Heiligkeit - Linz Die Professoren Professorinnen der Fakultät für Theologie der Kath. Privat-Universität - E-Book

Beschreibung

Wir kennen die großen und bekannten Heiligen, aber auch die "Heiligen von nebenan", wie Papst Franziskus es ausdrückt, zudem heilige Feste und heilige Räume. Heft 4/2019 "Heiligkeit" begibt sich in gewohnt interdisziplinärer Weise auf die Suche nach tradierten, existierenden, wünschenswerten oder zu überwindenden Heiligkeitsvorstellungen in Kirche, Theologie und Gesellschaft.

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Inhaltsverzeichnis

ThPQ 167 (2019), Heft 4

Schwerpunktthema:

Heiligkeit

Ines Weber

Liebe Leserin, lieber Leser!

Johann Figl

Heiliges zwischen Exklusion und Inklusion aus religionswissenschaftlicher Perspektive

1 Vorbemerkung

2 Grundlegende exklusive und potenziell inklusive Aspekte des Begriffs ‚heilig‘

3 ‚Heiligkeit‘ als grundlegendes Kennzeichen der Religionen in der Religionswissenschaft

4 Das Heilige im interreligiösen Dialog – im Horizont des Numinosen

5 Neuere Entwicklungen im religionswissenschaftlichen Verständnis des Heiligen – auch im ‚profanen‘ Kontext

Thomas Hieke

„Ihr sollt heilig sein“ (Lev 19,2). Konzepte von Heiligkeit im Alten Testament

1 Einstieg

2 Bekannte Stellen – eine Stoffsammlung

3 Versuch einer Umschreibung

4 Träger der Heiligkeit

5 Konzepte der Heiligkeit

6 Heiligkeit und Ethik: Lev 19,2

7 Schlussbemerkung

Hanna Stettler

Heiligkeit in den neutestamentlichen Schriften. Wie wird man nach dem Neuen Testament ein Heiliger oder eine Heilige?

1 Einleitung

2 Das AT als religionsgeschicht­licher Hintergrund des NT

3 Heiligkeit in der Jesustradition

4 Heiligkeit bei Paulus

5 Die besonderen „Heiligen“ und die „Heiligen von nebenan“

Severin J. Lederhilger

Heiligkeit – Ein alltäglicher Lebensstil jenseits der Komfortzone. Das Apostolische Schreiben Gaudete et exsultate

1 Die Heiligkeit der Menschen von nebenan

2 Jeglicher Übereifer verfehlt das Ziel

3 Die Barmherzigkeit der Bergpredigt als Anfrage an die eigene Lebenspraxis

4 Wider ein Heiligkeitsideal der geschlossenen Augen

5 Den Ernst des Lebens zur Sprache bringen

Volker Leppin

Franz von Assisi – Heiligkeit zwischen Christusrepräsentation und Martyriumssehnsucht

Andreas Schmoller

Zwischen Alexandrien und St. Radegund. Historische und politische Kontexte von Heiligenverehrung und Heiligsprechungen

1 Heilige und Märtyrer: Die Besonderheiten der koptischen Tradition

2 Heiligsprechungen und die neuen Märtyrer in der katholischen Kirche

3 Synthese

Benedikt Kranemann

Allerheiligen – Entstehung und Bedeutungswandel eines Hochfestes

1 Auf dem Weg zu einem Hochfest aller Heiligen

2 Das Hochfest aller Heiligen und das Totengedenken zu Allerseelen

3 Ermutigung und Provokation: Allerheiligen heute

Stephanie Höllinger

„Heiligkeit des Lebens“. Untersuchung einer bioethischen Argumentationsfigur

1 Ursprung der „Heiligkeit des Lebens“

2 Rezeption durch das Lehramt

3 Rezeption bei Hans Joas

4 Zusammenschau

Andreas Telser

(Von) Heiligkeit – Abstand halten. Aspekte aus systematisch-theologischer Perspektive

1 Heiligkeit im Kontext kulturtheoretischer Überlegungen

2 Heiligkeit außerhalb der Religion: Das Heilige als Grenze

3 Heiligkeit im Kontext von Judentum und Christentum: zwei mögliche Lesarten

4 Abstand halten – heilig sein!

Abhandlungen

Michael Fischer

Ehrenamtliche in der Krankenhausseelsorge. Erfahrungen und Perspektiven

1 Ausgangslage

2 Was denken die Ehrenamtlichen?

3 Wie sehen es die Hauptamtlichen?

4 Was ist zu tun?

Literatur

Andreas Schmoller

Filmbesprechung

Walter Raberger

Das aktuelle theologische Buch

Besprechungen

Eingesandte Schriften

Katholische Privat-Universität Linz

Register (Printausgabe)

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

Redaktion

Kontakt

Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser!

An wen oder an was denken Sie, wenn Sie das Wort Heiligkeit lesen? An große Heilige wie Franz von Assisi, Elisabeth von Thüringen, den heiligen Florian, Severin oder an andere von der römisch-katholischen Kirche heiliggesprochene Personen? Fällt Ihnen gar Ihr eigener Namenspatron bzw. Ihre Namenspatronin ein? Denken Sie an konkrete heilige Orte wie Kirchen, Kapellen, Wallfahrtsorte sowie heilige Zeiten wie Weihnachten und Ostern? Oder kommt Ihnen die abstrakte Größe der Heiligkeit der Kirche in den Sinn? Möglicherweise aber denken Sie auch an die Gemeinschaft der Heiligen, die wir als gläubige Christinnen und Christen in jedem Gottesdienst im apostolischen Glaubensbekenntnis bejahen. Jedoch – würden wir uns selbst auch als heilig bezeichnen? Oder herrscht in unseren Köpfen jenes Verständnis von Heiligkeit vor, das sich zum einen exklusiv auf bestimmte Personen mit herausragender christlicher Lebensweise bis hin zu deren Lebenshingabe für Christus, und zum anderen auf bestimmte Orte, Zeiten, Dinge, die wegen der Präsenz Gottes unberührbar sind, bezieht?

