Heidegger - Oliver Precht - E-Book

Heidegger E-Book

Oliver Precht

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Beschreibung

Oliver Precht zeichnet in seiner Studie nach, wie Heidegger das ebenso klassische wie unmögliche Projekt einer totalen Selbstbestimmung zu seinen letzten Konsequenzen treibt. Er zeigt auf, inwiefern die Unmöglichkeit dieses Projekts eine philosophische Politik erforderlich macht, deren Kern in einer Selbstpräsentation besteht, gemäß der es Heideggers Philosophie nicht um ihr eigenes Sein, sondern um etwas ganz anderes geht: um die Wahrheit des Seins. Im Spannungsfeld zwischen der unmöglichen Selbstbestimmung und der allgegenwärtigen Selbstpräsentation entwickelt Precht eine Gesamtinterpretation, die nicht nur alle wesentlichen Aspekte, sondern auch die wendungsreiche, eng mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verflochtene Entwicklung dieses Denkens umspannt. Diese im Verlauf der systematischen Untersuchung entwickelte Perspektive lässt Heideggers vieldiskutiertes Engagement für den Nationalsozialismus ebenso in einem neuen Licht erscheinen wie den für das ganze Projekt fundamentalen Eurozentrismus.

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Oliver Precht

Heidegger

Zur Selbst- und Fremdbestimmung seiner Philosophie

Meinen Eltern

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-3811-5

eISBN (ePub) 978-3-7873-3853-5

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades angenommen.

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

INHALT

I.Zur Frage nach dem Menschen

1.Prolog: Leeres Schweifen

2.Worum es geht

3.Zur ›Sache‹

4.Philosophische Politik

5.Anerkennung

6.Vom Historikerstreit zum Philosophenstreit

7.Kontamination und Dekontamination

8.Die Ordnung der Fragen

9.Editionspolitik

10.Selbsterörterung

11.Philosophische Anthropologie

12.Ethnologie

13.›Fundamentalontologie‹ und ›Daseinsanalyse‹

14.Kant und das Problem der Selbstverortung

15.Zur Textgrundlage

16.Zum Anspruch der Untersuchung

17.Zum Interesse der Untersuchung

II.Die Frühphilosophie

18.Theorie und Praxis

19.Gott und die Welt

20.Transzendenz

21.Befindlichkeiten

22.Seinsverständnis

23.Weltentwurf

24.Sorge

25.Haltlose Existenz

26.Philosophie und Weltanschauung

27.Das alltägliche Leben

28.Vergegenständlichung

29.Philosophie und Wissenschaft

30.Historische Zwischenbetrachtung

31.Die ontologische Differenz

32.Die ›eigentliche‹ Differenz

33.Verfallen

34.Aufstieg und Angriff

35.Sterben lernen

36.Entschlossenheit

37.»Wer hat Angst vor der Philosophie?«

38.Die phänomenologische Geste

39.Über die Grenze

40.Aus der Höhle

41.Zurück in die Höhle

42.Geschichte und Geschichtlichkeit

43.Der ›Führer‹ und sein ›Volk‹

44.Aufbruchsstimmung

III.Die Zwischenphase

45.Aufbruch und Abbruch

46.Zur Textgrundlage

A.Volksgeschichte

47.Politische Philosophie und philosophische Politik

48.Im Rausch

49.Ein ›primitiver Nationalismus‹

50.Ein Antisemit

51.Der Augenblick des Engagements

52.»Den Führer führen«

53.Vom Geist

54.Wissen und Arbeit

55.Abkehr vom Engagement

56.Das Triumvirat

B.Geistesgeschichte

57.Zweideutigkeit

58.Weltverdüsterung

59.»Ins Werk setzen«

60.Dichter und Denker

IV.Zur Frage nach der Geschichte

61.Wiederholung und Differenz

62.Philosophie und Denken

63.Die ›Kehre‹

64.Die ›Gelassenheit‹

65.›Sein und Zeit‹ und ›Zeit und Sein‹

66.Geben und Nehmen

67.Das ›Gespräch‹

68.Hegel

69.Der Gott der Philosophen

70.Zur Systematik

71.Zur Textgrundlage

V.Die Spätphilosophie

A.Die Vergangenheit

72.Zum Thema der Geschichte

73.Zum ›Seinsgeschick‹

74.Zur ›Seinsgeschichte‹

75.Zur Auslegung anderer Philosophen

76.Der Anfang bei den Vorsokratikern

77.Das Ende des Anfangs bei Platon und Aristoteles

78.Athen und Jerusalem

79.Der Anfang vom Ende bei Descartes

80.Das Ende bei Nietzsche

B.Die Gegenwart

81.Macht und Machenschaft

82.Das ›Ge-Stell‹

83.»Was geschieht, ist schon geschehen«

84.Zum Begriff des Politischen

85.Zur Frage des ›seinsgeschichtlichen Antisemitismus‹

86.Irre und Schuld

87.Not und Notwendigkeit

C.Die Zukunft

88.Dichten und Denken

89.Das Eigene und das Fremde

90.Ausfahrt und Heimkehr

D.Der Augenblick

91.Von der Sprache

92.Erstaunen und Erschrecken

93.Einblick und Einblitz

94.Vom Führer zum Herrscher

95.Vom Wächter zum Hirten

96.Besinnung

VI.Zur Frage nach der Offenbarungsreligion

97.Glauben und Denken

98.Von vergangenen und zukünftigen Göttern

99.Das Versprechen

100.Epilog: Höhlengleichnisse

Danksagung

Bibliographie

1.Werke und Dokumente von und zu Heidegger

A.Gesamtausgabe

B.Briefwechsel

C.Andere Dokumente und Quellen

2.Literaturverzeichnis

Anmerkungen

I.

ZUR FRAGE NACH DEM MENSCHEN

Seit drei- oder vierhundert Jahren überfluten die Einwohner Europas die anderen Teile der Welt und veröffentlichen sie unablässig neue Sammlungen von Reisebeschreibungen und Berichten – dennoch bin ich überzeugt, dass wir keine anderen Menschen als allein die Europäer kennen; außerdem hat es angesichts der lächerlichen Vorurteile, die selbst unter den Gelehrten nicht ausgestorben sind, den Anschein, dass jeder unter der hochtrabenden Bezeichnung ›Studium des Menschen‹ kaum mehr als die Menschen seines Landes studiert. Die Einzelnen mögen noch soviel hin- und herreisen, die Philosophie scheint es, geht nicht auf Reisen, deshalb auch ist die Philosophie jedes Volkes wenig geeignet für ein anderes.

Jean-Jacques Rousseau

1. Prolog: Leeres Schweifen

›Was ist Philosophie?‹ – eine Frage, der man sich auf äußerst unterschiedliche Weisen nähern kann. Man kann versuchen, die Philosophie soziologisch zu erklären, etwa als bürgerliche Institution zur Verhinderung von kritischem Denken. Man kann versuchen, sie psychologisch zu erklären, etwa als Dispositiv zur Unterdrückung des Unbewussten. Und neben vielen weiteren möglichen Zugangsweisen kann man auch versuchen, die Frage philosophisch zu beantworten. Dann wird die Beschäftigung mit der Frage nicht länger von den Problemstellungen und den Zielsetzungen der Soziologie oder der Psychologie, sondern vielmehr von der Sache der Philosophie selbst bestimmt. Was diese Sache ist, steht aber gerade infrage. In einer philosophischen Auseinandersetzung fällt die Frage ›Was ist Philosophie?‹ also unmittelbar mit der Frage nach der Sache der Philosophie zusammen. Die ›Selbstbestimmung‹ der Philosophie geht von dem aus, was es zu bestimmen gilt.

In dieser formalen, man möchte sagen formalistischen Radikalität wirkt die Frage leer und nichtssagend. Sie scheint sich vor den konkreten philosophischen Problemen zu drücken. Sie scheint sich der philosophischen Maxime ›zu den Sachen selbst‹ zu entziehen. Sie scheint sich dem kategorischen Imperativ zu verweigern. Sie scheint sich vor ihrer Verantwortung in der Welt zu drücken. Kurz gesagt: Sie scheint zu allgemeinen, beliebigen und verantwortungslosen Ausschweifungen über die Philosophie einzuladen, zu einem »leeren Schweifen«, einem »devanear«, wie es der portugiesische Dichter Fernando Pessoa in seinem Buch der Unruhe so treffend bezeichnet hat.

Wenn Pessoa, der »Dichter des Verbums ›sein‹«,1 von einem »leeren Schweifen« spricht, beschreibt er keineswegs, wie es zunächst scheinen mag, nur einen Spaziergang am Strand oder irgendein anderes Geschehen auf der Welt. Das »leere Schweifen« bezeichnet vielmehr sein eigenes Schreiben, ein Schreiben, das auf eine Erfahrung der Unruhe zurückgeht, die sich erst im Schreiben klären muss, um wirklich erfahren zu sein: ein leeres Kreisen um sich selbst. Die Erfahrung der Unruhe, aus der das Schreiben hervorgeht, muss erst geschrieben werden, um wirklich erfahren zu sein. Nur in der Dichtung, im »devanear«, im leeren Schweifen, klärt sich der Nebel, in den sie gehüllt ist. Und diese Klärung bedeutet zunächst eine Weltflucht, eine Flucht vor der Verantwortung: »Einfluss auf die Außenwelt zu haben, Dinge zu verändern, Seiendes zu versetzen, die Leute zu beeinflussen – all das erschien mir stets von nebelhafterer Substanz zu sein als mein leeres Schweifen« (Pessoa 2015: 126).2

Auch Heideggers Philosophie, der Gegenstand der folgenden Untersuchung, behauptet von sich, auf eine beunruhigende Erfahrung zurückzugehen, auf ein selbst noch vernebeltes ›Staunen‹, ein θαυμάζειν, das sich nur im eigenen Philosophieren klären lasse. Auch sie muss sich zu diesem Zweck von der Welt abwenden (um ihr dabei auf vielfältige und verhängnisvolle Weise verhaftet zu bleiben), denn ihre Sache, die das Philosophieren »in die Unruhe trieb und in ihr erhielt« (SZ:2),3 sei nicht von dieser Welt. Wie der Dichter, so schreibt auch der selbsternannte ›Denker des Verbums sein‹, um diese Unruhe aufzuklären. Nur was schreibt er, wenn die Sache seiner Philosophie kein Ding von dieser Welt sein soll, nichts Vorliegendes oder Vorgegebenes? Was hat seine Philosophie zu sagen, wenn sie »keine Geschichte erzählen« soll (SZ:6; vgl. 63:17; 20:203), keine Geschichte von den Dingen in der Welt?

