Heimat bleibt unvergessen - Jana Henn - E-Book

Heimat bleibt unvergessen E-Book

Jana Henn

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Beschreibung

Anlässlich des dreißigjährigen Bestehens des BdV Regionalverbandes Bad Salzungen wurde dieses Buchprojekt ins Leben gerufen. Acht Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen ihre ganz persönliche Geschichte von Flucht, Vertreibung, Aussiedlung und auch davon, was das Leben »danach« für sie bereitgehalten hat. Sie berichten vom Überlebenskampf, von traumatischen Begegnungen und vom immerwährenden Heimweh. Sie alle eint der Wunsch, dass solch ein Leid nie wieder geschehen möge.Ergänzt werden die Zeitzeugenberichte durch Bilder, Karten und Hintergrundinformationen.»Das war eine schlimme Zeit. Aber ich habs überstanden. Ich wünsche niemandem diese Zeit, niemandem, niemandem.« Gerda Polzt (Zeitzeugin)

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Jana Henn

Heimat

bleibt unvergessen

30 Jahre Bund der Vertriebenen, Regionalverband Bad Salzungen

Originalausgabe 2022Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Herausgeber: Bund der Vertriebenen Regionalverband Bad Salzungen

Verlag: NEPA Verlag © 2022, Bad SalzungenAutorin: Jana Henn

ISBN: 978-3-94681484-9

© Nepa Verlag 2022

Mit freundlicher Unterstützung von

Inhalt

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Inhalt

Vorwort

Wo war das eigentlich? – Die Ostgebiete

▪Ostpreußen

▪Westpreußen

▪Pommern

▪Schlesien

▪Ostbrandenburg/Neumark

Flucht/ Vertreibung /Aussiedlung

Erwin Schulz

▪Meine Heimat

▪Flucht und Vertreibung

▪Ankommen

▪Endlich zu Hause

▪Aktiv sein, damit es nie wieder passiert

▪Recherchen

Frauenburg in Ostpreußen

Rettung über das Eis und die Ostsee

Alfred Hoffmann

▪Meine Heimat

▪Geflüchtet, zurückgekommen, vertrieben

▪Anpassen und doch fremd sein

▪Neuanfang

▪Von Sachsen-Anhalt nach Thüringen

▪Engagierte Arbeit für den BdV

Wittgendorf/ Cunzendorf /Sprottau in Niederschlesien

Krieg und Gewalt

▪Vergewaltigungen

▪Suizide

Gerda Polzt

▪Meine Heimat

▪Vertreibung aus Königsberg

▪Keiner wollte uns

▪Ein neues Zuhause

▪Helfen ist Herzenssache

▪Immer mein Königsberg

▪Recherchen

Königsberg – Maraunenhof in Ostpreußen

Aufnahme- und Quarantänelager

Doris Timm

▪Meine Heimat

▪Mit dem Zug ins Erzgebirge

▪Neuanfang

▪Zuhause gesucht

▪»Sie wird in allem helfen«

▪Heimweh-Reisen

▪Recherchen

Tollmingen in Ostpreußen

Suchdienste

▪Suchdienst für vermisste Deutsche in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands/in der Deutschen Demokratischen Republik

▪DRK-Suchdienst

▪Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt)

▪Kirchlicher Suchdienst

▪Internationaler Suchdienst - Arolsen Archives

▪Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

Marianne Feldmann

▪Meine Heimat

▪Kriegsende

▪Zwangsverpflichtet

▪Schlesien ist so schön wie Thüringen

▪Arbeit, Familie, Zuhause

▪Im Gespräch

Altlässig / Gottesberg in Niederschlesien

Schule

Lieselotte Kümpel

▪Meine Heimat

▪Herzeleid

▪Leben auf Polnisch

▪Vertreibung

▪Neuanfang

▪Familie

▪Heimweh-Reisen

Schwessin in Hinterpommern

Neue Heimat Thüringen – Archivfunde

▪Umsiedler/Neubürger

▪Stasi

Günter Sonder

▪Meine Heimat

▪Krieg

▪Evakuiert nach Preußisch Stargard – geflüchtet nach Thüringen

▪Neuanfang

▪Eisenbahner aus Leidenschaft

▪Familienleben

▪Recherchen

Deutsch Eylau in Westpreußen

Lazarettzüge und Lazarettschiffe

Erika Greifzu

▪Meine Heimat

▪Flucht

▪Veränderte Heimat

▪Aussiedlung

▪Endlich Zuhause

▪Arbeit statt Ausbildung

▪Die Geschichte mit dem Franzosen

▪Alte Heimat

Laskowitz/ Markstädt in Niederschlesien

Über-Lebensmittel

Bund der Vertriebenen (BdV)

Vergessene Wörter

Ein Nachwort und ein Dankeschön

Bildnachweise und Bildquellen

Vorwort

Das vorliegende Buch entstand aus der Idee heraus, die Lebensgeschichten von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten zu bewahren. Anlass dazu gab das dreißigjährige Jubiläum des Bundes der Vertriebenen (BdV), Regionalverband Bad Salzungen e.V. Zunächst war nur die Lebensgeschichte von Erwin Schulz im Gespräch. In den verschiedenen Veranstaltungen des BdV, die ich als Gast und Pressevertreter besuchte, wurden es aber immer mehr Lebensgeschichten, sodass ich schon bald der Überzeugung war, dass sie nicht verloren gehen dürfen. Ich lernte Menschen kennen, die mich beeindruckten und begeisterten, da sie souverän über die Geschichte unseres Landes in schweren Zeiten berichteten. Ich wollte in die Tiefe gehen, nachrecherchieren, ein paar blinde Flecken in den Lebensläufen auffüllen. Auch die technische Umsetzung war schnell geklärt. Der Medienservice Dei-Richter aus Stadtlengsfeld übernahm sowohl Video-, als auch Audioaufnahmen und unterstützte das Vorhaben mit viel Engagement. So gibt es die Möglichkeit, nicht nur die Geschichte der Zeitzeugen nachzulesen, sondern auch deren Gesichter zu sehen und ihre Stimmen zu hören. Es entstand eine Dokumentation.

