Heimatkinder 41 – Heimatroman - Melanie Rhoden - E-Book

Heimatkinder 41 – Heimatroman E-Book

Melanie Rhoden

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Beschreibung

Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Der letzte Sonntag im März war ein prächtiger Sonnentag. Im Dorf Rottenfeld hatte der Frühling die Vorgärten der Bauernhäuser schon mit Blüten bunt gemacht. Dreihundert Meter höher, wo sich das Föhren-Gut in eine Wiesenmulde duckte, war der Boden noch nicht ganz aper, doch aus den Schneeflecken gruben sich zumindest die blassrosa Christrosen mit ihren goldenen Krönchen. Auch das Vieh in den Stallungen wurde schon ungeduldig, aber noch war der Boden tief und gefährlich. Nur die fünf Hühnerscharen verteilten sich auf den Misthaufen und die umliegenden Wiesengründe. Sie ahnten nicht, dass im strahlend blauen Himmel Raubvögel kreisten, die nach Beute ausschauten. So nahe waren Glück und Tod beisammen, doch in diesen Tagen wurden Menschen und Tiere auf dem Hof vom Sterben verschont.

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Heimatkinder –41–

Hochzeit auf dem Föhren-Gut

Roman von Rhoden Melanie

Der letzte Sonntag im März war ein prächtiger Sonnentag. Im Dorf Rottenfeld hatte der Frühling die Vorgärten der Bauernhäuser schon mit Blüten bunt gemacht. Dreihundert Meter höher, wo sich das Föhren-Gut in eine Wiesenmulde duckte, war der Boden noch nicht ganz aper, doch aus den Schneeflecken gruben sich zumindest die blassrosa Christrosen mit ihren goldenen Krönchen.

Auch das Vieh in den Stallungen wurde schon ungeduldig, aber noch war der Boden tief und gefährlich. Nur die fünf Hühnerscharen verteilten sich auf den Misthaufen und die umliegenden Wiesengründe. Sie ahnten nicht, dass im strahlend blauen Himmel Raubvögel kreisten, die nach Beute ausschauten. So nahe waren Glück und Tod beisammen, doch in diesen Tagen wurden Menschen und Tiere auf dem Hof vom Sterben verschont.

Thomas Klausen, der Herr vom Föhren-Gut, trat mit seiner Frau vor die Tür. Geradezu andächtig atmeten sie die kräftige Bergluft ein, die köstlich nach Sonne, Erde und der erwachenden Natur roch. Weder am Wohnhaus noch an den Nebengebäuden für die Dienstleute oder an den Stallungen fürs Vieh hatten Schnee, Eis und Winterstürme Schaden angerichtet.

»Vor sechs Jahren hat es hier nur eine nahezu verfallene Almhütte gegeben«, sagte Thomas und legte seinen Arm um Marthas Schultern. »Du hast damals mit deinen neunzehn Jahren den Mut aufgebracht, mit mir einen Bauernhof aufzubauen. Heute reden die Dorfleute nur noch vom Föhren-Gut.«

Martha Klausen schmiegte sich zärtlich in seinen Arm. Damit keiner von den Dienstleuten mithören konnte, flüsterte sie nur: »Mit dir hätt’ ich auch ein Schloss bauen wollen. Am wichtigsten ist mir damals gewesen, dass es darin ein Kinderzimmer geben würde.«

»Wenn aber auch schon unsere kleine Hanni unterwegs gewesen ist.« Das Gesicht des Gutsherrn strahlte in der Erinnerung vor Glück. »Außerdem bin ich auch froh, dass unser Mädchen nicht in einem Schloss, sondern auf einem Bauernhof zur Welt gekommen ist. Martha, wir zwei passen hierher, und ich weiß, dass die Hanni als glückliches Kind heranwächst: mit Kühen, Schafen, Ziegen.«

»Und Ferkeln!«, ergänzte Martha mit einem dennoch stolzen Lachen. An der Haustür war nämlich das Töchterchen erschienen, dessen ziemlich schmutziges Gesicht bestimmt in kein Schloss gepasst hätte. Sogar die goldblonden Locken waren schmierig und verklebt geworden.