Heiligkeit, das zeigt schon diese kursorische Sammlung, ist ein vielschichtiger Begriff. In seiner Zustandsbeschreibung kann er durchaus umstritten sein, zum Teil ist er sogar in Verruf geraten. Was aber bedeutet Heiligkeit? Wer oder was ist heilig und von woher wird Heiligkeit bezogen? Schließt Heiligkeit bestimmte Gruppen und Personen aus und versperrt sie als Idee in Zeiten von Pluralität und religiöser Vielfalt mehr Wege als sie diese ebnet? Diesen Fragen geht das aktuelle Themenheft in gewohnt interdisziplinärer Weise nach.

Den Auftakt macht Johann Figl (Wien), der aus religionswissenschaftlicher Perspektive die Vielfältigkeit von Heiligkeit beleuchtet, indem er nach Herkunft und inhaltlicher Füllung fragt, sowie Referenzpunkte und eine Kriteriologie entwickelt, wie Heiligkeit gerade als Deutung einer Lebensform den religionsübergreifenden Dialog fördern kann. Der Mainzer Exeget Thomas Hieke tut selbiges für das Alte Testament. Er beleuchtet die verschiedenen kultischen und ethischen Heiligkeitsvorstellungen und betont, wie sehr das Volk Gottes zu einer ethischen Lebensweise verpflichtet ist. Die Neutestamentlerin Hanna Stettler knüpft direkt an und stellt neben den Kontinuitäten vor allem die Wandlungen und Zuspitzungen heraus, welche die Idee von Heiligkeit im Neuen Testament erfährt. In den Mittelpunkt rückt der durch Gott geheiligte Mensch, der sich aufgrund des Praktizierens des Gebots der Gottes- und Nächstenliebe aktiv seine Heiligkeit erhält. Wie Papst Franziskus dieses Verständnis von Heiligkeit in seinem wenig beachteten apostolischen Schreiben Gaudete et exsultate in die heutige Zeit übersetzt, welche Werte und welche Chancen er damit verbunden sieht, aber auch welche Mühen ein so verstandenes Leben mit sich bringt, streicht der Kirchenrechtler und Generalvikar der Diözese Linz Severin Lederhilger durch die Textanalyse heraus. Er führt vor Augen, wie gewinnbringend das Dokument für die eigene persönliche Auseinandersetzung, aber auch für den Einsatz in allen Bereichen der Pastoral sein kann. Mit den Beiträgen des Tübinger evangelischen Kirchenhistorikers Volker Leppin sowie des Leiters des Franz und Franziska Jägerstätter Instituts der KU Linz Andreas Schmoller schwenkt der Blick von den Menschen allgemein zu ausgewählten heilig- bzw. seliggesprochenen Personen und ihrer spannenden Rezeptionsgeschichte. Leppin deckt mittels genauen und sensiblen Lesens (Textkritik) der Schriften des Franz von Assisi sowie der zeitgenössischen Texte über ihn eine bisher unbekannte Dimension seiner Heiligkeit auf. Selbiges tut Schmoller, indem er ausgewählte Märtyrer des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der Tradition des koptischen Christentums liest und damit die Verehrung der Person mit der politischen Situation der Verehrer in Beziehung setzt. Mit dem Beitrag des Erfurter Liturgiewissenschaftlers Benedikt Kranemann wendet sich unser Themenheft heiligen Zeiten zu. Anhand der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Festes Allerheiligen verdeutlicht der Autor, wie positiv Heiligkeit im Allgemeinen und die Heiligkeit der Person im Besonderen besetzt sind. Die Heiligkeit der Person nimmt die Mainzer Moraltheologin Stephanie Höllinger zum Ausgangspunkt ihrer bioethischen Überlegungen zum Schutz des menschlichen Lebens. Sie analysiert die Stellungnahmen des kirchlichen Lehramtes und kommt vor diesem Hintergrund zu einer vermittelnden Position angesichts eines verantwortlichen Umgangs mit dem menschlichen Leben. Der Beitrag des Linzer Dogmatikers Andreas Telser schließt den Kreis, indem er sich den trennenden und den vermittelnden Gesichtspunkten von Heiligkeit als Lebensform auch jenseits der Religionen in der säkularen Gesellschaft zuwendet.

Ein freier Beitrag und eine Filmbesprechung runden unser Heft ab: Michael Fischer, Leiter der St. Franziskus-Stiftung Münster, beleuchtet das örtliche Projekt zur Aus- und Weiterbildung von Ehrenamtlichen in der Krankenhausseelsorge. Andreas Schmoller bespricht den neuen Film „A Hidden life“ von Terrence Malick über Franz und Franziska Jägerstätter, der bereits in Cannes präsentiert wurde und im Herbst in die Kinos kommen wird.

Geschätzte Leserinnen und Leser!