Ergänzend zu den einzelnen Erzählungen, möchte ich Hintergrundwissen vermitteln. Warum ist alles so passiert, wie es passiert ist? Welcher Lebensumstand, welches Umfeld spielte welche Rolle? Was hat das mit den ganz persönlichen Erinnerungen zu tun? Es geht darum, der Leserschaft die Möglichkeit zu geben, die erfahrene Geschichte selbständig einzuordnen. Ich habe dafür in Archiven recherchiert, mit Fachleuten gesprochen und ähnliche Lebensläufe verglichen. Einen wissenschaftlichen Blick für ein solches Projekt zu gewinnen, ist gerade bei diesem Thema sinnvoll. Ratschläge über Oral History holte ich mir bei der Point Alpha Stiftung in Geisa, wo gleichfalls ein Zeitzeugenprojekt bearbeitet wird. Dort konnte ich mich auch über den Forschungsstand zum Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa informieren. Mir war am Anfang nicht bewusst, dass ich mit dem Thema »Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten« einen Drahtseilakt vollführe. Es ist nach wie vor eine Herausforderung, Deutsche als Opfer im Zweiten Weltkrieg zu sehen, ohne in Konflikt zu kommen mit all den anderen Opfern des Nationalsozialismus, die es ohne den deutschen Überfall auf Polen von 1939 und den Weltkrieg zwischen 1939 und 1945 nicht gegeben hätte. Schuld gegen Schuld aufzurechnen, Opfer gegen Opfer zu stellen, will keiner. Die Aufgabe einer Dokumentation ist es vielmehr, die Vergangenheit aufzubewahren und nicht, diese moralisch zu bewerten. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte zur Eröffnung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin: »Um eine gute Zukunft gestalten zu können, müssen wir die Erinnerung an vergangenes Leid wachhalten.« Das versuche ich mit diesem Buch entsprechend.

Die Geschichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind authentisch. Sie berichten aus der Kinderperspektive beziehungsweise aus der Perspektive der Jugendlichen, wie sie ganz persönlich dieses kollektive Trauma der Flucht und der Vertreibung wahrgenommen haben und was das Leben »danach« für sie bereitgehalten hat. Für eine bessere Lesbarkeit habe ich das eine oder andere Wort eingefügt, den Inhalt damit aber nicht angetastet. Ich hoffe sehr, dass ich den Lebensgeschichten der Zeitzeugen damit gerecht werden kann.

Wo war das eigentlich? – Die Ostgebiete

Übersicht der Ostgebiete 1939

Die deutschen Ostgebiete, um die es in diesem Buch geht, lagen östlich der Grenzlinie von Oder und Neiße. Ihr Verlauf wurde nach dem Ersten Weltkrieg 1921 festgelegt. Diese Gebiete umfassten die historischen Landschaften Ost- und Westpreußens, Nieder- und Oberschlesiens, Hinterpommerns sowie Ostbrandenburg/Neumark. In den deutschen Ostmarken lebten 1939 insgesamt 9,6 Millionen Deutsche. Diese sogenannten Ostgebiete gehören heute überwiegend zu Polen, teilweise auch zu Russland, Litauen und Tschechien, sowie ein kleiner Teil des ehemaligen Schlesiens zur Bundesrepublik Deutschland.

Zudem gab es deutsche Minderheiten auch in Ostmitteleuropa, vom Baltikum über Polen, Böhmen und Mähren, Ungarn bis nach Rumänien und Jugoslawien. Die Freie Stadt Danzig, die nach dem Ersten Weltkrieg unter Aufsicht des Völkerbundes stand, bildete eine völkerrechtlich anerkannte besondere Einheit und ihre Bevölkerung entwickelte ein eigenes Selbstbewusstsein. Das beleuchtet gut die deutsche Literatur, insbesondere die Werke von Günter Grass.

Ostpreußen

Im Text des Ostpreußenliedes von Erich Hannighofer heißt es zu Beginn: »Land der dunklen Wälder, der kristallnen Seen, über weite Felder, lichte Wunder gehn.« Damit ist alles in allem beschrieben, was die ostpreußische Landschaft so besonders macht: Wälder, Wasser und Felder.

Bis 1945 war Ostpreußen der östlichste Landesteil Deutschlands. Man bezeichnete diese Region auch als »Kornkammer Deutschlands«. Aufgrund seiner Lage zwischen Nogat und Memel geriet dieser Landesteil immer wieder in kriegerische Auseinandersetzungen. Im Ersten Weltkrieg wurde er zum entscheidenden Schauplatz an der Ostfront.

Mit der Friedenskonferenz 1919 im Versailler Schloss und der Unterzeichnung des Friedensvertrages endete der Erste Weltkrieg mit der Konsequenz für Ostpreußen, dass es zu einer Exklave des Deutschen Reichs wurde. Das Staatsgebiet wurde durch den sogenannten Polnischen Korridor getrennt. In der Zeit der Weimarer Republik gab es auf deutscher Seite Hilfsmaßnahmen, um die ökonomischen Nachteile von Ostpreußen infolge der Exterritorialität auszugleichen.

