in China anzukommen. Und wie wir bereits sagten, hatte Hector eines Tages eine reizende Chinesin kennengelernt, und manchmal dachte er an sie. Aber verliebt war er natürlich in Clara.

Clara war es auch, die gerade sprach und dabei mit Hilfe eines kleinen Computers schöne Bilder zeigte: »Hier sehen Sie die Entwicklung des Konsums von Antidepressiva in den westlichen Ländern …«

Die Leute schluckten wirklich eine Menge von diesen Antidepressiva, und sie griffen sogar mehr und mehr dazu, und Frauen doppelt so oft wie Männer.

»Nichtsdestotrotz wird beinahe jede zweite Depression nicht diagnostiziert und behandelt«, fuhr Clara fort.

Das stimmte. Zu Hector kamen manchmal Leute, die seit Jahren an einer Depression litten, aber nie behandelt worden waren. Andererseits nahmen zahlreiche Menschen Antidepressiva, ohne sie wirklich nötig zu haben. Aber das störte den Pharmakonzern natürlich weniger.

Als er Clara dabei zuschaute, wie sie so gewandt redete, so selbstsicher auftrat und in ihrem kleinen Leinenkostüm so elegant aussah, fühlte sich Hector ziemlich stolz, daß ein solches Mädchen ihn aus allen Jungs, die ihr hinterherliefen, ausgewählt hatte. Und als er an die Anstrengungen dachte, die er damals unternommen hatte, und auch an den Kampf der Krabben am Strand, nahm er sich vor, in sein Notizbuch einzutragen:

Kleine Blüte Nr. 3: Seine Liebe muß man sich erkämpfen.

Clara sprach über das neue Antidepressivum, welches das Pharmalabor bald auf den Markt bringen würde; es sollte wirksamer und verträglicher sein als alle bisherigen. Mit ihm würden die deprimiertesten Leute auf der Straße zu singen und zu tanzen anfangen.

Gunther dankte Clara für ihren »brillanten Beitrag«, und Hector merkte, daß Marie-Claire, die große Rothaarige, ein ganz klein bißchen verstimmt aussah. Aber so ist das Leben im Büro nun einmal.

»Wir haben gerade über Antidepressiva gesprochen«, sagte Gunther, »weil wir Ihnen eine Vorstellung davon vermitteln wollten, welche Gedanken wir uns über die Zukunft machen. Das Problem Depression wird bald gelöst sein, jedenfalls was unseren Anteil betrifft, und danach wird es nur noch darum gehen, die Bevölkerung wirkungsvoll zu überwachen, um die Erkrankten rechtzeitig herauszufiltern …«

›Die Bevölkerung überwachen‹ – da läuft es mir ein bißchen kalt den Rücken runter, dachte Hector, aber Gunther hatte nicht unrecht.

»… Depression ist allerdings eine Krankheit«, fuhr Gunther fort, »und heute erwarten die Menschen nicht nur, daß man sie von ihren Krankheiten heilt, sie möchten auch in guter Gesundheit sein, also in ›einem Zustand körperlichen und geistigen Wohlbefindens‹; das sind nicht meine Worte, ich zitiere die Weltgesundheitsorganisation. Kurz und gut, die Leute wollen glücklich sein!«

Und Gunther ließ ein sonores Lachen hören, welches seine sehr schönen Zähne freilegte. Alle seine jungen Mitarbeiter lächelten ebenfalls.

Von Zeit zu Zeit brachten der große Hotelchef vom Vorabend und eine junge Serviererin im Sarong Kaffee herbei, und Hector sagte sich, daß diese beiden wahrscheinlich nicht ans Glücklichsein dachten, sondern zuallererst überlegten, wie sie ihre Familie ernähren konnten. Er wußte, daß der Preis für eine Übernachtung in diesem Hotel so hoch war wie zwei durchschnittliche Monatseinkommen der Bewohner jenes Landes, zu dem die Insel gehörte. Doch gleichzeitig verschaffte das zahlreichen Menschen Arbeit und ermöglichte ihnen, die ganze Familie über Wasser zu halten.