Im Jahr 1811 wird in einem Artikel der Linzer Monathschrift, der Vorgängerzeitschrift unserer heutigen Theologisch-praktischen Quartalsschrift, eindringlich daran erinnert, dass alle Menschen Heilige sind und diese Heiligkeit, von Gott verliehen, beständig als innere Haltung und sichtbare äußere Handlung zu leben ist. Als menschliche Qualität und als Lebensform geht Heiligkeit alle an und kann nicht exklusiv für einzelne Personen, die heiliggesprochen sind, reklamiert werden. Diese Dimensionen gelte es, so der Autor damals wie auch unsere Autorinnen und Autoren heute, wiederzubeleben oder neu ins Bewusstsein zu heben. Gerade in Zeiten, in denen Religion immer mehr zur Privatsache wird, die Gesamtgesellschaft aber zugleich an Humanitätsverlust leidet, eröffnet das christliche Verständnis von Heiligkeit, wie es im Heft präsentiert wird, ein großes Potenzial für ein menschliches und friedvolles Miteinander. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine bereichernde Lektüre!

Ihre

Ines Weber

(Chefredakteurin)

Johann Figl

Heiliges zwischen Exklusion und Inklusion aus religionswissenschaftlicher Perspektive

♦ Der renommierte Religionswissenschaftler führt – im Ausgang von den Sprachwurzeln von heilig – kenntnisreich vor Augen, wie sich Begriff und Verwendung im Laufe der Geschichte (der Religionswissenschaft) verändert haben. Ursprünglich in Deckung gebracht mit dem, was Religionen ausmacht, konnte das Heilige in Abgrenzung zum Profanen als eine die Partikularität jeder Religion überschreitende Qualität ausgemacht werden. Aufgrund von Säkularisierung sowie des cultural turn der Religionswissenschaften ist die Erfahrung des Heiligen nun auch in einem „nicht- und außerreligiösen Raum“ verortbar geworden. (Redaktion)

1 Vorbemerkung

Bei der Themenstellung des vorliegenden Beitrags wird eine zentrale religionswissenschaftliche Frage mit Begriffen zu klären versucht, die ursprünglich und auch heute noch primär in einem soziologischen bzw. pädagogischen Kontext verwendet wurden und werden. Der Begriff der ‚Inklusion‘ (als Gegenteil zu ‚Exklusion‘) in diesem spezifischen Sinn und die damit verbundenen – weithin auch gesetzlichen – Maßnahmen wurden erst seit den 1970er- und 1980er-Jahren zu einem zentralen wissenschaftlichen Ansatz und führten zu einem bedeutenden Mentalitätswandel.1 Es ist allerdings festzustellen, dass dieses grundlegende Begriffspaar in maßgebenden religionswissenschaftlichen und theologischen Nachschlagewerken, die in den 1990er-Jahren erschienen sind, wie in der 3. Auflage des LThK und 4. Auflage des RGG, als eigener Eintrag noch fehlt, und selbst im Gesamtregister nicht angeführt wird; es ist in beiden Lexika nur der verwandte Begriff „Inklusivismus“ aufgenommen, der von dem Indologen Paul Hacker als „typisch ind[ische] Methode“ bezeichnet wird.2 Ebensowenig findet sich der Eintrag „Inklusion“ im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (HrwG).3

Wenn man nun versucht, in Orientierung an diesem in der Gegenwart so bedeutenden begrifflichen Gegensatzpaar das ‚Heilige‘ aus religionswissenschaftlicher Sicht zu verstehen, so erweist sich die Differenzierung von ‚Exklusion‘ und ‚Inklusion‘ als wertvolles heuristisches Modell, um elementare Kennzeichnungen von ‚Heiligkeit‘ und dessen Veränderungen zu interpretieren. Im vorliegenden Beitrag soll aufgezeigt werden, wie aus religionswissenschaftlicher Sicht das Heilige definiert und infolge davon dessen exklusiver bzw. inklusiver Charakter verstanden wird. Nach einleitenden Hinweisen auf Aspekte des Begriffs des ‚Heiligen‘ (2.) wird dessen Ausweitung auf alle Religionen in der Religionswissenschaft (3.) sowie daran anschließend im interreligiösen Dialog (4.) aufgezeigt werden, um abschließend (5.) der Frage nach dem ‚Heiligen‘ in einer säkularen Kultur und sogar im atheistischem Denken nachzugehen. In diesen Schritten soll die immer größere Expansion des Begriffs der Heiligkeit im religionswissenschaftlichen Kontext veranschaulicht werden, der von einem ursprünglich überwiegend exklusiven Verständnis schließlich zu einem weithin inklusiven Begriff führt, in dem die anfänglichen Entgegensetzungen von „heilig“ und „profan“ schließlich relativiert bzw. zum Teil sogar aufgelöst werden.

2 Grundlegende exklusive und potenziell inklusive Aspekte des Begriffs ‚heilig‘

Das Phänomen der Heiligkeit wird in verschiedenen Sprachen nicht allein mit unterschiedlicher Sach-Bedeutung zum Ausdruck gebracht, sondern implizit auch dadurch, dass verschiedene Aussageintentionen der Wort-Bedeutung im Vordergrund stehen. Für die christliche Religions- und Kulturtradition kommen hier grundlegend vor allem die Sprachen der Heiligen Schrift (Hebräisch, Griechisch, Lateinisch) in Betracht4 sowie die Sprachen, in welche deren Text übersetzt wurde, wobei hier insbesondere die deutsche ‚Sonderentwicklung‘ des Wortes ‚heilig‘ berücksichtigt werden soll.

