Heiliger Zorn - Catherine Nixey - E-Book
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Heiliger Zorn E-Book

Catherine Nixey

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Beschreibung

Packend erzählt von der preisgekrönten jungen Historikerin Catherine Nixey

Im Römischen Reich war das religiöse Leben vielfältig – bis unter den ersten christlichen Kaisern alles anders wurde: Mit aller Macht versuchten die frühen Christen, Andersgläubige zu bekehren, und erwiesen sich dabei nicht nur als extrem intolerant, sondern auch als äußerst gewalttätig. Im ganzen Imperium zertrümmerten sie Tempel und Kultgegenstände, verbrannten Bücher, jagten Philosophen aus den Städten und verfolgten diejenigen, die weiter den alten Göttern opferten.

In »Heiliger Zorn« zeichnet die britische Altphilologin und Journalistin Catherine Nixey ein gänzlich neues und zutiefst erschütterndes Bild der frühen Christen als die wahren Barbaren. Packend enthüllt sie die Gräueltaten, die hinter dem Triumph des Christentums stecken und mit zum Untergang der Antike führten.

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Seitenzahl: 509

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Zum Buch

Im Römischen Reich war das religiöse Leben vielfältig – bis unter den ersten christlichen Kaisern alles anders wurde: Mit aller Macht versuchten die frühen Christen, Andersgläubige zu bekehren, und erwiesen sich dabei nicht nur als extrem intolerant, sondern auch als äußerst gewalttätig. Im ganzen Imperium zertrümmerten sie Tempel und Kultgegenstände, verbrannten Bücher, jagten Philosophen aus den Städten und verfolgten diejenigen, die weiter den alten Göttern opferten.

In ihrem hochgelobten und preisgekrönten Buch Heiliger Zorn zeichnet die britische Historikerin und Journalistin Catherine Nixey ein gänzlich neues und zutiefst erschütterndes Bild der frühen Christen als die wahren Barbaren. Packend enthüllt sie die Gräueltaten, die hinter dem Triumph des Christentums stecken und mit zum Untergang der Antike führten.

Zum Autor

Catherine Nixey hat an der Cambridge University Alte Geschichte studiert und mehrere Jahre lang unterrichtet, bevor sie in London Journalistin für The Times wurde. Heiliger Zorn ist ihr erstes Buch und wurde bei seinem Erscheinen in England 2017 mehrfach zum »Book of the Year« gewählt sowie mit dem Royal Society of Literature Jerwood Award ausgezeichnet. Die New York Times zählt Heiliger Zorn zu den bemerkenswertesten Büchern des Jahres 2018.

Catherine Nixey

HEILIGER

ZORN

Wie die frühen Christen die Antike zerstörten

Aus dem Englischen von Cornelius Hartz

Deutsche Verlags-Anstalt

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel The Darkening Age. The Christian Destruction of the Classical World bei Macmillan, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2017 Catherine Nixey

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Manuela Knetsch, Göttingen

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, unter Verwendung einer Vorlage von Macmillan

Umschlagabbildungen: komkrit Preechachanwate/Shutterstock.com; National Archaeological Museum, Athens (Fotograf: Fafalis) © Hellenic Ministry of Culture and Sports/Archaeological Receipts Fund

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

Gesetzt aus der Stempel GaramondISBN978-3-641-21085-4V003www.dva.de

Für T., weil er meine Handschrift entziffern kann

Inhalt

Prolog: Ein Anfang

Einführung: Ein Ende

1Die unsichtbare Armee

2Das Schlachtfeld der Dämonen

3Weisheit ist Einfalt

4»Über die geringe Anzahl anMärtyrern«

5Diese geistig verwirrten Leute

6Das großartigste Gebäude der Welt

7Der Krieg gegen die Tempel

8Wie man einen Dämon vernichtet

9Die Ruchlosen

10Der Kelch der Dämonen

11Vom Bösen gereinigt

12Carpe Diem

13Der den rechten Pfad verlässt

14Die Tyrannei der Freude wird ausgelöscht

15Barmherzige Barbarei

16Eine Zeit der Tyrannei und der Krise

Dank

Karte

Bildteil

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Prolog: Ein Anfang

Palmyra, um 385 n. Chr.

»Wer Christus hat, kann kein Verbrecher sein.«

SCHENUTEVONATRIPE

Die Angreifer kamen aus der Wüste. In Palmyra wird man sie bereits erwartet haben – seit Jahren suchten marodierende Banden bärtiger, schwarz gekleideter Fanatiker, bewaffnet mit wenig mehr als Felsbrocken, Eisenstangen und einem ehernen Sinn für Gerechtigkeit, den Osten des Römischen Reichs heim.

So primitiv und aggressiv ihre Übergriffe auch waren, so effektiv waren sie. Die Zeloten zogen in Banden umher, die später bis zu 500 Mann zählen sollten, und wenn sie zuschlugen, blieb kein Stein auf dem anderen. Ihr Ziel waren die Tempel, und ihre Attacken gingen mitunter erstaunlich schnell vonstatten. Gewaltige steinerne Säulen, die jahrhundertelang an Ort und Stelle gestanden hatten, brachten sie an einem einzigen Nachmittag zu Fall. Statuen, die ein halbes Jahrtausend überdauert hatten, wurden binnen weniger Augenblicke bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Tempel, die Zeugen des unaufhaltsamen Aufstiegs des römischen Imperiums gewesen waren, fielen an einem einzigen Tag in sich zusammen.

Sie meinten es ernst, aber das heißt nicht, dass die Eiferer mit ernster Miene bei der Sache waren: Sie brüllten vor Lachen, während sie die »bösen« Statuen, die »Götzenbilder«, zertrümmerten; die Rechtgläubigen jubelten, als die Tempel in sich zusammenbrachen, Dächer abgedeckt und Gräber geschändet wurden. Es tauchten sogar Lieder auf, die die glorreichen Momente verewigten: »Diese schändlichen Dinge«, sangen die Pilger voll Stolz, »die Dämonen und Götzen … Unser Heiland hat sie alle zertrampelt.«1 Als gute Dichter haben sich religiöse Eiferer selten hervorgetan.

In dieser Atmosphäre war der Athenetempel von Palmyra ein naheliegendes Ziel. Das wunderschöne Gebäude feierte alles, was die Rechtgläubigen verabscheuten; monumental, wie es war, verwies es jeden Monotheismus auf die Plätze. Wer durch die großen Türen trat, brauchte einen Moment, bis sich die Augen an das kühle Zwielicht gewöhnt hatten – draußen brannte die syrische Sonne. Vielleicht roch man den schweren Weihrauch in der Luft, nahm den Lichtschein wahr, der von ein paar kleinen Lampen herrührte, die Gläubige dagelassen hatten. Hob man die Augen, so erblickte man in ihrem flackernden Glanz die große Göttin Athene selbst.

Die Statue mit dem hübschen, stolzen Profil befand sich weit von Athen, der Heimatstadt von Athene, entfernt, doch man wusste sofort, wer sie war – die gerade griechische Nase, die Haut aus weißlichem Marmor, der pralle, leicht mürrisch verzogene Mund. Beeindruckend war auch das Ausmaß der Statue, die weit größer war als jeder Mensch. Doch vielleicht noch mehr als die Größe des Standbilds konnten einen die Infrastruktur des Römischen Reichs beeindrucken und der Ehrgeiz der Menschen, die dafür gesorgt hatten, dass dieses Objekt hierhergelangt war. Die Statue erinnerte an andere, die weit über tausend Kilometer entfernt auf der Athener Akropolis standen; dieses spezielle Exemplar war in einer Werkstatt mehrere hundert Kilometer außerhalb Palmyras angefertigt und anschließend mit erheblichem Aufwand und ebensolchen Kosten transportiert worden, um im syrischen Wüstensand eine kleine Insel griechisch-römischer Kultur zu erschaffen.

Ob das den Angreifern auffiel, als sie in den Tempel eindrangen? Waren sie, wenn auch nur flüchtig, von der Raffinesse eines Reichs beeindruckt, das in der Lage war, Marmor abzubauen, in Kunst zu verwandeln und dann über so weite Entfernungen hinweg zu transportieren? Bewunderten sie, und wenn auch nur für einen Augenblick, die Kunstfertigkeit, mit der jemand einen Mund geschaffen hatte, der aus hartem Marmor bestand und doch so weich aussah, dass man ihn küssen wollte? Ließen sie sich, wenn auch nur für eine Sekunde, von dieser Schönheit fesseln?

Offenbar nicht. Als die Männer den Tempel betraten, nahmen sie eine Stange und zertrümmerten Athenes Hinterkopf mit einem einzigen Schlag – einem Schlag, der mit solcher Kraft ausgeführt wurde, dass er die Göttin enthauptete. Ihr Kopf fiel zu Boden, die Nase brach ab, die so sanft wirkenden Wangen waren zerschmettert. Nur die Augen Athenes blieben intakt und blickten die Angreifer aus einem furchtbar entstellten Gesicht heraus an.

Denen reichte es nicht, die Göttin zu enthaupten. Sie schlugen wieder zu, trennten den Helm vom Kopf und zertrümmerten ihn. Unter weiteren Hieben fiel die Statue vom Sockel, dann wurden ihr Arme und Schultern abgehackt. Ihr Rumpf blieb mit der Vorderseite im Schmutz liegen. Anschließend schlugen die Männer den Altar entzwei, der in der Nähe stand.