Der Zweite Weltkrieg begann auch von Ostpreußen aus. Mit dem Beschuss der Munitionslager auf der Westerplatte bei Danzig, den Luftangriffen auf die polnische Stadt Wieluń und der Zerstörung der Weichselbrücke bei Dirschau begann das »Dritte Reich« den Zweiten Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen.

In Ostpreußen befand sich die Wolfsschanze, Hitlers Führerhauptquartier bei Rastenburg in der Nähe des Dorfs Görlitz. Von hier aus starteten die Planungen zum Vernichtungskrieg gegen die UdSSR. Ebenso wurden ideologische Grundfragen der Judenvernichtung diskutiert. In der Wolfsschanze wollte Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg Hitler töten, um den Krieg zu verkürzen. Ostpreußen steht gleichwohl auch für Kriegsverbrechen wie die Massaker von Palmnicken durch die Deutschen oder die Massaker von Nemmersdorf und Metgethen durch die Rote Armee. Heute ist Ostpreußen dreigeteilt. Der südliche Teil gehört zu Polen, der nördliche Teil zu Litauen und das Land dazwischen gehört zu Russland.

Westpreußen

Hermann Löns schreibt in Erinnerung an seine Heimat Westpreußen: »Nach Osten zieht’s mich mächtig hin, »Nach Hause« klingt’s in meinem Sinn: drei Klänge sind’s vom Heimatland, die mir das Herz entwandt; …«

Als Westpreußen wird die Region bezeichnet, welche sich am Unterlauf der Weichsel von Thorn im Süden bis nach Danzig an der Ostsee erstreckt. Westpreußen hatte nach dem Ersten Weltkrieg einen beträchtlichen Teil der Kriegslast zu tragen, die im Versailler Vertrag festgeschrieben wurde. Westpreußen links der Weichsel und das Kulmerland wurden ohne Volksbefragung vom Deutschen Reich abgetrennt. Zwischen Ostpreußen und dem Mutterland klaffte der sogenannte »Korridor«, ein Landstreifen zwischen Pommern im Westen und dem Unterlauf der Weichsel im Osten. Für die restlichen Kreise Westpreußens, also Stuhm, Rosenberg, Marienburg östlich der Nogat und Marienwerder östlich der Weichsel sowie für den ganzen Regierungsbezirk Allenstein nebst dem Kreis Oletzko war eine Volksabstimmung nach dem Ersten Weltkrieg 1921 verfügt worden. Nach dieser blieben die Kreise Deutsch Krone, Flatow und Schlochau in Preußen in der Weimarer Republik und wurden mit dem Kreis Fraustadt zu einer neuen Provinz »Grenzmark Posen-Westpreußen« vereinigt. Danzig stand fortan als eine Freie Stadt unter dem Schutz des Völkerbundes.

Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges nahmen deutsche Truppen einen großen Teil des vormals westpreußischen Gebiets ein. Im Zuge der sogenannten »Eindeutschung« Westpreußens fielen zahlreiche polnische Intellektuelle, Geistliche und Politiker Massenermordungen zum Opfer. Wie überall im Deutschen Reich wurden gleichfalls Patienten der psychiatrischen Kliniken, sogenannte »Asoziale« und Fürsorgezöglinge im Rahmen von Aktionen, wie der Aktion T4, getötet, ohne Rücksicht auf die Nationalität. Im Reichsgau lag das Konzentrationslager Stutthof. Es wurde zunächst als Zivilgefangenenlager in Betrieb genommen. Als Vernichtungslager hatte es ab 1944 zahlreiche Außenlager.

Das ehemalige Westpreußen ist heute vollständig Staatsgebiet von Polen.

Pommern

Im 1851 getexteten Pommernlied von Gustav Adolf Pompe heißt es in den ersten beiden Strophen: »Wenn in stiller Stunde Träume mich umwehn, bringen frohe Kunde Geister ungesehn, reden von dem Lande meiner Heimat mir, hellem Meeresstrande, düsterm Waldrevier. Weiße Segel fliegen auf der blauen See, weiße Möwen wiegen sich in blauer Höh’, blaue Wälder krönen weißer Dünen Sand; Pommerland, mein Sehnen ist dir zugewandt!«

Pommern erstreckte sich einst entlang der südlichen Ostseeküste von der Mündung der Recknitz im Westen bis zur Mündung der Piasnitz (Piaśnica) im Osten, was einer Luftlinie von 365 Kilometern entspricht. Der Name »Pommern« geht auf die westslawische Bezeichnung für ‚am Meer gelegen‘ zurück. Die Region reicht von der Ostseeküste und deren vorgelagerten Inseln knapp fünfzig Kilometer bis zu fast zweihundert Kilometer weit ins Binnenland. Die Region Hinterpommern wurde bis 1945 von Deutschen bewohnt. Es gab eine kleine polnische Minderheit.

Nach dem Ersten Weltkrieg grenzte Pommern mit seinen östlichen Kreisen an Polen. Der sogenannte Korridor und der Verlust des Hinterlandes mit den Provinzen Westpreußen und Posen verstärkte nach dem Versailler Vertrag die wirtschaftliche Krise sowohl der Landwirtschaft als auch besonders in Stettin, dem industriellen Herzen der Provinz.

Zu Kriegsbeginn 1939 wurden, ähnlich wie in Westpreußen, im Wald bei Piaśnica tausende Menschen erschossen. Sie waren Angehörige der polnischen und kaschubischen Intelligenz, Patienten deutscher und polnischer Psychiatriekliniken sowie deportierte Juden aus dem Reichsgebiet.

Während des Zweiten Weltkrieges gehörte Pommern zu den weniger vom Luftkrieg betroffenen Gebieten. Die Region wurde auch von direkten Kampfhandlungen verschont. Ab Ende Februar 1945 eroberte die Rote Armee innerhalb weniger Tage alle hinterpommerschen Städte.