2.1 ‚Heilig‘ in den Sprachen der Heiligen Schrift und ihrer primären Übersetzungen

Das hebräische Adjektiv qadōš (שׁוֹדק) wird heute normalerweise mit ‚heilig‘ übersetzt. Während in dem von Herbert Haag herausgegebenen ‚Bibel-Lexikon‘ noch gesagt wird, dass das Wort wahrscheinlich nicht von ḥadaš (‚neu, rein sein‘) abzuleiten sei, „sondern von kadad (abschneiden, im kultischen Sinn getrennt, abgesondert werden vom Unreinen […], Profanen)“,5 wird in der neueren Bibeltheologie darauf hingewiesen, dass auch die Herleitung von der gemeinsemitischen Wurzel qdš (‚aussondern‘, ‚scheiden‘) als Postulat für die Grundbedeutung des Wortes „heute aufgegeben [ist]“, und die Bedeutung des Wortes qadōš „vielmehr dem literarischen Zusammenhang zu entnehmen“ sei.6 Auf der Basis dieser Kontexte ist jedoch aufzuweisen, dass die Kategorien von rein/unrein und heilig/profan – besonders bezüglich des priesterlichen Systems – weithin im Alten Testament grundlegend sind, die sich auf die heilige Zeit, den heiligen Raum, heilige Personen und Dinge erstrecken.7 Durch diese duale Entgegenstellung wird ein besonderer Bereich des Heiligen von jenem, der nicht diese Qualität hat, abgegrenzt, seien es Räume, Zeiten, Personen oder Handlungen und Dinge.

Relativ eindeutig ist die Etymologie des im Neuen Testament hauptsächlich verwendeten griechischen Adjektivs für ‚heilig‘ (hágios), das vom Verbum házomai abgeleitet ist, und „scheue Ehrfurcht haben“ bedeutet.8

Am deutlichsten kommt die ‚exklusive‘ Dimension des Heiligen im lateinischen Wort für ‚heilig‘, nämlich ‚sacer‘ (von dem u. a. das deutsche Wort ‚sakral‘ oder Sakrament abgeleitet ist) und generell den zu sancire (wörtlich ‚weihen‘, ‚heiligen‘) gehörigen Formen (wie insbes. sanctus), zum Ausdruck, da es einen „kontradiktor[ischen] Gegensatz“ zu profanus (wörtlich: pro-fanum, d. h. ‚vor dem Heiligtum‘) bezeichnet:9 von diesem profanen, also weltlichen Bereich, ist der des Heiligen deutlich abgetrennt und abgesondert, wie ein älterer Ausdruck lautet.

Diese drei genannten Wörter (des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen) für ‚heilig‘ entsprechen einander, obwohl sie in ihrem jeweiligen Sprachkontext unterschiedliche Aspekte und Akzente dessen, was als ‚heilig‘ erfahren wird, zum Ausdruck bringen. Gemeinsam aber dürfte ihnen sein, dass jedes Mal eine Differenzierung zum bzw. Ausschließung des ‚Nicht-Heiligen‘ angezielt ist, und somit die exklusive Bedeutungsintention gegenüber der inklusiven überwiegt.

2.2 ‚Heilig‘ in der deutschen Sprachtradition

Im Verhältnis zu den Sprachen der Bibel und ihrer primären Übersetzungen sowie auch zu weiteren europäischen Sprachen zeigt schon allein die Etymologie des deutschen Wortes ‚heilig‘ eine wichtige Differenz auf, worauf hier eigens hinzuweisen ist. Denn es geht auf ein (erschlossenes) gemeingermanisches Adjektiv, nämlich *haila zurück, das die Wurzel nicht nur für ‚heilig‘, sondern zugleich auch für ‚heil‘ (im Sinne von ‚ganz‘, näherhin ‚gesund‘) ist. Dadurch ist mit dem religiös verstandenen Wort ‚heilig‘ eine weitere Dimension verbunden, die auch außerhalb des Religiösen relevant ist. Im Althochdeutschen bedeutet *haila: ‚günstiges Vorzeichen‘, ‚Zauber‘, ‚Glück‘, und dessen Grundbedeutung ist: ‚eigen‘, d. h. der Gottheit zu ‚eigen‘ gegeben, ihr geweiht (vergleiche z. B. den weiblichen Vornamen Helga).10 Andererseits ist, wie erwähnt, dieses Adjektiv zugleich die Wurzel für ‚ganz‘. Im Deutschen ist dadurch eine Doppelheit von der Wortentwicklung her gegeben, nämlich die Zuordnung zu einem Göttlichen, also die in einem engeren Sinn religiöse Dimension, andererseits die Dimension des Heilen, Gesunden, des Ganzheitlichen, die auch auf nicht-religiöse11 Bereiche zutrifft. Da in anderen europäischen Sprachen die beiden Bedeutungen für ‚heilig‘ bzw. ‚heil‘ vielfach mit heterogenen Wörtern ausgedrückt werden, wird von einem „Sonderfall“ des Deutschen gesprochen.12

Ebenso zeigt ein weiterer, jüngerer Sachverhalt, dass in der deutschen Sprachgeschichte das ‚Heilige‘ in einer spezifischen Weise verstanden wurde, nämlich zur Zeit der Empfindsamkeit im 18. und dann auch im 19. Jahrhundert. Das Wort ‚heilig‘ wurde in diesem Zeitraum „gern auch für das Ernste oder Erhabene oder Feierliche oder Berechtigte oder Erschütternde gebraucht“13.

In beiden genannten Sachverhalten der deutschen Sprachgeschichte sind Implikationen gegeben, die über den im engeren Sinn religiösen Kontext hinausweisen, und gewissermaßen das Wort ‚heilig‘ auf Phänomene beziehen, die allgemein anthropologischer Art sind (wie Heilung, Gesundheit, und dergleichen) bzw. eine kulturgeschichtliche Verwendung haben, um herausragende gefühlsmäßige Zustände zum Ausdruck zu bringen (wie Feierlichkeit, Erschütterung). Dadurch wird die exklusiv auf den christlich-religiösen Kontext bezogene Bedeutung des Wortes ‚heilig‘ überschritten, und es werden anthropologische Zustände mit diesem Wort bezeichnet, d. h. in den Bereich des ‚Heiligen‘ einbezogen, was einer Inklusion in sprachlicher Hinsicht entspricht.

