Heimreise auf Umwegen - Herbert Schida - E-Book

Heimreise auf Umwegen E-Book

Herbert Schida

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Beschreibung

Der Thüringer Prinz reist mit seinem Gefolgsmann Hartwig im Jahr 535 zur Hochzeit des Langobardenkönigs. Nach den Feierlichkeiten soll Hartwig eine Gesandtschaft der Langobarden ins Frankenreich begleiten. Die Reise verläuft über Vindobona (Wien), Ratisbona (Regensburg), Strateburgum (Straßburg) nach Reims. Sie ist voller Überraschungen und großer Gefahren.

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Seitenzahl: 340

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Reise von Ravenna zum Elbkniegau (s.S. →)

Inhaltsverzeichnis

Am Pelso (Plattensee)

Vindobona (Wien)

Ratisbona (Regensburg)

Strateburgum (Straßburg)

Reims in der Champagne

Athies bei Péronne an der Somme

Cabrieres im Departement Hérault

Mons im Departement Hérault

Metz am Fluss Mosel

Im Elbkniegau

1. Am Pelso (Plattensee)

Fünf Reiter zogen im Trab auf der alten Heerstraße von Ravenna in Richtung Carnuntum. Sie hatten den Pass des Birnbaumer Waldes in den Julischen Alpen überwunden und näherten sich der Kreuzung, von der sie nach Osten zur Residenz des Langobardenkönigs Wacho weiterreiten mussten. Ihr Anführer war der Thüringer Prinz Amalafred. Der Langobardenkönig Wacho hatte seine Mutter, die Thüringer Königin Amalaberga, zu seiner Hochzeit eingeladen. Nach der Flucht aus Thüringen fühlte sich die Königin zu sehr geschwächt, um die Reise von Ravenna zur Residenz des Langobardenkönigs am See Pelso (Plattensee) anzutreten. Sie schickte ihren Sohn. Ihn begleiteten die beiden treuen Thüringer Gefolgsleute Hartwig und Siegbert. Sie waren Brüder und stammten aus Rodewin, einer kleinen Siedlung nördlich des Thüringer Waldes.

Zur Mittagszeit erreichte die Gruppe eine Kreuzung. Auf einer übermannshohen Steinsäule waren die Entfernungen zu den bedeutenden Zielen entlang der Straße in römischen Meilen angegeben. Geradeaus führte die alte Heerstraße nach Carnuntum an der Donau und rechts ging es auf einem unbefestigten Weg zur Residenz des Königs Wacho, der Wachoburg.

Amalafred ordnete eine Pause an und die beiden Männer der königlichen Leibwache lösten die Proviantsäcke von ihren Packpferden. Sie breiteten die Speisen und Getränke auf einer Decke aus.

„Wie weit ist es noch bis zur Residenz des Langobardenkönigs?“, wollte Siegbert wissen.

„Du kannst es wohl nicht erwarten, uns zu verlassen“, entgegnete ihm mürrisch sein Bruder Hartwig.

„Reg dich nicht auf! Es ist nicht meine Entscheidung, euch hier zu verlassen und allein in Richtung Vindobona weiterzureiten. Ich reise im Auftrag der Königin zurück nach Thüringen und werde den Kampf gegen die Franken organisieren“, rechtfertigte sich Siegbert.

Amalafred beschwichtigt den Streit der Brüder. Ihm wäre auch lieber, wenn Siegbert bei ihnen geblieben wäre, doch sein Gefolgsmann handelte auf Anweisung seiner Mutter.

Die drei jungen Männer kannten sich schon lange. In ihrer Jugend verbrachten sie viel Zeit zusammen in Rodewin, dem Geburtsort von Hartwig und Siegbert. Prinz Amalafred konnte dort der Strenge seines Vaters am Thüringer Königshof entfliehen und erlebnisreiche Tage verbringen.

Die Schlacht an der Unstrut vor vier Jahren zwischen den Thüringern und Franken veränderte alles. Nichts war mehr, wie es war. Der Krieg brachte viel Leid über die Menschen. Die Thüringer Königin Amalaberga floh mit ihren Kindern, den Getreuen, Kriegern, Handwerkern und Bauern nach Ravenna. In Vindobona (Wien) an der Donau konnten sie nicht weiterziehen, da im Ostgotenreich Unruhen ausbrachen. Es wurde nur der Königin mit ihren engsten Bediensteten erlaubt, die Weiterreise nach Ravenna fortzusetzen. Die Krieger und Bauern, die mit ihr aus Thüringen wegzogen, mussten sich im Langobardenreich niederlassen.

„Wann werden unsere Krieger, die im Langobardenreich bei Vindobona und im Tullnerfeld zurückgeblieben sind, ins Ostgotenreich reisen dürfen?“, wollte Siegbert von Amalafred wissen.

„Das ist schwer zu sagen. Es hängt davon ab, wer dort die Oberhand gewinnt. Es ist noch nicht entschieden ob sich die frankenfreundlichen oder kaisertreuen Fürsten im Ostgotenreich durchsetzen“, erklärte Amalafred.

„Ich denke, dass die Würfel bereits gefallen sind“, wandte Hartwig ein.

„Wieso?“, fragt Amalafred verwundert.

„Nach dem Tod des minderjährigen Ostgotenkönigs Athalarich wurde die politische Lage im Ostgotenreich instabil. Die frankenfreundlichen Fürsten wollten die Thüringer nicht bei sich haben, obwohl die ostgotische Regentin Amalasuntha Hilfe zugesagt hatte.“

„Das ist richtig, doch nun ist Theodahad ostgotischer König und er hat sich noch nicht eindeutig für die eine oder andere Seite entschieden“, erklärte Amalafred.

„Was ist, wenn er sich auf die Seite der Franken schlägt?“, wollte Siegbert wissen.

„Das wäre schlecht für uns. Meine Mutter müsste zu dem Kaiser in Konstantinopel oder den Langobarden fliehen. Ihr Leben wäre im Ostgotenreich in Gefahr und es könnte ihr so ergehen, wie ihrer Kusine Amalasuntha, die im Bad ermordet wurde“, erklärte Amalafred.

„Ich habe gehört, dass dein Onkel Theodahad hinter dem Mordanschlag stand?“, bemerkte Siegbert.

„Das ist durchaus denkbar. Seine Frau konnte Amalasuntha nicht ausstehen und wird die treibende Kraft bei der abscheulichen Tat gewesen sein.“

Die beiden Krieger der Leibwache hatten ein Feuer angezündet und hielten Eisenspieße mit Fleischstücken darüber. Der Duft war verführerisch. Hartwig reichte einen Schlauch mit Rotwein herum. Jeder trank davon und die Männer verschlangen hastig die gegrillten Fleischstücke.