2. Worum es geht

Unabhängig davon, ob sie ihre eigene Theorie oder Praxis reflektiert und einen expliziten Begriff ihrer selbst ausbildet, hat jede Philosophie immer schon eine Antwort auf die Frage gegeben, worum es ihr geht. Sie bestimmte sich immer schon selbst, indem sie ihre ›Sache‹ bestimmte. Philosophieren heißt (in einem bisweilen nur vagen und impliziten Sinn) geklärt zu haben, ›worum es geht‹, also: 1.) worin das zentrale philosophische Problem besteht und 2.) worin der Zweck besteht, der in der Auseinandersetzung mit diesem Problem verfolgt wird. Diese Selbstbestimmung der Philosophie erzählt keine Geschichte, auch nicht von sich selbst. Sie ist keine nachträgliche Reflexion darüber, was im eigenen Philosophieren geschieht.

Die Frage, ›worum es geht‹, muss dabei nicht selbst das zentrale philosophische Problem ausmachen, und die Selbstbestimmung muss auch nicht den Zweck darstellen, der mit dem jeweils eigenen Philosophieren verfolgt wird. Eine solche Radikalisierung des Problems der Selbstbestimmung, eine solche scheinbar vollkommene und vollkommen leere Selbstbezüglichkeit ergibt sich erst aus einer bestimmten, radikalen Antwort auf diese Frage. Diese Antwort hat Heideggers Philosophie gegeben – und zugleich nicht gegeben. Um sie sichtbar zu machen – denn sie lässt sich Heideggers Texten nicht ohne Weiteres entnehmen, ja sie widerspricht sogar der expliziten Antwort, der ›Lehre‹, wenn man so will –, bedarf es einer Reihe von methodischen Vorkehrungen. Es gilt, das zentrale philosophische Problem – die Selbstbestimmung der Philosophie – begrifflich zu entfalten. Gerade die vermeintlich leere und nichtssagende Frage, worum es geht, bedarf einer strengen Begrifflichkeit. Schon die geringste Abweichung in Bezug auf die Sache führt zu einer Verschiebung der Perspektive auf Heideggers gesamte Philosophie.

Man mag den Anspruch dieser Arbeit, die Sache von Heideggers Philosophie, abweichend von seiner Lehre (neu) zu bestimmen und sie dadurch in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, angesichts des umfangreichen Werks und der nicht minder umfangreichen Literatur, die sich in den letzten achtzig Jahren zu den unterschiedlichen Aspekten dieses Denkens angesammelt hat, für ein vermessenes oder gar überflüssiges Unterfangen halten. Auf die Frage, worum es Heideggers Philosophie geht, scheinen zahlreiche Stellen aus seinem Werk eine hinreichende Antwort zu liefern. Auch in der Heidegger-Literatur herrscht über die Frage nach der Sache von Heideggers Denken – ganz im Gegensatz zu der schwierigen Frage nach Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus, die eine fast unüberschaubare Debatte hervorgebracht hat – weitreichendes Einverständnis. Und das, obwohl diese Frage auf das Engste mit der anderen, viel diskutierten Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Politik verbunden ist.

Es lässt sich nicht leugnen, dass Heidegger selbst die Frage nach der Sache seiner Philosophie, die er für ein wichtiges, ja sogar für das entscheidende philosophische Problem gehalten hat,4 auf eine ausgesprochen eindeutige Weise beantwortet hat. Auf eine so eindeutige Weise, dass die meisten Interpret_innen kein Bedürfnis verspürten, diese Frage erneut zu stellen und ich mich dem Verdacht nicht entziehen kann, dass er mit dieser zur Schau gestellten Entschiedenheit ein bestimmtes, unausgesprochenes Interesse verfolgte.

Das ›Interesse‹ einer Philosophie, also die Tatsache, dass es ihr ›um etwas geht‹, bezeichnet Heidegger als ihre ›Sorge‹. Ich gebe demselben Begriff einen anderen, romanischen Namen, jedoch nicht weil ich der weitverbreiteten Meinung bin, man könne dem verfänglichen Einfluss von Heideggers Begrifflichkeit schon dadurch entkommen, dass man sein Denken mit einer neuen Nomenklatur versieht. Der andere Name soll vielmehr darauf hinweisen, dass meine Arbeit sich für dasselbe Grundproblem interessiert wie Heideggers Philosophie, dabei allerdings ein anderes, diametral entgegengesetztes Interesse verfolgt (nämlich das Interesse von Heideggers Philosophie explizit zu machen), dass also, kurz gesagt, die Sache von Heideggers Philosophie nicht die meine ist.

Die Frage nach dem Interesse oder der Sorge und somit nach der ›Sache‹ ist für Heideggers Philosophie von entscheidender Bedeutung. In dem Moment, in dem Heideggers Denken endgültig eine Eigenständigkeit gegenüber dem Denken seines ›Meisters‹ Edmund Husserl gewinnt, geht es um nichts anderes. Bereits in der wichtigen ersten Marburger Vorlesung Einführung in die phänomenologische Forschung betont Heidegger, Husserls Philosophie sei von einer »Sorge« um theoretische Erkenntnis getragen und »beruhige« sich deshalb bei der »Gewissheit« (17:286; vgl. 20:247).5 Diese ›Beruhigung‹ bei der ›Gewissheit‹, die Heidegger für ausgesprochen ›unphilosophisch‹ hält,6 lasse sich darauf zurückführen, dass für Husserl die Sache des Denkens nicht zur Frage wird: »Das phänomenologische Prinzip ›Zu den Sachen selbst‹ hat eine ganz bestimmte Auslegung erfahren. ›Zu den Sachen selbst‹ heißt: zu ihnen, sofern sie als Thema einer Wissenschaft in Frage kommen« (17:274). Husserls Philosophie bestimme sich und ihre Sache demnach nicht selbst, sondern lasse sich von außen bestimmen, von der unhinterfragt übernommenen Tradition und von dem, was Heidegger als »positive Wissenschaften« bezeichnet. Wenn man hingegen die Sorge oder das Interesse und somit das philosophische Problem der Selbstbestimmung explizit mache, »dann ist auch ein Zugang zu dem eröffnet, was wir als die spezifische Unruhe einer Sorge bezeichnen« (17:61). Dieses Argument (und nur dieses, denn alle weitere Kritik an Husserl ist in diesem Argument fundiert) markiert den Punkt, an dem der ›Schüler‹ sich von der Autorität seines ›Meisters‹ und der philosophischen Tradition löst und sich auf den Weg einer Radikalisierung der Frage der Selbstbestimmung begibt.7 Ab diesem Punkt geht Heideggers Philosophie allein und kennt keine ›Einflüsse‹ mehr (weder von Aristoteles noch von Kant, weder von Hölderlin noch von Nietzsche), zumindest nicht in Bezug auf das, worum es geht.8 Ganz am Ende dieses Weges der Radikalisierung, in einem späten Text mit dem Titel Zur Frage nach der Bestimmung des Denkens, fasst Heidegger den für seine ganze Philosophie entscheidenden Grundgedanken noch einmal zusammen: »Die Forderung an das Denken, ›zu den Sachen selbst‹ zurückzukehren, hat erst dann ihren Sinn und einen verlässlichen Anhalt, wenn zuvor gefragt wird, welches denn die Sache des Denkens sei und woher sie ihre Bestimmung empfange« (16:632; vgl. 98:152).

3. Zur ›Sache‹

Die zahlreichen Stellen, an denen sich Heidegger über die Sache seiner Philosophie ausspricht, stimmen alle darin überein, dass es ihr um den ›Sinn‹ oder um die ›Wahrheit‹ des Seins gehe.9 Die nicht minder zahlreichen Stellen, an denen er sich dazu äußert, woher seine Philosophie »ihre Bestimmung empfange«, vermögen hingegen in Erstaunen zu versetzen. Wie kann Heidegger schreiben, die Philosophie werde von ihrer Sache »in Anspruch genommen« (16:620), ja sogar »bedrängt« (11:53)? Wie kann Heidegger behaupten, dass nicht die Philosophie ihre Sache bestimme, sondern vielmehr umgekehrt von ihrer Sache ihre »Bestimmung empfange« (14:47)? Wie kann er seine Philosophie gar als ein »Gehorchen« (97:9) charakterisieren, das sich dem »Diktat der Wahrheit des Seins« (5:328) unterwerfe? Mündet die radikale Selbstbestimmung tatsächlich in eine Fremdbestimmung, gar in eine Hörigkeit? Oder kann es sein, dass Heideggers emphatisch präsentierte Unterwerfung unter die ›Wahrheit des Seins‹ nicht der Wahrheit entspricht? Kann es sein, dass Heideggers Philosophie doch eine Geschichte erzählt – keine Geschichte von den Dingen in der Welt, sondern von ihrer Selbstbestimmung?

