Heimat-Pilgern - Jörg Steinert - E-Book

Heimat-Pilgern E-Book

Jörg Steinert

0,0

Beschreibung

Der Jakobsweg versammelt Gläubige, Skeptiker, Suchende nicht nur in Spanien, sondern immer mehr auch auf den verschiedenen Pilger-Routen in Deutschland. Jörg Steinert, der Autor von »Pilgerwahnsinn«, hat sich erneut aufgemacht und erzählt in Wort und Bild von seinen Touren und Erlebnissen. Er ist unterwegs, zum Teil wieder gemeinsam mit der muslimischen Frauenrechtlerin Seyran Ateş, dieses Mal auf deutschen Pilgerwegen: auf der Via Imperii, der Via Regia (Ökumenischer Pilgerweg), dem Mosel-Camino, dem Oberfränkischen und dem Oberschwäbischen Jakobsweg, dem Münchner Jakobsweg und weiteren Wegvarianten in Brandenburg und Sachsen. Für alle, die zu Fuß oder lesend pilgern.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 177

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jörg Steinert

Heimat-Pilgern

Jakobswege in Deutschland

Geschichten von unterwegs

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

1 — Das Virus

Sei der Funke!

Pilgertreffen in Hamburg

Soldaten patrouillieren durch die Gassen von Santiago

Der Jakobsweg beginnt vor der eigenen Haustür

2 — Zusammen von Berlin Richtung Bodensee

Neues wagen

„Wie bei der Bundeswehr“

Alte Heimat

Tot auf dem Jakobsweg

Umwege und Schlafstörungen

Eine Fliege im Bier

Prunkvolle Orte und saftige Früchte

3— Allein an der Mosel

Der Traum von der Auszeit

Pilgern bei Hochwasser

(A)soziale Medien

Fremde Pilger

Auf dem Moped durch das alte Moseltal

Sendepause

Das Gute sehen

4— Fast wie in Spanien: Der Ökumenische Pilgerweg

Urlauber oder Pilger?

Wegezoll

„Du musst jetzt duschen!“

Wandern oder pilgern?

Wie wichtig sind andere Menschen auf dem Jakobsweg?

Perfekte Momente lassen sich nicht konservieren

5 — Und was kommt als Nächstes?

Pilgerfreude für alle

Wallfahrt nach Tuntenhausen

Der Pilger dankt

Zwei Großstadtpflanzen nackt auf dem Bauernhof

Es braucht nur wenig, um glücklich zu sein

Ein ungefährliches Abenteuer

Wohin führt mich mein Weg?

Nachwort

Danksagung

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort

Pilgern boomt. Seit dem Mittelalter waren nicht so viele Menschen auf Jakobswegen unterwegs wie heute.

Während die sehr gläubigen Menschen des Mittelalters einmal im Leben nach Santiago de Compostela aufbrachen, um Sündenstrafen im Jenseits erlassen zu bekommen, ist diese religiöse Erwartungshaltung inzwischen einer weltlichen Sinnsuche gewichen. Es gibt eine neue – noch nie da gewesene – Generation von Pilgern. Menschen, die nicht nur einmal im Leben nach Santiago pilgern, sondern sich immer wieder aufmachen, um auf Jakobswegen oder Teilstrecken unterwegs zu sein.

Im Mittelalter war nach kirchlicher Lehre der Ankunftsort das Ziel. Aber über die Jahrhunderte entwickelte sich der Weg zum eigentlichen Ziel. Eine Möglichkeit, aus dem Hamsterrad des Alltags auszubrechen und sich zu besinnen. Aber egal ob Gott-Suche oder Ich-Suche, Pilger von damals und heute ähneln sich in vielfältiger Hinsicht. Menschen bewegen sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich, und sie kehren verändert zurück. Vielleicht etwas gelassener, auf jeden Fall mit weniger Vorurteilen und mit großer Dankbarkeit für die kleinen Dinge im Leben.

Während viele Menschen unserer Tage aufgrund von populären Büchern und Filmen lange Zeit glaubten, der Jakobsweg beginne irgendwo an der französisch-spanischen Grenze, haben etliche von ihnen inzwischen bemerkt: Der mit einer gelben Muschel auf blauem Grund markierte Weg verläuft auch vor der eigenen Haustür.

