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Sebastian Ostritsch

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Beschreibung

In Zeiten, in denen sich die gesellschaftlichen Gräben weiter vertiefen und ein striktes Entweder-oder das Denken beherrscht, ist Hegels Philosophie des Sowohl-als-auch so aktuell wie nie zuvor. Leichtfüßig und souverän bringt uns Sebastian Ostritsch das Leben und die Ideen des letzten großen Systemdenkers der Philosophiegeschichte nahe. "Alle Dinge", schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel, "sind an sich selbst widersprechend." Bis heute gilt dieser Satz unter Philosophen als Zumutung, wenn nicht als Skandal. Doch nicht die Verherrlichung des logischen Widerspruchs ist Hegels Ziel, sondern vielmehr dessen Überwindung in einem dynamischen Prozess. Wer sich mit Hegel auf ein solches Denken einlässt, gerät in einen Rausch, den Sog der Vernunft, auch Dialektik genannt. Die Wahrheit einer Sache zeigt sich erst im Zusammenhang mit ihrem Gegenteil. Oder wie der Schwabe Hegel sagen würde: "So isch no au wieder." ("So ist es nun auch wieder.")

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Hegel

Der Autor

Sebastian Ostritsch, geboren 1983, studierte Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an den Universitäten Stuttgart und Paris X. 2013 wurde er an der Universität Bonn mit einer Arbeit über Hegels Rechtsphilosophie promoviert. Ostritsch lehrt und forscht heute am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart.

Das Buch

»Alle Dinge«, schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »sind an sich selbst widersprechend.« Bis heute gilt dieser Satz unter Philosophen als Zumutung, wenn nicht als Skandal. Doch nicht die Verherrlichung des logischen Widerspruchs ist Hegels Ziel, sondern vielmehr dessen Aufhebung in einem dynamischen Prozess. Wer sich mit Hegel auf ein solches Denken einlässt, gerät in einen regelrechten Rausch der Vernunft – die sogenannte Dialektik: Die Wahrheit einer Sache zeigt sich erst im Zusammenhang mit ihrem Gegenteil. Oder wie der Schwabe Hegel sagen würde: »So isch no au wieder.«Sebastian Ostritsch präsentiert Hegels ungewöhnlichen Denk- und Lebensweg als großes philosophisches Lesevergnügen: ein schwäbisches Genie zwischen Französischer Revolution und preußischer Restauration, das Widersprüche nicht nur aushielt, sondern am Ende zu überwinden verstand.

Sebastian Ostritsch

Hegel

Der Weltphilosoph

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2269-8© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Alle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldTitelbild: © Historical image collection / Alamy Stock PhotoAutorenfoto: © Marc AlterE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Widmung

Prolog: Der Tote im Kupfergraben

Dialektik oder »So isch no au wieder!«

Tübingen und Terror

Der Alleszermalmer

All-Einheit und das absolute Ich

Im Untergrund der »unsichtbaren Kirche«

Rendezvous mit dem Weltgeist

Das Bewusstsein auf Bildungsreise: Die Phänomenologie des Geistes

Sinnliche Gewissheit

Herr und Knecht auf dem Weg vom Ich zum Wir

Endstation »absolutes Wissen«

Fränkisch-bayerische Umwege

Im Schattenreich göttlicher Gedanken: Die Wissenschaft der Logik

Sein, Nichts, Werden

»Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend«

Logische Evolution

Arbeit am Begriff

Herr Professor in dulci jubilo

Ein Kreis von Kreisen: Die Enzyklopädie

Gefrorener Geist: Die Naturphilosophie

Im Mittelpunkt

Die Wirklichkeit der Vernunft: Die Rechtsphilosophie

Die Freiheit, das Rechte zu tun

Recht, Moral und Sittlichkeit

Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat

Die Weltgeschichte als Weltgericht … und ihr Ende?

Im Bann der schönen Künste: Ästhetik

Die Gretchenfrage: Religionsphilosophie

Epilog: Das Ende und die Zukunft der Philosophie

Dank

Anhang

Quellen und Literaturverzeichnis

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Widmung

Widmung

Für Nine

»Ein großer Mann verdammt die Menschen dazu, ihn zu explizieren.«

– G. W. F. Hegel

Prolog: Der Tote im Kupfergraben

Choleratote waren in Berlin eigentlich so schnell wie möglich auf einen eigens für sie vorgesehenen Leichenwagen aufzuladen und bei Nacht auf einen speziellen Friedhof zu schaffen. Aber der Tote, der da in seiner Wohnung im Kupfergraben Nr. 4a lag und bei dem die Ärzte die Cholera als Todesursache festgestellt hatten, war nicht irgendwer, sondern Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Der große Philosoph hatte am Nachmittag des 14. November 1831 nach einer kurzen, gerade mal anderthalbtägigen Krankheit ein »schmerzfreies, sanftes, seliges Ende« gefunden.1 Allerdings hatten sich die beiden von seiner Frau Marie schon am Morgen herbeigerufenen Ärzte in ihrer Diagnose geirrt. Statt an der »Cholera in ihrer concentrirtesten Form«, von der es hieß, dass sie nur im Inneren des Körpers ihre zerstörerische Wirkung entfalte, aber so gut wie keine äußerlich sichtbaren Symptome hervorrufe, war Hegel vermutlich an den Folgen eines schon länger währenden Magenleidens gestorben.2