Es scheint, als seien die Christen erst danach mit ihrem Werk zufrieden gewesen. Sie zogen sich wieder in die Wüste zurück. Rund um den Tempel wurde es still. Die Votivlampen, um die sich keiner mehr kümmerte, erloschen. Das auf dem Boden liegende Haupt der Athene wurde nach und nach vom syrischen Wüstensand bedeckt.

Der »Triumph« des Christentums hatte begonnen.

Einführung: Ein Ende

Athen, 532 n. Chr.

»Wir sehen dieselben Sterne, der Himmel ist für uns alle der gleiche, dasselbe Weltall umschließt uns. Warum ist es dann so wichtig, nach welcher Weisheitslehre jemand die Wahrheit sucht?«

DER »HEIDNISCHE« AUTORSYMMACHUS

»Dass aller Aberglaube der Heiden vernichtet werden soll, ist das, was Gott will, was Gott befiehlt, was Gott verkündet!«

DERHEILIGEAUGUSTINUS

Sie müssen ein ziemlich trauriges Bild abgegeben haben, die sieben Männer, die im Jahr 532 von Athen aus aufbrachen und kaum mehr dabeihatten als ein paar philosophische Schriften. Alle hatten sie der einst berühmtesten Philosophenschule Griechenlands angehört, der Akademie. Die Philosophen der Akademie waren stolz darauf gewesen, dass sie die Geschichte ihrer Einrichtung in einer ununterbrochenen Linie – »einer goldenen Kette«,2 wie sie es nannten – über beinahe tausend Jahre zurückverfolgen konnten, bis zu Platon höchstpersönlich. Nun wurde die Kette gesprengt, und zwar auf äußerst drastischste Weise: Diese Leute ließen nicht nur ihre Akademie hinter sich, sondern sie verließen auch das Römische Reich. Athen, die Geburtsstadt der westlichen Philosophie, war kein Ort mehr für Philosophen.

Wenigstens hatten sie auf dieser Reise ins Ungewisse ihren Anführer Damaskios bei sich. Als sie aufbrachen, war er mit fast siebzig Jahren nach damaligen Maßstäben alt, sogar sehr alt, aber ein wunderbarer Gefährte. Damaskios war ein brillanter, subtiler Denker, der seine Schriften mit mathematischen Gleichnissen würzte – und er konnte es nicht ertragen, von Narren umgeben zu sein. Er schrieb ein scharfzüngiges »Who’s who« seiner Kollegen aus der Philosophie, in dem er jeden, dem es in seinen Augen an Intelligenz oder Courage mangelte, mit vernichtenden Worten bedachte. Und im echten Leben war er nicht weniger maßlos: Einmal wäre er beinahe in einem Fluss ertrunken, weil er zu ungeduldig war, um auf den Fährmann zu warten; er beschloss, selbst ans andere Ufer zu schwimmen, und wurde dabei fast von der Strömung mitgerissen.

Im Dienst seiner geliebten Philosophie ging Damaskios die größten Risiken ein. Er hatte einem polizeilich gesuchten Philosophen bei sich zu Hause Unterschlupf gewährt, er war Tausende von Kilometern marschiert, ohne zu wissen, was ihn am Ende der Reisen erwartete, er hatte sich Gefahren ausgesetzt, die von Verhaftung bis Folter reichten. Und er war der Überzeugung, dass es sich im Leben niemand leichter machen sollte als er: »Die Menschen neigen dazu, gar nichts zu tun und ein solches Leben dennoch als tugendhaft zu bezeichnen«, schrieb er einmal voller Hohn. »Doch da bin ich anderer Meinung … Die Gelehrten, die nur in der Ecke sitzen und mit großen Worten über Gerechtigkeit und Mäßigung schwadronieren, geben sich selbst der Lächerlichkeit preis, sobald sie gezwungen sind, aktiv zu werden.«3

Doch dies war für einen Philosophen nicht die Zeit herumzuphilosophieren. »Der Tyrann«4 (wie die Philosophen es ausdrückten) war am Ruder, und er hatte zahlreiche Angewohnheiten, die einem Sorge bereiten mussten. Zu Damaskios’ Lebzeiten drangen Ordnungshüter in Privatwohnungen ein und suchten nach Büchern und anderen Objekten, die als inakzeptabel eingestuft worden waren. Was sie fanden, wurde beschlagnahmt, auf den Plätzen der Stadt aufgehäuft und verbrannt. In der Öffentlichkeit über religiöse Themen zu diskutieren, galt als »verdammenswerte Unverfrorenheit« und war gesetzlich verboten.5 Wer den alten Göttern opferte, der konnte laut Gesetz zum Tode verurteilt werden. Im gesamten Imperium wurden die schönen alten Tempel niedergerissen, die Dächer abgedeckt, die Schätze aus ihrem Inneren eingeschmolzen, die Statuen zerschlagen. Um sicherzustellen, dass sich alle an die neuen Regeln hielten, begann die Regierung Spione, Agenten und Informanten einzusetzen, die darüber Bericht erstatteten, was auf den Straßen und Marktplätzen der Städte geschah und was hinter den verschlossenen Türen der Privathäuser vor sich ging. Wie ein einflussreicher christlicher Redner es ausdrückte: Seine Gemeinde sollte die Sünder jagen und sie so unerbittlich auf den Weg des Heils führen wie ein Jäger, der seine Beute ins Netz treibt.6

Wer sich nicht an die Regeln hielt, musste mit ernsten Konsequenzen rechnen. Sich mit Philosophie zu beschäftigen war gefährlich geworden: Damaskios’ Bruder war verhaftet und gefoltert worden, damit er die Namen anderer Philosophen verriet, doch wie Damaskios stolz berichtete, »ertrug er stumm und tapfer die Rute, die immer wieder auf seinen Rücken niedersauste«.7 Andere aus Damaskios’ Philosophenkreis waren ebenfalls gefoltert worden; man hatte sie an den Handgelenken aufgehängt, bis sie die Namen ihrer gelehrten Kollegen verrieten. Einem Philosophen hatten sie einige Jahre zuvor bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Ein anderer war vor den Augen des Richters geschlagen worden, bis ihm das Blut den Rücken hinunterfloss.

Der schreckliche »Tyrann« war das Christentum. Schon kurz nach Beginn der Regentschaft des ersten christlichen Kaisers in Rom im Jahr 312 hatten die Menschen Freiheiten eingebüßt. Im Jahr 529 holten die Christen dann zum endgültigen Schlag aus: Laut Gesetz durfte keiner, der beruflich »unter dem Irrsinn des Heidentums« tätig war (also Damaskios und seine Mitphilosophen), weiterhin lehren. Doch damit nicht genug: Jeder, der noch nicht getauft war, musste sofort bei den »heiligen Kirchen« vorstellig werden – oder ins Exil gehen. Und wer sich taufen ließ und anschließend doch wieder den heidnischen Göttern opferte, wurde hingerichtet.

Man kann sich kaum vorstellen, wie sehr es sie geschmerzt haben muss, ein letztes Mal durch Athen zu laufen. Vorbei an den Straßen und Plätzen, wo ihre Helden – Sokrates, Platon, Aristoteles – einst gelebt, gewirkt und miteinander gestritten hatten. Beim Vorüberlaufen dürfte ihnen klar gewesen sein, dass die gute alte Zeit für immer dahin war. Die Tempel von Athen waren geschlossen und zerfielen, und viele der großartigen Statuen, die einst darin gestanden hatten, waren verunstaltet oder entfernt worden. Nicht einmal die Akropolis hatten sie verschont: Die große Athenestatue im Parthenon war zerstört.

Ein Großteil von Damaskios’ Schriften ist verloren, aber hier und da begegnet uns ein Satz von ihm, der uns seine Gefühlslage vermittelt. Sein ganzer Lebenswandel, so schrieb er, wurde »vom Strom hinweggefegt«.8 Die Schriften eines anderen griechischen Autors, der einige Jahre vor ihm Zeugnis ablegte, offenbaren eine ähnliche Verzweiflung. Wir sind, so schrieb er, »als Menschen zu Asche geworden … heute ist alles auf den Kopf gestellt«. In einem anderen düsteren Epigramm stellte der gequälte Dichter die Frage: »Stimmt es denn nicht, dass wir tot sind und nur zu leben scheinen, wir Griechen …? Oder sind wir am Leben und das Leben ist tot?«9

Viele moderne Historiker versehen die Zeit, als die alten Kulte vollends verschwanden und sich die christliche Religion endgültig durchsetzte, mit den Worten »Triumph des Christentums«. Es lohnt sich, einmal einen Blick auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Triumph« in Rom zu werfen. Ein echter römischer triumphus war nicht nur der Sieg des Siegers.10 Er beinhaltete die völlige Unterwerfung des Verlierers. Beim Triumphzug führten die Römer die Verlierer vor und ließen sie durch die Hauptstadt paradieren, während die Sieger auf einen Feind hinabschauten, dessen Soldaten getötet, dessen Anführer gedemütigt worden waren und den man seines Besitzes beraubt hatte.

Ein Triumph war mehr als ein Sieg. Es war ein vernichtender Sieg.

Wenig von dem, was ich in diesem Buch behandele, ist außerhalb entsprechender Fachkreise einem breiten Publikum bekannt. Zumindest kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich nichts davon erfuhr, während ich in Wales als Tochter einer ehemaligen Nonne und eines ehemaligen Mönchs aufwuchs. Meine Kindheit war, wie Sie schon vermuten werden, recht religiös geprägt. Wir gingen jeden Sonntag in die Kirche, sprachen vor jeder Mahlzeit ein Tischgebet, und auch jeden Abend vor dem Schlafengehen betete ich (oder spulte zumindest eine Liste mit Forderungen ab, die ich für ein Gebet hielt). Wenn katholische Verwandte zu Besuch kamen, spielten wir Kinder nicht Räuber und Gendarm, sondern Erstkommunion und manchmal auch Abendmahl. Das war eigentlich eine Sünde und auch kein besonders spannendes Spiel, aber immerhin bekamen wir so von den Erwachsenen eine Extraportion Schwarzen Johannisbeersaft.