Wer wissen will, was Pilgern genau ausmacht, der möge nicht zu lang darüber nachdenken, sondern mache den ersten Schritt!

1 — Das Virus

Sei der Funke!

Ein kleiner Funke kann eine Explosion auslösen. Ein kleiner Funke kann aber auch ein Feuerwerk entzünden.

Wenn mich der Jakobsweg etwas gelehrt hat, dann, dass man das Glück in kleinen Dingen entdecken kann. Seitdem ich das erste Mal in Spanien gepilgert bin, nahm ich auch in Deutschland immer wieder die Pilgermuschel wahr – sie schien überall zu sein. Ich erfreute mich auch an den Entfernungsangaben. Jeder Kilometer mehr nach Santiago erschien mir nicht als Hürde, sondern als ein potentielles Geschenk.

Online entdeckte ich GPS-Tracks, so auch in meiner Wahlheimat Berlin. Nur etwa zwei Kilometer von meiner Wohnung entfernt verlief die alte römische Handelsstraße Via Imperii, die im Mittelalter von Jakobspilgern dankbar genutzt wurde. Aber von einer Markierung des Weges keine Spur.

Am 26. Oktober 2019 entschied ich mich kurzerhand, an die Parteien in meinem Berliner Wohnbezirk zu schreiben. Ich war gerade im Zug, auf der Rückfahrt von einer Dienstreise in eine kleine Stadt in Westdeutschland, in welcher der Jakobsweg wunderbar ausgeschildert war. Da ich keine Lust auf eine ­­Instrumentalisierung des Themas durch die AfD hatte, richtete ich das Schreiben ausschließlich an alle Vorsitzenden der „pro-europäischen Fraktionen“. Ich berief mich darauf, dass der Europarat den Zusammenhalt durch länderverbindende Kulturwege seit über 30 Jahren fördert. Und dass dieses Engagement für das gemeinsame Europa wichtiger sei denn je.

Der Jakobsweg wurde am 23. Oktober 1987 vom Europarat zum allerersten europäischen Kulturweg ernannt. In vielen Städten in Deutschland ist dieser Weg inzwischen mit Hinweisschildern ausgewiesen.

Doch ist dies historisch belegt? Ja. Pilger aus West- und Mitteleuropa, so auch Deutschland, gab es nachweislich seit Mitte des 10. Jahrhunderts. Die weite Verbreitung von Jakobspilgern lässt sich anhand von in Gräbern gefundenen Jakobsmuscheln erkennen. Der heilige Jakobus entwickelte sich seit dem 13. Jahrhundert insbesondere im mitteldeutschen Raum zu einem Schutzpatron für christliche Wohltätigkeit. Die Jakobusverehrung spiegelte sich insbesondere im 15. und frühen 16. Jahrhundert in den bildenden Künsten wider. Pilger waren meist auf Handelsrouten unterwegs. Zum einen wegen des Vorhandenseins von Brücken, aber auch der Möglichkeit von Lebensmittelspenden. In den Städten fanden die Pilger eine Herberge, ab dem Spätmittelalter entstanden Gasthäuser für gehobene Ansprüche. Aber auch die private Gastfreundschaft gegenüber Pilgern war aller Pflicht. Zudem gab es vermehrt Jakobusbruderschaften, die Pilger unterstützten und über die Sicherheit und das Nahrungsmittelangebot auf dem weiteren Weg informierten. Die Organisationsdichte steigerte sich im Spätmittelalter zu einem umfassenden Unterstützungsnetzwerk für Jakobuspilger. Allein im Gebiet des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation existierten etwa 500 Kirchen, die dem heiligen Jakobus gewidmet waren. Im 15. Jahrhundert wurden Hospitäler mit Jakobuspatrozinium unter anderem an der Via Regia in Naumburg, der Via Imperii in Altenburg und der Frankenstraße in Dresden gegründet.