„Wie steht Theodahad zu seiner Schwester, deiner Mutter?“, wollte Siegbert wissen.

„Ich weiß es nicht!“, bemerkte Amalafred unsicher.

„Ein gutes Verhältnis scheint er nicht zu seiner Schwester zu haben, sonst hätte er die Königin gleich bei ihrer Ankunft in Ravenna besucht.“, erklärte Hartwig.

Amalafred konnte die Argumente seines Gefolgsmannes Hartwig nicht entkräften. Beide waren sie zu einer Audienz in der Residenz des Ostgotenkönigs. Theodahad versprach seinem Neffen, dass er die Thüringer Königin in ihrer Villa am Stadtrand besuchen wollte, doch er ließ sich nicht sehen. Der Prinz war froh, dass er zu der Hochzeit von König Wacho reisen durfte. Das Leben in Ravenna war ihm zu langweilig geworden. In Vindobona bei den Thüringer Kriegern würde er sich wohler fühlen und auch die Langobarden waren ihm angenehmer als die Ostgoten. Es wäre ihm lieber, wenn die Königin ins Langobardenreich zu ihren Leuten zurückkehrte und bei ihnen bliebe. Der Langobardenkönig Wacho hatte allen Thüringern in der Umgebung von Vindobona großzügig Land zugewiesen, welches sie bewirtschaften konnten und ihre Krieger durften sich seinen Heerzügen nach Illyrien anschließen und reiche Beute machen. Diese Möglichkeiten gab es im Ostgotenreich nicht.

Die Gruppe brach auf und Siegbert verabschiedete sich. Keiner wusste, ob und wann sie sich wiedersehen werden. Siegberts Auftrag war gefährlich. Er sollte die Rebellen im Thüringer Gebiet organisieren und anführen.

Auf der alten römischen Heerstraße, die von Ravenna nach Carnuntum (Petronell) führte, zog er allein weiter. Die Straße war ein Teil der Bernsteinstraße. Sie verlief von Venedig bis zur Ostsee. Es war ein alter Handelsweg, auf dem der begehrte Bernstein transportiert wurde. Aus dem harzigen Stein fertigten die Handwerker von Venedig Schmuck für die wohlhabenden römischen Frauen.

Amalafred, Hartwig und die beiden Wachleute ritten nach Osten in Richtung des Sees Pelso (Plattensee). Sie kamen in ein dichtes Waldgebiet. Der Weg wurde eng und sandig. Er war nicht ausgebaut, wie sie es von den Römerstraßen kannten.

Hartwig ritt neben dem Prinzen. Amalafred beobachtete ihn von der Seite. Sein Gefolgsmann machte einen traurigen Eindruck. Hungrig konnte er nicht sein und schlecht geschlafen hatte er auch nicht. Wieso blickte er düster drein?

„Hättest du deinen jüngeren Bruder gern nach Hause begleitet?“, fragte er ihn.

„Es sind viele Monde vergangen, seitdem ich meine Frau und die Kinder zum letzten Mal sah. Gern würde ich sie in die Arme schließen“, antwortete Hartwig betrübt.

„Wenn die Ostgoten eines Tages unseren Leuten in Vindobona erlauben, nach Italien weiterzureisen, kannst du heim zu deiner Familie reiten. Solange brauche ich dich in meiner Nähe.“

„Vielleicht wollen die Thüringer gar nicht mehr aus Vindobona weg. Ihnen gefällt es dort und König Wacho hat ihnen seinen Schutz zugesichert.“

„Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn sie im Langobardenreich ansässig würden. Meine Mutter denkt leider anders darüber“, gab Amalafred bedauernd zu.

„Einige der ostgotischen Fürsten wollen sich den Franken anschließen. Wenn das passiert, kämen wir vom Regen in die Traufe“, erklärte Hartwig.

„Ich hörte, dass der oströmische Feldherr Belisar bereits in Sizilien gelandet ist. Sein Kaiser wird niemals zulassen, dass sich die Franken in Italien breitmachen.“

„Mit dem oströmischen General ist nicht zu spaßen“, bestätigte Hartwig.

„Das denke ich auch. Wenn sich die Ostgoten mit den Franken verbünden, kommt es zum Krieg in Italien.“

„Das sind keine guten Aussichten. Wie wird deine Mutter darauf reagieren?“

„Es ist schwer zu sagen. Vielleicht hat sie schon bereut, in Ravenna Schutz vor den Franken zu suchen.“

„Ich denke, dass sie in Vindobona sicherer wäre. Der Langobardenkönig bot ihr seine schützende Hand an.“

„Du kennst meine Mutter. Sie hatte sich vorgenommen in ihre Heimat zurückzukehren und da gibt es nichts, was sie umstimmen könnte.“

Amalafred und Hartwig seufzten zur gleichen Zeit. Sie wussten, wie stur und eigenwillig die Thüringer Königin sein konnte.

Im letzten Jahr hatten sich unglaubliche Dinge ereignet. Nach der Ermordung des Thüringer Königs, lebte seine Frau Amalaberga in ständiger Angst. Sie war in Ravenna aufgewachsen und glaubte, nur dort vor den Franken sicher zu sein. Die Zeiten hatten sich jedoch geändert. Zu lange war sie weg aus ihrer Heimat. Ob die Thüringer Königin Schutz für sich und ihr Gefolge bei ihrem Bruder Theodahad finden konnte, war ungewiss. Der neue Ostgotenkönig galt als wankelmütig in seinen Entscheidungen. Die Geduld bei den ostgotischen Fürsten schien an ihre Grenzen zu stoßen. Einige dachten daran, den König zu stürzen und einen neuen zu wählen. In dieses Wespennest war die Thüringer Königin Amalaberga sehenden Auges geraten. Eine Sicherheit für ihr Leben und das ihrer Kinder gab es nicht. Prinz Amalafred war die Situation bewusst, doch er konnte sich nicht gegen seine Mutter stellen. Er musste ihr gehorchen.

Ein Ochsenkarren war in der Ferne auf dem schmalen Weg zu sehen. Auf dem Karren saß ein kleiner Mann, der ohne Unterlass mit seiner langen Gerte auf das Gespann einschlug. Die Tiere reagierten nicht auf die Hiebe und trotteten langsam weiter. Seit Tagen hatten sie keinen Menschen in der einsamen Gegend getroffen.

„Ich frage den Mann nach dem Weg, ob wir hier richtig sind“, sagte Hartwig und galoppierte auf das entgegenkommende Fuhrwerk zu.