1945 wurde das Land auf der Basis des Potsdamer Abkommens geteilt, wobei der genaue Verlauf der Demarkationslinie westlich von Stettin und Swinemünde/Świnoujście erst mit dem Schweriner Vertrag vom 21. September 1945 zwischen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland und dem kommunistischen Polen festgelegt wurde. 82 Prozent der Provinz Pommern östlich der Oder fielen damit unter sogenannte polnische Verwaltung und gehören seitdem zum polnischen Staatsgebiet.

Schlesien

Für den Schriftsteller Goethe war Schlesien ein »zehnfach interessantes Land« und »ein sonderbar schönes, sinnliches und begreifliches Ganzes«.

Schlesien war die größte Provinz Preußens und die Landeshauptstadt Breslau die fünftgrößte Stadt des Deutschen Reiches. Die Region liegt im Südosten beidseits des Ober- und Mittellaufs der Oder. Die Sudeten bis zu den Beskiden bilden eine natürliche Grenze.

Nach dem Ersten Weltkrieg war die Provinz unmittelbar von den Auswirkungen des Versailler Vertrags betroffen. Infolge einer Volksabstimmung und militärischer Aufstände von Polen wurde Oberschlesien 1921/22 geteilt. Einen Teil schlug man Polen als Woiwodschaft Schlesien (das sogenannte Ost-Oberschlesien) zu. Der größere Teil verblieb im Deutschen Reich.

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die Provinz Oberschlesien 1941 reorganisiert. Sie umfasste dann auch den Landstrich Auschwitz, der durch das Vernichtungslager und die systematische Ermordung von mehr als einer Million europäischer Juden zum Sinnbild der nationalsozialistischen Verbrechen wurde. Im niederschlesischen Kreis Schweidnitz gab es zudem das Konzentrationslager Groß-Rosen.

In Schlesien entwickelte sich aber auch der Widerstand des sogenannten Kreisauer Kreises gegen den Nationalsozialismus. Mitglieder dieser Gruppe glaubten an ein Deutschland ohne eine Diktatur. Die meisten bezahlten dafür mit ihrem Leben.

Schlesien ist in seinen ehemaligen Grenzen heute hauptsächlich polnisch. Kleine Teile sind aber auch Tschechien und Deutschland zugehörig.

Ostbrandenburg/Neumark

»Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.«, schrieb der Brandenburger Theodor Fontane 1862 im ersten Band seines Romans »Wanderung durch die Mark Brandenburg«.

Die Provinz Brandenburg, ehemals Mark Brandenburg, wurde 1815 gebildet. Sie lag östlich der Oder, aber ohne die Altmark westlich der Elbe, die an die Provinz Sachsen angeschlossen war. Zur Provinz gehörten auch die Niederlausitz sowie die Neumark. Die Neumark ist eine historische Landschaft östlich der Oder.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Osten der Provinz Brandenburg, infolge der Versailler Beschlüsse, zum Grenzland zu Polen. Nach der Auflösung der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen kamen im Jahr 1938, zwei Bezirke zur Provinz Brandenburg. Es wurden drei Bezirke an die Pommern abgegeben.

Im Zweiten Weltkrieg wurden in der Provinz Rüstungsbetriebe und militärische Anlagen errichtet. Es entstanden die Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg und das Frauen-Konzen-trationslager Ravensbrück bei Fürstenberg an der Havel. In den Städten, in den Fabriken und auf dem Land waren zehntausende Zwangsarbeiter, Häftlinge und Kriegsgefangene beschäftigt. Viele arbeiteten in Rüstungsbetrieben, die größtenteils unterirdisch versteckt in den brandenburgischen Wäldern lagen. Neben den vielen Bombenangriffen auf brandenburgische Städte gingen in den Kämpfen der sowjetischen und deutschen Divisionen in dem Raum zwischen Elbe und Oder märkische Dörfer und Städte in Flammen auf.

Als sich Ende Januar 1945 die Rote Armee der Oder näherte, kam es zur Flucht der deutschen Bevölkerung. Die Menschen, die nicht flüchten konnten oder wollten, wurden von der Front überrollt und litten dann unter Requirierungen, Verschleppungen und Gewaltakten.

In der Potsdamer Konferenz wurde die Oder-Neiße-Linie zur Grenze zwischen Polen und Deutschland bestimmt. Brandenburg war von diesem Zeitpunkt an geteilt.

Die Gebiete westlich der Oder des historischen Brandenburgs gehören heute zu Deutschland. Ostbrandenburg, einschließlich der Neumark, ist polnisches Staatsgebiet.

Flucht/ Vertreibung /Aussiedlung

Allein in Europa mussten infolge des vom Nationalsozialismus entfachten Krieges sowie der militärischen Expansion der Sowjetunion zwischen 1939 und 1947 nahezu fünfzig Millionen Menschen unter Zwang ihre Heimat verlassen. Deutsche wurden davon nicht verschont. Jeder vierte der europäischen Vertriebenen war Deutscher.