Während der Pilgerboom in Europa nach Santiago ab dem 16. Jahrhundert stetig abnahm, wurde die Bedeutung des heiligen Jakobus in Spanien über die Jahrhunderte weiter aufrechterhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Jakobusgesellschaften auch in anderen europäischen Ländern wiedergegründet. In Deutschland erfolgte dies erst im Jahr 1987 mit Gründung der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft. Im gleichen Jahr erklärte der Europarat den Jakobsweg zur „Ersten Kulturstraße Europas“ und rief dazu auf, die Wege nach Santiago auf dem gesamten europäischen Kontinent zu identifizieren und sie mit Hilfe eines vom Europarat vorgeschlagenen Emblems zu kennzeichnen.

Die gelbe stilisierte Muschel auf blauem Grund ist inzwischen auch vielen Nicht-Pilgern bekannt – dank dem Wirken von inzwischen über 30 regionalen Jakobusgesellschaften allein in Deutschland. Die Strahlen der Muschel symbolisieren die Wege, die in Santiago zusammenlaufen.

Die Jakobsmuschel als Symbol war zuvor weitestgehend in Vergessenheit geraten. Pilger wurden in den 1980er-Jahren nur noch als bloße Wanderer gesehen, aber mitunter auch als Randständige der Gesellschaft. Sie wurden eher belächelt. Von dergleichen Spott ist heutzutage nichts mehr zu spüren, in ganz Europa hat sich wieder eine Unterstützungskultur entwickelt.

Ich plädierte in Berlin dafür, dass Tempelhof-Schöneberg Vorreiter werden und als erster Bezirk ein offizielles Jakobswegschild errichten solle. Das Schreiben endete mit dem Appell „Europäischer Zusammenhalt fängt im kommunalen Handeln an. Es wäre sehr begrüßenswert, wenn bis 23. Oktober 2020 (33. Jahrestag des Kulturweges) eine solche Ausschilderung genehmigt werden könnte.“

Einige persönliche Gespräche – und kein Jahr – später, wurde am 11. Dezember 2019 ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen CDU, SPD und Grüne mit dem charmanten Titel „2.940 Kilometer von Berlin nach Santiago de Compostela“ einstimmig von allen Fraktionen beschlossen. Dass die Kilometerangabe nicht so ganz stimmte, war nicht schlimm. Aber ich freute mich sehr über den Beschluss, der da lautete: „Die Bezirksversammlung ersucht das Bezirksamt, die Ausschilderung des Jakobsweges von der nördlichen Bezirksgrenze bei der S-Bahnstation Yorckstraße bis zur südlichen Bezirksgrenze zu Brandenburg zu erlauben und zu fördern.“

Ich führte nicht nur Gespräche Richtung Politik, sondern auch mit den eigentlich Verantwortlichen von der Jakobusgesellschaft. Hatte ich sie doch – aus Unkenntnis – in ihrer Zuständigkeit und ihrem Engagement übergangen. Aber da sich sowohl die Jakobusgesellschaft Brandenburg-Oderregion e. V. als auch die St. Jakobus-Gesellschaft Berlin-Brandenburg e. V. über Jahre an der Berliner Politik und Verwaltung die Zähne ausgebissen hatten, freute man sich über diesen Fortschritt – wer auch immer dieser Jörg Steinert war. Pragmatisch beschloss man bei unserer ersten Begegnung, mich zum Beauftragten für die Ausschilderung des Jakobsweges durch Berlin zu machen. Nun hatte ich also auch ein offizielles Mandat.

Trotz einstimmigem Beschluss im Bezirksparlament wurde dem Vorhaben nicht nur Sympathie entgegengebracht, was sich in der Aussage „Wir sind hier doch nicht in Süddeutschland“ widerspiegelte.

Aber getragen von dem Votum der Bezirksversammlung startete ich ins nächste kleine Projekt – einen Neujahrsspaziergang auf dem Jakobsweg. Bei diesem sollten erste Spenden gesammelt werden. Ich erwartete etwa 20 Personen. Mit 10 oder 15 Personen hätte ich mich aber auch schon zufriedengegeben. Es kamen aber sage und schreibe 150 Menschen. Das kleine Café „Waschküche“, in dem wir uns an diesem eisigen Wintertag treffen wollten, fasste etwa 30 Personen. Kurzerhand wurde daher eine Kaffee-Bar im Außenbereich aufgebaut, hier gab es günstigen „Pilger-Kaffee“ aus der Pumpkanne für 1 Euro. Und los ging‘s, mit viel Tamtam und begeisterten Menschen.