Amalafred ritt ruhig im Schritt weiter und wunderte sich, dass sein Freund heftig auf den Ochsentreiber einredete und dieser nicht darauf reagierte. Der Mann auf dem Wagen schien den Thüringer nicht zu verstehen. Hartwig wurde wütend und schrie den Ochsentreiber unentwegt an. Der ließ sich nicht beirren und trieb seine Zugtiere mit der Gerte vorwärts. Amalafred blieb mit den Wachleuten und Packpferden auf dem Weg stehen.

„Was ist los?“, rief er Hartwig von weitem zu.

„Der Kerl will mir nicht sagen, wo es zur Wachoburg geht.“

„Lass ab von ihm. Er wird seine Stimme verloren haben.“

Hartwig näherte sich vorsichtig dem Ochsentreiber. Der hockte sprungbereit auf dem Karren und drohte ihm.

„Beruhige dich, ich will dir dein Gespann nicht wegnehmen. Wenn du nicht sprechen kannst, nicke.“

Der Mann nickte heftig. Es war ein Wunder, dass sein Kopf nicht von der Schulter fiel. Er riss den Mund weit auf und brachte nur undeutliche Laute hervor. Ihm fehlte die Zunge.

„Wir wollen zum König Wacho. Führt dieser Weg dorthin?“, fragte Hartwig.

Der Ochsentreiber sprang vom Karren und ritzte ein paar Linien mit seiner Gerte in den Sand des Weges. Als er fertig war, fiel er auf die Knie und verbeugte sich fortwährend, dass seine Stirn den Boden berührte. Verwundert sahen die Thüringer ihm zu.

„Was wird er wohl meinen?“, fragte Amalafred.

„Er will uns den Weg beschreiben. Die Verzweigungen, die er aufgemalt hat, sind die Wegkreuzungen. Fünf müssen noch kommen und es ist zu sehen, welchen Abzweig wir nehmen müssen. Am Ende hat er ein Tor angedeutet. Das müsste die Königsresidenz sein. In diese Richtung verbeugt er sich dauernd.“

Hartwig ging zu dem Mann und hob ihn auf die Füße.

„Wir haben dich verstanden. Du bist gar nicht so blöd, wie es den Anschein hat.“

Der Ochsentreiber grinste und riss wieder seinen Mund weit auf. Hartwig gab dem armen Wicht einen Apfel aus seinem Proviantsack. Der freute sich darüber und hörte mit dem Verbeugen gar nicht mehr auf, bis sie die Wegbiegung erreichten.

Am Tag darauf kamen ihnen zwei Frauen entgegen, die riesige Reisigbündel auf dem Rücken trugen. Sie bestätigten den Thüringern, dass sie auf dem richtigen Weg waren.

Je näher sie der Residenz des Langobardenkönigs kamen, umso mehr Menschen begegneten ihnen. Kleine Siedlungen waren zu sehen. Der Weg wurde breiter. Bauern sagten ihnen, dass der Königssitz nur einen halben Tagesritt entfernt lag. Hartwig hielt Ausschau nach einer Herberge. Sie wollten ausgeruht vor dem Langobardenkönig erscheinen. In einer Siedlung fragten sie nach einer Unterkunft. Die Leute zeigten auf ein schilfbedecktes Haus in der Nähe der Straße.

Ein gefährlich aussehender, großgewachsener Mann stand vor der Eingangstür und winkte ihnen zu, einzutreten. Es war der Wirt der Herberge, die als solche nicht erkennbar war. Zwei Sklaven bemühten sich um die Pferde und führten sie in den Stall.

„Können wir bei dir übernachten?“, fragte der Prinz.

„Sehr gern, ihr Herren!“, antwortete der Wirt und zeigte ihnen den Raum, in dem sie schlafen konnten. Die Leibwächter blieben bei den Pferden im Stall und wurden dort von den Sklaven versorgt. Amalafred und Hartwig nahmen in der leeren Gaststube Platz. Die Wirtin brachte verdünnten Wein und fragte, was sie essen möchten.

„Bring uns von dem, was ihr auf dem Feuer habt. Es riecht gut“, sagte Amalafred und holte tief Luft.

Vom Wirt erfuhren sie Neuigkeiten über die Hochzeit des Königs. Es sollte ein großes Fest werden, wie es noch niemand im Langobardenreich erlebt hatte. Das Volk war froh, dass Wacho die junge Herulerin Silinga zur dritten Frau nehmen wollte und sie wünschten ihm Kindersegen. In seinem betagten Alter brauchte er unbedingt einen Sohn als Nachfolger.

Amalafred und Hartwig hörten dem Wirt aufmerksam zu. Das schien ihn anzuspornen. Er versuchte, sein ganzes Wissen über die neue Verbindung im Königshaus loszuwerden.

„Ich bin ein Heruler“, sagte er stolz und schlug sich mit der Faust auf die Brust.

Der Wirt sah seine beiden Zuhörer plötzlich ernst an.

„Seid ihr Langobarden?“, fragte er misstrauisch.

„Wir sind Thüringer!“, erwiderte Hartwig. Der Wirt beugte sich zu ihnen hinunter.

„Das ist gut, denn jetzt werde ich euch etwas sagen, was nicht jedem hier gefällt.“

Vorsichtig sah er nach links und rechts als wären noch andere Gäste im Raum, die ihm zuhören könnten.

„Mein Volk wurde nach der verlorenen Schlacht gegen die Langobarden in alle Winde verstreut. Ein Teil blieb hier und trägt die Schmach der Niederlage. Wacho braucht unsere tapferen Krieger für seine Feldzüge. Keiner kann es mit ihnen aufnehmen. Sie sind gefürchteter als die Hunnen. Manche Langobarden sagen, dass wir rauflustig wären und man uns lieber aus dem Weg gehen sollte. Sie haben Recht!“

Der Wirt wollte nicht mehr aufhören, zu reden. Hartwig und Amalafred erfuhren verschiedene Dinge über die schwelenden Streitigkeiten zwischen den Volksgruppen.