Auch die folgende Untersuchung geht also auf ein Staunen zurück, auf ein Staunen, in dem das Fragloseste – dass es Heideggers Philosophie um die Wahrheit des Seins gehe – plötzlich fragwürdig wird. Auf ein Staunen, das die Frage eröffnet, ob die häufig wiederholte explizite Selbstbestimmung, die ich im Folgenden als ›Selbstpräsentation‹ bezeichne, womöglich nicht mit der systematisch notwendigen, aber nur implizit gegebenen Selbstbestimmung von Heideggers Philosophie zusammenfällt. Die systematisch notwendige Selbstbestimmung einer Philosophie bezeichne ich allgemein als ›Selbstverortung‹. Im Fall von Heideggers Philosophie, die, so die Hauptthese meiner Untersuchung, nicht die ›Wahrheit des Seins‹, sondern ihr eigenes Sein zu ihrer Sache macht, nimmt diese Selbstverortung eine besondere Form an, die ich in Anlehnung an Heideggers eigenen Sprachgebrauch als ›Selbsterörterung‹ bezeichne. Ob Heideggers Philosophie diese Erörterung wirklich ›selbst‹ vollzieht oder ob sie lediglich ein Produkt meiner ›eigenen‹ Auslegung ist, lässt sich nur in der Durchführung entscheiden.

Die Selbstpräsentation von Heideggers Philosophie in Zweifel zu ziehen bedeutet keineswegs, sie zu ignorieren. Es bedeutet auch nicht, sie nur gegenüber einer anderen These abzuwägen. Es gilt vielmehr, diese Selbstpräsentation zu verstehen und ihre systematische Notwendigkeit begreiflich zu machen. Es gilt, sie aus der Selbsterörterung heraus zu erklären. Es gilt zu erklären, warum Heideggers Philosophie, gerade weil es ihr um ihr eigenes Sein geht, behaupten muss, es gehe ihr um die Wahrheit des Seins. Eine von der Selbstpräsentation abweichende These über die Sache und die Selbstbestimmung von Heideggers Philosophie kann nur dann überzeugen, wenn sie ihr nicht einfach widerspricht, sondern zugleich erklären kann, zu welchem Zweck Heidegger seine Philosophie so präsentiert.

Der Sinn von Heideggers Selbstpräsentation – seiner Philosophie gehe es um die Wahrheit des Seins – lässt sich ausgehend von einem Hinweis begreifen, den Emmanuel Levinas in seinem Hauptwerk Totalité et infini gibt. Heideggers Erklärung, dass es seiner Philosophie um die Wahrheit des Seins gehe, »erlaubt«, so Levinas, »das Begreifen, die Beherrschung des Seienden«.10 Heideggers Philosophie, der es um ihr eigenes Sein geht, will das Seiende aneignen und beherrschen: »Es gilt, […] alles und jedes im Philosophieren auch schon in uns und zu uns selbst [zu] verwandeln« (26:285). Dieses Ziel lässt sich nur durch eine Politik erreichen, die ich, weil sie in der Sache von Heideggers Philosophie begründet ist, als ›philosophische Politik‹ bezeichne.

Es liegt in der Sache von Heideggers Philosophie zu behaupten, das, worum es ihr zu tun ist, sei eine von diesem Denken selbst radikal geschiedene Sache, ein Anderes, dem es sich zu unterwerfen gelte: die Wahrheit des Seins. Es gelte, so die Selbstpräsentation von Heideggers Philosophie, vor dem Erscheinen des ›Phänomens‹ zurückzutreten (vgl. exemplarisch: 9:189), genauer gesagt vor dem Erscheinen selbst, das sich nur zeige, indem es sich nicht zeige und dessen Auftreten nicht selbst wieder nur ein bloßes Phänomen darstelle, sondern ein Ereignis, das die Welt in einem ganz neuen Licht erscheinen lasse. Die Haltung, die diese Philosophie gegenüber ihrer vermeintlichen Sache einzunehmen vorgibt, präsentiert sie als ein respektvolles, demütiges, ehrfürchtiges, dankbares und lernendes Zuhören, das »die Dinge einfach nur sein lässt«, um es in den Worten eines einflussreichen Apologeten auszudrücken (Richardson 1963: 20). Das Einnehmen dieser Pose, das ich als ›phänomenologische Geste‹ bezeichne, ist das Kernstück der philosophischen Politik.

4. Philosophische Politik

Ihre Politik verfolgt Heideggers Philosophie in erster Linie mit ihrer Lehre, mit dem Werk im engeren Sinn, also mit den in der sogenannten Gesamtausgabe vereinten Texten, aber auch mit den Briefen und mit allen anderen überlieferten Äußerungen: Heideggers Schaffen geht ganz in dieser philosophischen Politik auf. So etwas wie ›esoterische‹ Äußerungen, in denen sich seine Philosophie unmittelbar über ihre wahre Sache ausspricht, gibt es nicht. Ebenso wenig gibt es Texte, die sich mit verschiedenen Botschaften an verschiedene Adressaten richten. Dass Heideggers Philosophie eine Politik verfolgt, macht sie also nicht zu einer Politischen Philosophie in dem strengen Sinn, den etwa Leo Strauss mit diesem Wort verbinden würde.

Neben den überlieferten Äußerungen, die man zu seiner ›philosophischen Lehre‹ zählt, sind aber auch die im engeren Sinne politischen Aktivitäten, insbesondere das ›Engagement‹ für den Nationalsozialismus, Teil der philosophischen Politik. All das, was gewöhnlich unter dem Titel ›Heidegger und der Nationalsozialismus‹ verhandelt wird, muss ausgehend von der Frage der philosophischen Politik, die in der Sache seiner Philosophie begründet liegt, (neu) verstanden werden. Ebenso müssen sich Heideggers antisemitische Äußerungen, sein vermeintliches Schweigen zum Holocaust und nicht zuletzt die Entscheidung, die sogenannten Schwarzen Hefte zu veröffentlichen, aus dieser Perspektive erklären lassen. Die philosophische Politik und ihren Sinn sichtbar zu machen, ist das Herzstück der folgenden Untersuchung.

Obwohl der volle Sinn dieser Politik erst am Ende der Untersuchung begreiflich wird, so lässt sich an dieser Stelle zumindest schon ihr letzter Grund angeben: Wenn Heideggers Philosophie sich von der Welt abwendet, um sie schließlich anzueignen und zu beherrschen, dann liegt darin nichts anderes als der radikalste Versuch, die oder den Anderen, die oder der die Welt mit anderen Augen sehen lässt, vollkommen auszustreichen. Dieser Versuch hebt das Verhältnis zu Anderen keineswegs auf, sondern reduziert es auf ein bloßes Bedürfnis nach der Anerkennung des Eigenen – des eigenen Seins und das heißt, der eigenen, aneignenden Auslegung der Welt – durch die oder den Anderen. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung ist der letzte Grund für Heideggers philosophische Politik: für die ›Lehre‹, für das ›politische Engagement‹ und für die ›Editionspolitik‹.

5. Anerkennung

Die These, dass Heideggers Philosophie von einem Bedürfnis nach Anerkennung getragen wird, meint mehr und anderes als die Behauptung, dass der Mensch Martin Heidegger als Philosoph und als Professor anerkannt werden wollte. Die Anerkennung, die ihm von seinen ›unphilosophischen‹ Mitmenschen entgegengebracht wurde, mag dem Philosophen zwar Freude und Genugtuung bereitet haben, entscheidend für seine Philosophie war sie jedoch nicht. Es geht Heideggers Philosophie nicht um ihren Autor, nicht um das ›Seiende‹ (um in Heideggers Begrifflichkeit zu sprechen), das diese Philosophie hervorbrachte, sondern um ihr eigenes Sein, um ihre aneignende Auslegung des Menschen und der Geschichte, in der sie sich realisiert. Das Bedürfnis nach Anerkennung, das seine Philosophie trägt, zielt auf die Anerkennung durch zukünftige Philosophen. Da für Heidegger, wie zu zeigen sein wird, die Philosophie das Wesen des Menschen ausmacht und daher alle Menschen Philosophen werden können und sollen, erstreckt sich dieses Bedürfnis nach Anerkennung jedoch potentiell auf alle Menschen. Und genau aus diesem Grund kennt Heideggers Text und seine philosophische Politik im Allgemeinen keine unterschiedlichen Adressaten.

Weil Heideggers Philosophie nach Anerkennung verlangt, muss sie wollen, dass sich die alltäglichen, ›uneigentlichen‹ und ›unphilosophischen‹ Menschen allesamt in Philosophen verwandeln. Sie muss wollen, dass alle Menschen gleichermaßen Philosophen werden, allerdings nur in einem ganz bestimmten Sinn von Philosophie: in einem Sinn, den Heideggers Philosophie vorgibt und präsentiert – in dem Sinn, wie sie sich scheinbar selbst bestimmt. Heideggers Philosophie muss also wollen, dass es den Menschen um die Wahrheit des Seins geht, um eine Wahrheit, die ihnen nur durch Heideggers eigene Philosophie zugänglich werden kann (am Schluss der Untersuchung wird sich zeigen, dass die ›Wahrheit des Seins‹ mit Heideggers Philosophie identisch ist). Die Menschen sollen zu ›Philosophen‹ und das heißt in Wahrheit, sie sollen zu Anhängern von Heideggers Lehre, sie sollen zu seiner Gefolgschaft werden. Den ›zukünftigen Philosophen‹ soll es um die präsentierte Sache von Heideggers Philosophie gehen – für sie soll das Philosophieren das sein, als was Heideggers Philosophie sich präsentiert: ein demütiges Sichbestimmenlassen von der ›Sache‹, radikale Fremdbestimmung statt radikaler Selbstbestimmung.