Hinter der Hanni kam gleich ihre Urgroßmutter nach, die mit ihren siebenundsiebzig Jahren noch immer rüstige Sophie Steiner. Sie packte die Kleine gerade noch am Jankerärmel und vertratschte sie bei Thomas und Martha: »Ratet, wo ich eure Tochter soeben erwischt habe! Man sieht es ihr noch an: Im Schweinekoben!«

Ohne Spur von schlechtem Gewissen verteidigte sich das kleine Dirndl: »Ich hab’ doch nur nachschauen wollen, ob schon Ferkel da sind. Dabei bin ich ausgerutscht und hingefallen.«

»Wir haben dir verboten, allein in die Stallungen zu gehen!«, stellte der Vater streng fest, doch dann brachen gleichzeitig alle vier in Lachen aus, und die Sophie Steiner führte ihre Urenkelin zwecks Reinigung ins Badezimmer.

Thomas stellte nur fest: »Unser kleiner Schmutzfink sollte froh sein, dass er nicht fünf Jahre früher geboren worden ist. Damals hätten wir ihn nur im Brunntrog abwaschen können.«

Dagegen empörte sich die Martha: »So denkt vielleicht der Rabenvater. Ich bestimmt nicht! Bei diesen Frühlingstemperaturen hätte ich sie keinesfalls ins eiskalte Wasser getaucht, sondern ich hätte für sie eines gewärmt und ihr im Zuber ein Vollbad bereitet. Gegen den Geruch aus dem Saustall sogar mit einer Duftessenz!«

Dafür küsste er seine Frau auf die Wange und lobte sie: »Du bist eben eine viel bessere Mutter als ich ein Vater.«

Auch dem hätte sie gern widersprochen, doch in diesem Augenblick wurde sie von einem dumpfen Grollen, in das sich Knallen und Knattern mischte, abgelenkt. Um im Frühlingslicht besser zu sehen, schirmte sie die Augen mit der Hand ab. »Von den Kaiser-Zinken ist eine Lawine in die Hirler-Wand abgegangen. Ein Glück, dass um diese Jahreszeit noch keine Bergsteiger unterwegs sind.«

Einige Sekunden lang betrachtete Thomas das Bild seiner jungen Frau, in deren blondem Haar der Frühlingswind sanft spielte. Nie hätte er früher gedacht, dass auch hellgraue Augen ihn so zärtlich anstrahlen könnten. Als ihr Blick dem seinen begegnete, wich er ihm aus, als hätte sie ihn bei unanständigen, verbotenen Gedanken ertappt. Rasch beklagte er sein Schicksal: »Gerade jetzt hätten wir noch genug Zeit für Wanderungen, später wächst uns die Arbeit über den Kopf, und da bleibt uns wenig Zeit fürs Leben. Wenn das lange so weitergeht, wirst du mir eines Tages zu einem Bauern, Gutsherrn oder gar Schlossbesitzer im Flachland davonlaufen.«

Das befürchtete er nicht wirklich, dafür glaubte er zu sehr an die Liebe und Treue seiner Frau, sie aber verteidigte sich beinahe gekränkt: »Nicht für die halbe Welt würde ich auf ein Leben mit dir verzichten, nicht für die ganze auf das Glück mit dir und unserer Hanni!«

Gaudig schloss er: »Daran werde ich dich bei gegebenem Anlass erinnern! Jetzt aber ruft uns die Arbeit.«

Mit seiner Frau ging er durch die geräumigen Stallungen, wo das Vieh auch im Winter nicht zusammengepfercht stehen musste. Nur die Schafe drängten sich in einen Winkel, als könnten sich dann hundert von ihnen gemeinsam sogar gegen einen Bären zur Wehr setzen.

