Heiliges Leben - Sebastian Rink - E-Book

Heiliges Leben E-Book

Sebastian Rink

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Beschreibung

Wo ist Gott? Die Frage bricht nicht nur dann heraus, wenn man sich den Zustand unserer Welt anschaut. Sie drängt sich schon dort auf, wo nichts Besonderes im Leben passiert. Müsste Gott nicht eigentlich viel öfter außergewöhnlich auftauchen? Stattdessen scheint der eigene Glaube in der Masse an Alltag unterzugehen. Was aber, wenn schon dieses ganz normale Leben ein heiliges ist? Was, wenn der "Himmel auf Erden" mehr ist als nur ein Sprichwort? Sebastian Rink geht in der Bergpredigt auf Spurensuche zum Himmelreich. Er durchforstet die Jesusrede nach dem Heiligen im Leben und findet manch Himmlisches mitten im Alltag.

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Sebastian Rink ist Jahrgang 1985 und hat Evangelische Theologie in Ewersbach und Marburg studiert. Er ist Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Fischbacherberg (Siegen) und promoviert an der Philipps-Universität Marburg über die Predigten Friedrich Schleiermachers.

INHALT

VORWORT

DAS HEILIGE LEBEN (5,1–2)

DIE VERGESSENEN ERINNERN (5,3–12)

DIE WELT SALZEN (5,13–16)

DAS GUTE BEWAHREN (5,17–20)

DAS LEBEN ACHTEN (5,21–26)

DIE GEMEINSCHAFT LIEBEN (5,27–30)

DIE EHE BEENDEN (5,31–32)

DIE KLAPPE HALTEN (5,33–37)

DIE ZÄHNE AUSBEIßEN (5,38–42)

DIE MAUERN ABBAUEN (5,43–48)

DAS VERBORGENE FINDEN (6,1–4)

DAS BETEN LEBEN (6,5–6)

DAS LEBEN BETEN (6,7–13)

DIE BEDINGUNG ERFÜLLEN (6,14–15)

DAS FASTEN LERNEN (6,16–18)

DIE SCHÄTZE HEBEN (6,19–23)

DEN REICHTUM SEHEN (6,24–34)

DAS URTEILEN VERKNEIFEN (7,1–6)

DAS ERLEBEN ÖFFNEN (7,7–11)

DIE MITTE FINDEN (7,12–14)

DIE LIEBE TUN (7,15–23)

DEN GRUND LEGEN (7,24–27)

DEM HEILIGEN FOLGEN (7,28–8,1)

DIE BERGPREDIGT AN EINEM STÜCK

LITERATURVERZEICHNIS

VORWORT

„Der Gedanke an Gott begleitet den Frommen überall hin, […] und neben dem irdischen Leben, welches er mit Andern gemein hat, führt er noch ein anderes himmlisches und göttliches.“1

Friedrich Schleiermacher (1768–1834)

Worum geht’s eigentlich im Leben und Glauben? Und was hat beides miteinander zu tun? Unendlich große Fragen, so unendlich wie das Geheimnis, um das sie sich drehen. Die Fragen auszuleben, das ist Religion. Oder wie Friedrich Schleiermacher vor über 200 Jahren schrieb: „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“2

Mit der Bergpredigt habe ich ein Dokument wiederentdeckt, in dem sich mir die Suche nach dem Unendlichen geradezu aufdrängte. Der Bergprediger nannte es „Himmelreich“ und meinte damit vielleicht etwas Ähnliches. Ich lese die Bergpredigt als Suche nach dem Unendlichen in einem Leben, das sich nicht in Gedanken und Handlungen erschöpft. Das Leben selbst sucht manchmal nach Gründen und Hoffnungen, nach Wert und Bedeutung. Ich suche Heiliges, ich suche nach Gott. Die Bergpredigt ist mir zu solch einer Spurensuche zum Himmelreich geworden.

Diese Suche hat „meine“ Siegener Gemeinde fast ein Jahr lang an 22 Sonntagen ausgehalten, denn dieses Buch ist der Ertrag einer Predigtreihe zu Matthäus 5–7. Für ihre Geduld und ihr Interesse an neuen Gedanken bin ich sehr dankbar. Es hat mich selbst geprägt und mich ermutigt, auf der Suche nach tragfähigen Auslegungen nicht (nur) die bequemen, ausgetretenen Pfade zu gehen. Meine Gemeinde hat mir ermöglicht, auch theologische und existenzielle Unsicherheiten zu wagen, vielleicht im Sinne Dorothee Sölles: „Wer Theologie treibt, muß mindestens mit der Möglichkeit rechnen, daß der Glaube ein Irrtum sei.“3 Mit dieser manchmal unangenehmen Offenheit möchte ich christlichen Glauben denken und leben. Meine Auslegung der Bergpredigt ist für Menschen gedacht, die dafür grundsätzlich offen sind.

Das Buch ist 10 Jahre nach Beginn meines Theologiestudiums auch so etwas wie ein kleiner persönlicher Zwischenstand. Es wird nicht verborgen bleiben, aus welcher Tradition ich komme. Es wird auch ebenso offensichtlich, dass ich mich nicht mehr ungebrochen in sie einfüge. Für beides bin ich auf je eigene Weise dankbar.

Dankbar bin ich auch den Menschen, die auf unterschiedliche Weise zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben. Stellvertretend für manch Weitere seien die genannt, die das komplette Buch zuletzt einem gründlichen Test auf Herz und Nieren unterzogen haben: Inge, Luisa, Papa, Semjon, Tom, Ute&Frank.

Unter www.heiligesleben.de findet sich übrigens eine Mediathek mit allen erwähnten Links, Videos und ergänzendem Material. So lassen sich die digitalen Verweise direkt (zum Beispiel mit dem Smartphone in der Hand) nachschlagen.