„Da ihr Thüringer seid, kann ich euch vertrauen. Wir sind nur ein geduldeter Stamm im Langobardenreich. Es geht uns wie euch mit den Franken.“

„Was weißt du darüber?“

„In einem Gasthaus werden so manche Dinge erzählt, die nicht für jedermanns Ohren bestimmt sind. Mir wurde berichtet, dass ihr euch gegen die Franken tapfer wehrt. Wir haben den Widerstand aufgegeben.“

Die Thüringer blieben noch eine zweite Nacht und zogen ausgeruht zur Residenz des Langobardenkönigs weiter. Unterwegs trafen sie Bauern, die frisches Gemüse und Obst in die königliche Küche oder zum Markt brachten. Ihre Ochsenkarren hinterließen tiefe Spuren in dem unbefestigten, sandigen Weg. Eine leichte Brise wirbelte den Sand in die Höhe und ließ die Wagenkolonne wie eine ockerfarbene Schlange aussehen. Sie näherten sich dem Stadttor. In beide Richtungen drängten sich die Menschen und Karren hindurch. Niemand kontrollierte sie. Die Kleidung der Thüringer war mit einer Staubschicht überzogen.

„Suchen wir uns ein Quartier. Beschmutzt können wir nicht vor den König treten“, bestimmte Amalafred.

„Wacho wird es nicht stören! Soll er sehen, dass wir bemüht sind, rechtzeitig auf seiner Hochzeit zu erscheinen“, meinte Hartwig gelassen.

„Die ist erst in zwei Tagen“, ergänzte der Prinz.

Es war nicht leicht eine Unterkunft zu finden. Zahlreiche Gäste kamen aus allen Teilen des Reiches und es gab nur wenige freie Schlafplätze in den Herbergen. Nach langem Suchen fanden sie am Stadtrand ein kleines Gasthaus, das noch einen freien Raum unter dem Schilfdach hatte. Kritisch betrachteten die Thüringer die Unterkunft.

„Da waren wir gestern bei dem Heruler besser untergebracht. Dies ist eher ein Quartier für Rossknechte. Uns wird das Ungeziefer in der Nacht auffressen“, bemerkte Amalafred missgelaunt.

Er sah in jede Ecke des Dachbodens und rümpfte die Nase.

„Nehmen wir es. Später können wir uns eine bessere Herberge suchen.“

Der Wirt verlangte das Zehnfache von dem, was sie dem Heruler für die letzten Nächte gezahlt hatten. Die beiden Wachleute waren im Pferdestall untergebracht.

Amalafred und Hartwig ritten zum Königshof. Ein Beamter kam auf sie zu und fragte nach den Namen. Als er erfuhr, dass es sich um Prinz Amalafred aus Thüringen und seinem Gefolgsmann Hartwig handelte, wurde er rege. Er rief nach den Pferdeknechten, die sich um die beiden Schimmel der Thüringer kümmern sollten und bat die Gäste, ihm zu folgen.

Hartwig flüsterte Amalafred zu: „Wenn schon unser Quartier bescheiden ist, scheint man dich zumindest hier erwartet zu haben.“

Der Palast war kleiner und verwinkelter als der des Ostgotenkönigs in Ravenna. Kreuz und quer ging es treppauf und treppab. Am Ende eines langen Ganges gelangten sie in eine große Halle. Da sollten sie warten. Der Beamte schlüpfte durch eine kleine Seitenpforte. Es dauerte nicht lang und eine große Tür wurde aufgestoßen. Wacho lief mit ausgebreiteten Armen auf Amalafred zu.

„Es freut mich, euch zu sehen. Wann seid ihr angekommen?“

Die Thüringer verbeugten sich respektvoll vor dem König der Langobarden.

„Vor kurzem! Wir haben uns zuerst ein Quartier in der Stadt gesucht“, antwortete Amalafred.

„Das kommt nicht in Frage. Ihr seid meine Ehrengäste und werdet bei mir in der Residenz wohnen. Fühlt euch hier wie zu Hause. Wir sehen uns heute Abend beim Essen.“

Der König war im Begriff zu gehen als er plötzlich stehen blieb und Amalafred ansprach: „Morgen früh will ich zur Jagd ausreiten und würde mich freuen, wenn ihr mich begleitet.“

Die Thüringer waren von dem begeisterten Empfang durch den König überwältigt. Sie hatten Wacho schon in Carnuntum kennengelernt und wussten, dass er spontan und einnehmend war. Die Einladung nahmen sie gern an. Der König nickte ihnen freundlich zu und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

Der Beamte, der sie hierhergeführt hatte, befahl einem Diener, die Gäste in ihr Quartier im Palast zu geleiten. Er war kleinwüchsig mit kahlrasiertem Haupt. Flink schritt er durch einen langgedehnten Seitenflügel des Gebäudes. Es folgte ein Gang, der zur Hofseite offen war. Am Ende begann der Wohntrakt für den König. Seine höheren Beamten und Gäste waren in einem Seitenflügel der Residenz untergebracht.

Hier sollten die Thüringer wohnen. Hartwig war von der Ausstattung der Räume begeistert.

„Das ist etwas anderes als die Herberge am Stadtrand“, rief er freudig aus.

Er ging auf die Terrasse. Sie befand sich auf der Südostseite des Palastgebäudes und war mit weißem Marmor ausgelegt.

„Komm zu mir Amalafred! Von hier aus kannst du den Pelso sehen. Ist das ein schöner Blick. Hier lässt es sich leben. Der See ist einfach überwältigend. Sieh nur, die Boote und Fischer mit ihren Netzen. Da drüben galoppiert eine Herde Pferde am Strand entlang und links vom See sind ein paar Weinberge.“

„Ich habe dich selten so begeistert gesehen. Würdest du gern hierbleiben, wenn die Hochzeit vorbei ist?“, scherzte Amalafred.

Hartwig ließ sich durch die spöttische Bemerkung seines Freundes nicht die Laune verderben. Sein Platz war bei dem Prinzen. Ihm hatte er die Gefolgschaft zugesagt und war durch seinen Treueeid an ihn gebunden. Nur dann, wenn der Prinz ihn freigeben würde, könnte er zu seiner Familie in die Heimat zurückkehren.

Amalafred sah sich die übrigen Räume an. Es waren drei Zimmer, die durch offene Türen miteinander verbunden waren. Der Stil erinnerte ihn an die römische Villa des Fürsten Audoin in Carnuntum. Zufrieden ging er zu seinem Freund auf die Terrasse und sagte mit einem zynischen Unterton: „Hast du dich an dem Wasser endlich satt gesehen?“

Hartwig störte es, dass Amalafred die Schönheit dieser Aussicht nicht wie er empfand.

„Ich werde unsere Sachen aus der Herberge holen“, sagte er in sachlichem Ton und lief eilig zur Tür.

Im Gang stand der Diener und schien sich zu langweilen. Er sah über die Brüstung in den Hof hinab und beobachtete wer ankam.

„Ich will unser Reisegepäck aus der Herberge holen“, sagte Hartwig zu ihm.