Dem scharfen Blick des Gutsherrn entging nicht der kleinste Missstand durch ein Versehen der beiden Knechte. Er schimpfte keinen von ihnen hart zusammen, sondern machte sie nur auf die Fehler aufmerksam und legte zu deren Beseitigung meistens selbst Hand mit an. Zornig wurde er hingegen, wenn er merkte, dass einer mit den Tieren derb umging. Inzwischen kontrollierte Martha Klausen die Arbeit der drei Mägde. »Alles in Ordnung«, urteilte sie, dann ging sie ins Wohnhaus, um ihr Kind und ihre Großmutter zu umsorgen.

Für die Rosa-Dirn wurde es Zeit, den Küchendienst anzutreten. Sie und die Bäuerin kochten für immerhin neun Personen, rechnete man die Hanni auch schon dazu. Gerti, mit achtzehn Jahren die jüngste Magd, fegte mit Besen und Tüchern ebenso durch das Herrschaftshaus wie durch das der Dienstleute. Für das große Osterputzen unter der Führung von Martha Klausen würde man nicht nur alle Mägde, sondern auch die beiden Knechte einspannen. In diesem Jahr sollte es ihnen bestimmt nicht mehr gelingen, sich rechtzeitig nach Rottenfeld hinunter, in den Gasthof ›Alpenglück‹, abzusetzen. Bis zum Mittagstisch grübelte nun der Thomas Klausen in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch, um den Wirtschaftsplan für dieses Jahr noch einmal zu überprüfen und zu ergänzen. Somit war jeder vollauf beschäftigt.

Erst brachten die Gerti und die Rosa das Mittagessen ins Gesindehaus, dann deckte die Hausfrau selbst im großen Zimmer den Tisch für ihre Familie. Das war eine der wenigen glücklichen Stunden, in denen alle beisammen sitzen konnten, von der Urgroßmutter bis zur Urenkelin, und an jedem Tag wünschten sie sich schweigend, beinahe ängstlich, es möge noch lange so bleiben. Nur die kleine Hanni lebte arglos in ihre sorgenfreien Kindertage hinein.

*

Für den letzten Sonntag im März planten Thomas und Martha Klausen noch einen Schiausflug auf den Mittagskogel. An der Nordseite war die Piste fast bis zweihundert Meter ans Föhren-Gut heran befahrbar, aber sie würde spätestens im nächsten Föhn brechen.

»Man muss das Glück eines jeden Tages nutzen, um es erleben zu können«, entschied Thomas. »Selbstverständlich werde ich nur fahren, wenn du mitkommst. Martha, du traust dich noch?«

Fröhlich sagte sie ihm zu: »Mit dir jederzeit, auch wenn es in die Hölle und zurück gehen würde.«

»Nach sechs Jahren Ehe noch so deppert verliebt!«, greinte dafür ihre Großmutter. »Da bindet ihr euch zwei Brettel an die Füße und rutscht damit über den Schnee herunter. Arg genug, wenn ihr euch dabei die Haxen brecht, aber um diese Jahreszeit spielt ihr mit dem Leben. Oder habt ihr die Lawinen von der Hirler-Wand nicht heruntertuschen gehört?«

Die Martha beruhigte sie noch recht lieb: »Großmutter, der Thomas ist der tüchtigste und vorsichtigste Bergkamerad, dem ich mich anvertrauen kann.«

»Aber der Berg ist allerweil noch stärker als der Mensch!«, blieb sie bei ihrer Meinung, um diese späte Jahreszeit wäre ein Schiausflug längst schon unverantwortlich. Um den jungen Leuten dennoch das Glück nicht zu verderben, erklärte sie sich nachher sogar bereit, an diesem Sonntag die Hanni zu behüten und zu bewachen. Sie betonte aber: »In den Saustall kommt mir mein Goldengerl nicht. Wenn doch, so lass ich es nie wieder ins Haus. Mir langt noch der Gestank vom letzten Mal, denn ich krieg’ ihn einfach nicht aus der Nase!«