Mein Buch ist den Menschen gewidmet, die mich auf meiner unendlichen Spurensuche begleiten und mich immer wieder ein HEILIGES LEBEN erleben lassen: Meinen „Heiligen“.

Bischoffen im Frühjahr 2019 Sebastian Rink

MATTHÄUS 5 1 UND ALS ER DIE MENSCHENMASSEN SAH, STIEG ER AUF EINEN BERG, SETZTE SICH, UND SEINE SCHÜLER/INNEN KAMEN ZU IHM. 2 DA ÖFFNETE ER SEINEN MUND UND ERKLÄRTE IHNEN:

1 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung (1801–1820) mit den Varianten der Neuauflagen (1806–1826), Kritische Gesamtausgabe III/1, hrsg. von Günter Meckenstock, Berlin/Boston 2012, 165.

2 Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) Studienausgabe, hrsg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 2001, 80, Seite 53 in der Originalausgabe. Rechtschreibung modernisiert.

3 Sölle, Dorothee, Atheistisch an Gott glauben: Beiträge zur Theologie, München 1983, 52.

DAS HEILIGE LEBEN (5,1–2)

Wo ist Gott? Diese Frage drängt sich nicht nur dann auf, wenn man sich den Zustand unserer Welt anschaut. Sie bricht schon dort auf, wo schlicht nichts Besonderes passiert und der Glaube in der Masse an Alltag unterzugehen scheint. Und wie geht leben? Es dreht sich, wie es sich nun einmal dreht. Müsste Gott nicht eigentlich viel öfter außergewöhnlich daraus auftauchen? Kann man vom Göttlichen nicht erwarten, dass es sich endlich in den Spektakeln zeigt, von denen „die anderen“ immer erzählen – die ich aber selbst gar nicht erlebe? Das kann man glauben. Vielleicht muss man es aber gar nicht, um trotzdem zu glauben. Doch wie kommen Gott und Leben dann zusammen? Muss man wirklich immer das Außergewöhnliche suchen? Oder ist das Göttliche auch im Gewöhnlichen zu finden? Könnte nicht schon dieses ganz normale Leben ein heiliges Leben sein? Eines, das dazu einlädt und herausfordert, alltäglich etwas Heiliges zu leben? Vielleicht so, wie Martin Buber es sagte: „[…] wenn du das Leben heiligst, begegnest du dem lebendigen Gott.“4

Eine weitere Frage gesellt sich aber gleich dazu: Was ist mit „heilig“ gemeint? Das Wort klingt etwas aus der Mode gekommen. Wir benutzen es zwar, aber meist nur aus Gewohnheit: Uns ist etwas „heilig“, der Zweck „heiligt“ die Mittel, jährlich feiern wir einen „heiligen“ Abend“. Uns überkommt ein „heiliger Zorn“, wir versprechen etwas „hoch und heilig“ und so manche reisen ins „Heilige Land“. „Heilig“ sagt so viel und zugleich so wenig. Es ist so ungreifbar wie das, was man dahinter vermuten könnte. Kein Wunder, dass ein großes Lexikon festhält: „Der Begriff des Heiligen ist von irritierender Vieldeutigkeit“5. Für Erklärungen stellt das ein Problem dar, denn man kann mit einem unklaren Begriff nur wenig klären. Die fehlende Eindeutigkeit ist allerdings auch eine große Chance. Eine entleerte Worthülse lässt sich wunderbar mit Inhalt füllen. Also könnten wir versuchen, mit dem bekannten Wort „heilig“ eine Seite des Lebens zu beleuchten, die oft im Dunkeln liegt. Etwas, von dem wir noch gar nicht so genau wissen, wie es eigentlich aussieht. Und doch ahnt man vielleicht, dass da etwas ist. Etwas, auf das die Beschreibung „heilig“ passt.

Die Umgangssprache enthält schon die Vermutung, dass es um etwas Besonderes geht. Sie bewahrt diese Ahnung auf, dass es womöglich etwas mit Gott und Göttern zu tun hat und dass das Heilige eine eigentlich unsagbare Facette der Welt meint. Also, warum nicht? Gehen wir ihn an, den Versuch, das Leben und das Heilige neu zusammenzubringen. Die oberflächliche Leere des Wortes „heilig“ ermöglicht uns, es als einen Suchbegriff zu benutzen. „Heilig“ nach und nach mit den Suchergebnissen und Bedeutungen zu füllen, die wir auf dem Weg entdecken werden. Dieser Weg ist die Spurensuche nach Heiligem im Leben und nach dieser bestimmten Art zu glauben. Ein Glaube, der sich einen Zauber leistet, ohne sich Zauberei zu wünschen. Ein Glaube, der das Wunderbare bestaunt, ohne gleich nach „Wundern“ zu rufen.

Doch wo fangen wir da an? Wenn wir nach einer christlichen Glaubensart fragen, dann bietet sich natürlich die Person im Zentrum dieser Glaubensweise an: Jesus aus Nazareth. Glücklicherweise enthält das Neue Testament eine große Zusammenstellung seiner Lebensidee: So könnte das Leben sein. Sie ist zugleich seine große Gottesidee: So müsste Gott sein. Die „Bergpredigt“ im Evangelium nach Matthäus (Kapitel 5–7) kann als Einladung zu einem solchen Glauben gelesen werden, der nach dem heiligen Leben sucht. Die Kirche glaubt sogar, dass in Jesus Christus beides geheimnisvoll vereint ist: Göttliches und Menschliches, das Heilige und das Leben. Das macht es so spannend, ihm zuzuhören, wenn er spricht. Denn Menschen wie ich glauben, dass sich in seinem Leben widerspiegelt, wie Gott auf Erden leben würde: „What if God was one of us?“6 – dann würde Gott so leben wie Jesus aus Nazareth. Die Christenheit glaubt, dass sich in dieser Art zu leben ein Fenster des Himmels öffnet.