Auf dem Totenschein war aber nun einmal die Cholera als Todesursache vermerkt, und so wurde der Verstorbene zunächst ordnungsgemäß der Seuchenkommission gemeldet, die daraufhin den Leichnam im Wohnzimmer einschloss und »alles durchräucherte und desinfizierte«.3 Hegels Freund Johannes Schulze machte in der Folge seinen Einfluss als angesehener und gut vernetzter Beamter des preußischen Kultusministeriums geltend, um die Vorschriften für die Bestattung von Choleratoten für Hegel aussetzen zu lassen. Schließlich erteilte das Polizeipräsidium die Ausnahmegenehmigung: Die Beisetzung durfte nach erst achtundvierzig Stunden, bei helllichtem Tage und in aller Öffentlichkeit stattfinden.

Trotz einiger gesundheitlicher Probleme in den letzten Jahren kam Hegels Tod überraschend. Familie, Freunde, Kollegen, die Öffentlichkeit – sie alle waren schockiert. Die Nachricht vom Tode Hegels verbreitete sich in Windeseile in alle Winkel der Stadt und darüber hinaus. Die Beisetzung am 16. November 1831 wurde zu einem Massenereignis. Zunächst versammelten sich Studenten und Professoren aller Fakultäten im großen Hörsaal der Universität zu einer Trauerrede von Philipp Konrad Marheineke. Der protestantische Theologe, amtierende Rektor und langjährige Freund Hegels verglich den Dahingeschiedenen mit Jesus Christus:

Unserm Erlöser ähnlich, dessen Namen er stets verherrlicht hat in allem seinem Denken und Tun, in dessen göttlicher Lehre er das tiefste Wesen des menschlichen Geistes wiedererkannte, und der als der Sohn Gottes sich selbst in Leiden und Tod begab, um ewig als Geist zu seiner Gemeinde zurückzukehren, ist auch er nun in seine wahre Heimat zurückgegangen und durch den Tod zur Auferstehung und Herrlichkeit hindurchgedrungen.4

Nach der Rede setzte sich der »unabsehbar lange Zug der Studenten« sowie eine »unzählige Reihe von Wagen« in Richtung des Hauses des Verstorbenen in Bewegung.5 Dort schloss sich die gewaltige Prozession dem Leichenwagen an. Unter dem Chorgesang der Studenten wurde Hegel zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof gebracht, wo er – wie er es sich gewünscht hatte – neben dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte, seinem Lehrstuhlvorgänger, und in der Nähe des Philosophen Karl Wilhelm Ferdinand Solger, seinem ehemaligen Kollegen, beigesetzt wurde.

Der Historiker und Kurator der Königlichen Kunstkammer Friedrich Förster hielt die Grabrede. Darin wurde Hegel zum zweiten Mal an diesem Tag zum Messias. Förster verstieg sich sogar zur Behauptung, dass im Falle Hegels – anders als bei Jesus – »kein Petrus aufstehen« werde, »welcher die Anmaßung hätte, sich seinen Statthalter zu nennen«. Aber dennoch, so Förster weiter, sei Hegels Reich – »das Reich des Gedankens« – in seiner Ausbreitung nicht aufzuhalten.6

Für seine Zeitgenossen war Hegel offenbar weder bloß ein angesehener Intellektueller unter anderen oder gar nur ein Hochschullehrer unter vielen gewesen, sondern vielmehr eine weltbewegende Persönlichkeit: So wie mit Christus endgültig das Reich Gottes für den Menschen auch auf Erden angebrochen war, hatte Hegel mit seiner Philosophie das Reich des Denkens ergründet und der Menschheit zugänglich gemacht. Hegel galt seinen Schülern als »unwiderlegter Weltphilosoph«, als Begründer und Vollender einer wahrhaft wissenschaftlichen Philosophie, die – anders als ihre Vorgänger – nicht blind tapsend auf diesem oder jenem Gebiet nach philosophischen Einsichten suchte, sondern sicheren Schrittes ein vollständiges System des Denkens errichtet hatte.7 In den Augen ihrer Anhänger hatte Hegels Philosophie alles Wesentliche, was die Vernunft überhaupt erkennen konnte, erfasst: das Denken selbst ebenso wie das scheinbar Andere des Denkens – die Natur – und nicht zuletzt die gesamte Wirklichkeit des Geistes samt Moral, Recht, Kunst, Religion und Geschichte. Hegel beanspruchte in der Tat, dies alles durchdrungen und auf den Begriff gebracht zu haben.