Sie sehen: In meiner Kindheit gab es jede Menge Gott, zumindest aber eine Menge Katholizismus. Doch obwohl meine Eltern zusammengenommen 24 Jahre hinter Klostermauern verbracht hatten, hatte ihr Glaube dennoch keinen dogmatischen Charakter. Wenn ich danach fragte, wie die Welt entstanden war, erzählten sie mir vom Urknall, nicht vom 1. Buch Mose. Wenn ich fragte, woher der Mensch kam, erzählten sie mir von der Evolution, nicht von Adam. Ich erinnere mich nicht, dass ich als Kind jemals daran gezweifelt hätte, dass Gott existierte – aber genauso erinnere ich mich, dass ich als Teenager ziemlich sicher war, dass er es nicht tat. Das bisschen Glaube, das ich gehabt hatte, war gestorben, und meine Eltern bemerkten es entweder nicht oder es war ihnen egal. Heute vermute ich, dass irgendwo zwischen dem Kloster und der Welt drumherum auch ihr Glaube gestorben war.

Was in unserer Familie aber niemals starb, das war der Glaube meiner Eltern an die Macht der Bildung, die die Kirche verkörperte. Als Kinder waren beide von Mönchen und Nonnen unterrichtet worden; als sie selbst Mönch und Nonne gewesen waren, hatten sie ihrerseits unterrichtet. Sie waren überzeugt davon, dass die Kirche, die ihren Geist erleuchtet hatte, früher einmal ganz Europa erleuchtet hatte. Die Kirche war es gewesen, erzählten sie mir, die das Latein und Griechisch der klassischen Welt über das dunkle Mittelalter hinweg am Leben gehalten hatte, damit sich die Menschen in der Renaissance wieder mit der Antike beschäftigen konnten. In den Ferien unternahmen wir Ausflüge zu Museen und Bibliotheken, wo mir dasselbe vermittelt wurde. Als Kind betrachtete ich den goldenen Schimmer der illuminierten Manuskripte und glaubte daran, dass sie in Zeiten geistiger Dunkelheit auch in metaphorischer Hinsicht ihr Licht verbreitet hatten.

In gewisser Weise hatten meine Eltern damit durchaus recht: Die Klöster haben umfangreiches klassisches Wissen bewahrt. Aber das ist längst nicht die ganze Wahrheit. Im Grunde lenkt sie sogar von dem ab, was vorher geschehen war und was die Kirche in ein weit weniger glorreiches Licht rückt – schließlich war es die Kirche gewesen, die die antike Kultur vernichtet hatte, bevor sie Anstalten machte, sie zu bewahren. In einem regelrechten, noch nie erlebten Rausch der Zerstörung – den viele Nichtchristen voll Entsetzen beobachteten – richtete die christliche Kirche im 4. und 5. Jahrhundert eine schier unfassbare Anzahl an Kunstwerken zugrunde. Klassische Statuen wurden von ihren Sockeln gestoßen und verunstaltet, Arme und Beine abgeschlagen. Tempel wurden eingerissen und niedergebrannt. Einen Tempel, der weithin als prächtigster im ganzen Imperium galt, machten die Christen buchstäblich dem Erdboden gleich. Diversen Skulpturen des Parthenon verstümmelte man die Gesichter und hackte Hände und Gliedmaßen ab, Götter wurden enthauptet. Einige der schönsten Statuen des Gebäudes wurden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geschliffen und zu Steinbrocken verarbeitet, aus denen man damals neue Kirchen baute. Auch Bücher, die damals vielfach in Tempeln aufbewahrt wurden, blieben nicht verschont. Die Relikte der größten Bibliothek der Antike, die einst an die 700 000 Bände umfasst hatte, wurden ebenfalls von den Christen vernichtet. Es sollte mehr als tausend Jahre dauern, bevor es wieder eine Bibliothek mit auch nur annähernd so vielen Büchern geben sollte. Die Werke der zensierten Philosophen waren verboten, und im ganzen Reich brannten Scheiterhaufen, auf denen die verbotenen Bücher landeten.

So dramatisch das alles war, ein ungleich größeres Ausmaß an Zerstörung wurde durch schiere Vernachlässigung und Ignoranz verursacht. In ihren stillen Kopierzimmern bewahrten die Mönche viele Texte für die Nachwelt, aber weitaus mehr gingen dort verloren. Die Stimmung gegenüber nichtchristlichen Autoren war in den Klöstern richtiggehend feindselig. Da die Mönche in vollkommener Stille arbeiteten, hatten sie ein Handzeichensystem, um anzuzeigen, was für ein Buch man ihnen reichen solle: Ausgestreckte Handflächen und ein angedeutetes Seitenblättern bedeuteten beispielsweise, dass der Mönch einen Psalter gereicht haben wollte. Um ein Buch eines heidnischen Autors anzufordern, taten sie, als müssten sie würgen.11

Niemanden wird überraschen, wie sehr die Werke der verachteten Autoren damals litten. In einer Zeit, als Pergament knapp war, wurden die Texte vieler antiker Schriftsteller buchstäblich ausgelöscht: Die Schrift wurde von den Buchseiten fortgekratzt, um ehrwürdigeren Worten Platz zu machen. Palimpseste – Manuskripte, bei denen der Text wieder (palin) weggeschabt (psao) worden war, damit sie neu beschrieben werden konnten – gewähren uns Einblicke in eben jene Momente, in denen die alten Werke verschwanden. Die letzte existierende Abschrift von Ciceros Über den Staat beispielsweise wurde von Augustinus mit Psalmen überschrieben. Ein biografisches Werk von Seneca verschwand unter der x-ten Kopie des Alten Testaments. Bei einem Kodex wurden Sallusts Historien fortgeschabt, um den Schriften des heiligen Hieronymus Platz zu machen. Viele alte Texte kamen auch schlicht durch Ignoranz abhanden. Sie wurden links liegen gelassen und dienten Bücherwürmern als Nahrung oder zerfielen im Laufe der Jahre schlichtweg zu Staub. Das Werk von Demokrit, einem der größten griechischen Philosophen und Vater des Atomismus, ging komplett verloren. Gerade einmal ein Hundertstel der lateinischen Literatur überlebte die Jahrhunderte. 99 Prozent sind für immer verschwunden. Stumpfe Gleichgültigkeit und schiere Dummheit gehören immer noch zu den effektivsten Waffen.

Dabei waren die heftigen Übergriffe zu jener Zeit mitnichten das Werk von Spinnern und Exzentrikern. Die Zerstörung der Monumente der »verrückten«, »verdammten« und »wahnsinnigen« Heiden wurde von Männern im Herzen der katholischen Kirche gefördert und angeleitet.12 Der heilige Augustinus von Hippo erklärte vor Gemeindemitgliedern in Karthago, dass »aller Aberglaube der Heiden vernichtet werden soll – das ist es, was Gott will, was Gott befiehlt, was Gott verkündet!«13 Der heilige Martin von Tours, in Frankreich heute noch einer der populärsten Heiligen überhaupt, tobte blindwütig durch die gallische Landschaft, riss Tempel nieder und schockierte die Einheimischen, denen er begegnete. In Ägypten ließ der heilige Theophilus eines der schönsten Gebäude des Altertums zerstören. In Italien riss der heilige Benedikt von Nursia einen Apolloschrein ein. In Syrien terrorisierten rücksichtslose Banden von Mönchen die Landbewohner, zerschlugen Statuen und rissen die Dächer von den Tempeln.

Die Übergriffe beschränkten sich nicht nur auf Kunst und Kultur. Zum ersten Mal begann eine Religion, Vorschriften für alle Bereiche des Lebens zu erlassen – vom Essen, das auf den Teller kam (es sollte schlicht sein und natürlich ohne Gewürze zubereitet), bis hin zu dem, was man im Bett anstellte (auch hier sollte es »ohne Würze« zugehen). Männliche Homosexualität wurde verboten, und das Auszupfen von Haaren war ab sofort ebenso verpönt wie Schminke, Musik, laszive Tänze, üppiges Essen, violette Bettwäsche, Kleider aus Seide … Die Liste ließe sich fortsetzen.