Immer wieder erleben Menschen, dass diese Worte das Leben zu etwas Heiligem machen. Sie laden dazu ein, das Heilige im Leben zu entdecken. Die Spurensuche geht der Jesusidee vom Leben nach, betrachtet die Bergpredigt mit wachem Blick für das echt Menschliche und einem feinen Sinn für das besonders Göttliche darin.

Die Jesusrede als die Idee für ein heiliges Leben zu verstehen, ist dabei nicht zuerst politisches Programm. Es ist auch nicht allein moralische Verantwortung. Es ist die Suche nach dem tiefen Geheimnis des Lebens selbst. Seit Urzeiten versuchen Menschen, es mit dem Wort „Gott“ zu umschreiben, auch wenn sie es nie ganz zu fassen bekommen. Denn auch Gott „ist von irritierender Vieldeutigkeit“7. Unsere Suche wird davon geprägt sein, neugierig nach dem tiefgründigen Heiligen zu stöbern, mitten durch das ebenso vieldeutige Leben hindurch. In manchmal unverschämter Ehrlichkeit und ohne vorher genau zu wissen, was zu finden sein wird. Einfache Antworten und einseitige Lösungen werden wir vermeiden.

Der Bibeltext wird durchforstet, manchmal auf links gedreht, hin und wieder in die Mangel genommen. Und doch wird er in allem wertgeschätzt, denn immer geht es um die Frage: Wie hilft mir diese Rede, mein Leben mit dem göttlichen Licht auszuleuchten? Wir gehen auf die neugierige Suche nach Anregungen dieses besonderen Redners, ein heiliges Leben zu entdecken und etwas Heiliges leben zu üben – wir gehen auf Spurensuche zum Himmelreich.

ÜBER DAS LEBEN REDEN

Wir suchen also in einer Rede nach dem Himmelreich. Es gibt viele große Reden in der Menschheitsgeschichte. Sie prägen Menschenleben seit Jahren, Jahrhunderten und Jahrtausenden. Manche Reden bringen ganze Kulturen in Bewegung. Das „Hier stehe ich“ oder „I have a dream“ der beiden Martin Luthers zum Beispiel. Die Gipfelrede unseres Bauhandwerkers aus einem abgelegenen Dörfchen in Israel übertrifft in ihrer Wirkung vielleicht alle.

Was ist das für eine Rede? Die Bergpredigt ist die erste von fünf großen Jesusreden im Matthäusevangelium. Neben ihr gibt es noch eine an seine Gefolgschaft (Kapitel 10), eine Sammlung von Gleichnissen (Kapitel 13), eine Rede über die Jesusgemeinschaft (Kapitel 18) und eine zweiteilige Rede über die Pharisäer und das Weltende (Kapitel 23–25). Diese fünf Reden erkennt man leicht an der Abschlussformel: „Und als Jesus diese Rede beendet hatte …“.8 Die Anzahl erinnert ein wenig an die fünf Bücher der Tora („Mosebücher“). Nebenbei: Der anonyme Berg ist nicht wegen seiner idyllischen Szenerie gewählt, sondern Berge waren schon immer besondere Orte, an denen Menschen dem Heiligen begegneten. Der prominenteste von ihnen war sicher Mose, der auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote bekommen hat. Kein Zufall, denn uns wird auch vieles andere an das Erste Testament erinnern. Die geläufige Bezeichnung „Altes Testament“ passt übrigens so gar nicht zur Bergpredigt. Der Ausdruck erweckt den Anschein, als sei das „Alte“ vergangen und durch ein „Neues“ ersetzt worden. Allerdings zeigen gerade die drei Kapitel Bergpredigt, wie wichtig und aktuell das Erste Testament für Jesus war. Immerhin war das seine Bibel – die einzige, die er kannte. Das sollte man mitdenken, wenn trotzdem aus Gewohnheit vom „Alten“ Testament die Rede ist. Der Bezug zur jüdischen Tradition wird uns immer wieder begegnen – denn Jesus war schließlich durch und durch Jude.

Die Bergpredigt ist als die erste der fünf Reden bei Matthäus ganz besonders wichtig. Hier werden Grundsteine gelegt und Weichen gestellt. Es zeigt sich eine Menge von dem, was von Jesus ausging. Sie ist eine Art „Antrittsrede“, die für Aufmerksamkeit sorgt. Hier finden wir sein Programm, seine Weltsicht, sein Credo, sein Bekenntnis. Mit der Bergpredigt bewahrt das Matthäusevangelium uns Jesu Vorstellung davon auf, was heiliges Leben bedeutet. Das Christentum hat die Bergpredigt daher zur wohl wichtigsten Rede erhoben und schon immer geahnt, dass sie etwas ganz Besonderes ist – und dass man durch sie dem Geheimnis des Glaubens geradezu gefährlich nahekommt.

Die Bergpredigt hat allerdings etwas mit dem „Hier stehe ich“ des älteren Martin gemeinsam: Ganz genau so, wie es gerne überliefert wird, ist es höchstwahrscheinlich gar nicht gesagt worden.9 Um darauf zu kommen, braucht es aber keine Raketenwissenschaft, es reicht eine einfache Beobachtung: Manche Teile der Bergpredigt tauchen wörtlich auch im Lukasevangelium wieder auf, aber in anderer Zusammenstellung und auch nicht an einem Stück. Nach der gängigsten Überzeugung bedienten sich nämlich das Matthäus- und das Lukasevangelium aus einer gemeinsamen Quelle.10 Copy-and-paste nennt man das heute, es war damals allerdings noch nicht verpönt. Ein Urheberrecht gab es noch nicht. Darüber hinaus war es sehr viel aufwendiger, Texte zu kopieren. Daher hat man sich gut überlegt, welche Passagen aus der Vorlage man wählt, warum man es tut und wie man sie zusammenstellt. Schon diese Tatsache deutet darauf hin, dass auch die Bergpredigt eine Zusammenstellung des Evangeliumschreibers ist. Den kennt man übrigens nicht, nennt ihn aber der Einfachheit halber „Matthäus“.11 Die Bergpredigt ist also eher eine Sammlung einzelner Sprüche, zusammengestellt zu einem monumentalen Grundlagenwerk. Diese Rede am Stück zu hören, wäre ohnehin eine Zumutung für jedes Publikum, denn sie springt von einem Thema zum nächsten und lässt rhetorische Übergänge vermissen. Trotzdem spricht vieles dafür, dass sie in Teilen ziemlich nah an den O-Ton des historischen Jesus herankommt.12Einiges hat er wohl tatsächlich bei verschiedenen Gelegenheiten in etwa so gesagt, alles gehört seit fast 2000 Jahren zu den Schriften, die für Christinnen und Christen heilig sind. Selbst dann, wenn Jesus manches womöglich nicht wortwörtlich so von sich gegeben hat. Es malt trotzdem das beeindruckende Christusbild mit, von dem sich Kirche inspirieren lässt.13