Er hatte ein philosophisches System von enzyklopädischem Ausmaß begründet, eine philosophische Wissenschaft der Wissenschaften. Weil, wie Förster in seiner Grabrede behauptet hatte, kein Statthalter in Sicht war, sah mancher mit Hegels Tod gar die Einheit der Wissenschaften gefährdet. Ohne seine einzigartige Fähigkeit, das Wissen und die Entdeckungen der einzelnen Wissenschaftszweige in sein System einzugliedern, drohe die Wissenschaft zu zerfasern und in isolierte Bereiche zu zerfallen. Diese Sorge äußerte der umtriebige Schriftsteller und ehemalige Diplomat Karl August Varnhagen von Ense zwei Tage nach Hegels Tod in einem Brief:

Aber uns ist eine entsetzliche Lücke gerissen! Sie klafft unausfüllbar uns immer größer an, je länger man sie ansieht. Er war eigentlich der Eckstein der hiesigen Universität, auf ihm ruhte die Wissenschaftlichkeit des Ganzen, in ihm hatte das Ganze seine Festigkeit, seinen Anhalt; von allen Seiten droht jetzt der Einsturz; solche Verbindung des tiefsten allgemeinen Denkens und des ungeheuersten Wissens in allen empirischen Erkenntnisgebieten fehlt nun schlechterdings; was noch da ist, ist einzeln für sich, muß erst die höhere Beziehung aufsuchen, und wird sie selten finden. Auch fühlen es alle, selbst die Widersacher, was mit ihm verloren ist.8

Hegels Philosophie löste aber nicht nur wissenschaftliche Bewunderung aus, sondern hatte auch eine nicht unerhebliche therapeutische Wirkung auf ihre Anhänger. Denn dass die gesamte Wirklichkeit – von der äußeren Natur bis hin zum Innersten des Menschen – zum Gegenstand eines philosophischen Systems gemacht werden konnte, bedeutete, dass die Wirklichkeit selbst etwas im Kern Vernünftiges sein musste. Hinter allem Zufall, Unglück und Unrecht entdeckt Hegels Philosophie das Vernünftige. Sie birgt damit das Versprechen auf Versöhnung mit dem Schicksal und mit einer Welt, die allzu oft chaotisch, regellos und ungerecht wirkt. Was im Einzelnen sinnlos und unbegreiflich erscheint, ist von Hegels philosophischer Warte aus gesehen nur ein Aspekt des wohlgeordneten Vernunftganzen. Mit dieser Art des Denkens hatte Hegel in den Augen seiner Schüler das – wie es in einem anonym verfassten Sonett zu seinen Ehren heißt – »Felsengrab der Welt zerschlagen«.9

Maßlos übertrieben mag manchem Leser nicht nur die Hegel-Verehrung der Zeitgenossen, sondern auch der gewaltige Wissensanspruch und der schier grenzenlose Vernunftoptimismus der Philosophie Hegels vorkommen. Können wir denn überhaupt irgendetwas sicher wissen? Geschweige denn die gesamte Wirklichkeit vernünftig ergründen? Gibt es denn nicht Grenzen der Erkenntnis, Schranken der Vernunft? Ist nicht die philosophische Bescheidenheit eines Sokrates, der nur weiß, dass er nicht weiß, viel sympathischer als der großspurige Allwissenheitsanspruch, der von Hegels Philosophie auszugehen scheint?

Nun, das kommt ganz darauf an. Denn vielleicht ist die philosophische Bescheidenheit, die manch einem so sympathisch vorkommt, in Wirklichkeit eine falsche Bescheidenheit. Wer nämlich gar nicht erst behauptet, etwas wissen zu können, der kann auch nicht irren. Wer wissen will, muss den Irrtum wagen. Besteht der fatale Fehler denn nicht darin, sich gar nicht erst auf dieses Wagnis einzulassen? Warum nicht, so Hegel in seiner Einleitung zur Phänomenologie des Geistes, den Spieß einfach umdrehen und davon ausgehen, »daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist«?10 Lassen wir uns also mit Hegel auf das Wagnis des Wissen-Wollens ein.

Dialektik oder »So isch no au wieder!«

Auch wer fast nichts von Hegel weiß, hat meist doch von seiner Dialektik gehört. Wer dann noch meint, ein bisschen mehr zu wissen, hält die Dialektik nicht selten für einen Dreischritt aus These, Antithese und Synthese. Allerdings findet sich bei Hegel selbst nirgends eine derartige Definition. Hegel hat sich im Gegenteil ausdrücklich gegen eine allzu schematische Auffassung seiner philosophischen Methode gewehrt. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie kritisiert Hegel gar Immanuel Kant dafür, sich an einem »geistlosen Schema der Triplizität« orientiert und dabei »allenthalben Thesis, Antithesis und Synthesis aufgestellt« zu haben.11

Es war wohl der heute weitgehend unbekannte Kieler Philosophieprofessor Heinrich Moritz Chalybäus, der nach Hegels Tod entscheidend zur Popularisierung der Dialektik als Dreischritt aus These, Antithese, Synthese beigetragen hat. Mit dieser Schematisierung hat er nicht nur Hegel einen Bärendienst erwiesen, sondern auch viele Kritiker Hegels in die Irre geführt. Wenn sich etwa im 20. Jahrhundert der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper gegen Hegel wendet, indem er dem dialektischen Dreischritt unverzeihliche logische Fehler vorwirft, dann trifft seine Kritik höchstens Chalybäus und Konsorten, nicht aber Hegel selbst.