Altbundespräsident Joachim Gauck sagte über die Flucht und die Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostgebieten: »Ausgegrenzt, verfolgt, vertrieben wurden Menschen seit Urzeiten. Aus der Geschichte kennen wir die Konflikte zwischen Sesshaften und Nomaden, zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Und im Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts erschienen Minderheiten häufig als potenziell illoyal, als Fremdkörper, die es zu assimilieren oder auszutauschen, zu vertreiben oder gar zu vernichten galt. Zeitweise sah die Politik im Bevölkerungsaustausch sogar ein probates Mittel der Konfliktlösung. Der sogenannte ‚Bevölkerungstransfer‘ von Millionen Deutschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen, Mähren, aus der Batschka und vielen anderen Gegenden in Mittel- und Südosteuropa erschien auch den alliierten Regierungschefs Churchill, Truman und Stalin als adäquate Antwort auf den Tod und Terror, mit dem Nazi-Deutschland den Kontinent überzogen hatte. Als die Potsdamer Beschlüsse im August 1945 die rechtliche Basis dafür schufen, waren allerdings längst Fakten geschaffen worden: Millionen Deutsche waren bereits aus dem deutschen Osten, aus Polen, der Tschechoslowakei, aus Ungarn, Jugoslawien, Rumänien geflüchtet und vertrieben. Und was ‚in ordnungsgemäßer und humaner Weise‘ erfolgen sollte, hatte sich in der Realität als Alptraum erwiesen.«

Was Gauck hier anspricht, haben die Protagonisten dieses Buches erlebt. Als Deutsche lebten sie in Ost- und Westpreußen, in Niederschlesien und Hinterpommern. Sie erlebten Flucht, Vertreibung und Aussiedlung in ihren Kinder- und Jugendjahren.

Bevor es die Flucht und die Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten gab, hatten die Nationalsozialisten Pläne entworfen, den deutschen Lebensraum bis zum Ural auszuweiten. Der sogenannte »Generalplan Ost« sah damit auch die Vertreibung und Umsiedlung der dort lebenden slawischen Bevölkerung vor. Mögliche Opfer nahm man dabei in Kauf. Die zahlreichen Juden plante man zu töten. Es wurde vom »Lebensraum im Osten« und von »Germanisierung« gesprochen. Die Bewegung Richtung Osten schlug zum Ende des Zweiten Weltkrieges in eine Westbewegung um.

Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung erfolgte als Konsequenz der militärischen Niederlagen der deutschen Truppen und letztlich des Zusammenbruchs des »Dritten Reiches«. Drei Phasen lassen sich dabei herausstellen: Auf die Flucht vor der Roten Armee, folgten die sogenannten »wilden Vertreibungen« und schließlich die Aussiedlung. Eine vierte Phase führt die historische Forschung nicht auf. Die gab es in den 1980er und 1990er Jahren, als Millionen von deutschen Aussiedlern und dann Spätaussiedlern in die Bundesrepublik kamen. Juristisch markiert das Ende dieser Phase das sogenannte Kriegsfolgenbereinigungsgesetz vom 30. November 2007.

Obwohl die nationalsozialistische Propaganda vor allem 1944/45 den Endsieg in Aussicht stellte, flüchteten viele Deutsche vor der anrückenden Roten Armee in Richtung Westen. Das Massaker im ostpreußischen Nemmersdorf im Oktober 1944, bei dem die deutsche Bevölkerung nach Eroberung durch die Rote Armee ermordet wurde, löste die Fluchtbewegung aus. Die nationalsozialistischen Machthaber hofften durch ihre Propaganda, den Durchhaltewillen der Deutschen zu stärken. Stattdessen verbreitete sich Panik und Angst vor den Folgen des einstigen deutschen Eroberungskriegs im Osten. Aus ideologischen Gründen wurde die notwendige Evakuierung der Zivilbevölkerung von staatlichen Stellen hinausgezögert, später nur unzureichend organisiert und teilweise behindert. Der Bevölkerung gaukelte man vor, dass es sich um eine vorübergehende Evakuierung handelt, so dass sie bald in ihre Heimat zurückkehren könnten. Viele Menschen starben während der Flucht an Krankheiten, Entkräftung und Hunger. Nicht zuletzt die eisigen Temperaturen im Winter 1944/45 spielten eine Rolle und forderten Todesopfer. Die Geflüchteten wurden von der Front überrollt und dabei Opfer von Gewalttaten. Nicht selten starben sie durch Racheaktionen nichtdeutscher Zivilisten. Nach dem Ende der Kriegshandlungen kehrten zahlreiche Flüchtlinge in ihre Heimatorte zurück. Im Mai und Juni 1945 begannen jedoch polnische Verbände, den Deutschen den Übertritt an Oder und Neiße zu verweigern. Die Flüchtlinge sind so zu Vertriebenen geworden.

Nach Kriegsende ereigneten sich die sogenannten »wilden Vertreibungen«, vor allem auch in den polnischen und böhmisch-mährischen Gebieten. Nach Ende der Kampfhandlungen im Frühjahr 1945 übernahmen polnische Behörden unter Duldung, aber auch Kritik der sowjetischen Befehlshaber die Verwaltung der besetzten deutschen Ostgebiete. Die Deutschen wurden rechtlos. Organisiert waren dort die »wilden Vertreibungen« durch die Militäreinheiten nach einem festen Plan. Die Ortschaften durchsuchte man nach Deutschen. Die Bevölkerung wurde schikaniert, enteignet, bedroht, verschleppt und vor psychischer Gewalt kaum geschützt. Einen Teil der Deutschen hielt man zunächst in Internierungslagern fest, ein Teil war zur Zwangsarbeit verpflichtet und ein weiterer Teil in die UdSSR zur Zwangsarbeit deportiert. In der Amtssprache der nun herrschenden polnischen Verwaltung wurden die Ostgebiete als »wiedergewonnene Gebiete« bezeichnet, in Berufung auf eine mittelalterliche Herrschaft, um der Landübernahme eine Legitimation zu verleihen. Noch bevor vertragliche Regelungen nach Kriegsende durch die Alliierten getroffen werden konnten, hatte man mithilfe der »wilden Vertreibungen« unumkehrbare Fakten geschaffen

Die letzte Phase der Vertreibung folgte nach der Potsdamer Konferenz, die vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 stattfand. Es war das finale Zusammentreffen der Alliierten nach den Konferenzen in Teheran im November 1943 und in Jalta im Februar 1945. Bezugnehmend auf die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung waren drei Artikel des Potsdamer Abkommens entscheidend.