Es gibt also eine Menge Gründe, sich einmal ausführlich damit zu beschäftigen. Ganz besonders dann, wenn man sich für diesen Jesus interessiert. Aber längst nicht nur dann, denn womöglich wollte Jesus ja auch über seinen Kreis hinaus Menschen ansprechen. In der Auslegungsgeschichte kam diese Frage immer wieder auf: An wen war seine Rede eigentlich gerichtet? Ging sie nur die Männer und Frauen etwas an, die ohnehin mit Jesus aus Nazareth unterwegs waren und bei ihm in so eine Art Lebensschule gingen? Oder sollten auch andere „Menschenmassen“ angesprochen werden? Waren es die, die ihrem Lehrer im gemeinsamen Leben auf die Finger schauten und an seinen Lippen hingen, weil ihnen in seinem Leben Heiliges begegnete? Oder sprach die Bergpredigt vielleicht sogar unterschiedslos alle Menschen an? Die Frage ist tatsächlich nicht so einfach und eindeutig zu beantworten, denn anders als etwa in der Lutherbibel ist der Beginn im Text mehrdeutig:14

5 1 Und als er die Menschenmassen sah, stieg er auf einen Berg, setzte sich, und seine Schüler/innen kamen zu ihm. 2 Da öffnete er seinen Mund und erklärte ihnen …

Auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen könnte, als seien nur die engsten Schüler/innen15 gemeint, ist grammatisch beides möglich. Mit „sie“ am Ende können die Schüler/innen ebenso gemeint sein wie die Menschenmassen. Beim Abschluss der Bergpredigt will das Matthäusevangelium jedenfalls aus irgendeinem Grund sehr deutlich erwähnen, dass die Menschenmassen mitgehört haben:

7 28 Und als Jesus diese Rede beendet hatte, geschah es, dass die Menschenmassen von seiner Erklärung überrascht waren.

Beides ist möglich. Es widerspricht sich gar nicht. Natürlich hören die am besten, die am nächsten dran sitzen, wenn der Lehrer sein Curriculum vorstellt. Das heißt jedoch nicht, dass nur sie davon hören sollen. Denn wir haben es nicht mit einer Geheimlehre zu tun. Im Gegenteil: Jesus hat Menschen in aller Öffentlichkeit um sich gesammelt und ihnen seine Idee vom heiligen Leben vermittelt. Kirche tut das bis heute. Manche lauschen vielleicht in der zweiten Reihe, andere im Vorbeigehen, wieder andere bekommen davon durch Erzählungen Dritter mit. Aber der Inhalt geht alle Menschen etwas an – weil das Leben alle etwas angeht.

Der Theologe Ulrich Luz, ein Experte in Sachen Matthäusevangelium, nennt die Bergpredigt eine „Werberede“ 16 . Das finde ich sehr treffend, denn sie wirbt für die Jesusidee vom Leben. Sie macht neugierig auf das, was Jesus anzubieten hat und lädt zum Ausprobieren ein. Die Bergpredigt bewirbt eine bestimmte Vorstellung vom Heiligen. Sie erzählt davon, was es bedeuten könnte, sich am Heiligen zu orientieren.

Dabei geht es nicht nur um die Rede selbst, sondern auch um ihren Redner. Denn die wichtigste Überzeugung des Christentums ist: An ihm selbst ist zu sehen, ob „funktioniert“, wozu er einlädt. Christ/innen glauben, dass in seinem Leben tatsächlich das Heilige passiert.

Die Bergpredigt richtet sich deshalb weder ausschließlich an Insider/innen noch exklusiv an Außenstehende. Sie balanciert in der Mitte: Mal spricht sie lauter zur Christenheit, dann wieder zur gesamten Menschheit. Die Bergrede will und kann alle Menschen immer wieder auf das neugierig machen, worum es im Leben gehen könnte. Denn sie ist eine Rede über das Leben. Das könnte alle interessieren, die sich Gedanken über das Leben machen. Das wird die betreffen, die sogar versuchen, sich an der Jesusidee vom Leben zu orientieren. Das kann denen helfen, die auf der Suche danach sind, was ihnen heilig ist. Damit eröffnet die Bergpredigt einen Raum für alle Menschen. Sie ist kein exklusiv christlicher Text, sondern ein Lebenstext. Eine Rede über das Leben. Eine Predigt darüber, wie wir das Heilige leben.

MATTHÄUS 5 3 REICH SIND DIE, DIE AN LEBENSGEIST ARM SIND, DENN IHNEN GEHÖRT DAS HIMMELREICH. 4 GLÜCKLICH SIND DIE, DIE TRAURIG SIND, DENN SIE WERDEN GETRÖSTET. 5 MÄCHTIG SIND DIE, DIE MACHTLOS SIND, DENN SIE WERDEN DIE WELT ERBEN. 6 SATT SIND DIE, DIE NACH GERECHTIGKEIT HUNGERN UND DÜRSTEN, DENN SIE WERDEN ERNÄHRT WERDEN.