Diejenigen, die sich aufgrund der natürlichen Ungleichheit zwischen den Menschen nicht unmittelbar Heideggers Gefolgschaft anschließen, sollen sich zumindest in einem abgeleiteten, ›uneigentlichen‹ Sinn um die präsentierte Sache von Heideggers Philosophie sorgen. Sie sollen Heideggers Philosophie und ihre Gefolgschaft zumindest als etwas Edles und Vornehmes ansehen, als etwas, das sie zwar selbst nicht verstehen, vor dem sie aber Ehrfurcht und Respekt empfinden. Die aus Heideggers Perspektive ›unwesentlichen‹ und ›uneigentlichen‹ Menschen sollen durch ihre alltägliche und unphilosophische ›Sorge‹ um das ›tägliche Brot‹ die existenzielle Grundlage für die existenziale ›Sorge‹ der Philosophie sichern. Getragen werden soll ihre Sorge von einem Glauben, einem Glauben an einen zukünftigen Gott, der sich als ein Glaube an Heideggers Philosophie entpuppen wird.

In der radikalen Selbstbestimmung von Heideggers Philosophie tritt das Grundproblem zutage, das im Bedürfnis nach Anerkennung verborgen liegt. Auch wenn es auf die Freiheit des Anderen abzielt, läuft es stets Gefahr, den Anderen auf das Eigene zu reduzieren, ihn zu beherrschen und ihm eine Rolle in der eigenen Welt zuzuweisen – eine Gefahr, der die Philosophie nur durch ein selbstkritisches Verhältnis zu diesem Bedürfnis entkommen kann.

Die Behauptung, mit der Anerkennung werde stillschweigend ein Verhältnis von Herrschaft und Gehorsam eingerichtet, mag zunächst verwundern, steht sie doch im Widerspruch zu der weitverbreiteten Annahme, das Streben nach Anerkennung ziele »nicht auf Subordination«, sondern »auf Koordination« ab, auf eine »Wechselwirkung durch Freiheit« (Fichte [1794] 1971a: 307 f.) und eine in dieser Wechselwirkung sich realisierende Gleichheit. Kein Individuum könne »das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln« (Fichte [1796/97] 1971b: 44).

Tatsächlich ist die moderne Vorstellung der Anerkennung unlösbar mit der Idee der Gleichheit verbunden: Anerkennung setzt Gleichheit voraus und erzeugt sie zugleich – in einem Prozess, der oft als Kampf um Anerkennung beschrieben wurde, als Kampf zwischen Ungleichen. Wenn die Philosophen der Moderne der Meinung waren, dass die Gleichheit und die damit verbundene Anerkennung die Grundlage für eine gewisse, bürgerliche Freiheit darstellen, sahen sie zugleich die mit dieser Idee einhergehende Gefahr, alle Menschen auf dieses Gleiche zu reduzieren: eine Gefahr für eine andere Freiheit, für die Freiheit, anders zu sein. So sehr sie die Gleichheit und die wechselseitige Anerkennung als politisches Prinzip bejahten, so sehr sie der Meinung waren, dass diese Gleichheit die Voraussetzung für eine politische Freiheit sei, so sehr war ihnen bewusst, dass es immer einen geben musste, der bestimmt, worin diese Gleichheit besteht, einen ›Philosoph‹, der durch diese verborgene Herrschaft gleicher war als die anderen und dadurch Gefahr lief, die menschliche Existenz auf diese Sphäre der Gleichheit zu reduzieren. Weil Rousseau die Möglichkeit der Ungleichheit, der Alterität, die Möglichkeit von Existenzweisen, die nicht in dieser Gleichheit aufgehen, bewahren wollte, warnte er in seinem Diskurs über die Ungleichheit vor dem »soziablen Menschen«, der »nur in der Meinung der Anderen zu leben« weiß. Es sollte sowohl innerhalb als auch außerhalb der auf Gleichheit und wechselseitige Anerkennung gegründeten Gesellschaft noch andere Existenzweisen geben können – zum Beispiel seine eigene oder die der »Wilden«, die nicht an der wechselseitigen Anerkennung teilhaben – denn der Wilde lebe »in sich selbst« und sei auf die Anerkennung und die Gleichheit, kurz gesagt, auf die Gesellschaft, nicht angewiesen (Rousseau [1755] 2008: 269).

In der deutschen Tradition der Anerkennungslehre, die mit Fichtes Zurückweisung von Rousseaus zweitem Discours in seiner Schrift über die Bestimmung des Gelehrten einsetzt und später von Heidegger zu ihren letzten Konsequenzen getrieben wird, blieb die Warnung vor einer Entgrenzung der Sphäre der Gleichheit ungehört. Durch eine eigenwillige Aufnahme der Lehren Kants ist der Mensch für Fichte dazu »bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; er ist kein ganzer vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isoliert lebt« (Fichte [1794] 1971a: 306). Und auch Hegel schreibt wenige Jahre später: »Der Mensch wird notwendig anerkannt und ist notwendig anerkennend. […] Als Anerkennen ist er selbst die Bewegung und diese Bewegung hebt eben seinen Naturzustand auf: Er ist Anerkennen« (Hegel [1806/07] 1969: 206; vgl. [1807] 1986b: 145). Doch wenn der Mensch nichts anderes sein soll als Anerkennen, nichts anderes als ein Mitglied der (bürgerlichen) Gesellschaft und wenn der Philosoph, oder, mit Fichte gesprochen, der »Gelehrte« bestimmt, worin diese Gleichheit besteht, ist dann nicht die wechselseitige Anerkennung in erster Linie eine Anerkennung dieser Philosophie? Ist diese Tradition dann nicht »genötigt, aus dem Menschen einen Philosophen zu machen, ehe man einen Menschen aus ihm macht« (Rousseau [1755] 2008: 57)?

Indem sie die Anerkennung zur Bedingung für das Menschsein macht, macht sie tatsächlich aus dem Menschen einen Philosophen, aber gerade keinen »Selbstdenker«, wie Kant es fordert, sondern einen »sklavisch nachahmenden« Anhänger einer Lehre (L:449).11 Der Mensch soll anerkennen, dass er seinem Wesen nach politisch ist und sein soll und dass die Politik ihrem Wesen nach Gleichheit ist und sein soll. Der Mensch, der als »Anerkennen« seinem Wesen nach über den Naturzustand hinaus sei, habe sich immer schon auf den teleologischen Weg seiner Gattungsgeschichte begeben, dessen τέλος Fichte als die »völlige Gleichheit aller ihrer Mitglieder« bezeichnet. Die wichtigste Aufgabe des Gelehrten bestehe dabei in der »obersten Aufsicht über den wirklichen Fortgang des Menschengeschlechtes im allgemeinen« und in der »steten Beförderung dieses Fortganges« (Fichte [1794] 1971: 328).

Bei Heidegger scheint dieser »Fortgang« bereits vollendet und die Totalisierung jener auf Gleichheit beruhenden politischen Freiheit ›immer schon‹ vorausgesetzt zu sein. Der Prozess des »Sichbefreiens« ist für Heidegger einerseits mit der menschlichen Existenz identisch, er ist »Bedingung der Möglichkeit« (31:303; vgl. 26:238; 29/30:28) und als solche immer schon abgeschlossen, andererseits aber setzt das Sichbefreien ›Entschlossenheit‹ und somit Philosophie voraus, ist gar das »Zentrale […], was Philosophie als Philosophieren leisten kann« (3:285; vgl. 29/30:224). Wenn Freiheit bedeutet, »in seinem Anderen bei sich selbst [zu] sein« (Hegel [1830] 1986a: 84), dann ist die vollkommene Freiheit die Ausstreichung des Anderen. Heideggers ›Dasein‹ hat den Anderen ›immer schon‹ anerkannt, hat ihn immer schon einer aneignenden Auslegung unterzogen und zu einer Möglichkeit der eigenen Existenz gemacht. Der Andere kann nur im eigenen Licht erscheinen, ausgehend von der ›Wahrheit des Seins‹ verstanden werden, die Heideggers Philosophie als ihr anderes präsentieren muss, weil sie mit ihrem eigenen Sein identisch ist: Er ›ist‹ nur, insofern er angeeignet ist.

Die Philosophie hat hier keinen Prozess der »Vervollkommnung der Gattung« mehr zu überwachen (Fichte [1794] 1971: 307), sie wahrt und bewahrt nur noch entschlossen das ›Sein des Daseins‹, das gerade darin besteht, dass es ihm um sein ›eigenes Sein‹ geht. Verlegt man das Geschehen der wechselseitigen Anerkennung aus der Geschichte in die Natur des Menschen, dann ist der Andere ›immer schon‹ mit da und muss nicht mehr eigens anerkannt werden. Die rechtliche und moralische Anerkennung (die uneigentliche ›Fürsorge‹) bezieht sich für Heidegger nicht auf das Wesen des Menschen, sie bezieht sich nur auf den Menschen als Seiendes und nicht als Dasein. Die ›eigentliche‹ Sorge um den Anderen ziele hingegen darauf ab, dass der Andere die ›Wahrheit des Seins‹ anerkenne. Die Menschen sollen anerkennen, dass sie sich ›immer schon‹ wechselseitig anerkannt haben, dass sie sich ›immer schon‹ wechselseitig als ›Dasein‹ verstanden haben, dass es ihnen ›immer schon‹ um ihr eigenes Sein ging und dass dieses eigene Sein dasselbe sei wie die ›Wahrheit des Seins‹. Indem sie das anerkennen, sollen sie zu Philosophen werden, sollen sie anerkennen, dass sie ›immer schon‹ Philosophen waren, Philosophen in dem Sinn, den Heidegger ihnen präsentiert: Sie sollen Anhänger von Heideggers Lehre werden.