So wurde festgelegt, dass die endgültige Übergabe Königsbergs an die Sowjetunion zu erfolgen hat und die übrigen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie unter die Verwaltung des polnischen Staates fallen. Diese Regelung galt unter dem Vorbehalt, dass ein Friedensabkommen die endgültige Grenzziehung regelt. Niemand in Potsdam konnte nach dem Beschluss ernsthaft daran glauben, dass diese Umsiedlung durch einen Friedensvertrag rückgängig gemacht werden könnte, zumal die Alliierten die Vertriebenen auch sofort auf die vier Zonen aufteilten. Gerade die Amerikaner waren sehr darum bemüht, eine assimilierte Gesellschaft in ihrer Zone zu schaffen. Daher rührte zum Beispiel das Verbot, Vertriebenenorganisationen und -parteien zu gründen, welches bis 1949 galt. Die UdSSR betrieb die gleiche Politik mithilfe deutscher Kommunisten in der sowjetisch besetzten Zone, auch über das Jahr 1949 hinaus.

Den alliierten Großmächten im Westen war es jedenfalls auf dem Papier wichtig, dass die Überführung der Deutschen aus den Ostgebieten in die vier Besatzungszonen »in ordnungsgemäßer und humaner Weise« erfolgen sollte. Zwischenzeitlich hatte man Kenntnis von den Gräueln, mit denen die bisherigen Umsiedlungen erfolgten. Die freie Presse im Westen berichtete darüber. Die Alliierten waren sich einig, dass es sich zwar um eine in ihrem Umfang bis dahin nicht gekannte, aber notwendige und durchführbare Umsiedlung handelte. Die Westverschiebung Polens und die Reparationsforderungen, insbesondere der UdSSR und Großbritanniens, ließen demzufolge keine andere Lösung zu. In dieser Phase erfolgte die Vertreibung durch »Ausweisung«. Die deutsche Bevölkerung wurde über Aushänge oder ähnliches über den bevorstehenden Abtransport informiert. Mindeststandards dafür gab es in der Praxis nach wie vor nicht. Die mit der Ausweisung einhergehende Enteignung an Hab und Gut wog schwer. Meist war die Anzahl, das Gewicht und/oder der Inhalt des erlaubten Gepäcks vorgegeben. Die Anweisungen waren von Ort zu Ort unterschiedlich. Deswegen ist eine Generalisierung am Ende nicht dienlich. Es gab Plünderungen. Die Menschen waren auf Selbst- und Nachbarschaftshilfe angewiesen. Die Ausweisungen dauerten bis in die Jahre 1947/48 an. In den 1950-er Jahren gab es dann noch Menschentransfers zwischen Polen und der DDR, als die zurückgehaltenen Deutschen für die polnische Nachkriegswirtschaft freigegeben wurden.

Die Gesamtzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten und Ostmitteleuropa wird mit zehn bis zwölf Millionen angegeben. Bei der Zahl der Toten geht man von etwa 600.000 Opfern aus. Die Zahlen sind bis heute nur eine Orientierungsgröße. Die Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem deutschen Osten auf dem Gebiet der späteren DDR ist eine nach wie vor offene Frage in der historischen Forschung.

Zwei Drittel der Flüchtlinge wurden auf die westlichen Zonen und ein Drittel auf die sowjetische Besatzungszone aufgeteilt. Thüringen nahm rund 700.000 Menschen auf.

In Bad Salzungen wurden am 1. August 1945 34 Evakuierte aus dem Sudetenland und der Tschechoslowakei, 35 aus dem polnischen Staatsgebiet, 389 aus den deutschen Gebieten, die polnischer Verwaltung unterstellt sind, sowie 1511 Evakuierte aus anderen Gebieten Deutschlands gezählt. 1946 waren es dann 1664 sogenannte »Umsiedler«, wie die Vertriebenen im Amtsdeutsch der DDR verharmlosend genannt wurden, sowie 509 Evakuierte und 300 Kurfremde. Im März 1947 wurden für Bad Salzungen schließlich 1708 Umsiedler aus dem Osten angegeben. Damit betrug ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der Stadt mehr als zwanzig Prozent und entsprach mit diesem Prozentsatz dem Durchschnitt im geteilten Deutschland.

Noch 1950 lebten etwa vier Millionen Deutsche außerhalb der alten Reichsgrenzen von 1937 in Polen, der Sowjetunion, in Rumänien, der Tschechoslowakei und den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Das Grundgesetz der Bundesrepublik bezeichnet diese Menschen und ihre Nachkommen als »deutsche Volkszugehörige«. Unter bestimmten Voraussetzungen waren und sind sie berechtigt, als Aussiedler, ab 1993 als Spätaussiedler, dauerhaft in die Bundesrepublik zu kommen.

Zum Leid von Flucht und Vertreibung kam die Erfahrung der Aufnahme durch die mitteldeutsche und westdeutsche Bevölkerung. Denn die »Ostbevölkerung« wurde angesichts des Nachkriegselends keineswegs mit offenen Armen empfangen, sondern oft diffamiert und angefeindet. Viele fühlten sich lange fremd in der sogenannten neuen Heimat. Zwangszuweisungen in vorhandenen Wohnraum, die Angst vor Krankheiten, der Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten, Wasser, Kleidung, Heizmaterial und Arbeit waren zusätzlich eine Belastung für beide Seiten. Die Geflüchteten waren nicht nur Fremde, sondern mussten oft auch einen sozialen Abstieg und den Verlust von allem, was sie bisher zu ihrem Besitz zählten, hinnehmen. Und doch gab es auch hier Unterschiede.