7 HIMMELSGLÜCKLICH SIND DIE, DIE SICH ERBARMEN, DENN MAN WIRD SICH IHRER ERBARMEN.

8 HIMMELSGLÜCKLICH SIND DIE, DIE EIN KLARES HERZ HABEN, DENN SIE WERDEN GOTT SEHEN.

9 HIMMELSGLÜCKLICH SIND DIE, DIE FRIEDEN SCHAFFEN, DENN MAN WIRD SIE SÖHNE UND TÖCHTER GOTTES NENNEN.

10 HIMMELSGLÜCKLICH SIND DIE, DIE WEGEN (IHRER) GERECHTIGKEIT GEJAGT WERDEN, DENN IHNEN GEHÖRT DAS HIMMELREICH.

11 HIMMELSGLÜCKLICH SEID IHR, WANN IMMER SIE EUCH BESCHIMPFEN, VERFOLGEN UND SCHLECHT ÜBER EUCH REDEN. 12 FREUT EUCH UND JUBELT, DENN EUER LOHN IM HIMMEL IST GROß. DENN GENAUSO HABEN SIE DIE PROPHETEN VOR EUCH VERFOLGT.

4 Buber, Martin, Ich und Du, Reclams Universal-Bibliothek 9342, Stuttgart (1923) 1995, 75.

5 Paden, William E., Art. Heilig und profan I. Religionswissenschaftlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart Band 3, hrsg. von Hans Dieter Betz/Don S. Browning/Bernd Janowski/Eberhard Jüngel, Tübingen 2008, 1529.

6 Joan Osborne – One of Us (1995), https://youtu.be/7Gx1Pv02w3Q

7 Paden, Heilig und profan, 1529.

8 Matthäus 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1.

9 Jung, Martin H., Luther lesen: Die zentralen Texte,22016, 89–92.

10https://de.wikipedia.org/wiki/Zweiquellentheorie

11 Der unbekannte Autor wird wohl deshalb so genannt, weil in Matthäus 9,9 der Name Levi aus den Paralleltexten Markus 2,14 und Lukas 5,27 durch „Matthäus“ ersetzt wird. Das geschah vermutlich deshalb, weil Levi sonst nirgends als Schüler Jesu auftaucht, hier aber dazu berufen wird. Das ist eine Besonderheit, mit der man dieses Evangelium von der Vielzahl der geläufigen Evangelien unterscheiden konnte, etwa nach dem Motto: „Dies ist das Evangelium, in dem Matthäus statt Levi vorkommt.“

12 Es wird im Buch zwei Redeweisen geben: „Jesus sagt“ und „Matthäus sagt“. Der Wechsel soll manchmal zwischen O-Ton und Überlieferung unterscheiden, aber nicht immer. Er macht grundsätzlich darauf aufmerksam: Wir haben nirgends den O-Ton Jesu selbst, sondern hören ihn ausschließlich durch den Filter des unbekannten „Matthäus“. Schon allein deshalb, weil Jesus wohl aramäisch sprach, „Matthäus“ aber griechisch schreibt.

13 Vgl. Römer 8,29.

14 Die eigene Übersetzung soll dazu dienen, Neues in den Texten zu entdecken, das durch die bewährten Formulierungen womöglich verborgen bleibt. Dabei setze ich (wie praktisch jede Übersetzung) bewusst Akzente und interpretiere schon durch die bloße Wortwahl.

15 Wie man schnell merkt, versuche ich mich an einer geschlechtersensiblen Sprache und Schreibweise mit dem ästhetisch gefälligeren „Queerstrich“, für mich gleichbedeutend mit dem Gender-*. Das ist grammatisch nicht immer korrekt und bevorzugt das generische Femininum. Nach Jahrhunderten des nicht-sensiblen generischen Maskulinums werden wir das überleben. Ich traue außerdem allen Leser/innen zu, die korrekte (oder für sie passende) grammatische Form en passant zu bilden. Zur Aussprache vgl. http://www.sprachlog.de/2018/06/09/gendergap-und-gendersternchen-in-der-gesprochenen-sprache/

16 Luz, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, EKK I/1, Neukirchen-Vluyn (1985) 41997, 197. Ebenso Schockenhoff, Eberhard, Die Bergpredigt: Aufruf zum Christsein, Freiburg 2014, 24.

DIE VERGESSENEN ERINNERN (5,3–12)

Im besten Fall weiß man nach ein paar Minuten einer Rede, ob sich das weitere Zuhören lohnt. Eine entsprechend große Bedeutung kommt deshalb dem Beginn zu. Der Anfang der Bergpredigt gehört wohl unstrittig zu den bekanntesten Texten des Neuen Testaments. Das verwundert nicht, denn er enthält die Jesusidee vom heiligen Leben in der komprimiertesten Form. Zu Anfang wird geklärt, wohin die Reise gehen soll, daher werden schon hier die Weichen gestellt.

IN VERGESSENHEIT GERATEN

In der klassischen Redetechnik steht zu Beginn der Versuch, die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen der Zuhörer/innen zu gewinnen. Die Aufmerksamkeit ist dem folgenden Text gewiss. Beim Wohlwollen stellen sich Bedenken ein. Denn provozierender kann der Einstieg kaum sein.

Die ersten Zeilen der Bergpredigt sind ein Eyecatcher und Augenöffner. Ich habe sie tausendmal gehört und sie wurden mit jeder Hör- und Lesewiederholung ein bisschen mehr abgeschliffen. Sie sind mir gefällig geworden – dabei müssten sie eigentlich verwirren. Wenn mich ihr Inhalt berührt, dann wirkt dieser Anfang sogar ziemlich verstörend (Verse 3–6).