Ich schwärmte über das Megaphon von der spürbaren Aufbruchstimmung und der durchgehenden Ausschilderung durch den Bezirk, die nun folge sollte. Zugegeben, ursprünglich war im Brief nur von einem Hinweisschild die Rede. Aber jetzt hatten wir den Fuß in der Tür, und den wollte ich da auch nicht wieder rausnehmen.

Bereits zwei Kilometer später sprach mich eine nette Frau an, die sich als Leiterin der Gartenarbeitsschule am Wegesrand vorstellte. Und deren Außenzaun wenige Monate später ein vier Meter langes Jakobswegbanner zierte.

Nach etwa sieben Kilometern die erste überraschende Anmerkung eines Politikers, der die Jakobsweg-Ausschilderung seit meinem Brief engagiert und mit eigenen bereichernden Ideen unterstützt hatte: „Jörg, du weißt schon, dass wir nicht mehr in Tempelhof-Schöneberg sind, sondern im Nachbarbezirk Steglitz-Zehlendorf.“ Meine Nachfrage an den Kommunalpolitiker, der die Grenzen seines Bezirks anscheinend genau kannte, bestand aus nur einem Wort: „Wirklich?“, begleitet von einem verschämten Lächeln. Über den Weg dazwischen, den ich zugegebenermaßen vorher nur einmal eher oberflächlich erkundet hatte, hatte ich mir bis dahin keine Gedanken gemacht. Dieser Herausforderung wollte ich mich so nähern, wie ich es bei einer Pilgerreise tat, Schritt für Schritt, Etappe für Etappe.

Pilgertreffen in Hamburg

Mir ist ein Virus bekannt, von dem einige, nein sogar viele Menschen gern befallen sind. Wie kann das sein, verbindet man Viren doch mit Krankheiten? Ok, die Existenz dieses Erregers ist schulmedizinisch nicht nachgewiesen. Die Rede ist vom Pilgervirus, der viele Menschen glücklich und mich – im positiven Sinne – sogar süchtig gemacht hat. Auch der allgemeine deutsche Sprachgebrauch verrät, dass Pilgern mit Leidenschaft assoziiert wird. So „pilgern“ heutzutage Fans zu Popkonzerten, Fußballspielen und anderen Großevents.

Die Hamburger Jakobuskirche war brechend voll. Pilgerpfarrer Bernd Lohse hatte zum jährlichen Pilgertreffen eingeladen. Pilgerinnen und Pilger aus ganz Deutschland waren angereist. Ich war einer von ihnen. Tags zuvor fand ein ganztägiges Pilgersymposium statt. Die Vorträge zum Thema Pilgern gingen allen Beteiligten tief unter die Haut. Mit nüchterner Wissenschaftlichkeit hatte unter anderem eine Psychologin dargelegt, wie der Jakobsweg während Sinnkrisen helfen kann.

Der Begriff „Krise“ stammt vom griechischen Wort „krino“ und bedeutet in seiner ursprünglichen Form „Entscheidung“. Krisen können im Idealfall eine ­Chance zur Weiterentwicklung darstellen. Pilgern ist heute wieder genau das, was der griechische Gelehrte Hippokrates mit dem Zitat „Gehen ist des Menschen beste Medizin“ beschrieb: eine ganzheitliche Bewegungskur für Körper und Geist.

Am Ende des Symposiums stand die überspitzte These im Raum, dass Pilgern auf Rezept ein guter Baustein im deutschen Gesundheitssystem sein könnte.

Von einer derartigen Veranstaltung waren wir mit unserem relativ jungen Engagement in Berlin noch weit entfernt. An Herzblut und Leidenschaft mangelte es uns nicht. Auch hatte die aus der Europauniversität Viadrina hervorgegangene Jakobusgesellschaft Brandenburg-Oderregion bereits Bemerkenswertes für die Ausschilderung in Brandenburg geleistet, unterstützt von Privatpersonen, die ihre Türen öffnen, um Pilgern ein Dach über dem Kopf zu bieten. Aber hier in Hamburg gab es zudem einen eigenen Pilgerpfarrer samt Assistentin, deren Hauptaufgabe das Pilgerwesen war.