„Das braucht ihr nicht, ich tue das für euch. Solange ihr Gast des Königs seid, werde ich alles für euch erledigen. Sagt mir nur, in welcher Herberge ihr abgestiegen seid.“

Umständlich versuchte Hartwig dem Mann zu erklären, wie sie mittags zu dem Quartier gelangten. Der Diener schien zu wissen, wo das war und versprach mit den Sachen und den beiden Wachleuten bald hier zu sein. Inzwischen sollten sie es sich gemütlich machen. Es erschien eine hübsche Sklavin mit einem Tonkrug. Sie schenkte den Gästen kühlen Wein ein. Hartwig nahm seinen Becher und setzte sich auf die Marmorbank neben der Tür.

„Jetzt geht es mir richtig gut!“, rief er laut und prostete Amalafred zu. Verhalten kostete der Prinz von dem Rebensaft und dachte an seinen letzten Rausch in Ravenna.

„Ich trinke lieber Wasser. Der Wein ist mir zu stark und vernebelt meine Gedanken“, bemerkte Amalafred.

„Tu, was du nicht lassen kannst. Ich werde dieses göttliche Getränk nicht verschmähen“, erwiderte sein Freund.

Hartwig holte den Krug und stellte ihn auf den gefliesten Boden.

„Wenn du nichts davon haben willst, trinke ich eben allein.“

Er goss sich seinen Becher erneut voll und trank ihn in einem Zuge aus.

Amalafred hatte nach der Sklavin gerufen und sich Wasser bringen lassen. Beide saßen schweigend auf der Terrasse und blickten über den See. Es kam, wie es kommen musste. Der Wein war zu stark und Hartwig sank nachdem er den Krug allein geleert hatte, in sich zusammen. Amalafred lächelte und legte ihn auf die Steinbank. Er hatte es geahnt und ließ seinen Freund schlafen.

Der Diener war zurückgekommen und ein paar Sklaven trugen das Gepäck der Thüringer. Sie stellten es im Eingangsraum ab.

„Wo sind meine Leibwächter untergebracht?“, wollte Amalafred wissen.

„Bei den Pferden in den Ställen. Soll ich sie holen?“

„Das brauchst du nicht. Sieh nach ihnen, dass sie alles haben, was sie benötigen.“

„Dafür sorge ich und wenn ihr noch etwas braucht, ruft nach mir. Ich bin sofort da“, antwortete dienstbeflissen der Diener.

„Du könntest mir das Gebäude zeigen, solange mein Gefolgsmann seinen Rausch ausschläft“, sagte Amalafred. Der Diener sah zu dem Weinkrug und lächelte.

„Diesen Tropfen aus unserer Gegend darf man nicht wie Wasser trinken. Schon ein paar Becher legen den stärksten Mann flach.“

„Du sagst es! Lass uns jetzt gehen!“

Sie liefen zu der Steintreppe am Ende des Ganges und kamen in den Hof. Amalafred wollte die Ställe sehen. Die Pferde waren gut untergebracht. Knechte versorgten die Tiere, die sich in Boxen frei bewegen konnten. In einem Raum, in der Nähe der Stallungen fand er seine beiden Krieger. Sie saßen da und würfelten, um die Langeweile zu vertreiben. Als sie Amalafred erblickten sprangen sie von ihren Schemeln auf. Der Prinz deutete ihnen, sich nicht stören zu lassen und schritt weiter zu dem Küchentrakt, der sich unterhalb des großen Saals befand. Unzählige Bedienstete mühten sich dort um die zeitgerechte Fertigstellung der Speisen für das Abendessen. Es wurden Hühner, Enten und Gänse gerupft, Gemüse gereinigt und geschnitten und die Bratenspieße regelmäßig gewendet, damit das Fleisch saftig blieb und nicht anbrannte. Ein Koch gab hier die Befehle. Er war sehr umsichtig und wusste, was ein jeder zu tun hatte. Wer trödelte bekam von ihm Schelte. Der Prinz setzte sich auf ein Fass und sah eine Weile dem emsigen Treiben zu. Er erinnerte sich daran, wie er in Rodewin die Ameisen beobachtete und sich darüber wunderte, dass jede von ihnen wusste, was ihre Aufgabe war. Den Diener schickte Amalafred zurück.

Inzwischen packte die Sklavin die Reisesäcke der Thüringer aus. Sie verstaute die Sachen in den dafür vorgesehenen Regalen. Die Kleidungsstücke schüttelte sie aus und legte sie ordentlich zusammen. Sie rochen nicht angenehm und hatten den Geruch der letzten Herberge angenommen. Aus einem Weidenkorb entnahm sie kleine Beutel, in denen sich getrocknete Lavendelblüten befanden. Diese legte sie zwischen die Kleidung.

Auf der Terrasse schlief Hartwig und schnarchte leise. Als die Sklavin mit ihrer Arbeit fertig war, ging sie zu ihm und beobachtete den Schlafenden. Sie holte eine Decke, rollte sie zusammen und legte sie unter seinen Kopf. Da niemand in ihrer Nähe war, betrachtete sie den Fremden genau. Ihr gefiel das lange Haar, das wellig zur Seite herabfiel. Langsam kniete sie nieder und strich vorsichtig durch seine goldglänzenden Locken. Ihre Finger berührten Hartwigs Gesicht. Seine Haut war weich und hell. Die Lippen vibrierten vom leisen Schnarchen und sie amüsierte sich darüber.

Die junge Sklavin stammte aus Illyrien. Vor einigen Jahren fielen die Langobardenkrieger auf einem ihrer Kriegszüge in dem kleinen Bergdorf ein und verschleppten die arbeitsfähigen Bewohner in die Sklaverei. Im Palast lebten mehrere aus ihrer Heimat und alle hatten schwarze Haare. Einen Blondschopf wie diesen, der vor ihr auf der Bank lag, hatte sie noch nie gesehen. Der Mann schien, wie ein Wesen aus einer anderen Welt zu sein. Verzückt ließ sie die Strähnen durch ihre Finger gleiten.

„Was machst du da!“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Erschrocken sprang sie auf. Der Prinz war unbemerkt zurückgekommen und hatte sie eine Weile beobachtet. Sie wollte davonlaufen.

„Bleib hier, du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“

Amalafred ging auf die junge Frau zu.

Er fasste nach ihrer Hand. Sie zitterte am ganzen Leibe.

„Wovor fürchtest du dich? Hast du etwas Schlimmes getan?“

„Nein, Herr! Ich habe eurem Gefolgsmann nur durch das Haar gestrichen.“

„Willst du meinen Freund verzaubern?“

„Oh nein, Herr, das will ich nicht!“

„Soll ich das glauben?“

„Es ist die Wahrheit, Herr.“

Amalafred blickte ihr tief in die Augen.