Wer unsere Welt aufmerksam beobachtet, könnte zu Recht fragen: „Was soll das?“ Offenbar hat hier jemand die Wirklichkeit aus den Augen verloren. Die Zusagen sind ja ganz nett – aber so läuft es doch nun wirklich nicht! Wenn man sich aber nur auf die bloßen Worte konzentriert und nicht beachtet, von wem die Rede ist, dann verliert man etwas Entscheidendes aus dem Blick. Etwas, das Jesus gerade in den Blick rücken will: die Vergessenen am Rand der Gesellschaft. Das Anliegen des Anfangs ist es, zuerst einmal die Vergessenen wahrzunehmen.

Vergessene, das sind hier zuerst die Armen. Das sind damals wie heute Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben. „Geistlich arm“, wie Luther übersetzt, bedeutet nicht intellektuell minderbemittelt. Es meint arm an allem zu sein, was zum Leben nötig ist. Denn „Geist“ ist die Lebenskraft Gottes, die den Menschen am Leben erhält.17 Wem es am gottgegebenen Geist mangelt, der ist arm an allem Lebensnotwendigen. Arm an Essen und Trinken – und (dadurch?) arm an Hoffnung. Diese Menschen leiden, denn Leiden und Vergessen gehören auf zweifache Weise zusammen. Und das eine kann jeweils der Grund für das andere sein.

Einerseits leiden Menschen daran, dass sie vergessen werden. Damals wie heute. Das kann das scheinbar schlichte Gefühl sein, dass man nicht willkommen ist. Dass die eigene Lebenswirklichkeit in der (kirchlichen) Öffentlichkeit keine Rolle spielt, weil sie angeblich irgendwie „anders“ oder sogar „falsch“ ist. Während die einen im Mittelpunkt stehen, fallen andere vom Tellerrand, über den scheinbar niemand zu schauen wagt. Andererseits werden auch die Menschen vergessen, die leiden. Wer kann schon mit Leid umgehen? Das ist natürlich anstrengend. Oft genug wird das Leiden verdrängt. Viel zu oft werden diejenigen vergessen, die leiden.

Vergessene, das sind auch die, die sich nicht wehren können. Die „sanftmütig“ (Luther) sind – weil sie gar nicht anders können. Sie haben weder Mittel noch Lobby, um ihr Recht einzufordern. Sie haben keine Stimme, die sie erheben könnten. Und so gehen sie einfach machtlos unter. Vergessene, das sind nicht selten auch die, die sich am meisten nach Gerechtigkeit sehnen. Die ein Ende der Ausbeutung so nötig haben wie Wasser und Brot. Solche, die unter der Rücksichtslosigkeit und Gier anderer in Vergessenheit geraten.

Auf sie gilt es zuerst einmal aufmerksam zu hören, sie gilt es wahrzunehmen. Denn oft genug bin ich gar nicht ansprechbar auf die Ungerechtigkeiten, die unsere Welt durchziehen. Die seit Jesus von Nazareth nicht den Anschein machen, als würden sie weniger werden. Der Auftakt der Rede ist eine himmlische Erinnerung gegen das Vergessen. Er ist damit zugleich der Zuspruch an die Leidenden: „Ich habe dich im Blick, auch wenn alle anderen dich vergessen haben!“ Er klingt wie der Klageschrei Gottes: „Verdammt nochmal! Ich finde mich nicht einfach damit ab, wie es ist! Die Armen müssten ein Königreich besitzen! Die Leidenden sollten getröstet werden! Die Machtlosen müssten die Erde verwalten! Und die ungerecht Behandelten sollen endlich zu ihrem Recht kommen!“ Eigentlich.

Der Beginn der Rede lenkt den Blick auf Menschen, die schnell vergessen werden. Sie, die Passiven, bekommen alle Aufmerksamkeit. Sie, die Menschen mit einer Passion – wörtlich eben: die Leidenden. Sie sind es, die plötzlich im Rampenlicht stehen, wenn das Himmelreich aufgeführt wird. Wenn Gott das Sagen hätte, dann wären die Letzten unserer Gesellschaft die Ersten in seiner.18 Hier blitzt es auf, das Heilige, denn es gilt: Immer dann, wenn die Letzten zu Ersten werden, dann passiert das Himmelreich. Dann werden die Vergessenen zu Himmelsglücklichen, oder wie Luther sie nennt: „Selige“. Sie werden beschrieben mit diesem mächtigen Wörtchen „makarios“, das bei den alten Griech/innen „den glücklichen Zustand […] der Götter“19beschrieb. Hier hält es fast unbeugsam die Würde des vergessenen Menschen hoch. Die „Seligpreisungen“ bieten einen Blick mit dem Augenfunkeln des Himmels. Sie lassen so etwas wie einen kalten Schauer über den Rücken laufen, weil sich andeutet, wie Welt sein könnte. Wie Gott sein müsste. Unscharf, aber doch spürbar: „als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst“20.

Manches Mal kann man aber den Eindruck bekommen: Diejenigen, die am nächsten dran sitzen, hören trotzdem schlecht. Manchmal scheinen die Vergessenen eben trotzdem vergessen zu sein, gerade von so mancher Kirche. Gelegentlich treten Gemeinden ans Licht, die anscheinend keinen Blick mehr für die vergessenen Lebensentwürfe haben, weil sie die Ränder der Gesellschaft ausblenden. Fromme Zirkel, in denen es nur Platz für den wirtschaftlichen und moralischen Mittelstand gibt. Vielleicht ist es sogar manchmal die Gemeinschaft, zu der man selbst gehört. Aber eine solche Kirche hätte ihren Maßstab verloren – und ich mit ihr. Denn Jesus macht sie, die Vergessenen, zum Maßstab.