Im östlichen Brandenburg verlaufen ab Frankfurt an der Oder drei Jakobswege. Aus Polen kommend führen zwei Wege in westlicher Richtung – zum einen auf der Nordroute nach Bernau, zum anderen auf der Südroute nach Berlin. Eine dritte Variante führt auf dem Brandenburger Jakobsweg südwestlich bis nach Teltow, wo er auf die von Berlin kommende Via Imperii trifft. Mein persönliches Highlight ist die Pilgerherberge in der Orgelwerkstatt in Sieversdorf auf der Nordroute. ­Weitere Hinweise zu Wegen und Unterkünften finden Interessierte unter www.brandenburger-jakobswege.de

Viele strahlende Gesichter, geballtes Wissen und ein großes Gemeinschaftsgefühl verbinde ich noch lange Zeit mit diesen zwei Tagen im Februar 2020. Über das Coronavirus wurde abends in der Kneipe schon vereinzelt gesprochen. Aber das war halt mal wieder irgendeine Epidemie in Asien. Das Wort Pandemie kannten viele von uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Zurück in Berlin schrieb ich mit meinem Pilgerfreund Raffaele, der sich gerade auf den Camino de Levante in Spanien vorbereitete. Ich beneidete ihn um die 1.300 Kilometer, die er im März und April laufen wollte, aber ich freute mich auch sehr für ihn. Bald – so mein Ziel – wollte ich auch zu einem solchen Abenteuer aufbrechen und mehrere Monate auf dem Jakobsweg verbringen. Noch nicht im Jahr 2020. Aber 2021 sollte mein besonderes Pilgerjahr werden. Wie ich so viel Freizeit bekommen wollte? Ich hatte beschlossen, meinen Job nach 14 Jahren an den Nagel zu hängen. Es war nicht irgendein Job für mich. Ich empfand die Tätigkeit lange Zeit als meine Berufung. Aber so viel Leidenschaft ich für die Arbeit auch stets und immer aufbrachte, so sehr verschlang mich die Tätigkeit als Geschäftsführer einer kleinen Bürgerrechtsorganisation. Und zwar komplett. Der Funktionär Jörg funktionierte wie ein Schweizer Uhrwerk. Doch was war übrig vom privaten, vom echten Jörg? Der Jakobsweg sollte mir helfen, wieder mich selbst zu finden.

Ach, was beneidete ich Raffaele, als er mir die ersten Fotos aus Spanien schickte. Die karge Gegend, das reduziert Sein auf sich selbst. Nur laufen, essen, schlafen. Doch plötzlich war alles ganz anders.

Soldaten patrouillieren durch die Gassen von Santiago

„Meinst du, ich soll meine Pilgerreise abbrechen?“, fragte mich Raffaele. Das Coronavirus hatte Europa erreicht. Von heute auf morgen mussten wir die Bedeutung von Worten wie „Lockdown“ lernen. Aber ich riet Raffaele zu bleiben: „Du läufst doch durch eine extrem gering besiedelte Gegend. Was soll dir dort passieren? Mach weiter!“

„Weißt du, wenn ich den Leuten hier erzähle, dass ich Italiener bin, dann sind die auf einmal so distanziert.“

Hintergrund war, dass man in dieser ersten Welle der Pandemie das Virus mit keinem anderen Land so stark verband wie mit Italien, wo Tausende von Menschen innerhalb kürzester Zeit starben. Was für ein Alptraum.

„Hör auf, den Italiener heraushängen zu lassen, und lauf weiter!“, riet ich Raffaele, der seit fünfzig Jahren in Deutschland lebte. Aber mein Pilgerfreund war bereits auf der Rückreise.

Drei Tage später war die Situation in den Pilgerforen auf facebook bedrückend. Eine sehbehinderte Pilgerin, die ich einige Wochen zuvor in Hamburg kennengelernt hatte, war auf der Via de la Plata gestrandet. Sie schrieb, dass sie oft weinen müsse. Die spanische Regierung hatte inzwischen entschieden, dass alle Ausländer auszureisen hatten. Touristische Unterkünfte sollten landesweit geschlossen werden. Zugleich waren die Möglichkeiten der Rückreise inzwischen auf den Landweg beschränkt. Kein Flugzeug mehr am Himmel. Das Ganze glich einer Zombieapokalypse. Die anscheinend größte Sorge der Deutschen war zur selben Zeit, ob sie genug Toilettenpapier zu Hause hatten.