Eine analoge terminologische Ausweitung des Begriffs ‚heilig‘ war auch für die Entwicklung der Religionswissenschaft seit ihren Anfängen bedeutsam, und eine weltanschauliche Extension dieses Begriffs konnte sogar zu einer dezidiert a-religiösen Rede vom ‚Heiligen‘ führen. Beide Entwicklungen sind im Folgenden darzustellen.

3 ‚Heiligkeit‘ als grundlegendes Kennzeichen der Religionen in der Religionswissenschaft

3.1 Der „geheiligte Boden“ des menschlichen Herzens – Ursprung aller Religionen (Friedrich Max Müller)

Aufgrund der jüdisch-christlichen Tradition ist der Begriff des ‚Heiligen‘ in der Kultur- und Geistesgeschichte Europas weithin und wesentlich durch eine theistische Gottesvorstellung geprägt. Gott als der schlechthin Heilige stand im Zentrum des christlichen Verständnisses der Religion. Für die Religionswissenschaft, die sich gleichberechtigt auch mit nicht- und a-theistischen Religionen (wie dem Buddhismus) zu befassen hat, ergab sich das Problem, dass der theistische Gottesbegriff nicht Ausgangspunkt und Zentrum einer wissenschaftlichen Interpretation nicht-theistischer Religionen sein kann. Von Anfang an und im weiteren Verlauf der früheren Geschichte dieses Faches stellte sich der Begriff eines umfassenderen Verständnisses des Heiligen heraus, in dem generell alle – einschließlich nicht-theistische – Religionen, inkludiert sind.

Friedrich Max Müller (1823–1900), der als einer der maßgeblichen Begründer der Vergleichenden Religionswissenschaft gilt, ist bei diesem Vorhaben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem sehr viele, letztlich alle Religionen umfassenden Begriff von Religion ausgegangen. Müller meint, das allen Religionen Gemeinsame zeige sich in ihrer ursprünglichen Gestalt in reiner Form. Vom Vergleich her gelangt er zu einer „Wesensbestimmung“ der Religion, die „eine Bestimmung nach romantische[m] Muster“ sei,14 wenn er Religion als „jene allgemeine geistige Anlage, welche den Menschen in den Stand setzt, das Unendliche unter den verschiedensten Namen und den wechselnden Namen zu erfassen“15, versteht. Diese „Anlage“ nennt er an anderer Stelle einen „geheiligten Boden“: Er ist überzeugt, „dass alle Religionen demselben geheiligten Boden [Hervorhebung J. Figl], dem menschlichen Herzen entstammen“16. Insofern wird für Religionen generell ein ‚geheiligter‘ Ursprung genannt – das gilt auch für nicht-theistische Religionen. Diese Verwendung von ‚heilig‘ entspringt der genannten Tradition der gefühlsbetonten Empfindsamkeit und der spätromantischen Tradition. Dadurch war es ihm möglich, alle Religionen als einem heiligen Urgrund entstammend zu verstehen; ‚heilig‘ wird hier in einem weiten Sinn inklusiv verwendet.

3.2 Heiligkeit – nicht „Gott“ – als „das bestimmende Wort in der Religion“ (Nathan Söderblom)

Nathan Söderblom, einer der Begründer der Religionsphänomenologie, definiert den Begriff der Religion nicht von Gott, sondern vom Heiligen her, wie er in dem berühmten Enzyklopädie-Artikel ‚Holiness‘ sagt:

„Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion; es ist sogar noch wesentlicher als der Begriff Gott. Die wahre Religion kann ohne bestimmte Auffassung von der Gottheit bestehen, aber es gibt keine echte Religion ohne Unterscheidung zwischen ‚heilig‘ und ‚profan‘.“17

Diese Definition hat zwar im Ansatz eine exklusive und ausgrenzende Tendenz, nämlich hinsichtlich des ‚Profanen‘, jedoch im Hinblick auf die Sphäre des Religiösen und der Religionen überhaupt ist sie inklusiv: das Heilige ist in allen Religionen anzutreffen, und des Weiteren ist in dieser Definition implizit damit ausgesagt, dass die Dimension des Heiligen alle Bereiche einer Religion mitprägt, andere Aspekte sind demnach sekundär. Und es ist auch nicht erfordert, dass die Vorstellung eines höchsten Gottes (im Sinne eines Weltenschöpfers) in einer Religion notwendigerweise gegeben sein muss. Denn nicht mehr der Begriff Gottes ist zentraler Bezugspunkt und die Basis einer Religion, sondern ‚Heiligkeit‘. Als Resultat dieses Ansatzes konnten Religionen ohne Gott (wie insbesondere der Buddhismus) als geschichtliche Formen des Religiösen gleichwertig behandelt werden, und nicht mehr den (mono-)theistischen subsumiert oder als dessen ‚Vorstufen‘ interpretiert werden.

3.3 Das Heilige – Basisbegriff für die Deutung von Religionen (Rudolf Otto)

Durch Rudolf Ottos epochemachendes Werk ‚Das Heilige‘, das einige Jahre nach Söderbloms Begriffsbestimmung in vielen Auflagen erschien,18 war ein Begriff gewonnen, der in der Religionsphänomenologie und -philosophie zu einem Basisbegriff für die Interpretation der Religion wurde und über lange Zeit im 20. Jahrhundert für die Religionswissenschaft grundlegend gewesen ist. Das Heilige ist eine eigene Kategorie und „[kommt] so nur auf religiösem Gebiet [vor]“19. Es wird als Numinoses verstanden, und in den beiden gegensätzlichen Gestalten eines mysterium tremendum bzw. mysterium fascinans erfahren, wie Ottos weithin rezipierte Fachbegriffe lauten. Religion ist dadurch etwas ganz Eigenes und Eigenständiges, nicht Ableitbares. Das Heilige „lebt in allen Religionen als ihr eigentlich Innerstes und ohne es wären sie gar nicht Religion“20. Nur „ihr eigenstes Inneres […], die Idee des Heiligen selber“, nicht etwas „Äußerliches“, gibt den Maßstab „für den Wert einer Religion als Religion“21 ab.