IN ERINNERUNG GERUFEN

Bis hierher sind es die Vergessenen, die mit der dringend nötigen Aufmerksamkeit und dem Zuspruch des Himmelreiches überhäuft wurden. Die erste Strophe sang denen zu, die vergessen werden. Nun nimmt die zweite Strophe (Verse 7–10) die Vergesslichen in den Blick, diejenigen, die selbst vergessen. Aber es ist kein völlig neues Thema. Denn die Vergesslichen können nicht angesprochen werden, ohne an die Vergessenen zu erinnern. Das heißt, in jedem Vers darf mitgehört werden: „Vergiss nicht die Vergessenen!“ Anders gesagt: Zum Zuspruch gesellt sich nun der Anspruch (Verse 7–10).

Die Bergpredigt ist kein Text stiller Andacht, das wird schnell klar. Es gibt immer etwas zu tun und die Einladung zum Handeln wird uns immer wieder begegnen. Denn Matthäus spricht vom tätigen Leben und kann sich einen untätigen Glauben gar nicht vorstellen. Seine Worte kann man aber sehr unterschiedlich lesen: Etwa als Anweisung um der Anweisung willen. Doch es geht hier nicht darum, etwas zu tun, nur weil es verlangt wird. Das wäre ein Gesetz um des Gesetzes willen. Die christliche Tradition nennt das Gesetzlichkeit. Es meint einen blinden Befehlsgehorsam, der gar nicht sieht (oder sehen will), worum es eigentlich geht. Dabei geraten Inhalt und Sinnhaftigkeit einer Handlung oft völlig in den Hintergrund. Nicht selten aus Gewohnheit, weil man es ja schon immer oder noch nie so gemacht hat. Doch auf diese Weise gelesen missversteht man die Jesusworte und kommt ihrem tiefen Sinn überhaupt nicht auf die Spur. Jesus predigte nicht das Tun um des Tuns willen, sondern um der (vergessenen) Menschen willen. Das ist nicht Gesetzlichkeit, sondern Menschlichkeit. Das wird uns bis zum Ende begleiten. Die Menschlichkeit um des (heiligen) Lebens willen ist das immer mitlaufende Thema der Bergpredigt. Doch diese Menschlichkeit bleibt nicht bloß irdischer Humanismus. Jesus rückt die Menschlichkeit ins Licht einer hoffnungsvollen Göttlichkeit. Beide überlagern sich immer wieder, sie müssen gemeinsam verstanden werden. Matthäus nennt dieses Miteinander „Himmelreich“ und macht es zur großen Klammer um seine Erinnerung an die Vergessenen (Verse 3+10). Himmelreich ist, wo die Menschlichkeit mir heilig wird.

Jesus lädt nun offenbar dazu ein, der Anpassung des Blickwinkels auch Taten folgen zu lassen. Noch einmal: Das ist nicht gesetzlicher Selbstzweck. Sondern darin vergegenwärtigt sich das Himmelreich, es passiert! Wer an die Vergessenen erinnert wird, dem kann zugleich der Himmel in den Sinn kommen. Das ist zumindest die hoffnungsvolle Idee, denn Jesus scheint überzeugt: Wer barmherzig handelt (Vers 7), wird hautnah miterleben, welch tiefe Bedeutung und höchster Wert der Barmherzigkeit zukommen. Der/Die wird erfahren, wie heilsam es ist, nicht auf Paragrafen davonzureiten, sondern bei den vergessenen Menschen sitzen zu bleiben. Bei denen, die ausgeschlossen sind aufgrund äußerer Umstände oder innerer Werte. Jesus glaubt: Wer „klarherzig“ handelt (Vers 8), wird mit eigenen Augen sehen, wie überwältigend fruchtbar es ist, Gutes für die Menschen zu wollen. Wer sich mit seinem Denken, Fühlen und Wollen am Himmelreich der Vergessenen ausrichtet und sie mit ihren Bedürfnissen wahrnimmt, wird das Göttliche erkennen. Der „Gottessohn“ genannte Bergprediger macht Mut: Wer den Frieden fördert (Vers 9), gehört in die Reihe der ganz großen Held/innen, die Sohn Gottes und Tochter Gottes genannt werden. Und wer sich für die Gerechtigkeit einsetzt (Vers 10), lebt den Himmel in unsere Welt hinein! Weil Frieden und Gerechtigkeit die großen Werte Gottes sind! Nicht Bibellesen oder Beten an sich, weder die Ehe noch eine normierte Heterosexualität an sich, kein Glauben und kein Wissen an sich, sondern die Ausrichtung des Lebens am Frieden und an der Gerechtigkeit. Das ist nicht nur gutmenschelndes Gewäsch, sondern darin wird Himmelreich spürbar. Es ist nicht nur so eine werbewirksame Charity-Idee, sondern es lässt sich darin etwas vom Heiligen erahnen.

In den beiden letzten Versen (11–12) schließt sich die Schleife von Vergessenen und Vergesslichen. Denn die, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen, werden selbst gelegentlich zu Vergessenen. So ist es schon immer gewesen, schon bei den Propheten. Diese Verse kennen also kein Ende, weil wir hin- und herschwingen: Mal sind wir Leidende, mal sind wir Tröstende. Weil wir das eine Mal barmherzig sind und uns das andere Mal selbst nach der Barmherzigkeit anderer sehnen. Diese Worte sind deshalb ein immerwährender Kreislauf, in dem die Ewigkeit Gottes aufblitzt. Mal für uns, mal durch uns, aber nie auf uns allein gestellt. Denn wir wissen das Himmelreich auf unserer Seite.

WAS KIRCHE SEIN KÖNNTE

Die Bergpredigt als Werberede erinnert an etwas, das für die Kirche immer neu wichtig ist. Sie erinnert an das, was Kirche ist: Sie ruft die Vergessenen in Erinnerung, sie tritt gegen Armut ein, spendet echten Trost. Sie macht sich den Ohnmächtigen gleich und setzt sich für Gerechtigkeit ein, als ginge es um ihr eigenes Überleben. Gemeinde meint diejenigen, die nicht mit der Moralkeule um die Ecke kommen, sondern stattdessen den Menschen um sie herum bedingungslos Gutes tun. Kirche, das sind die, die dem Frieden nachjagen zwischen den Religionen, zwischen „Liberalen“ und „Konservativen“, zwischen Frauen und Männern, Jungen und Alten – es sind die, die sich ihren Einsatz für eine gerechtere Welt etwas kosten lassen.