Manche in der Aufnahmegesellschaft waren einfach menschlich und nahmen sich der Heimatlosen an. Für die Anderen, die in der Mehrzahl waren, blieben die sogenannten »Neubürger« überwiegend Eindringlinge, die in diesem Nachkriegsdeutschland nichts zu suchen hatten. Erst viel später wurde es wahrgenommen und begriffen, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten auch einen unsichtbaren Schatz mit in die neue Heimat gebracht hatten: ihre Talente, ihr Wissen, ihre Arbeitskraft und ihren Mut, sich dem Neuen zu stellen. Sie waren ein Gewinn für die Allgemeinheit.

Bemerkenswert ist, dass die Heimatvertriebenen sich schon 1950 auf eine gemeinsame Charta geeinigt hatten, die alles beinhaltet, was ihnen am Herzen liegt. Altbundespräsident Johannes Rau sagte darüber: »Dabei ist den Vertriebenen etwas Wichtiges und Wertvolles gelungen - und darin liegt eine ihrer großen Leistungen, von denen ich heute sprechen will: Die Vertriebenen haben ihren Kindern und Enkeln nicht Hass und auch nicht den Wunsch nach Vergeltung eingepflanzt, sondern die Überzeugung und den Willen, am Aufbau eines besseren Deutschlands und eines friedlich geeinten Europas mitzuarbeiten. Gewiss, anfangs hörte man in Vertriebenenkreisen noch oft den Ruf nach Rache und nach Revanche. Wer wollte das leugnen? Die allermeisten Vertriebenen wussten aber, dass dieser Weg nur neues Leid heraufbeschworen und dass er ins Abseits geführt hätte. Sie wählten den friedlichen Neubeginn. Das war die zentrale Botschaft der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950. Sie war ein zukunftsweisendes Zeichen für Einsicht, Mut und Hoffnung; aber sie musste ja auch wirklich gelebt werden. Das haben Millionen von Vertriebenen getan und an ihre Kinder weitergegeben, im Westen wie im Osten des geteilten Landes. Heute gibt es da längst keinen nennenswerten Unterschied mehr zwischen den Bundesbürgern mit und denen ohne Vertreibungsschicksal.«

Erwin Schulz

»Schulze ohne E, Erwin aus Immelborn, BdV Bad Salzungen.«, so stellte sich der Mann vor, der eben durch die Tür kam. Er war für mich kein Unbekannter. Schon früher hatten sich mal kurz, mal länger, unsere Lebenswege gekreuzt. Wir kamen auch jetzt wieder ins Gespräch. Er stellte mittendrin fest: »Bei uns warst du noch nie. Würdest du auch mal zu uns kommen?« Damit war der Bund der Vertriebenen, Regionalverband Bad Salzungen, gemeint. Ich sagte zu und hatte keine Ahnung, wie sehr mich die Menschen in diesem Verband beeindrucken und begeistern würden.

Ich war nun regelmäßig zu Gast bei Jahreshauptversammlungen, beim Tag der Heimat, beim vorweihnachtlichen Heimatnachmittag. Erwin Schulz ist der Schatzmeister im Verband. Ein Schatz ist aber zweifellos auch seine Empathie für andere. Oft hält er hier noch ein Schwätzchen, nimmt eines der anderen Mitglieder mal in den Arm, ist aber immer auch mit den Ehrengästen auf Augenhöhe. Eine andere Seite von Erwin Schulz wird sichtbar, wenn er in jedem Jahr zum Tag der Heimat das Totengedenken spricht: »Weil die Toten schweigen, wollen wir nicht vergessen. Wir wollen mahnen und erinnern. Wir trauern, doch wir leben in der Hoffnung auf Versöhnung der Völker und Frieden in der Welt.« Darauf angesprochen, offenbarte er mir einen Teil seiner Geschichte: »Wusstest du eigentlich, dass ich drei Mal eingeschult wurde? In meiner Heimat, auf der Flucht und dann hier in Immelborn.« Ein anderes Mal kam die Sprache auf seine Heimat Frauenburg: »In dem Dom bin ich getauft worden. Und die Russen haben da später ihre Pferde reingestellt.« Und über seine Flucht erfuhr ich: »Wir sind über das Eis und dann durch die brennenden Dörfer. Hinter uns hat es geknallt. Wir mussten weiter. Dann sind wir in einem Viehwaggon bis nach Oelsnitz gekommen, dann nach Meseberg. Mein Vater hat uns nach Immelborn geholt. Und meine Frau habe ich aus Sachsen-Anhalt mitgebracht.« Mein Interesse war schon lange geweckt, diese Geschichte aufzuschreiben und zwar nicht nur bruchstückhaft, sondern in voller Länge. Ein Zeitungsartikel ist dafür im Umfang zu beschränkt, um ihm gerecht werden zu können. Die Idee für dieses Buch war geboren. Erwin Schulz war immer an meiner Seite, wenn es darum ging mit den anderen Protagonisten dieses Buches in Kontakt zu treten und die finanzielle Unterstützung zu organisieren. Dafür möchte ich mich bedanken. Dankbar bin ich aber auch, dass er mir so viel Vertrauen schenkte und seine Geschichte erzählte.