In den religionsphänomenologischen Definitionen wird das Heilige als das konstitutive Apriori der Religion betrachtet. Auf diese Weise kann in allen Religionen und deren Lebensäußerungen und Gestaltungen das Heilige angetroffen werden. Diese religionswissenschaftliche Sicht führt insgesamt zu einer ambivalenten Bestimmung des Verhältnisses von Exklusion und Inklusion: Das ‚Heilige‘ ist einerseits eine unableitbare Qualität und ist so etwas völlig Eigenständiges, jedoch nur innerhalb des religiösen Kontextes, der dadurch zu einem ‚ausgesonderten‘ Bereich im Verhältnis zum ‚Profanen‘ wird; andererseits kann die Kategorie des Heiligen als solche nicht mehr zu einer essentiellen Unterscheidung oder Diskriminierung von Religionen herangezogen werden, sondern sie ist ein die verschiedenen Religionen verbindendes Merkmal, und hat so einen grundlegend inklusiven Charakter.

4 Das Heilige im interreligiösen Dialog – im Horizont des Numinosen

4.1 Anerkennen, was in nichtchristlichen Religionen „wahr und heilig“ ist (Vaticanum II)

Die Religionsphänomenologie und ihre Betonung des Heiligen als religionen-verbindende Dimension hat nicht allein für die Religionswissenschaft des 20. Jahrhunderts eine zentrale Bedeutung bekommen, sondern auch stark die Theologie beeinflusst, sowohl die evangelische als auch die katholische. Sie hat ihren Niederschlag in Aussagen des Zweiten Vatikanums gefunden, auf die hier kurz hingewiesen werden soll. Ausdrücklich sei hier jenes Dokument erwähnt, in dem es um einen neuen, dialogoffenen Bezug zu anderen Religionen geht, nämlich auf die ‚Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen‘. Diese ist trotz ihrer Kürze unzweifelhaft einer der bedeutendsten Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils; Nostra aetate (‚In unserer Zeit‘) wird sogar als „das bedeutendste Dokument des letzten Konzils“ betrachtet, wie Kardinal Franz König gesagt hat, der selbst Religionswissenschaftler war und die Bedeutung der Religionsphänomenologie gekannt hat.22 Dies ist vor allem dadurch erreicht worden, dass die Aussagen in erster Linie dasjenige herausstellen, was eine gemeinsame Basis mit anderen Religionen darstellt. Die religiöse Erfahrung der verschiedenen Völker wird u. a. mit einem Begriff umschrieben, nämlich dem des Numen (hier mit ‚Gottheit‘ übersetzt), der an das Numinose religionsphänomenologischer Terminologie anschließt, und dem – wie oben aufgezeigt – nach Rudolf Otto das Heilige zugeordnet ist. Das Heilige wird somit zu einer Verbindungsebene des Christentums mit den anderen großen Religionen (wie Hinduismus, Buddhismus, Islam und Judentum), die in diesem Text kurz charakterisiert werden. Bei den beiden Religionen indischen Ursprungs werden deren verschiedene Heilswege genannt, die zugleich Wege zum Heiligen, also zu dem, was ‚heilig‘ genannt wird, sind: im Hinduismus die drei Wege der Befreiung (aszetisches Leben, Meditation und der Weg der Liebe oder Hingabe); im Buddhismus der Weg, der entweder zum „Zustand vollkommener Befreiung“ oder „zur höchsten Erleuchtung“ führt (Nostra aetate, 2). Diese Formulierungen beziehen sich einerseits auf den Theravāda-Buddhismus und andererseits auf den Mahāyāna-Buddhismus, insbesondere auf dessen Bodhisattva-Ideal – also auf zwei verschiedene Wege der Heiligung.23Bodhisattva (wörtlich ‚Buddha- bzw. Erwachungs-Wesen‘) ist der Ausdruck für einen Heiligen im Mahāyāna-Buddhismus; im Theravāda ist der leitende Begriff für eine heilige Person ‚Arhat‘ (wörtlich ‚Wüdige/r‘).

Vom Konzil werden hier unter dem übergeordneten Begriff des Numinosen nicht nur die vier namentlich genannten Weltreligionen gewürdigt, sondern auch „die übrigen in der ganzen Welt verbreiteten Religionen“, die auf die Unruhe des menschlichen Herzens antworten. Im Anschluss an diese besondere sowie generelle Nennung der Religionen findet sich in diesem Konzilstext der berühmte Satz, dass die katholische Kirche „nichts von alledem ab[lehnt], was in diesen Religionen wahr und heilig ist“, wobei man sich vor allem auf Lehren sowie Lebensregeln und ausdrücklich auch auf „heilige Riten“ bezieht (Nostra aetate, 2). In diesem Verständnis des Heiligen ist eine alle Religionen einschließende Inklusivität gegeben.