Er bemerkte auch, daß François der jungen Frau jedesmal, wenn sie den Raum betrat, behutsam mit seinen Blicken folgte. Wenn sie wieder hinausging, schien der alte Psychiater ein bißchen traurig zu sein. Hector sagte sich, daß er selbst eines Tages François ähneln würde, und das machte ihn auch ein bißchen traurig.

»Sie haben durchaus recht, glücklich sein zu wollen«, sagte jetzt Ethel. »Dafür ist das Leben schließlich da!«

Ethel machte immerzu den Eindruck, in Bestform zu sein, und man hätte glauben können, daß sie das neue Antidepressivum des Pharmalabors in ihrem eigenen Gehirn fabrizierte. Letzte Nacht war Hector auf den Balkon hinausgetreten, um frische Luft zu atmen, und dabei hatte er die Silhouette einer großen Person gesehen, die aus Ethels Bungalow geschlichen kam.

»Nun gut«, sagte Gunther, »ich glaube, was die hohe Wertschätzung des Glücks angeht, sind wir uns alle einig. Was ist es Ihrer Meinung nach nun aber, das – abgesehen von Krankheiten, Unfällen und wirtschaftlichen Sorgen – die Menschen am meisten am Glücklichsein hindert?«

Ein großes Schweigen erhob sich. Man spürte, daß jedermann Ideen zu diesem Thema hatte, aber niemand wollte als erster das Wort ergreifen. Auch Hector zögerte, seine Gedanken auszusprechen, denn er fragte sich, ob er seine Einfälle wirklich mitteilen sollte, ehe er mit Clara darüber gesprochen hatte. Er mußte nämlich auch an sie denken, denn für sie war dieses Treffen sehr wichtig. Natürlich hatte er aber seine Meinung zu dem, was die Leute sehr oft am Glücklichsein hinderte.

»Die Liebe.«

Alle schauten den alten Psychiater an. Er hatte als erster gesprochen, und Hector wußte wieder einmal, weshalb er ihn so mochte.

Hector hört und spricht von der Liebe

Der alte François schaute beim Reden aufs Meer hinaus, als würde ihn dieser Anblick inspirieren. Alle lauschten seinen Worten und waren ganz still.

»Liebe«, sagte er, »ist eine Verrücktheit des Blutes, in welche die Vernunft einwilligt. Dieser Ausspruch ist leider nicht von mir. Gewiß verschafft uns die Liebe unsere größten Freuden, und das Wort ist noch schwach gewählt, man könnte sogar sagen, unsere allerhöchsten Ekstasen … Diese Bewegung auf den anderen zu, dieser Augenblick, in dem unser Traum Wirklichkeit wird, dieser begnadete Zustand, in dem man endlich an etwas anderes denkt als an das eigene Ich, diese Vereinigung der Körper, die uns – wenigstens für Augenblicke – unsterblich macht, dieses Übersteigen des Alltäglichen in Gegenwart des geliebten Wesens … Wenn es uns scheint, als würde ihr Gesicht ein Teil unseres Herzens sein, niemals wieder von uns losgelöst … Und doch, manchmal …« Er seufzte. »Denn wieviel Leid erwächst auch aus Liebe, was für ein Ozean aus Leid … Mißachtete Liebe, zurückgewiesene Liebe, mangelnde Liebe, Liebe, die erlischt – ach …

Que reste-il de nos amours?

Que reste-il de ces beaux jours?

Bonheur fané, cheveux au vent,

Baisers volés, rêves mouvants,

Que reste-il de tout cela,

Dites-le moi …

Er sang noch ein wenig weiter vor sich hin, und Hector sah zu seinem großen Erstaunen, daß in Claras Augen Tränen glänzten. Plötzlich merkte der alte François, wie gerührt alle waren, und kam wieder aufs Thema zurück.