Besonders bedrückend empfand ich die Bilder aus Santiago de Compostela. Dort, wo Menschen üblicherweise voller Stolz ihre letzten hundert Meter auf dem Jakobsweg vor die Kathedrale liefen, patrouil­lierte das Militär, um Ausgangsbeschränkungen und andere Corona-Auflagen zu überprüfen. Statt dem fröhlichen individuellen Pilgerschritt herrschte der militärische Gleichschritt in Zweierreihe. Das war Krieg. Nicht zwischen Menschen, aber gegen ein ­kleines Virus.

Auslandsreisen rückten in ferne Zukunft. „Social Distancing“, noch so ein Unwort, veränderte das gesellige Miteinander, das auch auf Pilgerreisen immer ein wichtiger Bestandteil war und auch zukünftig sein sollte.

Doch warum in die Ferne schweifen? Der Jakobsweg beginnt, wie gesagt, vor der eigenen Haustür. Wenige Monate nach meiner Initiative zur Ausschilderung des Jakobsweges in Berlin eröffnete der Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg zusammen mit der Jakobusgesellschaft und mir als Initiator die erste Berliner Stempelstelle für Jakobspilger. Viele meiner Pilgerfreunde waren aus ganz Deutschland angereist, weil am gleichen Tag auch mein Buch Pilgerwahnsinn – Warum der Jakobsweg süchtig macht Buchpremiere feierte.

Inzwischen ist beim Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg auch das regionale Büchlein „Pilgerwege für Kinder und Familien“ kostenfrei erhältlich.

Ich war so stolz, dass meine Eltern, Freunde und viele Interessierte einen großen Saal im Mercure Hotel MOA Berlinfüllten. Dort wo üblicherweise ٨٠٠ Leute Platz fanden, durften jetzt 200 Leute mit großem Abstand sitzen. Zwei von ihnen waren Jessi und Nils, sie saßen direkt neben meinen Eltern. Mit dem jungen Paar hatte ich fünf Jahre zuvor meine erste Ankunft in Santiago de Compostela erlebt.

Nach der Lesung meinte Jessi, die meinen derben Humor inzwischen kannte: „Deine Mutter ist ja noch schlimmer als du.“ Was war geschehen? Als sich Mama Steinert neben die über vierzig Jahre jüngere Jessi gesetzt hatte, meinte sie plötzlich: „Oh, das hat man vorhin gar nicht gesehen.“ Als Jessi irritiert blickte, meinte meine Mutter „Na, das kleine Glück. Wann ist es denn so weit?“ Und Jessi, die nur etwas unvorteilhaft auf ihrem Stuhl saß, antwortete: „Öhm, das ist nur Pizza.“ Ich musste meine „Mugli“, wie ich meine Mutter seit meiner Jugend nannte, amüsiert sofort darauf ansprechen. Ihr war das Geschehene etwas peinlich, ich hingegen hatte vom Lachen Tränen in den Augen. Und wer hat je gesagt, dass man Pilger mit Samthandschuhen anfassen muss.

Der Jakobsweg beginnt vor der eigenen Haustür

Im 21. Jahrhundert haben Pilgerreisen häufig auf dem Flughafen begonnen. Schnell wurden noch die Schlaufen und Schnallen des großen Pilgerrucksacks gesichert, damit sie nirgendwo auf dem Gepäckband hängen bleiben. Nach Erhalt der Bordkarte musste man schließlich durch die Sicherheitsschleuse. Warten auf das Boarding. Bald war man in der Luft und hatte schließlich den Boden eines anderen Landes unter den Füßen. Fern der Heimat startete die Pilgerreise. Und spätestens, wenn man einige Wochen später wieder am Flughafen war, wusste man, dass dieses Abenteuer nun vorerst zu Ende war.