4.2 Würdigung einer Heiligen im Sufismus des Westens

Dieses inklusive Verständnis kann sich ebenfalls auf Personen beziehen, die in einer universalistisch ausgerichteten neureligiösen Bewegung als heilig bezeichnet werden. Als überzeugendes Beispiel dafür sei eine moderne Sufi-Heilige genannt, nämlich Noor-un-Nisa, die Tochter von Hazrat Inayat Kahn, des Begründers der Sufi-Bewegung und des Sufi-Ordens im Westen.24 Aufgrund ihres Widerstands gegen den Nationalsozialismus wurde sie 1944 im Konzentrationslager Dachau hingerichtet. In dem dort später errichteten Klarissinnen-Kloster findet alljährlich eine Gedenkfeier für sie statt. In diesem Faktum, dass in einem katholischen Kloster einer Sufi-Heiligen gedacht wird, wie sie auch ausdrücklich genannt wird, kann ein „großes Zeichen eines gelungenen interreligiösen Dialogs und Verständnisses“ gesehen werden, wie aus neosufistischer Sicht gesagt wird, dem sich die Oberin dieses Klosters in der Überzeugung anschließt, dass für sie Noor-un-Nisa nur im Himmel sein kann, und sie nicht für sie beten brauche, sondern mit ihr bete.25 In solchen Begegnungen zeigt sich ein neues Verständnis von Heiligkeit, das sich nicht mehr nur auf kanonisierte Heilige der eigenen Religionsgemeinschaft bezieht, sondern tendenziell alle heiligmäßig lebenden Personen einzubeziehen vermag, unabhängig von deren religiöser Zugehörigkeit. Das Kriterium für Heiligkeit ist nicht mehr eine spezifische Religion, sondern eine überzeugende Form des Lebens, indem sich eine Person entschieden für elementare humane Anliegen einsetzt.

5 Neuere Entwicklungen im religionswissenschaftlichen Verständnis des Heiligen – auch im ‚profanen‘ Kontext

Bis in die 1960er/70er–Jahre galt die Religionsphänomenologie als die maßgebliche komparative bzw. systematische Methodik der Religionswissenschaft, zugleich aufbauend auf den Ergebnissen der Religionsgeschichte. Seit fast einem halben Jahrhundert ist diese in ihrem traditionellen Verständnis (durch Namen wie Eliade, Heiler, Mensching u. a. repräsentiert) der kritischen Infragestellung ausgesetzt, ohne dass sich generell eine andere allgemein anerkannte und verbindliche systematische Teildisziplin des Fachs entwickelt hätte. Einer der Hauptgründe der Kritik war die Infragestellung der tragenden religionsphänomenologischen Grundbegriffe, nämlich ‚Numinoses‘, ‚Wesen‘ der Religionen und insbesondere auch das ‚Heilige‘. Eine besondere Tendenz dieser Kritik zeigte sich im Anschluss an die kulturwissenschaftliche Wende seit den 1980er-Jahren, deren Anliegen es war, die religionswissenschaftlichen Begriffe generell in kulturwissenschaftliche zu transformieren bzw. aufzulösen.26

Es gab und gibt bis zur Gegenwart auch einige gegenläufige Versuche, die zwar bisher keine allgemeine Rezeption gefunden haben, jedoch zeigen, dass die Diskussion über das Heilige auch weiterhin ein zentrales Problem der Religionswissenschaft sein wird, gerade im Hinblick des Verständnisses der kulturellen Entwicklung einer stark säkular geprägten Zeit.27

In einer Kultur, die stark von Tendenzen der Säkularisierung und der Religionsferne geprägt ist, stellt sich die Frage, ob und inwiefern die Erfahrung des ‚Heiligen‘ in diesem veränderten gesellschaftlichen und weltanschaulichen Kontext gegeben sein kann. Denn der Begriff und das Verständnis von ‚heilig‘ steht mit Religion und Religiosität in einem ganz engen Zusammenhang, während dazu ‚säkular‘ bzw. ‚weltlich‘ meist als Gegensatz verstanden wurde und wird, und erst recht trifft dies auf den Atheismus zu. Gleichwohl ist heute mit der Möglichkeit der Erfahrung des Heiligen auch in einem nicht- und außerreligiösen Raum zu rechnen, die einer besonderen Terminologie bedarf. Ein Aspekt dabei könnte im Unterschied zu einem substanzialistischen Begriff das funktionalistische Verständnis der Religion und des Heiligen sein.28 Dieses bezieht sich nämlich auch auf Phänomene, die zwar in der Alltagssprache nicht als ‚religiös‘ oder ‚Religion‘ bezeichnet werden, aber innerhalb einer funktionalistischen Definition von Religion ihr zugehören. So wäre es möglich weitere Phänomene, die normalerweise nicht mit dem Wort ‚Religion‘ bezeichnet werden, in die Reichweite des Begriffs mit einzubeziehen, wie z. B. existenzielle Erfahrungen der Betroffenheit von ‚letzter‘ Bedeutsamkeit (ultimate concern), zu denen auch allgemeinmenschliche Erfahrungen (wie Liebe, Dankbarkeit, Überwältigt-Sein, u. a.) gehören können, die dann als „heilig“ bezeichnet werden – was zu einem die explizite Religion überschreitenden Verständnis von Heiligkeit führen kann, in dem viele Aspekte des profanen Lebens inkludiert sind.