Dies alles durchzusetzen war nicht einfach. Der allwissende Gott konnte mühelos in die Herzen und in die Häuser der Menschen schauen – seinen christlichen Priestern fiel das nicht so leicht. Doch Johannes Chrysostomos fand eine Lösung: Er wies seine Gemeindemitglieder an, einander gegenseitig auszuspionieren. Wenn sie die Häuser der anderen betraten, sollten sie ausspähen, was jene so taten, allen aus dem Weg gehen, die sich nicht an die Vorschriften hielten, und ihm schließlich die Namen aller Sünder nennen, die er entsprechend bestrafen werde. Falls man es versäume, jemanden zu melden, werde man selbst bestraft. »So, wie die Jäger wilde Tiere jagen, … nicht nur aus einer Richtung, sondern von allen Seiten, und dann das Netz über sie werfen, so lasst uns zusammen all jene jagen, die wilde Tiere geworden sind, und das Netz der Erlösung über sie werfen, wir von dieser Seite aus, ihr von eurer.«14 Besonders eifrige Christenmenschen drangen in die Häuser ihrer Nachbarn ein und suchten gezielt nach Büchern, Statuen und Gemälden, die als dämonisch galten. Und das wurde nicht etwa als grausam angesehen, im Gegenteil: Einen Sünder zu zügeln, zu maßregeln, unter Druck zu setzen, ja sogar ihn zu schlagen bedeutete – so er dadurch zum rechten Glauben zurückfand – , ihn zu erlösen. Wie Augustinus, der Meister des frommen Paradoxons, es ausdrückte: »Oh, barmherzige Grausamkeit.«15

Die Resultate waren insbesondere (aber nicht nur) für Nichtchristen schockierend. Bürger kamen in Scharen angerannt, um Zeuge zu werden, wie international bekannte Tempel niedergerissen wurden. Verzweifelte Intellektuelle mussten mitansehen, wie vermeintlich unchristliche Bücher, bei denen es sich in Wirklichkeit oftmals um wissenschaftliche Texte handelte, in Flammen aufgingen. Kunstliebhaber sahen fassungslos zu, wie einige der großartigsten Skulpturen des Altertums zerschmettert wurden – von Menschen, die zu dumm waren, um sie wertzuschätzen, und erst recht zu dumm, um selbst etwas Ähnliches zu schaffen. Mitunter waren die Christen aber nicht einmal in der Lage, das, was sie hassten, effektiv zu zerstören: An vielen Tempeln blieben nur deswegen zahlreiche Statuen erhalten, weil sie sich zu weit oben befanden, als dass diese Leute mit ihren primitiven Leitern und Hämmern sie hätten erreichen können.

Ursprünglich hatte ich dieses Buch als Reisebericht konzipiert. Ich fand, es wäre interessant, auf Damaskios’ Spuren das östliche Mittelmeer zu erkunden und seine Irrfahrt als heidnischer Paulus nachzuvollziehen. Syrien, Damaskus, Bagdad, Ägypten und die Südgrenze der Türkei: All das waren Orte, die nicht ganz einfach zu erreichen gewesen wären. Dennoch wäre die Reise dorthin für mich durchaus machbar gewesen – wenn in den Jahren zwischen meiner Idee und dem Verfassen dieses Buches nicht so viel passiert wäre.

Während ich diese Zeilen schreibe, kontrolliert in Syrien ein neues islamisches Kalifat, das im Zuge des Bürgerkriegs an die Macht gelangt ist, Teile des Landes. 2014 wurden in einigen Regionen Syriens Musik verboten und Bücher verbrannt. Das Auswärtige Amt sprach für den Norden der Sinai-Halbinsel und das ägyptisch-israelische Grenzgebiet eine Reisewarnung aus, die noch immer gilt. 2015 begann der IS – der sogenannte Islamische Staat – im Irak, die in seinen Augen »gottlose« altassyrische Stadt Nimrud südlich von Mosul zu zerstören. Die Bilder, die um die Welt gingen, zeigten IS-Kämpfer, die drei Jahrtausende alte Statuen von den Sockeln stürzten und mit dem Hammer bearbeiteten: Die »Götzenbilder« mussten zerstört werden. In Palmyra wurde die große Athenestatue, deren Überreste Archäologen sorgsam restauriert hatten, erneut attackiert. Wieder wurde die Göttin enthauptet; wieder wurde ihr der Arm abgehackt.

Die Reise, die ich geplant hatte, war unmöglich geworden, und infolgedessen ist dieses Buch eine Art historischer Reisebericht geworden. Ich durchquere darin das Römische Reich und lege an bestimmten Orten zu bestimmten, besonders bedeutsamen Zeiten Zwischenstopps ein. Wie bei jedem Reisebericht sind diese Stationen nach persönlichen Kriterien ausgewählt, über die sich streiten ließe. Ich habe mich dafür entschieden, mit Palmyra zu beginnen, denn dort, im Osten des Imperiums, eskalierte Mitte der 380er-Jahre die bis dahin sporadische Gewalt gegen die alten Götter und ihre Tempel und bekam eine neue Qualität. Doch ich hätte ebenso gut frühere oder spätere Übergriffe auf Tempel schildern können. Deshalb ist es ein Anfang, nicht der Anfang. Als Endpunkt habe ich Athen in den Jahren um 529 herum gewählt, doch auch hier hätte ich mich für eine der weiter östlich gelegenen Städte entscheiden können, deren Einwohner ermordet wurden, wenn sie nicht zum Christentum konvertieren wollten, und denen man Arme und Beine abhackte und als Warnung für andere auf der Straße liegen ließ.

Dies ist ein Buch über die Zerstörung der klassischen Welt durch die Christen. Die christlichen Übergriffe waren sicherlich nicht der einzige zerstörerische Faktor – Feuersbrünste, Überschwemmungen, Invasionen und der Zahn der Zeit spielten ebenfalls eine Rolle. Doch dieses Buch soll sich ganz speziell auf die Rolle des Christentums konzentrieren. Damit will ich nicht sagen, dass die Kirche nicht auch einiges bewahrt hätte. Aber über den positiven Beitrag des Christentums ist immer wieder geschrieben worden, Bücher darüber gibt es in den Bibliotheken und Buchhandlungen zuhauf. Die Geschichte(n) und das Leid derer, die das Christentum unterjocht hat, wurden dagegen seltener erzählt. Um sie soll es in diesem Buch gehen.

Das geografische Gebiet, das ich hier behandeln werde, hat gewaltige Ausmaße; entsprechend werde ich nur historische Schlaglichter aufzeigen und dabei durch Raum und Zeit mäandern. Für eine lineare Darstellung ist der Zeitraum zu lang, die daraus resultierende Erzählung wäre schlichtweg langweilig. Und ja, es ist eine erzählende historische Darstellung: Ich habe versucht nachzuspüren, wie es war, vor einem antiken Tempel zu stehen, wie es roch, wenn man eintrat, wie es wirkte, wenn in einem antiken Badehaus die Strahlen der Nachmittagssonne durch die Dampfschwaden drangen. Auch hierfür möchte ich mitnichten um Entschuldigung bitten. Sicherlich birgt eine solche Herangehensweise ganz eigene Probleme – wer kann schon wirklich wissen, wie ein antiker Tempel roch, ohne damals einen Fuß hineingesetzt zu haben? Doch wenn man nicht versucht, diese antike Welt neu zu erschaffen, ist dies wiederum eine Unaufrichtigkeit anderer Art: Schließlich lebten die Menschen des Altertums nicht in einer Welt, die aus sauber voneinander getrennten historischen Epochen und Ereignissen bestand. In ihrer Welt waberte an Festtagen der Rauch verbrannter Opfergaben durch die Straßen; in ihrer Welt verrichtete man im Zentrum von Rom hinter Statuen seine Notdurft; in ihrer Welt glitzerten in den Theatern die nassen, nackten Körper junger »Nymphen« in der Sonne. Man muss sich mit beidem – Daten und Körpern – beschäftigen, wenn man verstehen will, wie die Menschen damals lebten.

Jeder Versuch, über antike Geschichte zu schreiben, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten verbunden. Wie die britische Schriftstellerin Hilary Mantel einmal gesagt hat: »Geschichte ist nicht Vergangenheit … Sie ist das, was im Sieb zurückbleibt, wenn die Jahrhunderte hindurchgeflossen sind.« Die Spätantike hat in diesem Sieb leider weniger hinterlassen als die meisten anderen Epochen. Und dieses Wenige wird von der Forschung zum Teil seit mehreren hundert Jahren kontrovers diskutiert. Selbst etwas, das so unkompliziert zu sein scheint wie ein Edikt, kann für jahrelange Meinungsverschiedenheiten zwischen denen sorgen, die es für bahnbrechend halten, und denen, die ihm lediglich den Status eines x-beliebigen Briefes zubilligen. Ich werde auf einige der wichtigsten Kontroversen eingehen, aber längst nicht auf alle – das wäre nahezu unmöglich und das daraus resultierende Buch unlesbar.

Was bleibt, ob umstritten oder nicht, sollte stets mit Vorsicht behandelt werden. Wie in der gesamten antiken Geschichte üblich, hatten auch die Autoren, die ich zitiere, eine ziemlich eingeschränkte Sichtweise und immer auch ihre eigene Agenda. Wenn sich der heilige Chrysostomos daran ergötzt, dass die Schriften der Griechen vernichtet seien, gibt er damit eher einer Hoffnung Ausdruck, als dass er eine Tatsache schildert. Wenn der Biograf des heiligen Martin begeistert beschreibt, wie Martin in ganz Gallien auf brutale Weise Tempel zerstört und niedergebrannt hat, liefert er damit weniger einen Tatsachenbericht ab, als dass er seine Leser inspirieren will. Heute würden wir solche Schriften als Propaganda bezeichnen. Über jedes Detail, das diese Autoren berichten, ließe sich streiten, jeder Schriftsteller, den ich zitiere, ist fehlbar. Salopp gesagt, waren sie auch nur Menschen, und ihre Schriften sind stets mit Vorsicht zu genießen. Aber wir sollten sie dennoch lesen – das, was sie erzählen, ist es wert.