Wie Rousseau betont, besteht für den soziablen Menschen die Gefahr der gesellschaftlichen Existenz, der wechselseitigen Anerkennung, darin, sich ganz in der Meinung des Anderen zu verlieren, durch die gleichmachende Kraft der öffentlichen Meinung das Eigene zu verlieren. Für den Philosophen besteht eine nicht minder große Gefahr darin, den Anderen auf das Eigene zu reduzieren, den Anderen nur in dem Sinne ›sein‹ zu lassen, den die eigene Philosophie dem Wort ›Sein‹ verliehen hat. In dem Moment, in dem die Philosophie die Sphäre der Meinung entgrenzt, immunisiert sie sich auch gegen die Meinung des Anderen. Wenn der Andere nur noch ›anerkannt‹ wird, wenn er nur noch als ›Vernunftwesen‹ oder als ›Dasein‹ begegnen kann, dann kann er die Philosophie, die dieses Gleiche bestimmt hat, nicht mehr infrage stellen. Wenn die Sphäre des Politischen gleichzeitig eingeebnet und entgrenzt wird, wenn die Menschen ›immer schon‹ in einer Öffentlichkeit leben, die dann nur noch als undifferenziertes und unbedeutendes ›Gerede‹ erscheinen kann, dann ist die Meinung des Anderen ›immer schon‹ gleichgültig. Wenn die Menschen schon ihrer Natur nach Philosophen sind, dann sind auch das Erstaunen und die Abkehr von der Meinung vorgezeichnet, dann ist auch der Sinn von Philosophie bereits vorgegeben und der Andere kann diesen Sinn weder als Bürger noch als vermeintlicher ›Philosoph‹ infrage stellen. Er kann ihn nur durch seine ›unphilosophische‹ oder durch seine ›philosophische‹ Sorge anerkennen.

Da Heideggers Philosophie keine andere Beziehung zum Anderen kennt als eine Herrschaft, die sich in sklavischer Anerkennung realisiert, ist sie von ihrer Gefolgschaft ebenso abhängig wie diese von ihr. Die doppelte und hierarchische ›Anerkennung‹ durch die künftigen Philosophen und die alltäglichen Menschen ist der Endzweck von Heideggers ›philosophischer Politik‹, die schon deswegen keine Politische Philosophie sein kann, weil für Heidegger in der entscheidenden Hinsicht über das Politische ›immer schon‹ entschieden wurde.12

6. Vom Historikerstreit zum Philosophenstreit

Ich verwende den Ausdruck ›philosophische Politik‹ (der noch weiterer Klärung bedarf) auch, um einer verirrten, aber aufschlussreichen Ausprägung der Debatte um das ›Verhältnis von Heideggers Philosophie und dem Nationalsozialismus‹ und damit um das ›Verhältnis von Philosophie und Politik‹ im Allgemeinen zu entgehen. In dieser wirkmächtigen Ausprägung der ausufernden Debatte um Heideggers ›Engagement‹ werden Philosophie und Politik als zwei voneinander getrennte oder zumindest prinzipiell trennbare Sphären vorgestellt, die sich in einem bestimmten Moment (beispielsweise im Ereignis des ›Engagements‹) miteinander verbinden. Dieser Moment wird entweder so begriffen, dass die Politik plötzlich in die Sphäre der Philosophie eindringt oder so, dass die Philosophie plötzlich (also naiv und unvorbereitet) in die Sphäre der Politik hinaustritt – ein Schema, das der Bedeutung und der Komplexität der Frage nicht gerecht werden kann.

Kaum eine Frage der deutschen Geschichte und schon gar nicht der deutschen Philosophiegeschichte hat in der jüngeren Vergangenheit eine vergleichbare Debatte hervorgebracht wie das Problem ›Heidegger und der Nationalsozialismus‹. In der Frage nach Heideggers ›Engagement‹ scheint sich die gesamte öffentliche Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu kristallisieren. Nicht zu Unrecht wirft Emmanuel Faye die Frage auf, ob »aus dem Historikerstreit von 1986 mittlerweile ein ›Philosophenstreit‹ geworden« sei (Faye 2009: 458).

Fast scheint es, als wollte die eine Seite ›den Deutschen‹ in der Gestalt von Heideggers Philosophie Absolution erteilen, während die andere Seite ›das Abendland‹ in Form ›der Philosophie‹ (ein ›abendländisches Erbe‹, ohne welches der Begriff einer universalen Schuld seinen Sinn verlieren würde und das vor Heideggers Denken gerettet werden soll) schadlos halten wollte. Entweder, so legt es der Philosophenstreit nahe, wird Heideggers unschuldiges Denken von der Politik, von einer aggressiven Ideologie infiltriert oder es macht sich schuldig, indem es die unschuldige Philosophie verrät, indem es sich mit der Politik einlässt und aufhört, reine Philosophie zu sein. Entweder wirft Heideggers Engagement einen »Schatten« auf sein »Werk« (Habermas 1988: 14), oder Heideggers Werk wirft einen ›Schatten‹ auf ›die Philosophie‹ – der Stellenwert von Heideggers Denken respektive der Stellenwert der Philosophie, ihre Würde und ihre Bedeutung, sorgen allerdings dafür, dass sie nicht ›diskreditiert‹ werden können oder sollen. So unterschiedlich die Positionen und Interessen in diesem ›Philosophenstreit‹ sein mögen, das Schema der zwei Sphären bleibt meist der common ground – ebenso wie das Schema für die ›Verbindung‹ oder den ›Kontakt‹ zwischen diesen beiden Sphären: die Vorstellung einer ›Kontamination‹ der ansonsten reinen Philosophie (vgl. Precht 2016). Ist es nicht bemerkenswert, dass sich Heideggers Selbstauslegung und die apologetische Auslegung seiner Gefolgschaft ebenso auf dieses Schema berufen können wie seine ärgsten Feinde? Hätte nicht Heidegger selbst behaupten können, dass seine Philosophie vom Nationalsozialismus ›kontaminiert‹, dass sie, wie Faye es formuliert, »von einem Malstrom« mitgerissen wurde (Faye 2009: 11)?

7. Kontamination und Dekontamination

Ausgehend vom Schema der Kontamination der Philosophie lassen sich drei weit verbreitete Strategien in der Debatte um Heideggers ›Engagement‹ unterscheiden. Eine extreme Strategie, die durch die Veröffentlichung der sogenannten Schwarzen Hefte in jüngster Zeit an Popularität eingebüßt hat, besteht in der vollständigen Verneinung der Kontamination: in der Behauptung, Heideggers Philosophie sei von der Sphäre des Politischen, von »jeder ursprünglichen und wesentlichen Kontamination« (Derrida 1988d: 18), gänzlich unberührt. Es ist die Strategie der Selbstpräsentation und der philosophischen Politik. Eine Strategie, die Ernst Nolte auf den Punkt bringt, wenn er behauptet, »dass Heidegger offenbar niemals auch nur versucht gewesen ist […], seine ›großen Begriffe‹ – wie Seinsvergessenheit oder Vollendung der Metaphysik – mit ›den Juden‹ zu verknüpfen. Insofern war er das gerade Gegenteil von Adolf Hitler, und er wäre es sogar dann gewesen, wenn er gelegentlich gesagt hätte, er habe keine Sympathie für Juden, oder die Juden in Amerika arbeiteten gegen ihn« (Nolte 1992: 290 f.).

Die diametral entgegengesetzte Position besteht in der Behauptung einer vollständigen Kontamination von Heideggers Philosophie, in der Behauptung, Heideggers Denken habe sich vollständig »in den Dienst der Rechtfertigung und Verbreitung des Nationalsozialismus und seiner Fundamente« gestellt (Faye 2009: 12), in der Behauptung also, Heideggers Denken habe den Nationalsozialismus in die Philosophie eingeführt (wie es der Titel des einflussreichen Werks von Emmanuel Faye will). Diese beiden Positionen stellen die Grenzfälle für das Schema der Kontamination dar. In beiden Fällen hat die Kontamination ›eigentlich‹ nie stattgefunden. Einmal hat sie nicht stattgefunden, weil Heideggers Philosophie vollkommen rein geblieben ist, das andere Mal ist die Kontamination so vollkommen, dass es keine Philosophie mehr gibt, die hätte kontaminiert werden können: so vollkommen, dass nur noch von einer nationalsozialistischen Ideologie die Rede sein kann, weil Heidegger sein Werk »in seiner Gesamtheit in den Dienst des nationalsozialistischen Staates« (Faye 2009: 296) gestellt habe, weil »seine Lehre nicht auf einen philosophischen, sondern auf einen politischen Zweck abzielt« (274). Die aus dieser Position resultierende, karikaturhafte Darstellung, der zufolge Heideggers Spätphilosophie der Verzweiflung eines unverbesserlichen Nationalsozialisten entspringt, der nach dem Krieg sehnsüchtig die Rückkehr des Dritten Reichs erwartet, lässt sich weniger aus dem Gegenstand als vielmehr aus dem Interesse jener Untersuchung erklären. Denn in Fayes Augen fand eben doch eine Kontamination statt: Nicht Heideggers Denken wurde kontaminiert, sondern die ›reine Philosophie‹, oder ›die Metaphysik‹ (2009: 11 ff., 16, 23, 128, 233), worunter er eine Cartesianisch-Husserlianische Vorstellung von Philosophie versteht, der es um »die Wahrheit« gehe, was für ihn dasselbe heißt wie »rationale Gewissheit« (2009: 358).13 Die laute Anklage von Heideggers Philosophie dient hier also der Dekontamination einer »reinen Philosophie«, die sich selbst von jeglicher Verstrickung in die Geschichte freizusprechen sucht.