Ist nun aber die verbreitete Auffassung, Hegels Philosophie verfahre nach dem Dreischritt aus These, Antithese, Synthese, wirklich gänzlich falsch? Schließlich springt doch jedem, der Hegels Werke aufschlägt, sofort die fast ausnahmslose Dreiteilung der Bücher, Kapitel und Unterkapitel ins Auge! Nein, das dreigliedrige Schema ist nicht grundverkehrt, aber es ist eben nur ein Schema, das heißt eine starre Annäherung an das Wesentliche. Und das Wesentliche ist für Hegel der »Rhythmus der Erkenntnis«.12

Erkenntnis soll einen Rhythmus haben? Besteht Erkenntnis denn nicht gerade aus dem Auffinden und Festhalten unveränderlicher Fakten? Für Hegel tut sie das nicht, zumindest nicht die philosophische Erkenntnis. Diese besteht in einer Bewegung, und zwar einer Bewegung des Denkens. Philosophieren heißt für Hegel, sich auf diese Bewegung und ihre Eigengesetzlichkeiten einzulassen. Ein Schema wie das von These, Antithese und Synthese gleicht eher einem Metrum als einem Rhythmus. Es ist lediglich ein allgemeines Muster betonter und unbetonter Schläge, aber von den Akzentuierungen, Pausen und Verschiebungen, die einen lebendigen Rhythmus ausmachen, weiß das Schema nichts.

Wer sich auf den Rhythmus des Denkens einlässt, der entdeckt, dass Gedanken beweglich sind und zwar gemäß einer eigenen inneren Logik. Wer dieser inneren Logik folgt, der erlebt etwas Erstaunliches: Die scheinbar so festen Gedanken werden flüssig, sie lösen sich auf und nehmen sogleich eine neue Gestalt an. Sie werden, wenn zu Ende gedacht, zu anderen Gedanken, zu ihrem eigenen Gegenteil. Die Gedanken führen zu ihrer eigenen Negation, die aber nicht nichts, sondern eine »bestimmte Negation« ist.13 Dieses Umschlagen eines Gedankens in sein Gegenteil nennt Hegel das Dialektische. Mit Dialektik haben wir es also zu tun, wenn das Denken eines Gedankens über sich selbst hinausführt auf sein Gegenteil.

Der Alltagsverstand wird sogleich Beschwerde führen, dass man sich hierunter nichts vorstellen könne. Und überhaupt: Recht mystisch klingt es, dass ein Gedanke in sein Gegenteil umschlägt. Nun ist aber auch der Alltagsverstand durchaus mit dem Dialektischen vertraut. Selbst Sprichwörter zeugen davon. Man denke etwa an das römische »summum ius, summa iniuria« – »Wo Recht alles ist, herrscht höchstes Unrecht«. Wo bis zum Äußersten auf dem bestehenden Recht, der von einem Gesetzgeber gesetzten und daher positiven Gesetzgebung, beharrt wird, ohne mögliche Ausnahmen, Härtefälle oder den Gnadenakt zu berücksichtigen, dort schlägt das Recht in Unrecht um.

William Shakespeare, dessen Werke Hegel bereits mit acht Jahren von einem seiner Lieblingslehrer, »Herrn Praeceptor Löffler«, geschenkt bekam, hat die Dialektik von Recht und Unrecht in seinem Stück Der Kaufmann von Venedig eindrücklich dargestellt.14 Antonio – der titelgebende Kaufmann – borgt sich vom jüdischen Geldleiher Shylock die stolze Summe von dreitausend Dukaten, um damit seinen Freund Bassanio beim Werben um die Hand der schönen Portia zu unterstützen. Der Vertrag, den Shylock mit Antonio schließt, erklärt den Verzicht auf Zinsen, erlaubt dem Gläubiger aber stattdessen, seinem Schuldner ein Pfund Fleisch aus dem Leib zu schneiden, falls dieser das Geld nicht zurückzahlen kann. Und in der Tat: Antonio kann seine Schulden nicht begleichen, weil seine vollgeladenen Handelsschiffe wider Erwarten nicht zurückgekehrt sind. Getrieben von Rachsucht gegenüber der Christenheit, die ihn als Juden stets verachtet hat, beharrt Shylock stur auf dem gültigen Vertrag. In letzter Sekunde kann die Katastrophe durch eine juristische Spitzfindigkeit abgewendet werden: Allein auf Antonios Fleisch hat Shylock Anspruch, aber nicht auf sein Blut! Shylock muss sich geschlagen geben.

An der entscheidenden Dialektik ändert diese letzte Volte der dramatischen Handlung nichts. Shylocks Menschenmetzgerei ist formal rechtens und doch zugleich – daran besteht kein Zweifel – grausames Unrecht. Hätte der Geldleiher seinen Willen durchgesetzt, hätte das positive Recht, nicht aber die Gerechtigkeit gesiegt. Mit dem dialektischen Umschlagen von positivem Recht in Unrecht ergibt sich also zugleich der Begriff eines überpositiven Rechts, einer idealen Gerechtigkeit, die außerhalb jeder Gesetzgebung existiert.