„Ich habe dich eine Weile beobachtet und deinen Zauber gespürt“, sagte Amalafred zu der ängstlichen Frau.

„Wieso?“, fragte sie erschrocken und sah ihn mit ihren großen Augen an.

„Ich denke, du hast mein Herz berührt.“

Er griff nach ihrer Hand und zog die Sklavin in den Raum, in dem zwei Liegen standen. Amalafred setzte sich auf eine Marmorbank und deutete ihr mit einer Handbewegung an, sich im Kreis zu drehen.

„Zeig, wie du tanzen kannst!“, sagte er bestimmend.

Die Sklavin konnte seine Wünsche erahnen und drehte sich langsam vor ihm im Kreis.

„Zieh dich langsam aus!“

Am liebsten wäre die Sklavin fortgelaufen, doch sie traute sich nicht. Ihr war befohlen worden, den Wünschen der Gäste in allem nachzukommen. Bei ihrem Tanz ließ sie Stück für Stück ihres Gewandes fallen. Der Prinz genoss den Anblick in vollen Zügen.

Da kam Hartwig in den Raum.

„Was macht ihr da?“, stammelte er schlaftrunken.

Der Prinz erwiderte barsch: „Wie kannst du mich in diesem schönen Moment stören!“

„Ich habe Hunger. Kommst du mit in die Küche.“

Amalafred gab der Sklavin ein Handzeichen, dass sie sich entfernen durfte. Sie sammelte eilig, die am Boden liegenden Kleidungsstücke auf und verschwand.

Hartwig zog Amalafred am Ärmel von der Bank hoch und schob ihn vor sich her zur Tür.

„Weißt du, wo die Küche ist?“, fragte er ihn.

„Sie ist nicht weit von hier. Ich war schon dort!“, entgegnete der Prinz verärgert.

Er ging voran und sie kamen zu dem großen Küchentrakt. Amalafred setzte sich an den kleinen Tisch, der am Eingang stand. Hartwig sah interessiert dem Treiben zu. Es dauerte nicht lange und der Koch kam zu ihnen und fragte im mürrischen Ton, wer sie seien. Als er hörte, dass er den Thüringer Prinz und seinen Gefolgsmann vor sich hatte, wurde sein Gesichtsausdruck schlagartig freundlich. Er schrie etwas Unverständliches in die Küche und zwei Mägde eilten mit allerlei Essbarem herbei. Sie stellten einen Krug Wein auf den Tisch, den die Thüringer höflich ablehnten. Sie stillten ihren Durst mit Brunnenwasser. Hartwig und Amalafred ließen es sich schmecken. Nachdem sie sich gestärkt hatten, gingen sie zu Fuß in die Stadt und besahen sich die Läden der vielen Handwerker. Es war sehr warm. In den Gassen wimmelte es von Menschen. Viele Fremde, die zur Hochzeit angereist waren, nutzten die Gelegenheit zum Einkaufen. Begehrt waren vor allem Schmuck, Waffen und bunte Stoffe. Die meisten Waren wurden in den königseigenen Fertigungsstätten im Lande von Sklaven erzeugt. Viele Handwerker stammten aus Illyrien, wo Wacho, mit Erlaubnis des Oströmischen Kaisers Justinian, jährlich ein- oder zweimal einfiel und Aufstände niederschlug. Als Beute führte er die Rebellen als Sklaven in sein Reich. Viele von ihnen behielt er selbst. Sie waren gute Handwerker und mussten in seinen Werkstätten unter schweren Bedingungen arbeiten. Wenn einer floh, ließ er ihm die Füße verstümmeln damit er nicht mehr davonlaufen konnte.

Viele Händler in der Stadt kauften die Waren in den königlichen Fertigungsstätten auf und verkauften sie zu einem erhöhten Preis auf dem Markt. Daneben gab es auch freie Handwerker, die ihre eigenen Produkte anboten und an den Markttagen oder zu königlichen Festen gute Geschäfte machten.

Amalafred hatte bei einem Silberschmied einen schön ziselierten Armreif erstanden.

„Für wen soll der sein?“, fragte Hartwig neugierig, obwohl er sich denken konnte, wer die Glückliche war.

„Das geht dich nichts an!“, erwiderte Amalafred grinsend.

„Ist er für die schöne Sklavin, die dich mit ihrem Tanz bezirzt hat?“, fragte sein Freund lachend.

Amalafred tat als hätte er die Bemerkung von Hartwig nicht gehört und steckte den Reif schnell in seine Gürteltasche.

Sie gingen auf dem gleichen Weg zurück zur Residenz. Am Eingang zum Hof lief der Diener ungeduldig hin und her.

„Ihr Herren, der König erwartet euch zum Abendessen. Ihr dürft nicht zu spät erscheinen.“

„Es ist noch genügend Zeit“, erwiderte Hartwig gelassen.

„Ihr müsst euch umziehen, verehrte Herren!“

„Und das Gesicht waschen“, ergänzte Amalafred scherzend.

„Oh je, oh je!“, jammerte der Diener und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Er war verantwortlich, dass die beiden Thüringer pünktlich an der königlichen Tafel erschienen.

„Du kannst uns das Bad zeigen und saubere Gewänder bringen. Spute dich!“, erwiderte Hartwig in spaßigem Ton.

Der Diener lief in kleinen Schritten voran. In der Residenz gab es ein eigenes beheiztes Bad, das auch die Beamten und die Dienerschaft nutzen durften. Es stammte von den Römern und die Wände waren mit weißen Marmorplatten verkleidet. Sie waren allein im Bad. Die Thüringer genossen nur kurz das warme Wasser und die Ruhe.

Der Diener kam mit der sauberen Kleidung. Er half ihnen beim Ankleiden und informierte sie über die Gewohnheiten beim Abendessen mit dem König.

„Wir haben schon mit ihm zusammen in Carnuntum gespeist und wissen, was an der Tafel üblich ist“, entgegnete Hartwig lachend.

„Ihr kennt aber nicht die Braut des Königs. Sie ist resolut in ihrer Art und wenn ihr etwas nicht gefällt, verstummen sogar die alten Gefolgsleute des Herrn. Seid vorsichtig mit dem, was ihr sagt! Die junge Herrin ist sehr nachtragend.“

„Es freut mich, dass du um unser Wohl besorgt bist. Glaube mir, dass alles gut verlaufen wird“, beruhigte Amalafred den Diener.