»Entschuldigt bitte, meine lieben Freunde, ich habe mich ein wenig gehen lassen, dabei wollte ich doch nur eure Frage beantworten, was die Menschen am allerunglücklichsten machen kann.«

Einen Moment sagte niemand etwas. Gunther lächelte und ergriff wieder das Wort: »Mein lieber Doktor, ich danke Ihnen dafür, daß Sie uns auf bemerkenswerte Weise etwas Wichtiges ins Gedächtnis gerufen haben. Wenn man Ihnen zuhört, sagt man sich, daß Französisch wirklich die Sprache der Liebe ist!«

Währenddessen war die junge Frau im Sarong wiederaufgetaucht; diesmal trug sie ein Tablett mit Obstsäften, und der alte François verfolgte sie von neuem mit melancholischen Blicken.

»Und jetzt«, sprach Gunther weiter, »wende ich mich an Sie, liebe Ethel. Ich würde gern etwas über Ihre Sichtweise erfahren, die gewiß eine andere ist.«

»Allerdings.«

Sie wandte sich dem alten Psychiater zu.

»Lieber François, Sie haben vor unseren Augen gerade ein wunderbares Bild von der Liebe erstehen lassen, aber ich finde es ein bißchen traurig. Denn wie trübselig wäre das Leben doch ohne Liebe! Es ist nämlich gerade sie, die uns in einen Freudentaumel versetzt! Dank der Liebe ist das Leben ein fortwährendes Abenteuer, jede Begegnung ist herrlich, na gut, natürlich nicht wirklich jede, aber gerade durch unsere weniger geglückten Beziehungen lernen wir die anderen mehr zu schätzen. Also, im Gegensatz zu François glaube ich, daß uns die Liebe vor dem großen Unglück des modernen Lebens bewahrt: vor der Langeweile. Denn wir führen ein so rundum abgesichertes Leben, jedenfalls in unseren Ländern, daß uns nur noch die Liebe als letztes Abenteuer bleibt. Es lebe die Liebe, die uns immerfort jung erhält!«

Und wenn man sich Ethel anschaute, die nicht mehr ganz jung war, aber unglaublich jugendlich wirkte, konnte man sich tatsächlich sagen, daß die Liebe zumindest bei ihr sehr gut anschlug.

Gunther schien auf dem Gipfel der Zufriedenheit.

»Ah, liebe Ethel«, sagte er, »was für ein fröhliches Bild von der Liebe Sie uns gezeichnet haben! Welche Freude sie doch bringt! Wenn Sie gestatten, würde ich gern …« Er ließ seinen breiten Brustkorb anschwellen und intonierte nun seinerseits mit schöner Baßstimme:

L  is for the way you look at me

O  is for the only one I see

V  is very, very extraordinary

E  is even more than anyone that you can adore …

Love is all that I can give to you

Love is more than just a game for two …

Alle Frauen rund um den Tisch schienen plötzlich vom Charme dieses Mannes gefangen zu sein, der Nat King Cole imitierte (übrigens wirklich gut). Gunther hatte die Lässigkeit, das Lächeln und den verführerischen Blick eines richtigen Schmusesängers angenommen, und Hector spürte den Stachel der Eifersucht in sich. Er sah zu Clara hin, aber o Wunder, sie schien für Gunthers Vorstellung ganz unempfänglich zu sein, ja, sie wirkte sogar verärgert, was Hectors Liebe für sie noch steigerte.

Am Ende klatschten alle Beifall, selbst Hector, der sich über seinen Anflug von Eifersucht ärgerte und nicht unangenehm auffallen wollte, um Claras Karriere nicht zu schaden.

»Danke, meine lieben Freunde«, sagte Gunther. »Leider kenne ich noch kein französisches Liebesgedicht, aber Sie können sich darauf verlassen, daß ich es bis zum nächsten Mal nachhole! Und Sie, lieber Doktor Hector, was denken Sie über die Liebe?«

Ende der Leseprobe