Wie verhält sich dann aber das überpositive Recht zum positiven? Handelt es sich um einen unversöhnlichen Gegensatz, einen Widerspruch, oder lassen sich positives und überpositives Recht in einem Begriff des Rechts zusammenbringen? Diese Fragen, auf die wir bei Shakespeare keine Antworten erhalten, machen deutlich, dass mit dem dialektischen Umschlagen eines Gedankens in sein Gegenteil die Bewegung des Denkens noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Es gilt, dem Rhythmus des Erkennens weiter nachzuspüren.

Der negative, gegensatzproduzierende Aspekt der Dialektik ist eigentlich nur ein Vorspiel. Worauf es letztlich ankommt, ist der positive, die Gegensätze versöhnende Aspekt der Dialektik: »das Spekulative«. Es fasst das »Entgegengesetzte in seiner Einheit«, überwindet die dialektisch hervorgebrachten Gegensätze, hebt sie auf.15

»Aufhebung« – das ist selbst ein spekulativer Ausdruck, vereint er in sich doch zwei gegensätzliche Bedeutungen, nämlich einerseits »aufhören lassen, ein Ende machen« und andererseits »aufbewahren, erhalten«.16 Aber wie sollen diese beiden scheinbar widersprüchlichen Bedeutungen zusammenpassen? Nun, einer Sache ein Ende zu machen bedeutet nicht zwangsläufig, sie gänzlich zu vernichten. So kann etwa einer noch formlosen Liebesbeziehung, einer Affäre, ein Ende gemacht werden, indem sie in die Form der Ehe überführt wird. Dabei wird die Liebesbeziehung nicht vernichtet, sondern in veränderter Form fortgeführt.

Diese Veränderung der Form, zu der es beim Übergang von Romanze zu Ehe kommt, verweist zugleich auf eine dritte spekulative Wortbedeutung von »Aufhebung«: nämlich das Höher- oder Emporheben. Wir feiern den Eheschluss, weil uns die eheliche Verbindung als höhere und nicht nur als eine andere Form der Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen gilt. Aufhebung ist also zugleich Verneinung, Erhaltung und Erhöhung, oder für den Lateiner: negare, conservare und elevare.

Von ihrer negativen Seite her produziert die Dialektik zunächst Gegensätze, wie zum Beispiel den zwischen der egoistischen Eigenliebe und der genuinen Zuneigung zu einer anderen Person. Eigenliebe und Zuneigung zu einem anderen scheinen auf den ersten Blick in einem gegenseitigen Ausschlussverhältnis zu stehen. Das eine ist die Verneinung des anderen, dessen Negation. Die Spekulation hebt diesen Gegensatz auf, indem sie die wahrhafte Liebe als höhere Einheit begreift, in der die Eigenliebe und die Zuneigung zum anderen eins sind. Liebe, spekulativ verstanden, bedeutet: sich selbst im anderen und zugleich sich selbst im anderen wiederzufinden. Die Aufhebung ist daher auch Negation der Negation: Sie verneint die Verneinung.

Spekulation ist die ureigene Aufgabe der Vernunft. Die spekulative Vernunft eint und harmonisiert. Sie geht wortwörtlich aufs Ganze. Darin unterscheidet sich die Vernunft vom Verstand. Dieser löst Gedanken und Begriffe in Einzelteile auf. Er abstrahiert und isoliert, er trennt und fixiert. Es ist die Sache des Verstandes, die Dinge nüchtern zu zergliedern, zu typisieren und dann in den Schubladen unseres Denkens zu verstauen. Der Verstand erfüllt damit eine unverzichtbare Funktion: Er verleiht unserem Denken Struktur. Hegel ist deshalb auch kein Feind des Verstandes, sondern nur ein Gegner eines Verstandesdenkens, das die Alleinherrschaft über unseren Geist beansprucht. Denn zum Denken gehört auch die spekulative Vernunft. Anders als dem verständigen Sortiergeschäft geht es ihr um eine höhere Wahrheit, nämlich um den Gesamtzusammenhang des Denkens. Diesen Zusammenhang kann man aber nicht einfach in das Korsett eines starren Begriffs zwängen, denn das hieße, wieder nur eine bestimmte Perspektive auf das Ganze einzunehmen. Das Ganze ist kein Ding, sondern ein Prozess, den man nur in einer geistigen Bewegung nachvollziehen kann.

Die Dialektik eines Gedankens und seines Gegenteils sowie die Spekulation als Aufhebung dieses Gegensatzes – ergibt das zusammengenommen nicht doch wieder den Dreischritt von These, Antithese und Synthese? Zweifellos lässt sich die Bewegung des Denkens mithilfe dieser Ausdrücke strukturieren, aber sie sind zugleich irreführend und lenken vom Eigentlichen ab. Sie verleiten zu dem Missverständnis, man hätte es mit isolierten Elementen zu tun; als gäbe es erst eine These, zu der man dann eine ihr äußere Antithese und schließlich die Synthese zu suchen hätte. Aber genau so geht der sich selbst bewegende, lebendige Charakter des Denkens verloren. These, Antithese, Synthese – im spekulativen Denken sollen sie sich organisch auseinander entwickeln. Der Dreischritt aus These, Antithese und Synthese ist höchstens der tote Buchstabe, nicht aber das lebendige Wort der Spekulation.