Meine Heimat

Ich bin aus Ostpreußen, aus Frauenburg, heute Frombork. Ich bin 1938 geboren und wurde im Dom zu Frauenburg getauft. (Ich) habe dann mit sechs Jahren diese schreckliche Zeit mitmachen müssen. Wir waren in einem 4-Familien-Haus zu Hause. Und wir hatten eine knappe 3-Raum-Wohnung. Mein Großvater, meine Großeltern von Mutters Seite aus, ich als Ältester und meine Schwester haben da mit drin gewohnt.

Mein Vater war im Krieg. Wir haben vom Krieg nie direkt etwas mitbekommen. Erzählt wurde nur, dass eine schlechte Zeit auf uns zukommt. Das hab ich von den Eltern aufgenommen und von den Großeltern. Als Kinder sind wir nun umhergetobt, als dann die erste Bombe gefallen war. Es kann auch eine Granate gewesen sein, die gegenüber unserem Haus einschlug. Das hab ich nicht gekannt. Da wurde mir erst mal mulmig. Dann hat meine Mutti gesagt: »Hier stimmt was nicht. Jetzt kommen die Russen.«

Ich war mit meiner Schwester auf der Flucht und mit meiner Tante Liese, die uns praktisch die ganze Zeit begleitet hat, als wir von Deutschland nach Deutschland geflüchtet sind.

Als besonders schmerzhaft erlebte der Junge Erwin den Verlust der Mutter und beider Großmütter. Er weiß nicht mehr, ob die Mutter bei der Flucht noch gelebt hatte oder nicht. Denn die Familie verließ zwei Mal ihr Zuhause. Ihm wurde nur erzählt, dass die Frauen innerhalb einer Woche an Hungertyphus starben.

Flucht und Vertreibung

Die Heldin der damaligen Zeit war auf jeden Fall Tante Liese. Sie tat alles, um die Kinder in Sicherheit zu bringen. Tante Liese war eine Verwandte und lebte in einer Kirche in Frauenburg, die heute das Museum des Nikolaus Kopernikus beherbergt. Erwin Schulz erinnert sich in Bezug auf die Flucht an das zugefrorene Frische Haff und den Weg über das Eis.

Wo dann die Zeit kam, wo wir aufs Eis gejagt wurden, (erinnere ich mich), dass die Tante Liese uns über das Eis getragen hat. Die Zeit (zum Packen) muss sehr kurz gewesen sein. Uns wurde nur gesagt, das Notdürftigste (soll eingepackt werden) und dann sind wir sozusagen auf das Eis gejagt worden.

Beim ersten Mal war es so, dass wir uns alle auf dem Marktplatz versammeln mussten. Auf dem Marktplatz wurden dann irgendwelche Sortierungen vorgenommen. Wir sollten, also ich und meine Schwester, von der Tante getrennt werden. Ich weiß nur, dass meine Tante gesagt hat: »Die Kinder geb ich nicht her. Die bleiben bei mir!«

Ein Bild hat sich besonders eingeprägt. Es ist vor mir ein Mädchen gelaufen. Und das Mädchen war plötzlich verschwunden. Sicherlich ist das Mädchen in eine Eisspalte gerutscht. Rechts und links waren eingebrochene Fuhrwerke. Die Pferde standen und hingen da im Wasser mit ihren Gespannen. Aber die Leute mussten ja nun weiter. Von hinten hat es geknallt.

Wir sind über das Eis gejagt worden zur Nehrung und dort sind die Schiffe wohl irgendwie dann eingesetzt worden. Also, mir ist nur in Erinnerung, dass wir vor einem großen Schiff gestanden haben, wollten da rauf, aber das war schon überfüllt. Da standen wir dann vor diesem großen Schiff, wollten mit dem Schiff weiter transportiert werden. Da waren aber noch circa tausend Menschen vor uns.

Erwin Schulz kann heute nicht mehr sagen, vor welchem Schiff sie standen oder wohin genau es fahren sollte. Aber er macht sich oft Gedanken, ob es sich bei diesem Schiff um die »Wilhelm Gustloff« handeln könnte. Ihm ist rückblickend bewusst, dass es vielleicht überlebenswichtig war, eben nicht auf dieses Schiff zu steigen. Zum damaligen Zeitpunkt ahnte das noch keiner. Was sich aber bei dem damals Sechsjährigen eingebrannt hatte, waren die Gewalt und die Zerstörungen, die es überall gab.

Ich weiß nur, dass wir durch irgendwelche Dörfer getrieben wurden. Rechts und links standen brennende Häuser. Aber hinter uns (war) die Front. Wir mussten da durch. Und dann (haben wir) unterwegs erfahren müssen, dass das bisschen Hab und Gut, was wir noch in der Hand hatten, von vielen Soldaten uns abgenommen wurde. Wir wurden in irgendeinen Hof gejagt: »Machen Sie Ihren Beutel auf!« Oder (die), die mit ihren Handwagen kamen. Dann wurde das Beste rausgesucht. Weg war’s! Die letzten Brocken haben wir noch gekriegt und dann ging‘s weiter. Ein paar Kilometer. Auf einmal hieß es: »Ausziehen!« (Das war) eine Entlausungsanstalt. Ja, da wurden die Klamotten abgenommen. Die wurden dann irgendwie durch so eine »heiße Straße« gejagt. Auf der anderen Seite kamen sie raus und wir kriegten sie wieder und konnten dann weiterlaufen.

Ganz schlimm war, was wir als Kinder eben auch mitmachen mussten, diese … Vergewaltigungen von Frauen. Da gab es keine Rücksicht auf die Kinder. »Oh Matka, Matka …«, hab ich bloß immer gehört. »Alte Matka!«, hab ich immer gehört. Die haben sich rausgeredet.