Sie gingen zu dritt zu dem Festsaal, der sich über dem Küchentrakt befand. Die meisten der geladenen Gäste waren bereits erschienen und hatten ihren zugewiesenen Platz eingenommen. Überraschenderweise sah Amalafred viele Frauen, die an der u-förmigen Tafel Platz genommen hatten.

„Wer sind die Frauen“, fragte Hartwig den Diener.

„Das sind die Eheweiber der Gefolgsleute und hohen Beamten. Die zukünftige Königin wünscht es so.“

„Das ist gut. Das Abendessen wird dann nicht mit einem Saufgelage enden.“

Der Diener schwieg zu dieser Bemerkung. Er führte die Thüringer zu ihren Plätzen an der Königstafel.

Neidvoll blickten einige Langobarden zu ihnen hin. Sie missgönnten dem Thüringer Prinz die Nähe zu ihrem Herrn. Bei einigen von ihnen herrschte die Meinung vor, dass die Thüringer als besiegtes Volk kein Anrecht mehr hätten, an einer königlichen Tafel zu sitzen. Sie glaubten, dass eine Bevorzugung der Thüringer am Hof ihres Königs den merowingischen Herrschern, insbesondere Theudebert, stören könnte. Der Nordwesten des Langobardenreichs grenzte an das Frankenreich und durch die angestrebte Heirat der ältesten Tochter von König Wacho mit dem Frankenkönig Theudebert erhofften sie sich höhere Sicherheit. Wie wichtig eine gute Beziehung zu den Franken war, konnten sie im Ostgotenreich beobachten. Im Süden fielen die Oströmer in Italien ein und im Norden die Franken. Die ostgotische Bevölkerung hatte am meisten darunter zu leiden. Kaiser Justinian hatte die Vision, das weströmische Reich neu entstehen zu lassen. Er verwies auf Kaiser Konstantin, der vor 200 Jahren das gesamte Imperium beherrschte. Die Franken bildeten ein Gegengewicht im Machtgefüge. Sie hatten eigene Vorstellungen von der Aufteilung Westeuropas und beanspruchten ihren Anteil. An einem weströmischen Kaiserreich, wie es einst existierte, waren sie nicht interessiert.

Der König wurde angekündigt. Alle Gäste erhoben sich von ihren Plätzen. Wacho erschien mit seiner jungen Braut im Saal. Er führte sie an der Hand und nickte huldvoll den Gästen zu. Nachdem er Platz nahm, durften sich alle wieder setzen. Musikanten spielten auf, es wurde Wein eingeschenkt und Essen aufgetragen. Die Braut beobachtete die beiden Thüringer misstrauisch. Amalafred, der neben ihr saß, machte ihr ein paar Komplimente und sie schien davon sehr angetan. Das Eis war gebrochen und der Herulerin gefiel die gewandte Redensart des Prinzen. Der König mischte sich oft störend in ihre Unterhaltung ein. Hartwig, der neben ihm saß, versuchte ihn durch Fragen abzulenken. Sie betrafen die Kriegszüge und Pferdezucht. Wacho war eitel und erzählte gern von seinen ruhmreichen Siegen und guten Beziehungen zum Kaiser Justinian sowie dem Frankenkönig Theudebert. Begeistert sprach er auch über seine Pferdezucht. In Hartwig hatte er einen aufmerksamen Zuhörer gefunden und die Zeit verging schnell. Als die Braut müde wurde, verließ der König mit ihr die Tafel.

Hartwig und Amalafred machten nach dem Essen einen Abendspaziergang und der Diener begleitete sie. Sie kehrten in einem Gasthaus am großen Marktplatz ein und waren überrascht, dass die Schankstube trotz der hohen Preise gut besucht war. Der Diener flüsterte etwas dem Wirt zu und sie bekamen einen Tisch zugewiesen, von dem sie einen guten Überblick über den ganzen Raum hatten. Die meisten Gäste waren Handwerker und Fremde aus verschiedenen Teilen des Langobardenreichs, die am Hochzeitstag ihrem König gratulieren und ihre Geschenke überbringen wollten. Freundliche Mägde brachten Wein und Wasser. Essen wollten die Thüringer nichts mehr, denn das Abendessen an der königlichen Tafel war opulent. Nur der Diener, der nichts abbekommen hatte, ließ sich gern zu einer deftigen Speise einladen.

Angeheitert kehrten sie in ihre Unterkunft in der Residenz zurück. Die Sklavin brachte ihnen einen Krug Wein. Mit jedem Schluck schien der Durst stärker zu werden. Sie dachten nicht daran, dass sie am nächsten Morgen zeitig aufstehen mussten, um den König auf die Jagd zu begleiten. Der Diener ruhte vor der Tür im Gang und war in Sorge um das pünktliche Aufstehen seiner Anbefohlenen. Wie sollte er sie am Morgen munter bekommen, wenn sie bis in die Nacht hinein tranken.

Es war warm in den Räumen. Hartwig nahm seine Holzliege und stellte sie auf die Terrasse. Dort war eine leichte Brise vom See zu spüren. Amalafred, der wegen der Mücken nicht im Freien schlafen wollte, legte sich auf die kühlende Marmorbank im Raum.

Gegen Mitternacht wurde er wach und von einem starken Durstgefühl geplagt. Er ging zur Tür und fand im Gang den aufgeschreckten Diener.

„Bring mir etwas zu Trinken. Ich verdurste sonst“, sagte er zu ihm.

Der Diener lief davon. Nach einer Weile kam die Sklavin und brachte kühles Wasser und einen kleinen Krug Wein.

„Schenk mir Wasser ein!“, sagte er zu ihr.

„Wein mit Wasser gemischt, löscht den Durst besser, mein Herr“, sagte sie freundlich.

„Mach es, wie du es für richtig hältst, aber schnell, sonst falle ich tot um.“

Augenblicklich kippte er im Sitzen zur Seite. Die junge Frau lachte und reichte ihm den Becher. Hastig griff er danach und trank ihn in einem Zug aus.

„Du hast mir soeben das Leben gerettet“, sagte der Prinz lächelnd. „Dafür hast du ein Geschenk verdient.“

Neugierig sah ihn die Sklavin an. Amalafred griff in seine Gürteltasche und entnahm den silbernen Armreif.

„Setz dich zu mir!“, befahl er ihr.

Schüchtern nahm sie neben ihm auf der Marmorbank Platz. Er fasste ihre Hand und zog den Armreif darüber.

„Soll der für mich sein?“, fragte sie verwundert.

„Ja!“, entgegnete er lächelnd.