Das Spekulative, schreibt Hegel, »ist die wichtigste, aber für die noch ungeübte, unfreie Denkkraft schwerste Seite« der Dialektik.17 Dies gilt vor allem für den »gemeinen Menschenverstand«, der durch das trennende Verstandesdenken korrumpiert ist.18 Er sieht überall nur das Trennende, nicht aber das Einende. Hegel kennt aber neben dem gemeinen auch den gesunden Menschenverstand. Für diesen sind die hart erarbeiteten spekulativen Tiefenwahrheiten der Philosophie nicht selten Selbstverständlichkeiten. So lebt der Alltagsmensch etwa in der Gewissheit, dass er weder bloß Körper noch bloß Geist, weder bloß Leib noch bloß Seele ist, sondern beides zusammen in konkreter Einheit: Körper-Geist, Leib-Seele. Niemand missversteht sich selbst als freischwebenden Geist oder als Körpermaschine, solange er nicht beginnt, sich mithilfe seines Verstandes zu zergliedern.

Die Gewissheiten des gesunden Menschenverstandes sind aber zuerst nur dunkle Einsichten, die reflektiert, gedanklich durchdrungen und letztlich begriffen werden wollen. Indem sich nun der Verstand am Begriff des Menschen zu schaffen macht, geschieht es, dass der Mensch in verschiedene selbständige und einander entgegengesetzte Bestandteile zu zerfallen scheint: hier Körper, dort Geist. Und auf einmal stehen wir vor einem Rätsel: Wie kann der Mensch beides zugleich sein? Das Rätsel selbst ist aber nur ein Produkt der Reflexion. Die Spekulation löst das Rätsel schließlich auf, indem sie die starren Elemente verflüssigt, sie wieder in die bewegte Einheit des Denkens überführt, aus der sie eigentlich stammen. Damit hebt die Spekulation die Einsichten des gesunden Menschenverstandes auf und lässt ihn so über den gemeinen siegen.

In einem seiner zugänglicheren Texte, dem kleinen und erst posthum veröffentlichten Aufsatz Wer denkt abstrakt?, greift Hegel den oft zu hörenden Vorwurf auf, Philosophie und Metaphysik seien so abstrakt. Hegel entgegnet: Abstrakt denkt eigentlich nicht der Philosoph, sondern zumeist der gemeine Mensch. Denn Abstraktion bedeutet, der komplexen Wirklichkeit mit Schubladendenken zu begegnen. Abstrakt zu denken heißt etwa, »in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm zu vertilgen«.19 Wer abstrakt denkt, löst einzelne Aspekte aus einem konkreten Ganzen heraus und verabsolutiert sie. Der Mörder erscheint nur als Mörder, der Bedienstete erscheint nur als Bediensteter, der Soldat nur als Soldat oder – wie Hegel vom preußischen Militär behauptet – gar »als Abstraktum eines prügelbaren Subjekts«.20 Konkret zu denken ist dagegen das Geschäft der Philosophie. Wer konkret denkt, der begreift die Dinge in ihrer ganzen Komplexität. Im konkreten Denken fügen sich die sonst voneinander isolierten Aspekte zu einem Ganzen zusammen.

Dialektik und Spekulation machen Hegel zu einem Denker des Werdens, zu einem Philosophen des bewegten Denkens. Im dynamischen Charakter von Hegels Philosophie hat Friedrich Nietzsche einen Wesenszug der Deutschen erkannt:

Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Werth zumessen als dem, was ›ist‹ […].21

Nietzsche steht mit dieser Beobachtung nicht alleine da. Salvador de Madariaga, der große Vordenker eines vereinten Europa, hat in seinem Porträt Europas von 1952 den deutschen Wesenszug des Werdens in einer sprachlichen Besonderheit bestätigt gefunden:

Im Deutschen wird eine Sache getan, da die Passivform mit werden als Hilfszeitwort gebildet wird. Dieses Merkmal verleiht der Sprache eine Art von ständiger Bewegung, eine Qualität des Fließens. Die Eigenschaften und Zustände, welche die Verben ausdrücken, sind nicht fixiert: sie sind nicht, sie werden. Sie stehen nicht still, sie bewegen sich auf ihren nächsten Zustand hin oder eher zu ihrer nächsten Stufe, die dann wieder in eine andere verwandelt wird in einem ewig sich fortsetzenden Fließen.22

Man kann aber nicht nur etwas typisch Deutsches in Hegels Denken entdecken, sondern vor allem auch etwas typisch Schwäbisches. Der Germanist Heinz Otto Burger hat in seiner Gedankenwelt der großen Schwaben von 1932 Hegel als personifizierten Höhe- und Glanzpunkt der Geschichte des schwäbischen Geistes identifiziert. Das zentrale Merkmal schwäbischen Geistes sieht Burger darin, die gewöhnliche Entweder-oder-Mentalität in ein Denken zu überführen, das mit den Kategorien von Weder-noch und Sowohl-als-auch operiert.