Der technische Fortschritt und das gewachsene friedliche internationale Miteinander hatten die Hürden für eine Pilgerreise gesenkt, sodass auch Menschen im Rahmen ihres regulären Jahresurlaubs eine solche unternehmen konnten. Mit strahlenden Augen kehrten sie nach drei oder mehr Wochen zurück, berichteten stolz über das Erlebte und wie sie über sich selbst hinausgewachsen waren. Sie hatten die Launen des nordspanischen Wetters ebenso kennengelernt wie Menschen aus anderen Ländern und von unterschiedlichen Kontinenten. Menschen verschiedener Generationen und Lebenserfahrung. Menschen in Krisen, die sich nicht scheuten, sich von ihrer verletzlichen Seite zu zeigen, und zugleich beeindruckend stark wirkten.

Und nun war alles ganz anders. Selbst Reisen innerhalb Deutschlands waren keine Selbstverständlichkeit mehr. Das Spazierengehen wurde auch von denjenigen wiederentdeckt, die dies zuvor eher nicht praktizierten. Das nähere Umfeld rückte verstärkt in den Fokus, statt mit dem Blick in die Ferne zu schweifen. Auch deutsche Jakobswege wurden wiederentdeckt. Wege, die Menschen im Mittelalter nutzten, um sich im wahrsten Sinne des Wortes vom Acker zu machen, um nach Rom, nach Jerusalem oder später nach Santiago de Compostela zu pilgern. Nicht drei Wochen, sondern ein ganz Jahr dauerte eine solche Reise mitunter. Sowohl der Hin- als auch der Rückweg mussten komplett zu Fuß bewältigt werden. Es lauerten Räuber. Es grassierten Krankheiten. Und zugleich war es christliche Pflicht, Pilger bei ihrer Reise zu unterstützen.

Doch wie verläuft eine Pilgerreise in Deutschland im 21. Jahrhundert? Wie finde ich den Weg? Wo gibt es Unterkünfte? Wird es Pilgerbegegnungen geben? Und was werden die Menschen in den Dörfern und Städten über mich denken? Werde ich vielleicht für einen Landstreicher gehalten?

Die Vielzahl meiner Fragen zeigt, dass eine Pilgerschaft durchs eigene Land heutzutage vielleicht das noch viel größere Abenteuer sein kann. Worauf ich mich einlassen würde, wusste ich damals nicht. Ich konnte es nur herausfinden, indem ich bereit war, den ersten Schritt zu machen.

Eine Pilgerreise ist eine Reise ins Ungewisse. Und ein Pilgerweg nimmt vor der eigenen Haustür seinen Anfang. Erst ist es ein relativ individueller Weg, und langsam kommen die ersten Wegzeichen hinzu. Andere Pilger gibt es zunächst meist nicht, doch sie können sich jederzeit dazu gesellen. Bereits im Mittelalter schlossen sich Pilger im Laufe ihrer Reise zu Gruppen zusammen, sodass sich die Pilgerströme immer weiter verdichteten. Einige Historiker plädieren daher dafür, nur in Frankreich und Spanien von „Jakobsweg“ zu sprechen. In Deutschland wäre hingegen die Bezeichnung „Wege der Jakobspilger“ angemessener – schließlich waren und sind sie bis heute oft einzeln und auf ganz unterschiedlichen Wegrouten unterwegs. Entgegen dieser historisch sicher gut begründeten Argumentation wird in diesem Buch auch in Bezug auf Deutschland die Bezeichnung „Jakobsweg“ verwendet.

2 — Zusammen von Berlin Richtung Bodensee

Neues wagen

Beim Pilgern ist man als Fremder in der Fremde unterwegs – in anderen Ländern, wo andere Sprachen gesprochen werden und neu zu entdeckende Traditionen vorherrschen. So durchschritt ich damals Spanien mit den unvoreingenommenen Augen eines Kindes und war offen für Neues.

Doch eine Pilgerreise im Ausland war angesichts der Pandemie in weite Ferne gerückt. Unsere über ein halbes Jahr im Voraus gebuchten Flüge wurden von der Fluggesellschaft storniert. Also sollte die nächste Tour ganz ursprünglich – wie früher im Mittelalter – vor der eigenen Haustür beginnen. Unsere Reise startete daher auf dem Jakobsweg entlang der alten Reichsstraße Via Imperii. Zwar würden wir nicht bis nach Santiago kommen, aber es war auch kein bloßer Wochenendausflug geplant. Fünf Wochen hatten Seyran und ich für die etwa 900 Kilometer Richtung Bodensee eingeplant.