Schilifte oder gar eine Gondelbahn auf den Mittagskogel gab es damals noch nicht, sondern vom Hof bis zur verschneiten Nordseite des Berges mussten sie ihre Schier noch geschultert tragen. Als der Thomas beweisen wollte, dass auch ein Ehemann Kavalier sein konnte, und der Martha ihre Bretteln abnehmen wolle, lehnte sie das lächelnd mit den Worten ab: »Du kannst sie gern tragen, aber erst, wenn ich mehrfache Mutter geworden bin.«

Ebenso übermütig antwortete er ihr: »Bei meiner Faulheit werd’ ich mich hüten, dafür etwas beizutragen!«

Martha Klausen lächelte still vor sich hin.

Auch der Aufstieg durch den Schnee wurde mit der Zeit recht mühsam, aber traumhaft schöne Naturbilder entschädigten sie. Am Nordabhang, wohin täglich nur ein paar Minuten Sonne fiel, waren die Bäume dick mit Raureif besetzt, in dessen Millionen von Kristallen sich das Licht in alle seine Farben zerlegte. Schwer neigten sich die Äste der Föhren unter ihrer glitzernden Last, doch sie waren so gesund, dass keine zusammenbrach. Als sie auf der runden Kuppe des Mittagskogel aus dem Wald auf eine weite Hochalm kamen, meinte sie, in ein golden durchstrahltes Paradies zu treten. Zärtlich umschlungen schauten sie über das Land, das sich tief unter ihnen schon frühlingsgrün breitete, von Bächen und einem Fluss durchschnitten. Zu ihren Füßen lag, klein wie aus Spielzeug aufgebaut, das Dorf Rottenfeld mit seiner Kirche, dem Hauptplatz, mit zwei großen und etlichen kleineren Straßen.

Plötzlich fiel es dem Thomas ein: »Wir sind über tausend Meter hoch! Da ist das Gipfelbussel fällig!«

Zum Spaß zierte sich die Martha. »Gilt nicht! Ich sehe kein Gipfelkreuz!«

Ihr Mann blieb unerbittlich. »Das Gipfelkreuz kann ich mir dazu denken!«, behauptete er. »Das Busserl will ich mir nicht einfach vorstellen, ich verlang sogar eines mit voller Leidenschaft!«

Sie gab ihm erst einen ganz sanften Kuss auf die Lippen, dann einen liebevolleren, und der dritte fiel unerwartet hemmungslos aus. Als er doch etwas überrascht dreinschaute, empfahl sie ihm: »Falls du dich schon schwach fühlst, sollten wir uns dort auf den Felsblock setzen. Komm, du wirst es nötig haben!«

Er hatte sich längst an ihre launigen Einfälle gewöhnt, also folgte er ihr noch ziemlich arglos. Er breitete seinen Anorak aus, und sobald sie saßen, verlangte sie: »Wenn wir uns schon bis hier heraufgequält haben, wollen wir den Augenblick besonders feierlich gestalten. Lege deine Arme um mich!« Als er sie nachsichtig lächelnd umschlungen hielt, sagte sie: »Jetzt küsse uns und sag: Herzlich willkommen, ihr zwei!«

»Ihr wer? Martha, hast du einen Höhenkoller, oder willst du mir am End’ sagen …, dass du wieder ein Kind bekommst!«

Sie widersprach ihm zwar, lächelte aber selig: »Nicht ich, der Doktor Gartel sagt das!«

Thomas musste erst seine völlig verwirrten Gedanken ordnen. Dann grollte er: »Der Felix Gartel erfährt das von meiner Frau früher als ich?«

»Wieder falsch«, widersprach sie ihm besonders sanft. »Ich hab’s von ihm erfahren!«

Er stieß sie von sich fort, sprang auf und rannte ein paar Schritte weg. Die Hände hielt er wie einen Trichter vor den Mund und schrie mit mächtiger Stimme übers Land: »Thomas Klausen kriegt ein Kind! Hanni Klausen kriegt ein Geschwisterl! Hannis Urgroßmutter kriegt das zweite Urenkel!«

Die Martha war hinter ihn getreten und erinnerte ihn: »Was ist mit mir? Krieg’ ich gar nichts?«

Da jubelte er gleich noch einmal so laut: »Martha, die beste Frau von Rottenfeld und dem Rest der Welt, kriegt auch ein Kind! Bei so vielen Kindern soll ich nicht narrisch werden vor Glück?«

Wer sie gesehen hätte, würde geurteilt haben: Zwei Verrückte! Die wälzten sich eng umschlungen im Schnee und lachten dazu!