Zwischen diesen beiden Extrempositionen eröffnet sich schließlich eine ganz neue Möglichkeit der Apologie: die Behauptung einer partiellen und reversiblen Kontamination. Dieser Vorstellung gemäß werden die zunächst ›neutralen theoretischen Einsichten‹ zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer politischen Ideologie kontaminiert. Die Ideologie »befällt« die Philosophie zunächst ganz punktuell, zugleich »kon-taminiert« sie aber, »berührt anderes mit« (Trawny 2014a: 12).14 Insbesondere könne sich dann rückwirkend zeigen, dass diese Kontamination bereits »angelegt« gewesen sei (Schwan 1965: 101), dass wichtige Begriffe in Heideggers Philosophie immer schon ›politisierbar‹ gewesen seien (Grosser 2011: 235 ff.), dass einzelne »Motive« des Denkens sich notwendigerweise der Gefahr des »Irrens« aussetzen mussten (de Beistegui 1998: 5), weil sie »für verschiedene politische Konkretisierungen« offen gewesen seien (Zaborowski 2010: 176), oder dass Heideggers Philosophie schon seit ihren ersten Anfängen, durch ihre Einflüsse und die Sozialisation des Philosophen zum Nationalsozialismus bzw. Antisemitismus ›disponiert‹ gewesen sei (Mehring 2016b: 187). Ganz egal wie viele ›Passagen‹, ›Begriffe‹, ›Theoreme‹ oder ›Motive‹ von den verschiedenen Formen der Kontamination ›betroffen‹ sein sollen, setzt diese Vorstellung immer die Möglichkeit einer reinen Philosophie voraus, die sich durch einen Prozess der ›Dekontamination‹, der ›Epuration‹ oder ›Denazifizierung‹ wiederherstellen ließe. Sie setzt voraus, dass es einen reinen Kern von Heideggers Philosophie gibt, dass das ›Engagement‹ nicht in ihrer Sache lag, dass Heideggers Philosophie ›unpolitisch‹ war und nur von der politischen Ideologie der Person Martin Heidegger kontaminiert wurde. Die folgende Untersuchung zeigt hingegen wie das ›Engagement‹ nicht in einzelnen Aspekten dieser Philosophie, sondern in ihrer Sache selbst ›angelegt‹ ist.

8. Die Ordnung der Fragen

Allen drei Strategien ist gemein, dass sie die Frage nach dem ›Verhältnis von Philosophie und Politik‹ zur ersten Frage machen, aus der sich etwas über die Frage nach Heideggers Philosophie und somit nach ihrer Sache ausmachen lassen soll. Die Frage nach dem ›Engagement‹ soll zeigen, was Heideggers Philosophie wirklich ist, worum es ihr im Kern zu tun ist. Ich denke, dass sich in dieser Ordnung der Fragen eine vorgeblich kritische, tatsächlich aber bequeme und zuweilen auch apologetische Haltung ausspricht. Wer meint, Heideggers Philosophie aus dem nationalsozialistischen ›Engagement‹ oder aus den antisemitischen Äußerungen ihres Urhebers erklären zu können, muss sich nicht mit der schwierigsten Frage herumschlagen: Liegen dieses ›Engagement‹ und diese Äußerungen in der Sache von Heideggers Philosophie begründet? Und wer diese Frage nicht stellt, läuft immer Gefahr, sich zum Erfüllungsgehilfen einer philosophischen Politik zu machen, für die es wesentlich ist, ihre wahre Sache zu verbergen. Wem die ›phänomenologische Geste‹, die in jedem der bisher erschienenen Bände der sogenannten Gesamtausgabe klar erkennbar ist, in keiner Weise fragwürdig erscheint, muss eine unkritische Grundhaltung gegenüber Heideggers Philosophie unterstellt werden. Wer sich nie fragt, welche Intention sich hinter dieser pathetischen Selbstpräsentation verbirgt, wer glaubt, die »Grundbewegung von Heideggers Denken« ließe sich »als ›responsiv‹ bezeichnen« (Trawny 2016: 109), der verhält sich zur Lehre, nicht aber zu der Philosophie, die mit dieser Lehre ein bestimmtes Interesse verfolgt. Wer eine oberflächliche, dekontaminierende Kritik inszeniert, lässt den Kern einer Philosophie intakt, die dem Nationalsozialismus jubelnd in die Arme gelaufen ist.

Anstatt von außen über sie zu urteilen, anstatt aus dem ›Engagement‹ auf die Philosophie zu schließen, gilt es, das ›Engagement‹ aus der Philosophie zu erklären. Und dazu genügt es nicht, einzelne kontaminierte ›Begriffe‹, ›Gedanken‹, ›Motive‹ oder ›Theoreme‹ auszumachen. Eine derartige Praxis würde gerade die Vorstellung eines reinen, unpolitischen Kerns der Philosophie reproduzieren, einer Essenz, die von den ›kontaminierten‹ und akzidentiellen Aspekten bereinigt werden kann.

Es geht also darum, Heideggers philosophische Politik aus der Sache zu erklären – allerdings aus der Sache gemäß der Selbstverortung, die diese Politik notwendig macht und nicht gemäß der Selbstpräsentation, in der diese Politik aufgeht. Wer sich auf letztere beruft, reproduziert fast unweigerlich die phänomenologische Geste und damit die gesamte philosophische Politik und ihre spezifische Apologetik. Wenn Heideggers Philosophie sich wirklich in einem »Zurücktreten vor dem Seienden« (9:189) ihrer Sache nähert, die von ihr selbst radikal verschieden sei und zu der sie ein ›responsives‹ Verhältnis unterhalte (Trawny 2010: 109), dann kann sie auch um diese Sache »herumirren« (25:2). Wenn sie zwar weiß, dass ihre Sache dieses andere (die ›Wahrheit des Seins‹) ist, nicht aber, ›was‹ sie ist, wenn sie in ihrem Zurücktreten vor dem Seienden darauf angewiesen ist, dass und als was sich das Seiende von selbst zeigt, dass und als was sich dieses ›Sich-selbst-zeigen‹ offenbart, wenn sie kurz gesagt ihre Sache weder begreifen noch befragen kann, dann kann sie sich auch von ihr täuschen und ›in die Irre führen lassen‹. 1967 schreibt Heidegger in seiner Vorbemerkung zu den Wegmarken: »Wer sich auf den Weg des Denkens begibt, weiß am wenigsten von dem, was als die bestimmende Sache ihn – gleichsam hinterrücks über ihn weg – zu ihr bewegt« (9:IX). In diesem Satz findet sich die Erklärung für den viel zitierten Grundsatz der Apologetik: »Wer groß denkt, muss groß irren« (97:179). Gemäß ihrer Selbstauslegung begeht Heideggers Philosophie keinen Irrtum und macht keine Fehler, sie geht vielmehr in die »Irre«, weil sie von ihrer Sache dorthin geführt wird.15 Weil sie sich von ihrer Sache bestimmen lasse, anstatt sie umgekehrt selbst zu bestimmen, liege der ›Grund‹ oder besser gesagt die ›Unergründlichkeit‹ des Irrens in der Sache selbst. Diese Selbstpräsentation ist, wie es zu betonen gilt, keineswegs eine bloß nachträgliche Rechtfertigung des ›Engagements‹. Die These, dass die Philosophie »unterwegs in die Irre« (9:197) sei, findet sich schon vor dem ›Engagement‹. Nicht nur aus der Perspektive der Selbstpräsentation, sondern auch vom Standpunkt der Selbstverortung aus lässt sich sagen, dass Heideggers Philosophie in die Irre führt – allerdings in einem ganz anderen Sinn, der am Ende des zweiten Teils dieser Arbeit verständlich werden wird.

9. Editionspolitik

Das richtige Verständnis des Problems ›Heidegger und der Nationalsozialismus‹ hängt keineswegs von einzelnen neu veröffentlichten Äußerungen ab. Der ›Fall Heidegger‹ ist längst bekannt, kein neues Material wird Wesentliches hinzufügen können. Auch die Veröffentlichung der sogenannten Schwarzen Hefte hat daran nichts geändert. Erstaunlicher als die berüchtigten, antisemitischen Passagen dieser Hefte war das Erstaunen, das sie bei vielen Interpret_innen hervorgerufen haben. Erstaunlicher als die Tatsache, dass Heidegger eine Reihe von unsäglichen antisemitischen Stereotypen reproduzierte, ist, genauer gesagt, die Tatsache, dass viele Interpret_innen das für unmöglich hielten, für unvereinbar mit seiner Philosophie. Es ist erstaunlicher, weil Heidegger das Wesentliche, das Material, das es erlaubt, sich über seine Philosophie und ihre Politik Klarheit zu verschaffen, keineswegs versteckte: Er verbarg es vielmehr, indem er es präsentierte und veröffentlichte (vgl. Cohen-Halimi und Cohen 2016). Genauso wie Heidegger es immer von der Sache seines Denkens behauptete, tritt das Erscheinen hinter der Erscheinung zurück. Nur dass die Sache eine andere ist. Eine Sache nämlich, die nur erscheint, indem sie sich als etwas anderes präsentiert.