Die schwäbische Sprache ist in der Tat reich an spekulativen Wendungen. So sagt der Schwabe gerne »So isch no au wieder!« (»So ist es nun auch wieder!«) und meint damit, dass eine bestimmte Angelegenheit auch aus einer ganz anderen als der bisher eingenommenen Perspektive betrachtet werden kann.23 Mit dem »So isch no au wieder!« weist der Schwabe auf die komplexe Gesamtperspektive eines Sachverhalts, auf seine Sowohl-als-auch-Natur hin. Damit ist aber zugleich zum Ausdruck gebracht, dass beide Sichtweisen eben nur partiell und nicht absolut gelten können. »So isch no au wieder!« kann daher auch einen Widerspruch gegen allzu einseitige Meinungsäußerungen zum Ausdruck bringen. Denn losgelöst von ihrem Zusammenhang im Sowohl-als-auch gilt eben weder bloß die eine noch bloß die andere Betrachtung, sondern beide sind nur Aspekte eines komplexen Ganzen.

Die Tendenz zum Sowohl-als-auch darf also weder beim Schwaben an sich noch bei Hegel persönlich als schwächliche Sehnsucht nach Einklang missverstanden werden. Es geht nicht um faule Kompromisse, sondern um konkretes Denken im Sinne Hegels. Nicht konkret, sondern abstrakt denkt, wie gesagt, wer einen einzelnen Aspekt eines Ganzen herauspickt, um anschließend das Ganze allein unter diesem einen Aspekt zu betrachten. Derartige Abstraktionen erwecken des Schwaben Widerspruchsgeist. Weil er sowohl im Modus des Weder-noch als auch im Modus des Sowohl-als-auch denkt, kann er zugleich als widerborstiger Wutbürger als auch als lebenskluger Pragmatist in Erscheinung treten.

Das schwäbische Wesen von Hegels Denken ist auch schon seinen Zeitgenossen aufgefallen. So bemerkt der zur schwäbischen Dichterschule gehörende Hermann Kurz in einem Brief vom 7. Juli 1838 an seinen Dichterfreund Eduard Mörike: »Hegel’s Einfälle führen freilich ganz deutlich ihre Nationalfarbe, […] [sie] sind nichts andres als vertieftere Schwabismen.«24

Ein Klassiker unter den vertiefteren Schwabismen aus Hegels Feder ist die Rede von der »Identität der Identität und der Nichtidentität«. Mit dieser Wendung hat er die Auffassung seines Freundes Friedrich Wilhelm Joseph Schelling vom »Absoluten«, in dem »Entgegensetzen und Einssein« selbst eine Einheit bilden, auf den Punkt gebracht.25 Derlei philosophische Schwabismen, die Gegensätzliches als Einheit präsentieren, lassen sich nach Burger auch als Umkehrungen der gewöhnlichen Alltagsschwabismen verstehen. Diese drücken nicht die Einheit des Entgegengesetzten, sondern »ein vollkommen Einheitliches in der Form des Gegensatzes« aus.26 Die Beispiele hierfür sind zahlreich: »De Alde sait mer net alles, ond de Jonge missat au net alles wissa« (»Den Alten sagt man nicht alles, und die Jungen müssen auch nicht alles wissen«); »Onder allem isch Bedrug, bloß onder dr Milch isch Wasser« (»Unter allem ist Betrug, nur unter der Milch ist Wasser«); »Nix isch omsonscht, bloß dr Tod, und der koscht’s Läba« (»Nichts ist umsonst, nur der Tod, und der kostet das Leben«).27

Hegel denkt aber nicht nur schwäbisch, er spricht und benimmt sich auch so. Als Professor bringt er seine Studenten durch tiefe Gedanken ins Grübeln, zuweilen aber auch durch mysteriöse Ausdrücke, die sich jedoch – wie im Fall des Wortes »ebbes« (»etwas«) – manchmal bloß als schwäbischer Dialekt erweisen.28 Hegels Gemüt ist durch das von Friedrich Theodor Vischer beschriebene »süddeutsche Behagen, das gesunde Phlegma« geprägt, das aber nicht als Dumpfheit missdeutet werden darf.29 Biedere Gemütlichkeit, die Liebe zu allem Gediegenen und grüblerischer Tiefsinn gehen beim Schwaben Hand in Hand.

Aus der Perspektive der Schwabologie ist es daher kein Zufall und auch nur oberflächlich betrachtet ein Widerspruch, dass Hegel, der sich später in die höchsten Höhen der Spekulation emporschwingen wird, als Schüler am liebsten Sophiens Reise von Memel nach Sachsen liest. Dieser Abenteuer-Reiseroman aus der Feder von Johann Timotheus Hermes entwickelte sich vor allem wegen seines psychologischen Einfühlungsvermögens und seiner realistischen Alltagsbeschreibungen zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Bücher des 18. Jahrhunderts. Arthur Schopenhauer, der Hegel leidenschaftlich hasste, hat sich über diese Tatsache später lustig zu machen versucht, indem er höhnisch bemerkte: »Mein Leibbuch ist Homer, Hegels Leibbuch ist Sophiens Reise von Memel nach Sachsen.«30