Noch gut eine Stunde genossen sie das Gipfelglück auf dem Mittagskogel, dann erst fanden sie zum notwendigen Ernst zurück. Thomas wollte Martha beim Anlegen der Schier behilflich sein, was ungewöhnlich war, denn auf den Pisten und beim Klettern im Fels waren sie nichts als gleichberechtigte Kameraden. Sie wollte ihm schon gerührt danken, da gestand er heuchelnd: »Einer Schwangeren muss man jede Anstrengung ersparen!«

Daraus entwickelte sich eine Schneeballschlacht, die zur Balgerei ausartete. Erst eine weitere halbe Stunde später hatten sie sich vom Lachen wieder erholt und konnten sich endlich doch an die Abfahrt machen. Wie immer, wollte er vorausfahren, aber aus Übermut verzichtete sie auf Bogen und Schwünge und ließ die Brettel einfach laufen. Das wollte er nicht dulden, er ging in die Hocke. Außerdem hatte er seine Schier sorgfältiger gewachst als ihre. So konnte er sie wieder überholen. Der Fahrtwind brauste um ihn, er hätte schreien können im Glücksrausch! Das Brausen wurde binnen wenigen Sekunden stärker, und als er abschwang, sah er, dass sich an die hundert Meter oberhalb von ihnen eine mächtige Schneeplatte gelöst hatte, die rasend schnell talwärts glitt. Immer mehr Eis und Firn riss sie mit sich.

»Martha!«, schrie er gellend auf. Sie versuchte zwar abzuschwingen, doch sie prallte doch gegen ihn. Beinahe wären sie beide gestürzt. Er riss sie schon seitlich von dem Lawinengang auf den Wald zu. Unfassbar schnell raste der Tod auf sie zu, doch das panische Entsetzen verlieh ihm geradezu übermenschliche Kräfte. Martha stürzte nicht, er konnte sie zu einem mächtigen Felsblock bei den ersten Bäumen zerren. Dort warfen sie sich zu Boden. Nicht einmal mehr die Schier konnten sie von den Schuhen reißen, schon donnerte der breite weiße Todesfluss so nahe an ihnen vorbei, dass ihnen der Luftdruck Schneewolken ins Gesicht warf. Sie hätten nachher nicht sagen können, wie lang es gedauert hatte, bis die Schnee- und Eisbrocken liegen blieben. Nach der tobenden Hölle folgte die Stille des weißen Grabes.

Langsam getrauten sich die beiden Menschen aufzuschauen.

»Martha«, flüsterte er.

»Thomas!«

Sie sanken einander in die Arme und wurden sich nur langsam dessen bewusst, wie nahe ihnen der Tod gewesen war. Erst als die Kälte durch ihre Anoraks kroch, rafften sie sich dazu auf, die Abfahrt fortzusetzen. Über das Lawinenfeld wären sie nicht mehr weitergekommen, also fuhren sie vorsichtig im Pflug am Waldrand hinunter.

Nach einiger Zeit klagte die Martha, ihr zitterten schon die Beine, sie müsse rasten. Sie blieb nahe bei ihm stehen und schaute über die Eis- und Schneewüste hinaus, als sie plötzlich die Finger in seinen Arm verkrallte. Vor Aufregung beinahe atemlos, flüsterte sie: »Thomas, dort liegt jemand halb vergraben! Um Himmels willen!«

»Ein Schatten«, schätzte er das ein.