Das Herzstück dieser Präsentation stellt zweifelsfrei die auf 102 Bände angelegte, sogenannte Gesamtausgabe dar. Dass diese Ausgabe ›letzter Hand‹ in höchstem Maße unvollständig, intransparent und unzuverlässig ist, kann nicht überraschen: Von Heidegger geplant, steht sie ganz im Zeichen einer philosophischen Politik, der es gerade nicht um die Wahrheit (des Seins) geht. Weitaus schwieriger zu verstehen ist jedoch, warum eine beachtliche Zahl von Bänden in diese Sammlung aufgenommen wurde, die zwar von den Herausgeber_innen gerne als ›heimliche Hauptwerke‹ beworben werden, tatsächlich aber philosophisch weitgehend wertlose, konfus oder gar nicht komponierte und äußerst repetitive Konvolute darstellen (etwa die Bände 66, 69–71, 73, 76). Bedenkt man wiederum, wie viel Sorgfalt Heidegger (und seine Apologet_innen) darauf verwandte, sein Werk als eine »Philosophie im Werden« zu präsentieren, die von ihrer Sache auf immer neue »Wege« (manchmal auch auf »Holzwege« oder auf »Abwege«, die in die »Irre« gehen) geführt werde, dann verlieren diese »Einblicke« in die »Werkstatt des Denkens« schnell an Befremdlichkeit – und an Unschuld. Noch schwerer zu begreifen ist schließlich die Veröffentlichung der sogenannten Schwarzen Hefte: Einerseits reihen sie sich zwar in die Liste der eben erwähnten Konvolute ein, andererseits bieten sie aber auch jene vieldiskutierten Einlassungen zu im engeren Sinne politischen Themen, die dem Ansehen von Heideggers Philosophie nur schaden konnten.16

Die Frage ist in der Tat nicht leicht zu beantworten, erst recht nicht aus einer Perspektive, die behauptet, Heideggers Philosophie sei von einem Bedürfnis nach Anerkennung getragen. Warum haben die berüchtigten antisemitischen Stellen Eingang in die Gesamtausgabe gefunden, wenn Heidegger sie ohne Weiteres hätte streichen und vernichten können? Ich denke, er hat sie nicht gestrichen, weil seine Philosophie nach einer Form von Anerkennung strebt, die diese Dinge für bedeutungslos hält: Wenn das Denken irrte, dann irrte es groß, weil es von seiner Sache in die Irre geführt wurde. Wenn der Denker irrte, dann tat es nichts zur Sache. Seine Philosophie sollte anerkannt werden, obwohl der Philosoph ein Nationalsozialist war: Der Philosoph soll sich nicht verstecken müssen, weil sein Nazismus in Anbetracht seiner Philosophie bedeutungslos ist. Die vollkommene Anerkennung der Philosophie sollte das Leben des Philosophen überstrahlen.17 Der vollkommene Triumph seiner Philosophie würde darin bestehen, dass man in Zukunft en pleine connaissance de cause über Heideggers Leben so denken würde, wie er das Leben von Aristoteles gesehen hat: Er »wurde geboren, arbeitete und starb. Wenden wir uns also seinem Denken zu« (Arendt [1969] 1992: 184). Das in Rede stehende Bedürfnis nach Anerkennung verlangte gerade nicht in erster Linie nach einer Anerkennung der Persönlichkeit und der Lebensgeschichte des Philosophen. Nur indirekt sollte er anerkannt werden, als jemand der sein Leben ganz in den Dienst der Philosophie gestellt hatte – wann immer er dies nicht getan hatte, sollte es sich um zu vernachlässigende »Entgleisungen« handeln (an Marcuse, 20. 1. 1948: 137).

In der Gesamtausgabe sollten zu diesem Zweck zunächst die von Heidegger selbst »bearbeiteten« Vorlesungen und die zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften erscheinen, um die Aufnahme der zunehmend obskuren und philosophisch unbedeutenden, unveröffentlichten Texte vorzubereiten. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte, so das Kalkül Heideggers, sollte die ›innere Größe und Wahrheit dieser Bewegung‹ (nämlich des ›Denkweges‹ seiner Philosophie) so allgemein anerkannt sein, dass ihre vermeintlich äußeren Umstände, die Verstrickung mit der Lebensgeschichte des Philosophen und dadurch mit der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts zugleich hingenommen und ignoriert würden. So lässt sich der ›letzte Wille‹ des Philosophen grob zusammenfassen.

Nicht nur die Auswahl, auch die Anordnung und die Reihenfolge des Erscheinens der Bände folgen einem politischen, genauer gesagt, einem pädagogischen Zweck. Allerdings denke ich nicht, dass es sich beim Fortgang der Gesamtausgabe um eine »esoterische Vertiefung« handelt, um einen »Initiationsgang«, der zu einem esoterischen Zentrum, zu einem ›Adyton‹ führt, um schließlich in einer letzten »politisch-pädagogischen Wendung« die exoterische Präsentation und Verbreitung dieser esoterischen Lehre vorzubereiten (Mehring 2016a: 277),18 sondern ganz im Gegenteil um eine Bewegung, die vom Zentrum des Denkens in seine Peripherie führt, bis an seine Außengrenzen und nicht selten darüber hinaus.

10. Selbsterörterung

Unabhängig davon, wie man zu der sogenannten Gesamtausgabe steht, unabhängig davon, ob man sie für einen »international scandal of scholarship« hält oder nicht (Kisiel 1995: 315; vgl. auch Meyer 2016: 306),19 muss man keineswegs das Erscheinen einer vollständigen, unverfälschten oder gar historisch-kritischen Ausgabe abwarten, um sich ein Bild von Heideggers Philosophie und ihrer Politik zu machen. Die Gesamtausgabe zeigt zwar nicht alles, sie zeigt das Wesentliche aber besser, als jede kritische Ausgabe es könnte: Sie zeigt die Sache von Heideggers Philosophie, indem sie sie verbirgt und dadurch zugleich preisgibt. Es bedarf also keines neuen Materials, es bedarf einer neuen Perspektive auf das bereits vorhandene.

Die hier unternommene Verschiebung der Perspektive eröffnet einen neuen Blick auf die Gesamtausgabe, sie ermöglicht die Lösung der zentralen interpretatorischen Fragen, sie erlaubt, zahlreiche begriffliche Verschiebungen und gedankliche Fortschritte zusammenzuführen und die systematischen und chronologischen Zusammenhänge aus einem gemeinsamen Grund zu begreifen: Sie rückt Heideggers Philosophie insgesamt in ein neues Licht.

Um den Wechsel der Perspektive – von der Selbstpräsentation zur Selbstverortung – nachvollziehbar zu machen, muss das Problem der Selbstbestimmung von Heideggers Philosophie begrifflich weiter entfaltet werden. Die Beziehung, die Heideggers Philosophie zu ihrer präsentierten und zu ihrer systematisch notwendigen Sache unterhält, lässt sich nur ausgehend von der für alles Folgende zentralen Unterscheidung zwischen dem ›Thema‹ und der ›Sache‹ der Philosophie verständlich machen. Unter dem ›Thema‹ verstehe ich das, was in der philosophischen Auslegung den Raum für die Selbstverortung abgibt. Indem eine Philosophie ihr Thema auslegt, bestimmt sie sich selbst, denn die Auslegung des Themas ist an der Sache der Philosophie orientiert: Es wird ›auf die Sache hin‹ ausgelegt. Wenn sie ihre Sache nicht selbst bestimmt, sondern sie von außen übernommen hat, dann ist ihr auch der Raum, in dem sie sich verortet, in einem bestimmten Sinn vorgegeben. Diesen vorgegebenen Raum gilt es dann zu ›entdecken‹, genauso wie den Ort, der ihr darin zugedacht ist. Eine Philosophie, die sich dem Imperativ ›zu den Sachen selbst‹ unterwirft, ohne die Frage nach ihrer Sache zum ersten und höchsten Problem zu machen, nimmt einen ihr zugedachten Platz in einem vorgegebenen und von ihr ›entdeckten‹ Raum ein. Indem sie diesen Platz einnimmt und sich selbst verortet, macht sie sich die Sache zu eigen, die ihr zunächst nur von außen vorgegeben ist und durch die Selbstbestimmung angeeignet werden muss.

Andere Philosophien nach diesem Schema zu begreifen ist Teil der Selbstverortung von Heideggers Philosophie: Sie will sich damit nicht nur von ihnen abgrenzen, um ihre Eigenheit und Überlegenheit zu betonen, sie will erklären, warum sie zu kurz greifen und ihrem eigenen philosophischen Interesse nicht gerecht werden. Denn Heideggers Philosophie unterhält ein ganz eigenes Verhältnis zu ihrer Sache und zu ihrem Thema: Sie gibt sich ihre Sache (ihr eigenes Sein) selbst vor und legt ihr Thema auf sich selbst hin aus. Das Thema wird durch eine ›voraussetzungslose‹ Interpretation angeeignet und der daraus resultierende Raum wird nicht ›entdeckt‹, sondern in der aneignenden Auslegung ›erschlossen‹. Anstatt ihren Ort in einem vorgegebenen Raum zu entdecken, erschließt Heideggers Philosophie den umliegenden Raum, ausgehend von einem Punkt, der erst in der Erschließung zum Ort der Philosophie wird, zum zentralen und höchsten Punkt der erschlossenen Landschaft. Diese radikale Form der Selbstverortung nenne ich die ›Selbsterörterung‹ von Heideggers Philosophie.20

Auf der Ebene der Selbstpräsentation stellt sich diese vermeintliche ›Voraussetzungslosigkeit‹ freilich in einem ganz anderen Licht dar: Gemäß der Selbstpräsentation eignet sich diese Auslegung das Thema gerade nicht an, sondern befreit es von den Voraussetzungen der Tradition und erlaubt so der Philosophie, den ihr (von der Wahrheit des Seins) zugedachten Ort zu ›entdecken‹, der von der bisherigen Philosophie ›verdeckt‹ wurde. Auf der Ebene der Selbstauslegung scheint Heideggers Philosophie ihr Thema also sachgerecht auszulegen und ihre Sache wahrheitsgemäß zu bestimmen. Die Bestimmung der Sache und somit die Auslegung des Themas scheinen sich rein an der ›Wahrheit des Seins‹ zu orientieren.