Der Autor: em. Univ.-Prof. DDr. Johann Figl, geb. 1945, Mag. theol. (Innsbruck), Dr. theol. (Tübingen), Dr. phil. (Wien). Beruflich: Studienassistent an den Instituten für Fundamentaltheologie und Christliche Philosophie in Innsbruck, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der fundamentaltheologischen Abteilung in Tübingen, ab 1975 am Institut für Christliche Philosophie der Kath.-Theol. Fakultät Wien, hier Univ.-Assistent und zugleich Leiter der Abteilung für Atheismusforschung, Habilitationsschrift über „Hermeneutische Religionsphilosophie“ (1983), ab 1986 bis 2013 Professor für Religionswissenschaft an der Universität Wien, zudem Lehrtätigkeit als Gastdozent an der Katholischen Privatuniversität Linz und wiederholt am Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin. Gründung der Österr. Gesellschaft für Religionswissenschaft (1996), Einführung eines Diplomstudiums der Religionswissenschaft an der Universität Wien (1999), Gründung einer Akademie für Buddhismus und Christentum (2010). Wichtigste Publikationen: Herausgeber: Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck–Göttingen 2003, 2. Auflage 2017; Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges, Berlin–New York 2007; Philosophie der Religionen. Pluralismus und Religionskritik im Kontext europäischen Denkens, Paderborn 2012.

Weiterführende Literatur:

Thomas Schreijäck / Vladimir Serikov (Hg.), Das Heilige interkulturell. Perspektiven in religionswissenschaftlichen, theologischen und philosophischen Kontexten, Ostfildern 2017.

Dieser Sammelband gibt einen fundierten Überblick über die aktuelle Diskussion betreffend das Heilige, und hilft „das Problembewußtsein für das gesellschaftlich-politische und persönlich wichtige Thema des Heiligen neu zu schärfen“ (Vorwort), was auch gut gelungen ist.

Einschlägige Beiträge (jeweils mit weiterführender Literatur) in: Johann Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck–Göttingen 2003, 22017: Udo Tworuschka, Heilige Schriften, 588 – 611; Bettina Bäumer, Sakraler Raum und heilige Zeit, 690 –717.

1 Vgl. Ilker Atac / Sieglinde Rosenberger, Einleitung, in: dies. (Hg.), Politik der Inklusion und Exklusion, Göttingen–Wien 2013, 9 –17, und Martin Kronauer, Inklusion / Exklusion: Katergorien einer kritischen Gesellschaftsanalyse der Gegenwart, in: ebd., 21– 33.

2 Vgl. Horst Bürkle, Art. Inklusivismus, in: LThK3, Bd. 5, 1996, 502.

3Hubert Cankcik u. a. (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart 1988 – 2001.

4 Siehe das Schaubild 1 zu den Übersetzungen / Äquivalenten für ‚heilig‘ im Lateinischen, Griechischen und Hebräischen im Artikel von Carsten Colpe, Heilig (sprachlich); Das Heilige, in: HrwG, Bd. 3, 74 – 80.

5 Vgl. P. van Imschott / Herbert Haag, Art. Heilig, in: Herbert Haag (Hg.), Bibel-Lexikon, Einsiedeln u. a. 1968, 686 – 691, bes. 686.

6Hans-Winfried Jüngling, Art. Heilig, das Heilige, III. Bibel-theologisch, in: LThK3, Bd. 4, 1995, 1271–1273, Zitat: 1271.

7 Vgl. Jacob Milgrom, Art. Heilig und profan. II. Altes Testament, in: RGG4 Bd. 3, 2000, 1530 –1532.

8Hans-Winfried Jüngling, Heilig (s. Anm. 6), 1272.

9Carsten Colpe, Heilig (s. Anm. 4), 76.

10 Vgl. näher ebd., 77.

11 Ausführlich dazu: ebd., 78.

12 Vgl. ebd., 78, und hier z. B. die verschiedenen Wörter in Latein: sancire oder sacrare einerseits und mederi oder curare andererseits; ähnlich im Englischen: hallow oder sanctify, aber heal oder cure.

13 Ebd., 78; vgl. Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/1. Empfindsamkeit, Berlin 1997, 121, der heilige Dichtung, heilige Freundschaft, heilige Wehmut, heilige Stille, heilige Dunkelheit, heiliges Vaterland, u. a. Gegebenheiten anführt.

14Burkhard Gladigow, Vergleich und Interesse, in: Hans-Joachim Klimkeit (Hg.), Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft. Vorträge der Jahrestagung der DVRG vom 4. bis 6. Oktober 1995 in Bonn, Wiesbaden 1997, 113 –130, hier: 119, mit Verweis auf das folgende Zitat von Friedrich M. Müller. Vgl. zum Folgenden näher Johann Figl, Philosophie der Religionen, Paderborn 2012, 188 ff. und 202 f.

15Friedrich M. Müller, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, Strassburg 1876, 15.

16Ders., Essays, Bd. 4, Leipzig 1876, 139.

17Nathan Söderblom, Art. Holiness (General and Primitive), in: James Hastings (Hg.), Encyclopaedia of Religion and Ethics (ERE), Bd. VI, Edinburgh–New York 1913, 731–741; Dt. Übers. in: Carsten Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Heilige, Darmstadt 1977, 67–116, hier: 76.

18Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917; vgl. generell: Gregory D. Alles, Rudolf Otto (1869 –1937), in: Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, 198 – 210.

19 Ebd., 5.

20 Ebd., 6.

21 Vgl. Gregory D. Alles, Rudolf Otto (s. Anm. 18), 200.

22Johann Figl, Kardinal König und die Religionswissenschaft: Perspektiven des interreligiösen Dialogs in einer globalen Welt, in: Stiftung Pro Oriente, Jahrbuch 2010, 160 –169.

23 Vgl. dazu näher Johann Figl / Ernst Fürlinger, Nostra aetate – Grundsatzerklärung für die Beziehungen der Kirche zu den Religionen, in: Jan Heiner Tück, Erinnerung an die Zukunft, Freiburg i. Br.–Basel–Wien 22013.

24 Vgl. das einschlägige Kapitel in Johann Figl, Mitte der Religionen. Idee und Praxis universalreligiöser Bewegungen, Darmstadt 1993, 89 –135.

25Tanja L. Mancinelli