„Ich darf einen kostbaren Reif nicht tragen. Ich bin eine Sklavin.“

„Dann legst du ihn an, wenn es keiner sieht“, entgegnete der Prinz.

Die Sklavin war sich nicht sicher, wie sie sich verhalten sollte. Das Geschenk des Prinzen konnte sie nicht zurückweisen. Er wäre verärgert und die Folgen könnten für sie unangenehm sein. Das mit der Zauberin war noch nicht vergessen. Deshalb entschied sie sich, das Geschenk anzunehmen.

„Lass uns dort weitermachen, wo wir unterbrochen wurden“, flüsterte er ihr zu.

Sie stellte sich vor den sitzenden Amalafred und begann mit dem Tanz. Langsam ließ sie ihr langes Hemd über die Schultern gleiten und kreiste dabei mit ihren Hüften. Es war ein Bauchtanz, wie sie ihn aus ihrer Heimat kannte. Der Mond schien von der Terrasse her in das Zimmer und ließ ihre Haut silbern erscheinen. Amalafred war von ihrer Erscheinung und den anmutigen Bewegungen bezaubert. Er griff nach ihrer Hand und zog sie langsam zu sich auf die Bank. Sie gab ihm nach.

Als die Sonne über dem See aufging, wurde Hartwig wach. Er war ein Frühaufsteher. Der Anblick der gleißenden Morgensonne über dem Wasser begeisterte ihn. Er wollte Amalafred wecken, um ihn den schönen Sonnenaufgang zu zeigen. Eilig lief er in den Schlafraum. Der Prinz lag ausgestreckt auf der breiten Marmorbank und die Sklavin neben ihm. Die Sonnenstrahlen hatten die Frau erreicht und ihre Haut in einem hellen Rot erscheinen lassen. Hartwig konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. Sie war wunderschön.

Die Sklavin wurde wach und bemerkte, dass seine Blicke auf ihrem Körper ruhten. Sie stand langsam auf, griff nach ihrem Hemd, das auf dem Boden lag und ging auf Hartwig zu. Er rührte sich nicht. Sie fasste seinen Kopf und küsste ihn auf den Mund. Erst jetzt schienen seine Geister zurückzukehren. Sie zog schnell das Hemd über und verschwand geräuschlos durch die Tür. Hartwig schüttelte den Kopf als wollte er ein Trugbild verscheuchen und ging zurück zur Terrasse.

Die Stadt erwachte langsam und vereinzelt konnte er Menschen durch die Straßen eilen sehen. Die Fischer ruderten mit ihren Booten hinaus auf den See, um die Aalreusen und Netze zu kontrollieren. Alles strahlte eine erhabene Ruhe aus. Was war soeben geschehen? Das Bild der Sklavin ging Hartwig nicht mehr aus dem Sinn. Warum hatte sie ihn beim Weggehen geküsst? Was wollte sie von ihm, obwohl sie mit dem Prinzen schlief? Genügte er ihr nicht, oder war sie eine von den männerverschlingenden Weibern, von denen er gehört hatte. Er musste seinen Freund warnen.

Hartwig zog sich an, um an den Strand zu gehen. Als er vor die Tür trat, sah ihn der Diener, der am Boden kauerte, verwundert an.

„Ich dachte nicht, dass ihr so früh wach werdet“, stammelte er schlaftrunken und beeilte sich, auf die Beine zu kommen.

„Ich gehe spazieren! Der Prinz schläft noch tief. Du brauchst ihn erst kurz vor dem Ausritt wecken. Ich werde bis dahin wieder zurück sein.“

„Soll ich euch begleiten, denn schlafen kann ich jetzt nicht mehr. Ich sage der Sklavin Bescheid, dass sie den Prinzen rechtzeitig weckt.“

„Ich gehe lieber allein an den Strand und im Übrigen, würde ich lieber eine andere Sklavin haben.“

Der Diener sah verwundert zu Hartwig.

„Hat sie etwas getan, das euch missfiel?“, wollte der Diener wissen.

„Das nicht, aber ich mag sie nicht“, entgegnete Hartwig kurz.

„Ich werde mich darum kümmern. Wenn ihr zurückkommt, werdet ihr sie nicht mehr sehen“, versprach der Diener.

Hartwig lief an den Strand und sah auf den in der Sonne glitzernden Wasserspiegel. Die Fischer kamen mit ihren Booten zurück und brachten den Fang zur königlichen Küche. Ein alter Mann zog kräftig an einer Leine, die im Wasser lag. An ihrem Ende war ein Stierschädel angebunden. Hartwig half ihm, den stinkenden Schädel aus dem flachen Wasser an den Strand zu ziehen. Aus allen Löchern quollen unzählige Aale. Der alte Mann sammelte sie ein und packte sie in einen Ledersack. Er bot Hartwig einen besonders großen Aal für seine Hilfe an, doch der lehnte höflich ab.

Die meisten Fische, die gefangen wurden, waren Zander und Karpfen. Es gab aber auch Welse, Hechte und andere Fischarten, die Hartwig nicht kannte.

Am sandigen Ufer hatten Kinder der Fischer ein Feuer gemacht und hielten auf Holzstäbe aufgespießten Fische darüber. Sie reichten Hartwig einen der Holzspieße. Er setzte sich zu den Kindern und sie fragten ihn, woher er kam. Der Thüringer erzählte ihnen Geschichten aus seiner Heimat, einem Land, von dem sie noch nie etwas gehört hatten. Wehmütig berichtete er von dem Untergang des Thüringer Königreiches und dem Kampf der Rebellen gegen die fränkischen Eroberer. Seine Gedanken wanderten in den Elbkniegau, zu seiner Familie. Wie wird es ihnen ergehen? Sind sie alle gesund? Wann wird er sie wiedersehen?

Hartwig ging langsam zurück zur Residenz. Die Sonne stieg am Horizont aus dem See. Die gleißenden Strahlen versprachen einen ähnlich heißen Tag, wie gestern.

Der Diener war froh, dass er da war und ihm half, den Prinzen zu wecken. Auf dem Tisch standen Krüge mit Wasser und Wein. Hartwig roch daran und schenkte sich Wasser ein. Obwohl er gestern einen starken Rausch vom übermäßigen Genuss des köstlichen Rebensaftes hatte, blieben die Kopfschmerzen aus. Woran es lag, konnte er sich nicht erklären.

Missmutig kam Amalafred auf die Terrasse und setzte sich neben Hartwig auf die Bank.

„Der Diener spinnt wohl, mich so früh zu wecken. Hast du ihm gesagt, dass er das darf?“