Es war aber vielleicht gerade der gesunde Sinn für das Alltägliche, der bewirkt hat, dass das allzu Luftige und Schwärmerische Hegel stets suspekt geblieben ist, wovon uns Heinrich Heine den Beleg in Form einer wunderbaren Anekdote geliefert hat:

Eines schönen hellgestirnen Abends standen wir beide nebeneinander am Fenster, und ich, ein zweiundzwanzigjähriger junger Mensch, ich hatte eben gut gegessen und Kaffee getrunken, und ich sprach mit Schwärmerei von den Sternen und nannte sie den Aufenthalt der Seligen. Der Meister aber brümmelte vor sich hin: »Die Sterne, hum! hum! die Sterne sind nur ein leuchtender Aussatz am Himmel.« – Um Gotteswillen – rief ich – es gibt also droben kein glückliches Lokal, um dort die Tugend nach dem Tode zu belohnen? Jener aber, indem er mich mit seinen bleichen Augen stier ansah, sagte schneidend: »Sie wollen also noch ein Trinkgeld dafür haben, daß Sie Ihre kranke Mutter gepflegt und Ihren Bruder nicht vergiftet haben?«31

Auf die schwärmerische Verklärung durch seine Grabredner – die Vergleiche mit Jesus Christus – hätte Hegel wohl mit derselben Gemütsregung reagiert.

Die Übereinstimmung mit schwäbischer Denk- und Gemütsart ist im Falle Hegels keine Wahlverwandtschaft, sondern ein Beleg für die gewaltige Wirkmacht von Abstammung und kultureller Prägung. Vermutlich kommt Hegels Urahn väterlicherseits im 16. Jahrhundert als protestantischer Flüchtling aus Kärnten nach Württemberg, wo seine Nachkommen heimisch werden. Der Großvater Hegels ist Oberamtmann einer Gemeinde im Schwarzwald. Er verheiratet sich mit einer Nachfahrin des berühmten Theologen und Reformators Johannes Brenz. Der Vater – Georg Ludwig Hegel – ist herzoglicher Finanzbeamter in Stuttgart. Der Familienstammbaum von Hegels Mutter Maria Magdalena (geborene Fromm) ist gespickt mit Juristen und Beamten und reicht mütterlicherseits ebenfalls bis zum schwäbischen Stammvater Brenz zurück. In dieses urschwäbische Umfeld wird Hegel am 27. August 1770 in Stuttgart hineingeboren.

Wilhelm, wie G. W. F. von seinen engsten Familienmitgliedern genannt wird, wächst in einem durch und durch bürgerlichen Haushalt auf. Die Familie Hegel darf wohl sogar der sogenannten Ehrbarkeit, dem bürgerlichen Ersatzadel Württembergs, zugerechnet werden. Bildung hat für die Hegels einen ganz besonderen Stellenwert. Die für die Zeit ungewöhnlich gut gebildete Mutter unterrichtet Hegel in Latein, noch bevor er mit fünf Jahren von der Deutschen Schule auf die Lateinschule wechselt. Zusätzlich zum regulären Schulbesuch bezahlt ihm der Vater Privatunterricht. Von Karl August Friedrich Duttenhofer, der später der erste verbeamtete Wasserbaumeister Württembergs werden sollte, bekommt Hegel Unterricht in Geometrie und Astronomie und wird von ihm sogar in die Kunst des Feldmessens eingeführt.

Auf dem Gymnasium illustre zeigt sich Hegel nicht nur als äußerst talentierter und fleißiger Schüler, sondern auch als ein echter Streber. Keine einzige jugendliche Verfehlung, kein Akt des Leichtsinns oder der Rebellion ist überliefert. Stattdessen: Spaziergänge mit seinen Lehrern, Bibliotheksbesuche und altkluge Reflexionen eines Knaben. Das Verfänglichste, was wir Hegels Jugendtagebüchern entnehmen können, ist, dass sich nichts wirklich Verfängliches darin findet. Fast schon beruhigend, dass der jugendliche Hegel zumindest das schöne Geschlecht als solches wahrgenommen zu haben scheint. So gesteht der 16-Jährige nach einem Konzertbesuch, dass das »Anschauen schöner Mädchen« einen der Hauptreize der Veranstaltung ausgemacht habe.32

Vielleicht hat ihm das Schicksal schon früh die jugendliche Leichtigkeit ausgetrieben. Hegel ist gerade einmal dreizehn Jahre alt, als er dem Tod bereits zum zweiten Mal von der Schippe springt. Nachdem er bereits mit sechs Jahren fast von den Pocken dahingerafft worden wäre – er war für mehrere Tage erblindet; der Arzt hatte ihn bereits aufgegeben –, überlebt er nun auch ein schweres Gallenfieber. Auch seine Mutter ist daran erkrankt. Aber anders als ihr Sohn überlebt sie die Krankheit nicht. Der Tod der Mutter trifft den Jungen schwer. Der Vater erzieht Hegel und seine beiden jüngeren Geschwister Christiane Luise, zu der Wilhelm ein Leben lang ein inniges Verhältnis pflegen wird, und Georg Ludwig fortan alleine. Hegel verlässt das Elternhaus schließlich mit achtzehn Jahren, um in Tübingen ein Theologiestudium aufzunehmen.