Meine Erzählung beginnt in Ägypten, zu einer Zeit, als dort das Mönchstum aus der Taufe gehoben wird. Dann geht die Reise weiter nach Rom, wo die neue Religion Fuß fasst. Anschließend schauen wir in den Norden der Türkei, nach Bithynien, wo der allererste Bericht über die Christen aus der Feder eines Nichtchristen entsteht. Danach reisen wir zurück nach Ägypten, wo es in Alexandria zur schändlichsten Entweihung überhaupt kommt, und weiter in die syrische Wüste, wo wir auf die wohl merkwürdigsten Akteure unserer Geschichte treffen: Mönche, die aus Liebe zu Gott ihr ganzes Leben auf Säulen, auf Bäumen oder in Käfigen verbringen. Und schließlich nach Athen, dem Geburtsort der westlichen Philosophie, die eben dort im Jahr 529 auch ihr Ende findet.

Das Ausmaß der Zerstörung, die ich in diesem Buch aufzeichne, ist immens – und doch hat die moderne Welt sie fast völlig aus der kollektiven Erinnerung getilgt. Einer der einflussreichsten Kirchenhistoriker überhaupt beschrieb den Moment, als das Christentum die Zügel in die Hand nahm, als den Moment, in dem die »Tyrannei beseitigt« wurde: »Alles war von Licht erfüllt, und die zuvor den Blick zu Boden senkten, sahen sich an mit freudig lächelndem Antlitz und strahlenden Auges.«16 Spätere Historiker stimmten in diesen Tenor mit ein. Hätten die alten Römer denn nicht dankbar sein müssen, dass sie bekehrt wurden? Schließlich waren sie, so das Argument, vernünftige Leute und hatten an ihrer Religion mit den würdelosen, triebhaften Göttern und Göttinnen ohnehin nie richtig gehangen. In Wirklichkeit seien die Römer doch schon immer Christen gewesen, bereit, ihre absurd-verwirrenden polytheistischen Rituale aufzugeben, sobald eine vernünftige (soll heißen: monotheistische) Religion auf den Plan trat. Wie Samuel Johnson es ausdrückte: »Die Heiden ließen sich so einfach bekehren, weil sie nichts dafür aufgeben mussten.«17

Was für ein Irrtum! Zwar ist es richtig, dass viele Römer und Griechen bereitwillig zum Christentum konvertierten. Aber viele eben auch nicht. Viele Menschen nahmen es nicht mit einem Lächeln auf den Lippen hin, dass ihnen die Religionsfreiheit genommen wurde. Dass ihre Bücher verbrannt, ihre Tempel zerstört, ihre Statuen mit Hämmern zerschlagen wurden. Ihre Geschichte will dieses Buch erzählen; es ist ein Buch, das sich nicht schämt, die größte Zerstörung von Kunst seit Menschengedenken zu betrauern. Es ist ein Buch über die vielen Tragödien, die sich hinter dem »Triumph« des Christentums verbergen.

Eine Anmerkung zum Vokabular: Ich habe durchweg versucht, den Begriff »heidnisch« zu vermeiden, außer wenn ich die Gedanken oder Taten eines christlichen Protagonisten darstelle. Er war und ist ein abwertender und beleidigender Begriff, und kein Nichtchrist hätte ihn zur damaligen Zeit von sich aus verwendet. Ohnehin war dieses Wort eine christliche Neuerung – vor der allgemeinen Verbreitung des Christentums wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, sich durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion zu definieren. Durch das Christentum aber wurde die Welt für immer entlang religiöser Grenzen gespalten, und bestimmte Begriffe tauchten auf, die diese Grenzen markierten. Eines der am häufigsten benutzten Wörter war »heidnisch«, auf Latein: paganus. Anfangs bezeichnete dieser Begriff den Zivilisten, um ihn vom Soldaten abzugrenzen. Als das Christentum seinen Siegeszug antrat, waren die »Soldaten« keine römischen Legionäre mehr, sondern all jene, die in der Armee Christi mitmarschierten. Spätere christliche Schriftsteller dachten sich eine wenig schmeichelhafte Etymologie für dieses Wort aus: Sie behaupteten, es käme von pagus, dem »Dorf« beziehungsweise dem »Dorfbewohner«, dem (ungebildeten) Bauern. Obwohl diese Etymologie falsch ist, haftet dem »Paganismus«, dem Heidentum, seither etwas Negatives an, und es scheint bis heute immer auch etwas Rustikales, Zurückgebliebenes mitzuschwingen.

Antiken Charakteren eine moderne Nationalität zuzuschreiben, vermeide ich, wann immer es möglich ist. Stattdessen definiere ich sie anhand der Sprache, in der sie hauptsächlich geschrieben haben. Zum Beispiel ist Libanios, obwohl er in Syrien geboren wurde und gelebt hat, bei mir kein »syrischer«, sondern ein »griechischer« Redner. Es war eine kosmopolitische Welt, in der sich die Menschen zwischen Alexandria und Athen als »Griechen« beziehungsweise »Hellenen« bezeichneten. Mir ist es wichtig, diesen Umstand auch durch Begrifflichkeiten abzubilden.

Um der besseren Lesbarkeit willen verwende ich im Text gelegentlich das Wort »Religion«, um das breite Spektrum von Kulten zu benennen, die die griechisch-römische Gesellschaft vor der Christianisierung prägten. Dieses Wort wirft allerdings seine ganz eigenen Probleme auf – nicht zuletzt, da es eine zentralisierte und kohärente Struktur impliziert, wie sie in der Praxis nicht existierte. Dennoch ist es immer noch eleganter als die vielen umständlichen Alternativen.

Eine letzte Anmerkung noch: Sehr viele gute Menschen veranlasst ihr christlicher Glaube dazu, sehr viel Gutes zu tun. Das erlebe ich selbst fast täglich am eigenen Leib. Ich möchte diese Menschen mit meinem Buch keinesfalls angreifen, und ich kann nur hoffen, dass sie diesen Eindruck gar nicht erst gewinnen. Dennoch kann niemand bestreiten, dass es Personen gab und gibt, die im Namen ihres monotheistischen Glaubens schreckliche Verbrechen begingen und begehen. Das Christentum als Religion könnte davon profitieren, sich dieser Tatsache zu stellen – und sie zu bekämpfen.

1   Die unsichtbare Armee

»Seht, ich habe euch die Vollmacht gegeben, auf Schlangen und Skorpione zu treten und die ganze Macht des Feindes zu überwinden. Nichts wird euch schaden können.«

LUKAS 10:19

Satan wusste, wie er den heiligen Antonius in Versuchung führen konnte. Er war ihm eines Tages in einem der hintersten Winkel des Römischen Reichs aufgefallen, in Ägypten, wo der junge Mann etwas tat, das für damalige Verhältnisse extrem ungewöhnlich war: Als er um die zwanzig war, verließ Antonius nämlich sein Haus, verkaufte das Grundstück und all sein Hab und Gut und lebte ab sofort in einem Schweinestall.1

In der römischen Welt des Jahres 270 n. Chr. galt das »einfache Leben« nicht gerade als erstrebenswert. Wenn Satan sich die Mühe gemacht hätte, sich das römische Imperium näher anzusehen, so hätte er wohl zufrieden festgestellt, dass sein Werk vollendet war. Allerorten gaben sich die Leute den Todsünden Wollust, Völlerei und Habgier hin. Hatten die Aristokraten von Rom einst voller Stolz eine schlichte, im eigenen Haus gewebte Tunika getragen, so schwitzten die reichen Leute nun unter scharlachroten, mit Gold bestickten Stoffen. Noch schlimmer waren die Frauen: Sie trugen juwelenbesetzte Sandalen und teure Seidenkleider aus derart dünnem Stoff, dass man jede Rundung ihres Körpers sah. Hatten sich die römischen Adligen früher damit gebrüstet, sich durch Bäder im eiskalten Strom des Tibers abzuhärten, zog diese verweichlichte Generation barock dekorierte Badehäuser vor, in die sie zahllose silberne Fläschchen mit Öl und Salben mitschleppten.

Es hieß, dass sich die Besucher jener Räumlichkeiten geradezu schamlos verhielten. Frauen entkleideten sich komplett und ließen sich von Sklaven jeden Zentimeter ihres Körpers mit Öl einreiben. Männer und Frauen badeten gemeinsam, wobei sie, wie ein Beobachter es ausdrückte, »zugleich mit dem Gewand auch das Schamgefühl« ablegten.2 In seiner offensichtlichen Verlegenheit konnte der Verfasser jener Zeilen die »Lust« und die »Hemmungslosigkeit«, die in den feucht-warmen Räumen florierten, nur mit abstrakten Substantiven benennen. Die Fresken in den Thermen von Pompeji waren da schon deutlicher: In einem Umkleideraum befand sich über einer Ablage, auf der Badegäste ihre Kleider lassen konnten, ein kleines Gemälde, auf dem ein Mann eine Frau oral befriedigt. Es gab mehrere solcher Ablageflächen in dem Raum, und über jeder befand sich ein anderes Bild: Auf einem Gemälde war ein »flotter Dreier« zu sehen, auf einem anderen eine lesbische Sexszene und so weiter. Möglicherweise konnten sich die Leute auf diese Weise besser merken, wo sie ihre Kleidung gelassen hatten, als wenn dort nur eine Zahl gestanden hätte.

Hätte Satan einen Blick auf die Esstische im Römischen Reich geworfen, so hätte er mit Genugtuung festgestellt, dass sich die Menschen in diesem Bereich kaum weniger ausschweifend verhielten. Einige Jahrhunderte zuvor hatte Kaiser Augustus noch einfache Speisen wie grobkörniges Brot und handgemachten Käse bevorzugt. Doch diese (von Augustus damals bewusst zur Schau gestellte) Bescheidenheit war nicht von Dauer gewesen: Schon bald tranken die reichen Gourmands aus aufwendig dekorierten Kelchen hundert Jahre alten Wein, der mit Schmelzwasser gekühlt war, und ließen Austern aus Abydos importieren, während andernorts die Menschen verhungerten. Dabei konnten sich die Gäste selbst an den am üppigsten gedeckten Tischen nicht sicher sein, dass sie auch die besten Speisen und Getränke kosten durften: In dieser auffällig hierarchisch strukturierten Welt ließen die Gastgeber den schlechtesten Wein an die unbedeutendsten Besucher ausschenken, den mittelguten an die halbwegs bedeutsamen, und nur erlesene Gäste bekamen die besten Jahrgänge vorgesetzt.

Bevor der junge Antonius in seinen Schweinestall zog, gehörte auch er zu jenen Leuten, die bei einer Einladung zum Abendessen die feineren Weine serviert bekamen. Zwar war er ein Provinzbewohner, das schon, aber er war jung, gut aussehend, fit und gesund; er hatte eine gute Ausbildung genossen (auch wenn er, wie es für privilegierte junge Männer von alters her Tradition war, im Grunde nichts damit anfing), und er war wohlhabend: Erst kürzlich hatte er an die hundert Hektar beneidenswert fruchtbares Ackerland geerbt. Antonius war genau in jenem Alter, in dem ein Mann damit beginnen sollte, sich in der Welt einen Namen zu machen.

Stattdessen gab Antonius alles auf. Kurz nach dem Tod seiner Eltern besuchte er die Kirche, wo ein Kapitel aus dem Matthäusevangelium vorgelesen wurde: »Wenn du vollkommen sein willst«, hieß es dort, »geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben.«3 Und genau das tat er. Doch Antonius (der später so berühmt wurde, dass man ihn heute noch »Antonius den Großen« nennt) reichte das noch nicht: 15 Jahre später siedelte er in ein verlassenes römisches Kastell am Rande der ägyptischen Wüste um, wo er weitere zwanzig Jahre lebte, danach zog er auf einen Berg am Roten Meer, wo er bis zu seinem Lebensende im Jahr 356 blieb.

Antonius war keiner dieser Gourmands aus dem Römischen Imperium. Statt sizilianischer Neunaugen nahm er nur einmal am Tag, nach Sonnenuntergang, ein wenig Brot, Salz und Wasser zu sich. Und selbst das kann keine Mahlzeit gewesen sein, auf die er sich besonders gefreut hat: Während er in der Festung wohnte, wurde ihm nur zweimal im Jahr Brot gebracht. Ein Ästhet hätte mit seiner Art zu leben wenig anfangen können. Antonius schlief auf einer einfachen, aus Binsen geflochtenen Matte und wärmte sich mit einer Decke aus Ziegenhaar. Oft schlief er aber überhaupt nicht und betete stattdessen die ganze Nacht. Andere junge Männer geizten nicht mit teuren Parfüms und Salben und zupften sich so gewissenhaft die Haare aus, dass man (wie die Moralisten murrten) die Kinnpartie manches Mannes nicht von der einer Frau unterscheiden konnte. Nicht so Antonius: Er verachtete seinen Körper. Er geißelte sich jeden Tag und dachte nicht daran, sich mit Öl zu salben; stattdessen trug er ein Cilicium (ein grobes Hemd aus Tierhaaren) und wusch sich überhaupt nicht. Lediglich wenn er einen Fluss durchquerte, lösten sich die Dreckkrusten von seinen Füßen. Es hieß, dass bis zu seinem Tod niemand je seinen nackten Körper gesehen hatte.

Antonius verbrachte sein Leben in Isolation, in Demut (oder, will man keinen christlichen Euphemismus benutzen, Erniedrigung) und Selbstverleugnung; dennoch war er wenige Jahrzehnte nach seinem Tod auf einmal berühmt. Seine Biografie aus der Feder eines Bischofs namens Athanasius war eine literarische Sensation. Die Leser verschlangen das Buch in Ägypten genauso wie in Italien, und es blieb über Jahrhunderte hinweg ein Bestseller. Vom Bericht inspiriert, zogen so viele junge Männer in die Wüste, um dem Asketen nachzueifern, dass es hieß, die Mönche machten aus der Wüste eine Stadt. Einige Jahrhunderte später verehrten die Menschen Antonius als Gründervater des Mönchstums und eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Geschichte des Christentums. Seine Bedeutung erkannte man bereits wenige Jahre nach seinem Tod: Als der heilige Augustinus von Antonius’ entsagungsreichem Leben hörte, war er von der Kraft dieser Erzählung offenbar so sehr bewegt, dass er aus seinem Haus in den Garten lief, sich die Haare raufte und mit den Händen auf seinen Kopf einschlug. Solche einfachen Männer, sagte er, »erheben sich und reißen das Himmelreich an sich«.4

Nicht jeder war von Antonius begeistert. Laut seinem Biografen Athanasius war Satan schockiert, als er den schlafgestörten Heiligen in seinem kratzenden Hemd erblickte. Dass ein so junger Mann bereits so tugendhaft daherkam, durfte einfach nicht sein – der Fürst der Finsternis musste handeln. Womit er ihn überlisten würde, wusste der Teufel sofort: Antonius verachtete die Freuden des Fleisches, daher würde er ihn mit den Freuden des Fleisches in Versuchung führen. Unreine Gedanken waren, wie Athanasius erklärt, Satans übliche Waffe, um junge Leute zu verderben, und so schickte er Antonius als Erstes schlüpfrige Träume, die den unschuldigen Knaben in der Nacht heimsuchen sollten. Doch das konnte den heiligen Antonius nicht beeindrucken: Mit der Kraft des fortwährenden Gebets schob er die Träume fort.

Satan sah sich gezwungen, deutlicher zu werden. Eines Nachts nahm er die Gestalt einer schönen jungen Frau an, die (wie Athanasius, der Meister der faszinierenden Nebenbemerkungen, anmerkte) »alles Mögliche nachzumachen« versuchte, »nur um den Antonius zu verführen«. Antonius kämpfte mit sich, doch er blieb standhaft, indem er sich »die Drohung des ewigen Feuers und die Plage des Wurmes«5 vor Augen führte. Der Teufel knirschte vor Wut mit den Zähnen. Doch er war noch nicht fertig: Einen Trumpf hatte er noch in petto. Und so erschien er Antonius noch einmal, diesmal als schwarzer Knabe, der sich dem Einsiedler zu Füßen warf. Als er dort lag, verkündete der Dämon, er sei der Freund der Unzucht, und prahlte: »Viele habe ich verführt und die meisten überwunden.« Da sang Antonius dem Teufel einen Psalm vor – was man schon damals als so abtörnend empfand, dass der Knabe sofort wieder verschwand.6

Antonius hatte die erste Schlacht gewonnen, aber sein Kampf gegen das Böse war noch lange nicht vorbei. Wenn er in den folgenden Jahrzehnten durch die Wüste wanderte, sah er sich immer wieder teuflischen Übergriffen ausgesetzt. Die Dämonen setzten ihm so sehr zu, dass er seine Stimme verlor. Er wurde Zeuge, wie die Naturgesetze ad absurdum geführt wurden: Die Luft verwandelte sich in Silber, das plötzlich wie Rauch verschwand; Wände lösten sich in Luft auf, und Skorpione, Löwen und Giftschlangen drangen in sein Zimmer ein und fielen über ihn her. Einmal stand er sogar dem Teufel persönlich gegenüber. Satan erschien Antonius, wie er bereits Hiob erschienen war: Seine Augen glänzten wie der Morgenstern, aus seinem Mund sprühten Funken, sein Haar stand in Flammen, aus seinen Nüstern strömte Rauch, und sein Atem war wie glühende Kohle – »so erscheint der Fürst der Dämonen und verbreitet Furcht«,7 wie Antonius’ Biograf schreibt.

Heutzutage wird die Geschichte darüber, wie das Christentum Rom erobert hat, größtenteils mit betont weltlicher Terminologie erzählt. Es ist eine Geschichte von schwächelnden Kaisern und barbarischen Invasoren, von Strafsteuern, grausamen Epidemien und einer müden, erschöpften Bevölkerung. Wenn bei solchen Darstellungen die Religion ins Spiel kommt, wird ihr oftmals eine psychologische Rolle zugewiesen. Es war eine Epoche der Angst, so lautet das Argument – Krankheit und Tod, Kriege und Hungersnöte suchten das Römische Reich heim, ganz zu schweigen vom Schrecken, den die unvermeidlichen Zöllner verbreiteten. Im 3. Jahrhundert wurde das Imperium in einem Zeitraum von nur fünfzig Jahren von 26 Kaisern in Folge regiert, und mindestens noch einmal so viele Usurpatoren versuchten, die Macht an sich zu reißen. Die Barbaren waren noch nicht vor den Toren Roms, doch sie rotteten sich bereits an den Reichsgrenzen zusammen und lancierten Überfälle auf Britannien, Gallien, Spanien, Marokko und sogar Italien. Und gerade, als man glaubte, es könne nicht schlimmer kommen, suchte die Pest die Menschen heim; die Opfer mussten sich »fortwährend erbrechen«, in ihre »brennenden Augen schoss das Blut«, ihre Füße und Teile der Gliedmaßen »fielen der ansteckenden Fäulnis anheim und starben ab« – und es gab noch weitere, weitaus unappetitlichere Symptome.8

Wer, so die traditionelle Argumentation der Christen, hätte in einer solchen Zeit nicht nach etwas gesucht, das ihm Halt hab? Wer hätte sich nicht zu einer Religion hingezogen gefühlt, die ihren Anhängern versicherte, dass sie nach all dem Unglück in ihrem hiesigen Leben wenigstens auf das nächste hoffen konnten? Wer hätte nicht gerne gehört, dass irgendwer irgendwo einen Plan hatte – und dass alles, was auf Erden geschah, Teil dieses Plans war? Wie ein Historiker es Mitte des 20. Jahrhunderts ausdrückte: »In einer Epoche der Angst übt jeder ›totalitäre‹ Glaube eine starke Anziehungskraft aus – man denke nur daran, wie viele verunsicherte Menschen momentan ihr Heil im Kommunismus suchen.«9

Die alten Religionen in Rom boten den Menschen – so die Argumentation weiter – keinen solchen Trost. Im Gegenteil: In der griechisch-römischen Unterwelt wurde Tantalos mit Durst und Hunger gefoltert, dort musste Sisyphos tagtäglich einen Felsbrocken den Berg hinaufrollen, und der Stein rollte immer wieder hinunter. Das alles waren keine verlockenden Aussichten. Auch den Lebenden bot das griechisch-römische Religionssystem nicht allzu viel Orientierung. Die Kulte beinhalteten keine moralischen Richtlinien für den Alltag. Es gab keine offiziellen Gebote, keinen Katechismus, kein Glaubensbekenntnis, an das sich die Seelen der Wankelmütigen im Leben halten konnten. Es existierten lediglich ein paar ganz allgemeine Regeln und Vorgaben, wann man den Göttern wie opfern sollte. Immerhin trat dort, wo die Religion mit ihrem Latein am Ende war, mitunter die Philosophie auf den Plan, um Trost zu spenden – doch angesichts der Tatsache, dass eine der beliebtesten philosophischen Richtungen jener Zeit der Stoizismus war, der einen dazu anhielt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, konnte man auch hier nicht allzu viel Zuspruch erwarten. »Das alles hier ist eine Bühne und das Leben nur ein Spiel«, wie ein griechischer Dichter später schrieb, »lass dich drauf ein, spiel mit/Und leg die ernsten Gedanken beiseite, oder ertrag’s, dass dir die Seele schmerzt.«10

Und dann brach über diese kalte, nihilistische Welt auf einmal das Christentum herein. Die neue Religion bot den Menschen nicht nur im Hier und Jetzt Trost und Gemeinschaft und gab ihrer Existenz einen Sinn, nein, sie versprach zudem ewige Seligkeit nach dem Tod. Und als ob das alles noch nicht verlockend genug gewesen wäre, hatte das Christentum seinen Konvertiten bald noch ganz andere Anreize zu bieten: Im Jahr 312 erklärte sich Kaiser Konstantin zum Anhänger Christi, und unter seiner Schirmherrschaft wurde die Kirche von allen Steuern befreit und auf ihre Angestellten wartete eine fürstliche Entlohnung. Auf einmal verdienten Bischöfe fünfmal so viel wie Professoren, sechsmal so viel wie Ärzte, sie wurden so reich wie römische Statthalter. Ewige Wonnen im nächsten Leben, bürokratische Vorteile in diesem – was wollte man mehr?

Einige dieser Punkte der traditionellen Argumentation sind zweifellos nicht ganz von der Hand zu weisen. Reichtum, Status und ewiges Leben – diese Kombination muss so verlockend gewesen sein, dass sich zahllose Menschen allein deshalb der relativ jungen Religion anschlossen (ganz abgesehen davon, dass viele Lehren Jesu voller Güte sind und einfach Sinn ergeben).

Doch das war mitnichten die Art und Weise, wie das Christentum im 4. Jahrhundert den Leuten verkauft wurde. Die Kirche warb nicht damit, dass ihre Mitglieder weniger Steuern zahlten und ruhiger schlafen konnten. Das Christentum wurde dem Römischen Reich nicht als Schutzschild präsentiert, das die Gläubigen vor den Übeln der Welt abschirmte. Es verkörperte auch keinen bestimmten Lebensstil, ja es ging dabei nicht einmal um Leben und Tod – dafür war die Angelegenheit viel zu ernst.

Ein Krieg war es. Der Kampf um das Imperium war nicht weniger als ein Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Mächten der Finsternis und denen des Lichts. Es war ein Kampf zwischen Gott und Satan höchstpersönlich.

2   Das Schlachtfeld der Dämonen

»Mein Name ist Legion; denn wir sind viele.«

MARKUS 5:9

Diese Zeit war für die Kirche – zumindest im Nachhinein – eine Zeit der Helden. Die Giganten der Kirche wandelten damals noch auf Erden: Der heilige Augustinus unterhielt sich mit dem heiligen Ambrosius und schrieb Briefe an den heiligen Hieronymus. Viele der großen Namen jener Zeit sind uns heute noch geläufig. Wir haben von Kaiser Konstantin gehört, vom heiligen Martin und vom heiligen Antonius – oder zumindest von seinem Kloster. Manchmal kennen wir auch noch ein paar biografische Details: Wir wissen, dass Konstantin Konstantinopel gegründet hat und dass er (was weniger nett war) seine Frau durch allzu heißes Badewasser umbringen ließ. Wir wissen, dass Augustinus eine dominante Mutter hatte und dass er als junger Mann zu Gott betete, er möge ihn keusch machen – aber bitte erst später, nicht sofort.1 Es war eine Epoche, die einem heute durchaus vertraut vorkommen kann.

Doch da sollten wir uns nicht täuschen. Es war ein anderes Land, und es war eine andere Zeit – eine Zeit, in der Mönche höchstpersönlich mit Christus sprachen, mit Johannes dem Täufer spazieren gingen und spürten, wie ihnen vom Himmel die Tränen eines Propheten auf die Haut fielen. Die Welt war noch voller Wunder: Blinde wurden sehend gemacht, Gläubige entstiegen ihren Gräbern, Heilige liefen über das Wasser. Es war eine seltsame, eine ätherische Welt, wo die Türen religiöser Wahrnehmung weit offen standen. Eine Welt, in der sich manch heiliger Mann in eine flackernde Flamme verwandelte, auf einer schimmernden Wolke reiste oder im Alleingang mit einem flammenden Schwert eine Horde Barbaren niederstreckte.

In jener Welt gab es aber nicht nur fromme Erscheinungen, sondern auch Manifestationen des Bösen – es kam vor, dass auf der Straße auf einmal der Teufel neben einem spazierte oder dass sich beim Abendessen ein Dämon neben einen setzte. Es war eine Welt, in der die unsterbliche Seele immer und überall in Gefahr war. Die Barbarenhorden, die an den Grenzen des Imperiums für Ärger sorgten, waren nichts im Vergleich zu der schrecklichen Armee von Dämonen, die laut den christlichen Autoren jener Zeit bereits überall im Römischen Reich unterwegs waren. »Mein Name«, hatte der Dämon im Markusevangelium angekündigt, »ist Legion; denn wir sind viele.«2 Für viele christliche Autoren waren das keine bloßen Metaphern: Die Dämonen und die Bedrohung, die sie darstellten, waren ganz und gar real.

Modernen Historikern ist dieses Thema so peinlich, dass sie den Teufel und seine Dämonen oft gar nicht erst erwähnen. Dabei waren einige der führenden Köpfe des frühen Christentums regelrecht von der Dämonologie besessen. In Augustinus’ Gottesstaat (einem Werk, das man nur selten bei seinem vollen Titel nennt: Über den Staat Gottes gegen die Heiden) wimmelt es geradezu von diesen furchterregenden Gestalten. Sie seien, so Augustinus, »Dämonen, Schlechtigkeiten wollen sie lehren, an Schändlichkeiten haben sie ihre Freude«.3

Angesichts dieser überall lauernden Bedrohung machten die christlichen Autoren mobil. Mit der Akribie viktorianischer Naturforscher begannen die Historiker, Theologen und Mönche des ausgehenden 4. Jahrhunderts, die Sitten und Gewohnheiten dieser teuflischen Spezies zu beobachten und aufzuzeichnen. Ein Mönch teilte in seinen Schriften die Dämonen mit beinahe linnéscher Genauigkeit in acht Kategorien ein: Völlerei, Lust, Habgier, Traurigkeit, Wut, Teilnahmslosigkeit, Prahlerei und Stolz. Falls Ihnen diese Liste bekannt vorkommt, so liegt das daran, dass sie den Ausgangspunkt für das mittelalterliche Konzept der Sieben Todsünden bildete (die Teilnahmslosigkeit wurde in eine andere Sünde inkorporiert, um auf die magische Zahl sieben zu kommen).

Auch wenn manche Mönche dazu tendierten, sich ein wenig zu lange mit jenen Manifestationen des Bösen zu beschäftigen, die man eher dem pornografischen Bereich zuordnen würde, so waren die akribischen Beschreibungen von Dämonen doch beileibe kein Selbstzweck. Vielmehr galten diese präzisen Berichte als wertvolles Mittel im Kampf der Christen gegen das Böse. Man wusste schon damals: Wissen ist Macht. Wer die verschiedenen Dämonen voneinander unterscheiden konnte, wer sich mit ihren Gewohnheiten auskannte und wusste, wie und wo sie anzugreifen pflegten, der war besser aufgestellt, diesem furchtbaren Feind zu begegnen – genau wie manche Soldaten, die im Norden des Reichs gegen die Barbaren in die Schlacht zogen, zunächst einmal Caesars Gallischen Krieg lasen.

Komplexe Dämonologien kamen auf den Markt, die dem Leser von A bis Z erklärten, was es mit diesen Kreaturen auf sich hatte: wie sie entstanden waren (der Höllensturz der gefallenen Engel), wie sie rochen (abscheulich), wo sie sich gerne aufhielten (ein beliebter Treffpunkt war Rom), wie sich ihre Haut anfühlte (kalt wie der Tod), sogar wie sie im Bett waren (einfallsreich, fantasievoll und ausdauernd). Alles nahmen die Dämonenforscher unter die Lupe, auch was die Dämonen planten, um die logistischen und linguistischen Hürden zu überwinden, die die angestrebte Weltherrschaft mit sich brachte: »Wir dürfen nicht glauben, dass es einen Geist der Unzucht gibt, der zum Beispiel eine Person verführt, die in der Bretagne Unzucht treibt«, schrieb ein Zeitgenosse, »und einen anderen für eine Person, die solches in Indien tut.« Stattdessen, erklärte er, gebe es unzählige Geister, eine ganze »abscheuliche Armee«, die unter ihrem Anführer Satan die Welt drangsaliere und zur Sünde verleite.4

Dass die Dämonen so mächtig waren, lag nicht zuletzt an ihrer erstaunlichen Schnelligkeit: Sie konnten jederzeit und (fast) überall auftauchen. Wie die Engel, die sie einst gewesen waren, hatten die Dämonen Flügel und konnten dadurch mit Höchstgeschwindigkeit große Distanzen überwinden, um ihr böses Werk zu verrichten – und die Menschen ganz allgemein in Angst und Schrecken zu versetzen. Ein Mann wachte auf, weil ihm mehrere Dämonen wie ein Schwarm Krähen um den Kopf flatterten. »Sie sind in ein und demselben Augenblick überall«, schrieb ein antiker Chronist. »Für sie ist die ganze Welt ein einziger Ort.«5 Dämonen, warnten andere Autoren, gaben furchterregende Geräusche von sich: Sie konnten schreien, heulen, zischen und (wenn sie besonders heimtückisch waren) sogar sprechen. Sie waren in der Lage zuzuschlagen, zu beißen, zu verbrennen und Spuren auf der Haut zu hinterlassen, die aussahen »wie mit einem Schröpfglas gemacht«. Am schlimmsten aber war das Ziel, welches sich diese üblen Kreaturen gesetzt hatten: nichts weniger als »die Unterwanderung der gesamten Menschheit«.6

Die Methoden, mit denen die Dämonen den Menschen zusetzten, waren mannigfaltig, und sie variierten, je nachdem, welcher Dämon zur Tat schritt und wen er vor sich hatte. Manchmal inszenierten sie ihr Erscheinen als geradezu extravagantes Spektakel, wobei sie sich die besonders höllischen Auftritte in der Regel für ihre besonders frommen Feinde aufsparten. Antonius suchten sie als Wölfe und Skorpione heim. Weniger frommen Gegnern erschienen sie in scheinbar harmloser, manchmal sogar durchaus angenehmer Form: als Mönche, als schöne Frauen, als nackte Jünglinge oder sogar als Engel. Ein älterer Mönch fand sich beim Abendessen auf einmal von nackten Frauen umgeben, die mit ihm am Tisch saßen, einem anderen hockte unvermittelt ein Dämon im Schoß – in der Gestalt eines äthiopischen Mädchens, dem er einst als junger Mann begegnet war. Ein Mönch wurde in seinem Kloster von einer ausgesprochen zeitlosen Erscheinung heimgesucht: einem mittleren Regierungsbeamten. Der Beamte packte den Mönch und begann mit ihm zu ringen. Erst während des Kampfs wurde dem Mönch klar, dass er es gar nicht mit einem Vertreter der Bürokratie zu tun hatte, sondern (offenbar waren die Unterschiede nicht allzu groß) mit dem unverfälschten Bösen. Es war ein Dämon.

Einige Beschreibungen dämonischer Übergriffe sind von einer fast schon proustschen Präzision. Ein Mönch notierte das Werk eines, wie er es nannte, »Mittagsdämons«, der immer zwischen 10 und 14 Uhr auftauchte. Zu dieser Zeit soll der Mönch eigentlich arbeiten, aber dieser spezielle Dämon hindert ihn daran, und »es scheint, als bewege sich die Sonne kaum, wenn sie es überhaupt tut, und der Tag ist fünfzig Stunden lang. Dann zwingt er den Mönch, dauernd aus den Fenstern zu schauen und sogar seine Zelle zu verlassen, um sich den Stand der Sonne anzusehen und festzustellen, wie lang es noch bis zur neunten Stunde ist« – um diese Zeit gibt es nämlich Abendessen. Manchmal veranlasst der Dämon den Mönch, seinen Kopf aus der Zelle zu stecken, um nachzusehen, ob andere Mönche unterwegs sind, und später muss er feststellen, wie er sich in der warmen Mittagssonne »die Augen reibt und die Hände streckt, den Blick von seinem Buch abwendet und an die Wand starrt. Dann blickt er wieder ins Buch zurück und liest ein wenig. Doch er beschäftigt sich schließlich nur noch mit dem Zustand der Texte … Er kritisiert die Orthografie und den Buchschmuck. Am Ende faltet er das Buch zusammen, legt es sich unter den Kopf, und dann fällt er in einen leichten Schlummer.«7

Meistens aber suchten die Dämonen die Menschen auf viel prosaischere, wenn auch nicht weniger tückische Weise heim. Sie verführten Männer (die Berichte über solcherlei Vorkommnisse wurden ausschließlich von Männern verfasst), indem sie ihnen Gedanken und Ideen einpflanzten, denen sie nicht widerstehen konnten. Um den diabolischen Einflüsterern etwas entgegenzuhalten, brachte ein Mönch eine Sammlung von Phrasen heraus, mit denen man auf fast jede dieser Erscheinungen reagieren konnte. Genau wie man in unserer jüngeren Vergangenheit auf Reisen einen Sprachführer dabeihatte – ein Büchlein, das einem verriet, wie man in der Landessprache nach dem Weg zum Bahnhof fragte – , gab die Sammlung des Mönchs den Menschen praktische Phrasen an die Hand, die allesamt aus der Bibel stammten und dem Anwender im Falle eines Dämonenangriffs gute Dienste leisten sollten. Wenn einer von dem Gedanken geplagt wurde, dass er gerne ein Glas Wein trinken würde, sollte er die frommen Worte sagen: »Wer bei Tisch Freude am Wein hat, der bringt Schande über seine Festung.« Dann würde die Versuchung hoffentlich das Weite suchen.8 Das Kompendium enthält 498 Passagen, für jede nur erdenkliche Situation. Man darf sich durchaus fragen, ob die Mönche im 4. Jahrhundert – ähnlich den modernen Reisenden, die zwar nach dem Bahnhof fragen können, aber die Antwort nicht verstehen – sehr verwirrt waren, wenn sich ihr Gegenüber nicht exakt an das vorgegebene Drehbuch hielt.

Eine Konsequenz des Dämonenkonzepts bestand darin, dass man selbst nicht schuld war, wenn man schlechte Gedanken hatte – schließlich waren es die Dämonen, die einem diese Gedanken eingetrichtert hatten. Dieser Umstand führte zu der kuriosen Situation, dass die Menschen selbst allersündhafteste Gedanken ohne Umschweife zugaben. In Schriften von erstaunlicher Offenheit manifestieren sich die Libido und die dunkelsten Sehnsüchte der Mönche. Sie berichten, dass sie von Visionen geplagt werden, in denen nackte Frauen – und gelegentlich auch andere Mönche – auftauchen, die sich der »obszönen Sünde der Hurerei hingeben«. Es sind Visionen, die ihre Seele zermartern (von ihrem Unterleib ganz zu schweigen). Die Mönche beschreiben, wie sie von den Gedanken an Sex so überwältigt sind, dass sie sich gezwungen sehen, »sofort aufzuspringen und häufig und schnell in der Zelle umherzuwandeln«.9 Erotische Phantasmagorien tanzten ihnen – manchmal ganz buchstäblich – als Dämon der Hurerei vor den Augen, der sie »in Gestalt einer wunderschönen nackten Frau mit grazilem Gang und einem obszön üppigen Körper« anfiel. Ein älterer Mönch wurde von einer regelrecht verschachtelten Versuchung gepeinigt. Sie überkam ihn in Form einer Vision, die nicht nur mit jungen Leibern, sondern auch mit Nahrung und der verbotenen Frucht »des Anderen« lockte: Während der Mönch in seiner Klosterzelle saß, erschien ihm ein »junger Sarazene«, wie er ihn beschrieb, der mit einem Brotkorb in der Hand durch sein Fenster kletterte, sich zu wiegen begann und wissen wollte: »Tanze ich gut, Alterchen?«10

Allerdings wurde der Beichtende nicht immer ganz von Schuld freigesprochen. Eben jener Mönch, der über die Frau mit dem »grazilen Gang« schrieb, berichtete in seiner Not auch über einen »Dämon, der mich mit Flüchen bedroht und gesagt hat: ›Ich werde dich dem Spott und der Missbilligung aller Mönche aussetzen, weil du dich mit allen möglichen unreinen Gedanken beschäftigt und sie ausgeplaudert hast.‹«11 Wir können heute noch nachvollziehen, wie es dem Mönch in der Seele wehgetan haben muss, solchermaßen zurechtgewiesen zu werden.