Eine solche Kirche ist attraktiv, weil sie etwas Heiliges in die Welt streut und davon zu reden weiß, was sie motiviert: Das Heilige selbst, Gott selbst. Wenn Kirche das tut – und das tut sie immer wieder – dann hat sie das Himmelreich auf ihrer Seite, mit all seiner Macht und Kraft. Dann hätte das Himmelreich sie auf seiner Seite. Darauf zu vertrauen, dass im Frieden und in der Gerechtigkeit etwas Heiliges verborgen liegt, das ist ein Glaube, der sich zu glauben lohnt. Das ist Gabe und Aufgabe der Menschen, die sich nach etwas Heiligem im Leben sehnen. Es ist die hoffnungsvolle Herausforderung derer, die an die Vergessenen erinnern.

MATTHÄUS 5 13 IHR SEID DAS SALZ DER ERDE. WENN ALLERDINGS DAS SALZ GESCHMACKLOS GEWORDEN IST, WOMIT SOLL SIE GESALZEN WERDEN? ES TAUGT ZU NICHTS, AUßER ES WEGZUWERFEN UND VON DEN MENSCHEN ZERTRETEN ZU WERDEN. 14 IHR SEID DAS LICHT DER WELT. EINE STADT AUF EINEM BERG KANN SICH NICHT VERSTECKEN. 15 MAN ZÜNDET JA AUCH KEINE LAMPE AN UND STELLT SIE UNTER EIN GEFÄß, SONDERN AUF EINEN STÄNDER, SODASS SIE FÜR ALLE IM HAUS LEUCHTET. 16 GENAUSO SOLL EUER LICHT DEN MENSCHEN VORAUSLEUCHTEN, DAMIT SIE EURE GUTEN TATEN SEHEN UND EUREN VATER IM HIMMEL BEWUNDERN.

17 Vgl. Genesis 1,2 und 2,7.

18 Vgl. Matthäus 19,30.

19 Hauck, Friedrich, Art. μακα,ριος, μακαρι,ζω, μακαρισμο,ς, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (Studienausgabe) Band IV, hrsg. von Gerhard Kittel, Stuttgart/Berlin/Köln 1990, 365.

20 Joseph von Eichendorff, Mondnacht. Online unter https://de.wikisource.org/wiki/Mondnacht

DIE WELT SALZEN (5,13–16)

„Du bist …“ – welcher Film beginnt im Kopf zu laufen, wenn diese beiden Worte erklingen? Wie geht der Satz weiter? Im besten Fall entwickelt es sich ja zu einem Kompliment. Das scheint gar nicht so selten zu sein, immerhin schlägt die automatische Vervollständigung von Google diese drei Fortsetzungen des Satzes als erstes vor: „Du bist wunderschön!“, „Du bist süß!“ und „Du bist kein Werwolf!“ Wer hört so etwas nicht gern? Gut, zumindest über eine Sache lässt sich streiten. Wer will schon immer nur süß sein? Aber im Ernst: „Du bist …“ kann einen Menschen aufbauen und gut tun. Es kann sich allerdings auch zu einem Satz aufbäumen, der Menschen schlimmstenfalls ein Leben lang verfolgt. „Du bist zu dick! Du bist zu blöd! Du bist zu nichts zu gebrauchen!“ Und manche mühen sich schon eine halbe Ewigkeit daran ab, das Gegenteil zu beweisen. „Du bist …!“ Zwei Worte mit nahezu unbändiger Macht in beide Richtungen. Das gilt genauso für die Mehrzahl: „Ihr seid …!“ Denn in jedem „Ihr“ stecken mindestens zwei „Du“.

Auch der Jesus des Matthäusevangeliums nimmt diese mächtigen Worte in den Mund. Das Problem ist nur, dass man auch bei ihm nicht so richtig weiß, wie der Satz weitergehen soll. Ich lese die Worte, aber was er eigentlich sagen will, bleibt auf den ersten Blick doch verschlüsselt. Wird es zu einem Kompliment oder zu einer Demütigung? Es klingt mehrdeutig, so eindeutig wie: „Du bist der Schimmel auf meinem Käse!“ – Kompliment oder Beleidigung?

SALZSTREUER/INNEN

Was will jemand sagen, der ruft: „Ihr seid das Salz!“ Man kann viel spekulieren, was Salz alles kann. Aber wir bleiben mal bei dem, was offensichtlich ist: Salz wird zum Würzen verwendet. Es gibt ja diese Menschen, die vorsorglich über jedes Essen noch mehr Salz streuen, ohne zu probieren. Ich eher nicht. Doch wenn Salz fehlt, dann fehlt mir trotzdem etwas.

Nun sagt der Bauhandwerker aus Nazareth seinen Zuhörer/innen: „Ihr seid das Salz! Wenn ihr fehlt, dann fehlt etwas.“ Wieder so eine starke Zusage voller Menschenwürde. In ihr steckt auch dein „Du“, denn ohne dich wäre die Welt eine andere, als sie ist. So banal diese Einsicht klingt, so weltbewegend kann sie werden.

Solche geradezu romantischen Zusagen kennt man eher aus recht engen Beziehungen zwischen Menschen. Jesus spricht hier aber zu Menschen, die ihm mehr oder weniger zufällig zuhören. Er kennt die meisten vielleicht gar nicht. Manche haben ihn womöglich gesucht, andere sind durch Zufall vorbei gekommen. Doch der Clou ist, dass sie alle es hören: Ihr seid das Salz. Du