In dem Moment, in dem sich Heideggers Philosophie von der bisherigen Philosophie lossagt, um sich in radikalerer Weise der Frage nach der Sache der Philosophie zuzuwenden, besteht die Abgrenzung zur Tradition keineswegs darin, ein neues Thema zu finden. In dem Moment, in dem das Projekt der ›Fundamentalontologie‹ im Sinne einer ›Daseinsanalyse‹ (zwei Begriffe, die für die Selbstpräsentation und ihre phänomenologische Geste zentral sind)21 Kontur zu gewinnen beginnt, steht die menschliche Existenz im Zentrum: »Im Thema steht der Mensch« (31:1). Auf den ersten Blick scheint Heideggers Philosophie hier also das Erbe Kants anzutreten, für den sich die zentralen Fragen der Philosophie auf die Frage ›Was ist der Mensch?‹ zurückführen lassen. Doch selbst auf der Ebene der Selbstpräsentation findet sich ein klarer Hinweis darauf, dass der Eindruck der Nähe zum traditionellen Projekt einer philosophischen Anthropologie täuscht: Ihrer eigenen Aussage nach steht für die »Daseinsanalyse« nicht die Frage ›Was?‹, sondern ›Wer ist der Mensch?‹ im Zentrum (34:76; vgl. 24:169), da die Wahrheit des Seins nicht nur ein theoretisches Verstehen, sondern zugleich eine praktische Verwandlung des Menschen erfordere. Um die Haltung, die Heideggers Philosophie zu ihrem Thema, der menschlichen Existenz, einnimmt, begreiflich zu machen, muss sie demnach sowohl von dem ›traditionellen‹ Projekt einer ›philosophischen Anthropologie‹ als auch von der Selbstpräsentation und Selbstauslegung im Sinne einer ›fundamentalontologischen Daseinsanalyse‹ abgegrenzt werden.

11. Philosophische Anthropologie

Aus der Perspektive von Heideggers Philosophie erscheint die Haltung, die Kants Philosophie zu ihrem Thema, zur menschlichen Existenz, einnimmt, als genuin unphilosophisch. Kants Auslegung des Themas sei zwar nicht empirisch, etwa soziologisch oder psychologisch, das Thema werde vielmehr rein philosophisch ausgelegt – also ausschließlich an der Sache seiner Philosophie orientiert, ihre Sache falle allerdings einerseits mit dem Thema zusammen (für Heidegger ein Wesensmerkmal der Wissenschaft) und sei andererseits, zumindest gemäß Heideggers Interpretation dieser Zusammenhänge, nicht aus einem radikalen Fragen nach der Sache der Philosophie gewonnen, sondern ›von außen‹ vorgegeben. Kants Philosophie erscheint in dieser Perspektive als bloße Selbstverortung, die sich nicht zur Selbsterörterung ›befreit‹, sondern sich vorgeben lasse, worin das ›Sein des Menschen‹ besteht. Sie orientiere ihre Auslegung der menschlichen Existenz an einem von der Tradition übernommenen Menschenbild. In der hier entwickelten Begrifflichkeit gesprochen lässt sich Kants Philosophie demnach den Raum für ihre Selbstverortung vorgeben – sie ›entdeckt‹ diesen Raum, anstatt ihn zu ›erschließen‹.

Die ›Entdeckung‹ dieses vorgegebenen Raumes ist allerdings von den »Expeditionen« (Lévi-Strauss [1955] 1978: 9) der empirischen Anthropologie durchaus verschieden (vgl. 27:121). Dass Kant bekanntermaßen keinerlei Interesse an Reisen hatte, ist kein Zufall. Man kann sich die empirische und die philosophische Anthropolog_in so vorstellen wie den materialistischen und den idealistischen Philosophen in Althussers Gleichnis:

Stellen wir uns zwei Philosophen und zwei Züge vor.

Der idealistische Philosoph begibt sich zum Bahnhof Saint Charles (Marseille), um nach Lyon zu fahren. Er weiß, woher der Zug kommt (um seinen ›Ursprung‹, wenn man so will) und kennt sein Ziel: Lyon – Paris. Er kennt also ohne jeden Zweifel Ursprung und Ziel der Strecke.

Der materialistische Philosoph weiß nicht, in welche Richtung die Züge fahren: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Er ist, wenn man so will. Sieht er einen Zug kommen, springt er einfach auf, in voller Fahrt, wie im amerikanischen Western. Er weiß nicht, dass die Erde rund ist. Er spricht mit den Leuten im Abteil, bis er irgendwo, mitten auf der Strecke oder an einem Provinzbahnhof wieder abspringt.

Der idealistische Philosoph hat nichts dazu gelernt: Er kannte den Weg schon vorher, und vertieft sich während der Reise in Le Monde oder seine Korrespondenz.

Der materialistische Philosoph weiß nichts von alledem. Er ist völlig mittellos, hat nicht einmal etwas dabei, um seine Eindrücke zu notieren. Er betrachtet die Landschaft, hört zu, lernt eine Menge Dinge. Er ist ein Mann des ›Hören-Sagens‹, jedoch ausgehend von der Begegnung, der Kreuzung oder dem Widerruf von Informationen – lauter intellektuelle Erfahrungen. Er wird zum Autodidakten (die einzig wahre Bildung) und weiß einen Haufen Dinge, die der Idealist niemals wissen wird. Denn der Idealist verachtet alle anderen (seine Mitreisenden), er spricht sie nicht an und steigt in Lyon aus dem Zug: als derselbe Mann, als der er einstieg. (Althusser 2010: 86)

Die philosophische Anthropologie macht keine Erfahrung, ihre Entdeckungen sind keine Begegnungen mit anderen Menschen. Dafür hat sie, im Gegensatz zur empirischen Anthropologie, eine von Beginn an festgelegte Methode, einen vorgezeichneten Weg, auf dem sie ihre Entdeckungen macht. Auch in dem Moment, in dem sie ihre vielleicht wichtigste ›Entdeckung‹ macht, in dem Moment, in dem sie sich selbst in der menschlichen Existenz und in ihrer Geschichte verortet, kennt sie schon »ohne jeden Zweifel Ursprung und Ziel« dieser Geschichte.

Unzureichend ist diese philosophische Anthropologie aus der Perspektive von Heideggers Philosophie jedoch nicht etwa, weil sie keine Erfahrungen, keine ›Expeditionen‹ macht, sondern weil hier »ganz abgesehen von der Interpretation des Menschen selbst, ein ganz bestimmter Ansatz des Menschen vor[liegt], nämlich so, wie ihn das Christentum sieht« (31:206). Die Voraussetzung einer bestimmten Vorstellung vom Wesen des Menschen – als ›Kreatur‹ und als ›endliches Vernunftwesen‹ – führe dazu, dass sie ›uns‹ zwar »eine Rolle in der Weltgeschichte zuerteilt«, dieses ›wir‹ aber dabei »nicht zu fassen« bekomme (29/30:115). Der Sinn des ›wir‹ und des geforderten ›Zu-fassen-bekommens‹ wird sich zwar erst am Schluss des zweiten Teils dieser Untersuchung aufklären lassen, doch es zeigt sich schon hier, dass in der Perspektive von Heideggers Philosophie das Problem der philosophischen Anthropologie darin besteht, dass sie eine Voraussetzung macht, die dazu führt, dass ihr ein Ort »zuerteilt« wird. Um in dem Gleichnis von Althusser zu bleiben, liegt das Problem der philosophischen Anthropologie laut Heidegger also nicht darin, dass sie auf ihrer Reise keine Erfahrungen gemacht hat, sondern darin, dass sie überhaupt eine Reise unternommen hat. Heideggers Philosophie verreist nicht, weder ›praktisch‹ noch ›theoretisch‹. Sie bleibt in der Provinz, wo sie die Begegnung mit anderen ›Kulturen‹ gar nicht erst verweigern muss.

12. Ethnologie

»Alle Anthropologie, auch die philosophische hat«, so Heidegger, »den Menschen schon als Menschen gesetzt« (3:230). Einer empirischen Anthropologie steht aber die Möglichkeit einer Begegnung (so selten sie tatsächlich auch vorkommen mag) grundsätzlich offen – die Möglichkeit einer Begegnung, in der die eigenen Grundvoraussetzungen und die daraus resultierende Methode infrage gestellt werden können. Wenn sie sich dazu entscheidet, Ethnologie zu werden und ›Expeditionen‹ zu unternehmen, dann unterwirft sie sich der »Regel der Methode«, die Rousseau für die Ethnologie aufgestellt hat: »Wenn man die Menschen erforschen will, muss man sich in seiner eigenen Umgebung umsehen, will man jedoch den Menschen erforschen, so muss man lernen, seinen Blick in die Ferne zu lenken« (Lévi-Strauss [1962] 1992: 46 f.; vgl. Rousseau [1781] 1990: 89). Und dort in der Ferne kann die Anthropolog_in auf mehr als nur neues ›Material‹ stoßen: auf andere Menschen, mit denen sie ein Gespräch auf Augenhöhe führen kann. Das setzt allerdings eine Konzeption von Anthropologie voraus, die auf folgender Prämisse beruht: »Die Verfahren, die die Untersuchung ausmachen, sind konzeptuell auf derselben Ebene angesiedelt, wie die untersuchten Verfahren« (Viveiros de Castro 2016: 311) – eine Konzeption, von der Heideggers Philosophie denkbar weit entfernt ist. Auf Reisen zu gehen ist für sie ein sinnloses Unterfangen, da sie schon im Voraus weiß, was ihr dort begegnen wird: eine vorphilosophische und deswegen vorwissenschaftliche Existenzweise, die höchstens zur Bestätigung der eigenen Voraussetzungen und Methodik dienen kann, keinesfalls aber »auf derselben Ebene« angesiedelt ist. In einer für das europäische (Heidegger würde sagen: abendländische) Denken und seinen Ethnozentrismus klassischen Geste begreift er alle Menschen, ob nah oder fern, im Gegensatz von Mythos und Logos. Die Menschen, die noch nicht von der europäischen Kultur ›erweckt‹ worden seien, die nicht auf die ein oder andere Weise am ›Ereignis‹ der griechischen Philosophie teilhaben, seien vom Logos abgeschnitten und befinden sich insgesamt auf der Stufe des Mythos: