Liebe und Tradition - Herbert Schida - E-Book

Liebe und Tradition E-Book

Herbert Schida

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Beschreibung

Meiling, eine Absolventin der Zhejiang-Universität in Hangzhou, beginnt nach ihrem Studium auf einer Großbaustelle mit ihrer Arbeit. Sie lernt dort einen Wiener Techniker kennen und lieben. Beide wollen heiraten. Die Familientradition verlangt das Einverständnis der Eltern zur Eheschließung doch ihr Vater hatte sie einem anderen Mann versprochen. Wird er die Heirat mit dem Österreicher erlauben?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

<< 1 >>

Hangzhou

Der Schnellzug von Shanghai nach Hangzhou gleitet mit hoher Geschwindigkeit dahin. Ich habe die Augen geschlossen und versuche zu schlafen. Meine Freundin Jin stößt mich unsanft an und ruft: „Meiling, werde wach! Wir müssen gleich aussteigen!“

Für einen kurzen Moment öffne ich die Augen und sehe aus dem Fenster.

„Vor einer halben Stunde sind wir nicht in Hangzhou, ich schlafe weiter!“, antworte ich unwirsch.

Jin und ich hatten vor einem Monat unser Hochschulstudium erfolgreich beendet und wurden auf die Baustelle nach Hongping delegiert. Sie liegt in der chinesischen Provinz Zhejiang.

Ich bin froh, dass ich nicht weit von zu Hause weg bin und an den Wochenenden meine Eltern in Shanghai besuchen kann. Viele der Absolventen aus meiner Studiengruppe werde ich auf der Baustelle treffen. Wir hatten vor mehreren Wochen dort ein Praktikum absolviert. Es war eine leichte Arbeit, die wenig mit unserem Ausbildungsfach zu tun hatte. Ich half bei der Verdrahtung von Schaltschränken.

Die Unterkunft war spartanisch. Von früheren Arbeitseinsätzen, während des Studiums, bin ich nichts Besseres gewöhnt. Ich hätte es schlechter treffen können. Viele meiner Kommilitonen wurden auf Baustellen, die mehr als 2000 Kilometer von Shanghai entfernt sind, versetzt. Sie können nur einmal im Jahr nach Hause fahren und ihre Eltern zum Frühlingsfest besuchen.

Ich kann nicht mehr weiterschlafen. Mein Blick ist starr auf die Ebene mit den Gemüse- und Reisfeldern gerichtet. Die Gegend ist wasserreich und fruchtbar. Überall sind Frauen auf den Feldern zu sehen, die bei 40 Grad Celsius Reispflanzen in die schlammige Erde stecken.

Eine Serviererin balanciert mit einem Bauchladen am Mittelgang zwischen den Sitzgruppen entlang. Sie bietet Plastiknäpfchen mit verschiedenen Gerichten an. Es ist Mittagszeit. Ich bin hungrig und bestelle für Jin und mich Reis mit Gemüse.

Ein Fahrgast drängt sich eilig an der Angestellten vorbei und rempelt sie an. Ein Suppennapf kippt um und ein Teil davon spritzt auf meine Bluse. Entsetzt sehen Jin und die Serviererin mich an. Zum Glück ist die Suppe nicht heiß.

Jin versucht die bespritzten Stellen sauber zu wischen. Es gelingt ihr nicht. Ich nehme aus meiner Reisetasche eine Ersatzbluse und verschwinde damit in der Zugtoilette.

Als ich zurückkomme scheint nichts mehr an den Vorfall zu erinnern. Auf dem Klapptisch befinden sich zwei Plastikbecher mit Gemüsereis und Essstäbchen.

„Hast du das bestellt?“, frage ich Jin verwundert. Sie schüttelt mit dem Kopf.

„Es ist gratis als Entschädigung für das Missgeschick. Gib mir die schmutzige Bluse, ich packe sie in meine Tasche!“

Ich reiche sie ihr und probiere das Essen.

Hastig verschlingen wir den Reis mit Gemüse. In der Studienzeit haben wir uns daran gewöhnt schnell zu essen, da die Pausenzeiten zwischen den Vorlesungen nur kurz waren. Gesättigt sehe ich aus dem Zugfenster. Der Anblick der monotonen Ebene ermüdet mich. Ich schließe meine Augen und versuche zu schlafen. Es gelingt mir nicht. Die vorhergehende Aufregung, wegen der Bluse, war zu groß. Über verschiedene Dinge denke ich nach.

Zufrieden stelle ich fest, dass es mir gut geht. Die große Hürde, das Studium, ist bewältigt und ich kann mein Leben nach eigenen Vorstellungen führen. Am meisten freue ich mich, dass ich mich gegen den Willen meines Vaters durchgesetzt habe. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn ich Betriebswirtschaft studiert hätte. Es war vor sechs Jahren kein Studienplatz in diesem Fach frei und somit akzeptierte er meinen Wunsch, Technikerin zu werden. Den ausgezeichneten Abschluss in Elektround Informationstechnik hat er kommentarlos zur Kenntnis genommen. Er glaubt, dass mir das Ganze in Zukunft nichts bringt, wenn ich erst verheiratet bin.

Seine Vorstellung über meine persönliche Entwicklung ist grundverschieden zu der, die ich habe. Diesbezüglich denkt er altmodisch und ist in überholten Traditionen verwurzelt. Gern möchte ich ausbrechen und mein Leben nach meinen Wünschen gestalten. Er wird es nicht zulassen. Die Familie ist das Wichtigste für ihn und er ist das Oberhaupt des Clans. Ich würde es nicht wagen, gegen ihn aufzubegehren. Mit dieser Einstellung bin ich aufgewachsen und habe daran grundsätzlich nichts auszusetzen, bis auf wenige Dinge, die mir erst jetzt bewusstwerden.

Vor ein paar Tagen erinnerte er mich daran, dass ich bald heiraten werde und dem Sohn seines Freundes versprochen bin. Ich kenne ihn nicht und es widerstrebt mir, dieser Forderung nachzukommen. Bisher hatte ich nicht weiter darüber nachgedacht. Jetzt, wo ich mich frei und unabhängig fühle, empfinde ich ein solches Ansinnen als Zumutung.

Meine beiden älteren Schwestern unterlagen dem gleichen Diktat.

Was hat es ihnen gebracht?

Die Älteste blieb kinderlos. Ihr Mann ist dienstlich in Peking und kommt selten nach Hause. Er ist viel älter als sie und macht einen ernsten und strengen Eindruck auf mich. Eine Liebesehe war es nicht. Ich weiß von ihr, dass er eine Geliebte in Peking und sie einen Freund in Suzhou hat.

Bei der zweiten Schwester hat der von meinen Eltern ausgewählte Ehemann das Handtuch geworfen. Er lebte seit Jahren mit einer anderen Frau zusammen und wollte diese heiraten. Das Versprechen wurde seitens der Familie des Mannes aufgelöst. Meine Eltern suchten einen anderen Mann für sie. Die Schwester entschied sich jedoch für einen Jungen aus der Nachbarschaft. Erst als sie von ihm schwanger wurde, akzeptierte mein Vater den Mann und willigte einer Heirat ein. Wenn sie zu Besuch ins elterliche Haus kommt, muss sie sich jedes Mal von unserem Vater anhören, was für eine schlechte Partie sie gemacht hat. Ihr Mann ist ein einfacher Arbeiter und verdient nicht genug Geld, um eine Familie zu ernähren. Sie muss in einem Verkaufsladen an der Kasse sitzen und dazuverdienen. Dies ist für meinen Vater unzumutbar. Die zweite Schwester scheint jedoch glücklicher als die Ältere zu sein.

Als Letzte bin ich an der Reihe. Mit mir hat mein Vater große Pläne. Mein „Zukünftiger“ ist der Sohn eines Bankinhabers aus Hongkong, der in London eine Zweigstelle hat. Es ist ein alter Schulfreund meines Vaters, dessen Familie es gelungen war, rechtzeitig einen Teil ihres Vermögens von Shanghai nach Hongkong zu transferieren.

Die Bank, die einst mein Urgroßvater in Shanghai gegründet und mein Großvater zur Blüte gebracht hatte, ist mit meinem Vater in den Jahren der politischen Umwälzung untergegangen. Wie ihm erging es vielen. Sie wurden enteignet und ihre Geldhäuser geschlossen. Mit meiner Hilfe hofft mein Vater, dass ein Spross aus unserer Familie ins Bankgeschäft kommt. Wenn der versprochene Ehemann ein hübscher Bursche ist, will ich mir die Zwangsheirat gefallen lassen.

Bisher habe ich keinen Jungen kennengelernt, der mir als Ehemann gefallen würde. Bei dem feinen Herrn aus Hongkong, der die weite Welt kennt und maßlos reich sein soll, könnte das anders aussehen.

Ich schlage die Augen auf und blicke zu Jin. Sie sieht mich an.

„Hattest du einen schönen Traum?“, will sie wissen und trommelt nervös auf den Ablagetisch unter dem Fenster.

„Ich habe an meinen künftigen Ehemann gedacht“, erwidere ich heiter.

„Dann schließe die Augen und träume weiter! Bisher hattest du keinen Sinn für das andere Geschlecht.“

„Dir geht es nicht anders. Wir beide können uns nichts vormachen.“

Jin winkt ab. Sie wirkt gereizt.

„Dein Bräutigam ist gebacken. Ich dagegen muss mir selbst einen suchen und der wird mit Sicherheit nicht reich sein, wie deiner“, sagt sie enttäuscht.

„Woher willst du das wissen? Es laufen genügend Millionäre auf den Straßen herum.“

„Schau mich an! Ich bin klein und dick. Das lieben die Burschen nicht. Ich muss nehmen, was übrigbleibt. Es ist anders als bei dir. Du bist groß und schlank. Eine Schönheit, wie man sie in Filmen sieht. Männer mögen solche Frauen.“

„Übertreibe nicht! Bisher hat sich keiner für mich interessiert“, sage ich bedauernd.

„Doch nur, weil ich sie vergrault habe, damit du nicht auf Abwege gerätst.“

Ich schließe die Augen. Jin ist eine gute Seele. Immer ist sie da, wenn ich sie brauche. Wir haben unsere Kindheit zusammen verbracht und beginnen das Berufsleben auf der gleichen Arbeitsstelle. Sie ist wie mein Schattenbild.

Ihr Schicksal war seit ihrer Geburt mit meinem verknüpft. Ihre Mutter arbeitete bei uns im Elternhaus als Kindermädchen und kurz vor Jins Geburt starb ihr Mann. Jin ist nur wenige Monate älter als ich und wir wuchsen gemeinsam auf. Meine Mutter erzählte mir, dass sie nicht genug Milch hatte und Jins Mutter aushalf. Somit sind wir Milchschwestern.

Jin tippt mich an die Schulter. Sie sieht aufmerksam durch das Fenster.

„Wach auf! Wir sind bald in Hangzhou“, sagt sie aufgeregt.

„Erst in einer halben Stunde. Lass mich noch ein Weilchen die Augen schließen und träumen!“

„Nichts da!“, kommandiert sie herrisch.

Sie ist nervös, wenn wir in die Nähe des Ankunftsbahnhofs kommen. Woran es liegt, kann ich mir nicht erklären. Es ist ihr Naturell.

Hangzhou ist Endstation für den Zug. Alle Fahrgäste drängen zu den Ausgängen. Wir schieben uns mit den Reisetaschen durch die Massen auf dem Bahnsteig. Am Ausgang des Gebäudes gehen wir in Richtung Parkplatz und finden den Kleinbus, der uns nach Hongping bringen soll. Wir sind die letzten, auf die der Fahrer gewartet hat. Die anderen sitzen im Bus und langweilen sich. Es gibt ein lautes „Hallo“ und wir fahren los.

In zwei Stunden sind wir im Camp auf unserer Baustelle.

Die Unterkunft ist eine alte Baracke mit vielen Wohnräumen im Obergeschoss. Parterre befinden sich die Duschen und Toiletten, Küche sowie Abstell- und Lagerräume.

Den Raum, der uns zugewiesen wird, teilen wir mit zwei weiteren Absolventinnen aus unserer ehemaligen Studiengruppe. Zwei Doppelstockbetten stehen gegenüber der Tür und an der einen Wand sind vier Spinde für unsere persönlichen Sachen.

Am Fenster befinden sich ein betagter Tisch mit vier Holzschemeln. Von der Mitte der Decke hängt eine elektrische Lampe ohne Schirm herunter. Ich probiere mein Bett aus und stelle fest, dass es sich gut darin liegt. Jin räumt unsere Sachen in die Spinde und wir inspizieren den gemeinschaftlichen Wasch- und Toilettenraum sowie die Küche und den Wäscheraum. Wir sind damit zufrieden.

Ich dränge Jin, mit mir durch den Ort zu gehen. Wir kennen ihn. Bei unserer Ankunft habe ich gesehen, dass sich vieles in der Zwischenzeit verändert hat. In der Nähe des Ausgangstores stehen das große Kantinengebäude und daneben eine Baracke. Ich sehe durch das Fenster und erkenne Tischtennisplatten. Die waren zu der Zeit des Praktikums noch nicht da.

Wir bummeln die Hauptstraße entlang und betrachten neugierig die Geschäfte. Es gibt alles, was man braucht, einen Friseur, mehrere Schneiderstuben, Restaurants und viele kleine Läden, die allerlei Dinge des täglichen Bedarfs anbieten.

In einem Shop kaufe ich ein Buch für die vielen freien Stunden, die mir an diesem tristen Ort bevorstehen.

Hongping ist nicht mit unserem Stadtteil in Shanghai vergleichbar. Das Einzige, was hier schöner ist, sind die nahen Berge und saubere Luft.

Nach dem Bummel gehen wir in die Kantine. Es gibt als Abendessen eine Schale Reis, mit Gemüse und Hühnerfleisch. Im Vergleich mit dem Essen in der Mensa schmeckt es hier besser. Es wird an dem Koch liegen oder den höheren, betrieblichen Geldzuwendungen für die Küche.

Auf dem Weg in unsere Unterkunft kommen wir an der Baracke mit den Tischtennisplatten vorbei. Neugierig sehen wir durch das Fenster. Drinnen spielen vier junge Männer an zwei Platten. Die Dritte ist frei.

„Wollen wir es versuchen?“, frage ich Jin.

Sie ist einverstanden und wir betreten den Raum.

Einer der Burschen fragt, ob wir spielen wollen und weist uns die freie Platte zu. Er gibt Jin und mir einen Schläger und Ball.

„Seid vorsichtig damit! Was ihr kaputtmacht, müsst ihr bezahlen.“

Er bleibt neben unserer Platte stehen und beobachtet uns.

Ehrfürchtig greife ich nach dem Ball und lasse ihn auf die Tennisplatte fallen. Er hopst über das Netz.

„Du darfst ihn anschlagen, doch nicht arg draufhauen, dass er zerspringt“, werde ich belehrt.

„Wir spielen nicht zum ersten Mal“, rechtfertigt sich Jin.

„Na gut, ich lasse euch allein“, sagt der Bursche und wendet sich seinen Freunden zu.

Jin und ich beginnen, uns einzuspielen. Obwohl wir seit Jahren zusammen üben, zeigt Jin keine Verbesserung. Zum Spaß reicht es. Bei einem richtigen Spiel würde sie bald aufgeben.

Der junge Mann, der hier das Sagen zu haben scheint, erkennt meine Not und bietet sich für ein Trainingsspiel an. Ich freue mich darüber und wir beginnen gleich zu zählen. Die anderen beenden ihr Match und sehen uns zu.

Feng stellt sich mir mit Namen vor. Er ist gut im Anschneiden der Bälle. Mir gelingt es nicht, sie zu kontern. Wir kommen in Fahrt. Ich merke, dass er besser ist und bin bald außer Atem. Souverän gewinnt er das Spiel und bietet mir die Möglichkeit einer Revanche, bei unserem nächsten Treffen an.

Jin ist begeistert, wie gut ich mich gegen ihn behauptet habe. Sie ist sich sicher, dass ich mit viel Übung gegen Feng gewinnen kann. Mir genügt es, mit einem besseren Gegner als Jin zu spielen, doch das sage ich ihr nicht.

Schweißgebadet kommen wir zu unserem Quartier. Wir nehmen die Kulturtaschen und gehen in den Duschraum. Er ist für alle Bewohner der Baracke gedacht. Sechs Kabinen sind nebeneinander aufgereiht.

In der Letzten stellen wir uns gemeinsam unter die Brause. Der starke Strahl massiert meine Kopfhaut. Jin hat ein Seifenstück in der Hand und kann es nicht festhalten. Es rutscht ihr weg und ich muss am Boden danach suchen.

Vor mir befinden sich zwei fremde Füße. Ich identifiziere sie sogleich als Männerbeine, da sie stark behaart sind. Erschrocken schreie ich auf und Jin kreischt, wie ein Eichelhäher, der einen Eindringling in seinem Revier entdeckt hat.

Feng steht vor unserer Duschkabine und reicht mir grinsend die Seife. Überrascht sehe ich ihn an.

„Ihr seid zur falschen Duschzeit hier. Jetzt ist für Männer reserviert. An der Eingangstür sind die Zeiten aufgeschrieben“, erklärt er uns und verschwindet. Bald darauf kommt er zurück.

„Ihr könnt euch Zeit lassen, jetzt kommt niemand mehr herein.“

Er zieht sich aus und stellt sich uns gegenüber unter die Brause. Bedächtig beginnt er sich einzuseifen. Es scheint ihn nicht zu stören, dass wir zu dritt nackt im Duschraum stehen. Verstohlen sehen wir zu ihm hin. Als ich die Seife abgespült habe, springe ich zu dem Board, auf dem unsere Handtücher und die Kulturtaschen liegen. Ich wickle mich in mein Badetuch und trockne mich ab. Jin steht noch in der Kabine und traut sich nicht heraus. Sie ist mir dankbar, dass ich sie mit dem Badetuch aus ihrer misslichen Lage befreie und beim Abtrocknen helfe. Verstohlen sieht sie zu Feng. Nicht mehr ängstlich, sondern bewundernd wegen seines gutaussehenden, athletischen Körpers.

Er tut als bemerke er die Blicke von ihr nicht. Ich muss Jin mit Kraft aus dem Duschraum ziehen. Jetzt sehe ich, warum kein anderer gekommen ist. Feng hat ein Schild mit der Aufschrift „Duschraum gesperrt“ an der Eingangstür aufgehängt.

Die Aufregungen reichen mir für heute. Wir beschließen uns hinzulegen und bis zum Dunkelwerden zu lesen. Unsere beiden Mitbewohnerinnen sind noch nicht da und Jin hört nicht auf, von dem gutaussehenden Feng zu schwärmen. Mir hat er ebenso gefallen, doch er ist nicht mein Typ. Jin versteht mich nicht.

In der Nacht kann ich nicht einschlafen. Eine unserer Mitbewohnerinnen schnarcht. Ich stecke mir Watte in die Ohren. Es hilft nicht. Die Luft ist stickig. Wir können die Tür nicht öffnen. Insektenschwärme belagern unsere Wohnbaracke. Ich befinde mich in einer ausweglosen Situation. Geduldig muss ich mich fügen. Erst in der Früh schlummere ich ein. Der Wecker reißt mich brutal aus meinen Träumen. Schlechtgelaunt beginne ich den ersten Arbeitstag und überlege, wie ich die Schnarcherin in der nächsten Nacht zur Ruhe bringen kann.

Gemeinsam gehen wir zur Kantine. Die Auswahl an Speisen ist groß. Ich schöpfe aus dem großen Kochtopf schleimigen Reisbrei in ein Schälchen und verfeinere ihn mit Erdnüssen.

Besonders lecker schmecken die frittierten und vor Fett triefenden Teigstreifen „Youtiao“.

Meine Lebensgeister kehren zurück und die Laune bessert sich. Jin wählt andere Speisen, von denen ich ein wenig koste. Die mit Fleisch gefüllten Teigtaschen „Xiaolongbao“ sind im Geschmack vergleichbar mit denen, die Jins Mutter zu Hause zubereitet. Für mich ist das Frühstück am wichtigsten. Wenn es gut und ausreichend ist, brauche ich erst am Abend die nächste Mahlzeit.

<< 2 >>

Hongping

Nach dem Frühstück treffen sich alle Neuankömmlinge in einem großen Besprechungsraum und der Projektleiter hält eine Ansprache. Er beschreibt die Wichtigkeit der Anlage für die chinesische Volkswirtschaft. Wir werden den einzelnen Fachgruppen zugeteilt. Erfahrene Ingenieure sind unsere Vorgesetzten und sie stellen sich kurz vor.

Jin und ich werden in der Steuerzentrale eingesetzt und sollen uns auf die Abnahmetests bei der Inbetriebsetzung vorbereiten.

Mein direkter Vorgesetzter ist ein dicker, untersetzter Mann zwischen 30 und 40 Jahren. Er sieht ungepflegt aus und ich hoffe, dass sein Äußeres nicht seinen Führungsqualitäten entspricht.

Zwölf Absolventen sind ihm zugeordnet. Als feststeht, wer zu seiner Gruppe gehört, sammelt er seine Schäfchen ein und geht mit uns in einen kleinen Besprechungsraum. Hier erklärt er die Aufgaben, die wir in den nächsten Wochen und Monaten erledigen sollen.

Er vergisst nicht daran zu erinnern, dass wir am Anfang unserer Berufslaufbahn stehen. Wer nicht seinen Ansprüchen genügt wird entlassen. Er glaubt, dass nicht mehr als ein Drittel von uns bis zum Ende der Projektlaufzeit durchhalten und bleiben werden.

Auf seine großen fachlichen Erfahrungen weist er ständig hin. Bei einem früheren Projekt auf einer anderen Baustelle will er sie erworben haben. Sein Eigenlob treibt mir die Müdigkeit in die Augen. Nur nicht einschlafen, denke ich. Bei solchen Typen ist es wichtig nicht gleich am Anfang schlecht aufzufallen. Wen sie auf dem Kieker haben, dem gelingt es nicht mehr, sich aus den Klauen zu befreien. Man bleibt Zielscheibe und die anderen beginnen im gleichen Chor mitzutönen.

Jin fallen die Augenlider ebenfalls zu. Der Monolog unseres neuen Vorgesetzten scheint sie zu ermüden. Ich stoße sie unauffällig in die Seite. Entsetzt sieht sie mich an.

„Gute Nacht!“, zische ich ihr zu. Verstört blickt sie geradeaus und versucht, sich auf das Gewäsch des Gruppenleiters zu konzentrieren.

Nach ausreichendem Selbstlob verteilt der dicke Fettkloß Kopien der technischen Unterlagen, die vom Lieferanten an den Kunden übergeben wurden. Jetzt wird es interessant. Es sind zwölf Ordner, die auf dem Tisch vor ihm liegen.

„Ihr seid angeblich die Besten des diesjährigen Abschluss-Jahres eurer Universität. Es dürfte für euch ein Leichtes sein, die Ordner bis morgen früh durchzuarbeiten. Ich werde euch ein paar Fragen stellen und danach festlegen, wer für welche Aufgaben vorgesehen ist.“

Zum Glück hatte ich die Unterlagen während des Praktikums vor einem halben Jahr studieren können und kenne die Zusammenhänge.

Die Dokumente brauche ich nur kurz überfliegen.

Ich nehme einen der Ordner vom Tisch und gehe zu einem Platz am Fenster. Jin folgt mir. Sie kennt sich aus.

„Gehen wir die Ordner kurz durch? Wenn im Inhalt keine Teile dazugekommen sind, können wir uns zum Tischtennis spielen verdünnisieren“, flüstere ich Jin zu.

„Schlag dir das aus dem Kopf. Der Fettsack beobachtet alle wie ein Luchs. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich Notizen über jeden macht“, warnt Jin.

„Ich bin gespannt, wen er sich zuerst als Beute aussucht. Sieh ihn dir an, wie er durch seine starken Augengläser jeden mustert.“

„Solange er es von seinem Tisch aus tut, soll es mich nicht stören. Schlechter wäre es, wenn er zu uns kommt.“

Wer vom Teufel spricht, braucht nicht lange auf ihn warten.

Behäbig setzt sich der Dicke in Bewegung und steuert unmissverständlich auf uns zu. Vor unserem Tisch bleibt er stehen.

„Euch beide kenne ich! Wart ihr im Praktikum hier?“

Wir nicken eingeschüchtert mit dem Kopf.

„Dann ist das nichts Neues für euch. Kommt mit!“

Er wackelt zu seinem Tisch zurück und wir tanzen leichtfüßig hinterher. Lose Blätter liegen auf einem Haufen. Er packt sie mit beiden Händen und hält sie uns vor die Nase.

„Seht euch diese Programmbeschreibung an. Morgen sprechen wir darüber.“

Mit dem Papierbündel kehren wir zu unserem Tisch zurück. Ich überfliege die Druckerseiten geschwind.

„Der Dicke muss uns gehört haben, dass wir Tischtennis spielen wollen. Jetzt können wir es vergessen. Das Programm ist ein Hammer und wir werden die ganze Nacht damit zu tun haben, es zu verstehen“, flüstere ich.

„Wir sind nicht die Einzigen, die das Praktikum hier gemacht haben. Warum greift er uns heraus?“, erwidert Jin entrüstet.

„Weil du ihm gefällst!“, sage ich lachend.

Jin kann dem nichts abgewinnen. Besorgt sieht sie auf die Blätter und schüttelt fortwährend mit dem Kopf.

Die Beschreibung stammt von der kanadischen Firma, die unsere Steuerung liefert. Es ist jede Programmzeile einzeln, verbal beschrieben. Das erleichtert das Verstehen des Originalcodes.

Jin und ich studieren Zeile für Zeile und diskutieren darüber. Es macht mir Spaß, die Programmierschritte nachzuempfinden. Wir vertiefen uns in die Arbeit und bemerken nicht, dass es Mittagszeit ist. Zum Glück denken die anderen daran und nehmen uns mit in die Kantine.

Viele der Jobeinsteiger haben mit mir an der Technischen Universität in Hangzhou studiert. Wir kennen uns gut. Und ein Teil von ihnen hatte in Hongping sein Praktikum gemacht. Der Leistungsdruck war hoch und ein Großteil der Immatrikulierten hatte nach dem ersten Jahr aufgegeben. Freizeit kannten wir nicht. Wenn Semesterferien waren, mussten wir zu Hilfsaktionen in Betriebe. Es waren freiwillige Einsätze, bei denen man nicht „nein“ sagen durfte. Dies liegt hinter mir und ich bin froh, dass ich jetzt selbst über meine Zeit bestimmen kann.

Ich unterliege einem Irrglauben. Die Analyse des Programms, das uns der Dicke am Morgen gegeben hatte, ist unmöglich in der normalen Arbeitszeit zu schaffen. Der Chef sagte uns, dass wir die Arbeit, die wir in der normalen Arbeitszeit nicht erledigen können, mit nach Hause nehmen sollen. Das bedeutet Freizeit opfern. Es stört mich nicht, wenn es interessante Aufgaben sind, die mich wie ein spannendes Buch fesseln.

Jin geht es ebenso wie mir. Wenn wir uns in eine Sache verbissen haben, lassen wir nicht los. Die halbe Nacht hängen wir über dem Programm und versuchen die einzelnen Schritte nachzuvollziehen. Bis auf zwei Unterprogramme haben wir alles gelöst. Es sind Funktionen, die nicht näher beschrieben wurden. Für diese gelingt es uns ein Unterprogramm zu schreiben. Es erfüllt die Anforderung und müsste noch ausgefeilt und getestet werden.

Erschöpft und zufrieden, gehen wir am Abend von dem Besprechungsraum in unser Quartier und fallen kraftlos in die Betten.

In der Nacht habe ich gut geschlafen. Nach dem Frühstück melden wir uns beim Gruppenleiter und sind gespannt, was er zu unserem Ergebnis sagen wird.

Wir legen ihm das Programm mit den Randnotizen vor. Er schiebt es zur Seite und sieht es sich nicht an.

Für mich ist seine Reaktion enttäuschend. Eine Kritik einzustecken ist leichter zu ertragen als nicht weiter beachtet zu werden. Schmollend setze ich mich mit Jin in die letzte Tischreihe. Wir regen uns ab, indem wir Schimpfworte für unseren Gruppenleiter erfinden. Dicker, Fettwanst, Hängebauchschwein und Stinkerchen hatten wir ihn gestern genannt. Nach der Zurückweisung müssen wir uns stärkere Begriffe für ihn ausdenken. Jin hat bessere Ideen als ich. Wenn wir die Wörter leise aussprechen, freuen wir uns und lachen verhalten.

Der Gruppenleiter befasst sich mit den anderen, die gestern die zwölf Ordner der Produktdokumentation durchsehen sollten. Er stellt jedem Einzelnen Fragen und kritisiert die Antworten. Deutlich macht er klar, dass wir die Dummen sind und er der Allwissende. Auf einer Namensliste macht er sich kurze Randnotizen.

Jin und ich kommen jetzt an die Reihe. Er erinnert sich, dass er uns ein Programm zur Ansicht gegeben hatte. Behäbig schiebt er das Papierbündel vom Rand des Tisches in die Mitte. Mit seinen klobigen Fingern versucht er den Faden, mit dem das Bündel kreuzweise verschnürt ist, zu entfernen. Über die Papierecken kann er den Strick nicht ziehen und der Knoten ist zu fest. Gespannt sehen wir ihm zu und verhaltenes Kichern ist im Raum zu vernehmen. Mit grimmigem Blick sieht er in die Runde, um die zu entdecken, die sein Mühen lächerlich finden. Er schiebt das verschnürte Bündel auf der Tischplatte zur Seite.

Durchgefallen, denke ich.

„Kommt zu mir!“, ruft der Dicke wütend.

Wie ängstliche Hühner tippeln wir zu seinem Tisch. Er sieht mich geringschätzig an.

„Erklär mir, was du herausgefunden hast!“.

„Wir haben das Programm analysiert und bis auf zwei Funktionen, die Vorgehensweise erkannt“, antworte ich eingeschüchtert.

„Es ist ein kleines Programm. Zeig mir die Stelle!“

Ich löse den Knoten des Papierbündels und lege die Seiten auf. Mit dem Finger zeige ich auf die Zeile, in der die beiden Funktionen erstmals genannt werden.

Der Gruppenleiter blättert weiter, um einen erneuten Aufruf der Funktionen zu finden. Ich merke, dass er unsicher wird und keine Lösung parat hat. Wie wird er jetzt reagieren?

Gibt er zu, dass er es nicht weiß oder spielt er den allwissenden Macho.

Er schiebt mich mit der Hand zur Seite und sieht in die Runde der Absolventen. Es ist mäuschenstill und alle warten auf seinen Kommentar.

„An diesem Beispiel seht ihr, womit wir zu kämpfen haben. Die Dokumentation ist in vielen Teilen unvollständig und teilweise unbrauchbar. Wir müssen damit auskommen und das, was nicht darinsteht, selbst herausfinden. In ein paar Jahren sind wir soweit, dass uns nichts mehr verborgen bleibt. Wir werden im Gegenzug den Langnasen ebensolche unvollständigen Beschreibungen zu unseren Produkten liefern.“

Der Dicke driftet vom Thema ab. Die ungenügende Dokumentation der Programme sieht er als Ausdruck des Klassenkampfes an. Jetzt ist er nicht mehr zu bremsen. Er wird eine Ausbildung in einer der zahlreichen Politschulen genossen haben und will uns mit diesem Wissen beglücken.

Jin und mir deutet er mit einer Handbewegung an, dass wir uns setzen sollen.

Von der hinteren Reihe genießen wir seine pathetische Rede und denken uns weitere Schimpfworte für ihn aus. Nach einer Stunde kommt er zum Ende und wirft einen Blick auf den Namenszettel vor ihm. Er scheint sich daran zu erinnern, warum wir hier herumsitzen und dass er uns die zukünftigen Aufgaben zuteilen wollte.

Jeden Namen ruft er einzeln auf. Er gibt bekannt, wo wir eingesetzt werden.

Jin und mich teilt er den Programmierern für die zentrale Steuerung zu. Ich bin hocherfreut über die Entscheidung und bedaure in diesem Moment jedes Schimpfwort, das ich gegen ihn ausgesprochen habe.

Für die zentrale Steuerung ist ein neues Gebäude errichtet worden. Es ist innen und außen zweckmäßig und modern gestaltet. Mit nichts hat man beim Bau gespart. Die Wände in der großen Eingangshalle wurden mit italienischen Marmorplatten verkleidet. Das Gebäude ähnelt mehr einem Hotel als einem technischen Zweckbau.

Während meiner Praktikumszeit war es beinahe fertiggestellt und ich wünschte mir, dort arbeiten zu können. Alles ist sauber und hell, wie in einem Palast.

Der Gruppenleiter fordert uns zu einer Arbeitsplatzbegehung auf.

„Jeder soll sehen, wo er und die anderen arbeiten werden“, gibt er bekannt.

Von unserem Camp fahren wir mit einem Kleinbus zur Schaltwarte, in der sich die zentrale Anlagensteuerung befindet. Vieles hat sich beidseits der Straße verändert. Der teilweise aus dem Felsen gesprengte Weg ist asphaltiert und zur abfallenden Hangseite hin, sind rotweiß bemalte Randbegrenzungssteine aufgestellt. Einen wirklichen Schutz gegen abstürzende Fahrzeuge würden sie nicht bieten. Ihre reflektierende Bemalung zeigt den Verlauf der neuen Straße an. Hangaufwärts ist ein kleiner Wasserfall zu sehen, der auf uns herabzustürzen scheint. Am Rand der Straße wird er abgefangen und in einem starken Rohr unter der Asphaltdecke abgeleitet.

Die Hänge sind mit Bambus bewachsen. Ich habe im Ort gesehen, dass er wichtig für die Menschen in dieser Gegend ist. Die mittelgroßen Stämme gehen zu einem Großteil in die Industrie und zum Gerüstbau. Wir sehen Bauern, die mit einer Hippe in der Hand zur Waldarbeit eilen. Mit ihr schlagen sie die dünnen Bambusstämme um und befreien sie von Ästen und Blättern.

Vor uns befindet sich der hohe Staudamm des Unterbeckens und wir fahren die Serpentinen hinauf zur Dammkrone. Am Rand des Beckens steht die Steuerzentrale. Wunderschön strahlt die schneeweiße Fassade des modernen Gebäudes in der Sonne. Hier entsteht eines der größten Pumpspeicherwerke der Welt und es erfüllt mich mit Stolz, dass ich nach meinem Studium an diesem Projekt mitarbeiten darf.

Der Bus hält und wir steigen aus. Als ich im Praktikum auf der Baustelle war, gab es nur den Rohbau. Die Gebäude sind fertig. Wir folgen dem Gruppenleiter in die erste Etage und er zeigt uns zuerst die Steuerzentrale. Viel ist hier nicht passiert. Überall stehen Kabelschränke und Trommeln mit mehradrigen Leitungen herum. Es ist der Arbeitsbereich der meisten aus unserer Gruppe.

Nur vier werden sich um die Programme kümmern. Jin und ich gehören zu dem Team. Unser Arbeitsraum ist ein kleines Büro mit Blick auf das Unterbecken.

Nachdem jeder weiß, wo sein künftiger Arbeitsplatz ist und was er in den nächsten Wochen zu tun hat, zeigt uns der Gruppenleiter noch die Maschinenhalle. Sie befindet sich tief im Berg verborgen.

Durch einen endlos verlaufenden Tunnel gelangen wir dorthin. Die Luft wird stickig. Angeblich gibt es eine Entlüftungsanlage. Ich merke nicht viel davon. Der Lärm wird größer. Hämmern, schleifen und trennen von Metallteilen mischen sich zu einem Geräusche-Mix mit dem Stimmengewirr der Bauarbeiter.

Wir erreichen die Kaverne. Es ist eine riesige Höhle, die aus dem Felsengestein gesprengt wurde. An einigen Stellen rinnt Wasser über das Felsengestein. Das emsige Treiben verwirrt mich. Es geht wie in einem Ameisenhaufen zu. Bewundernd betrachte ich die Leute bei der Arbeit. Sie scheinen es gewöhnt zu sein, dass man sie anstarrt. Ruhig und gelassen machen sie ihren Job.

Eine Stunde dürfen wir uns in der Halle umsehen. Vorsichtig inspiziere ich mit Jin die Baugrube für die Maschinensätze. Ein Teil der Fundamentarbeiten für die Turbinen sind fertiggestellt und es ist erkennbar, wo das Wasser durch riesige Rohre eingeführt und ausgeleitet wird. Ein gewaltiges Ventil regelt für jede der sechs Turbinen die Zufuhr.

Meine Freundin wird unruhig.

„Was ist mit dir?“, frage ich sie.

„Ich muss austreten!“, gibt sie mir sorgenvoll zur Antwort.

„Doch nicht hier!“, erwidere ich abwehrend.

„Sieh nach, wo ich hinkann! Ich halte es nicht mehr aus!“

Auf dem Stahlgerüst der Betonbewehrung sitzt eine Frau und biegt Drähte zurecht. Ich gehe zu ihr und frage, wo eine Toilette ist. Ohne aufzublicken zeigt sie zu einem Tunnel auf der anderen Seite der Halle.

Ich suche nach einem Weg, um dorthin zu kommen.

Es ist nur ein Brettersteg zu sehen, auf dem die Leute zur anderen Seite gelangen können. Ich gehe zurück zu Jin, der die Notlage anzusehen ist.

„Wir müssen zur anderen Seite gehen. Dort gibt es einen Tunnel mit einer Toilette.“

„Schnell Meiling!“, jammert Jin vor sich hin.

Wir kommen zu dem Steg, der nur mit Bewehrungseisen am Felsen verankert wurde. Jin, die eine ängstliche Person ist, tritt als erste auf die Bretter. Sie balanciert, wie eine Zirkusartistin auf den Bohlen, zum befreienden, gegenüberliegenden Ufer. Ich folge ihr langsam. An meine Höhenangst denke ich in diesem Moment nicht.

Glücklich erreichen wir die Betonfläche. Ich frage einen Bauarbeiter, der gerade entlangkommt, wo der besagte Tunnel mit der Toilette ist.

„Gleich hier um die Ecke. Nimm meine Taschenlampe mit! Dort ist keine elektrische Beleuchtung. Ich warte solange auf euch.“

Mit der Lampe bewaffnet, gehe ich voran. Jin tänzelt hinter mir her. Wir kommen in die Nähe eines Seitenstollens, aus dem es bestialisch stinkt. Vorsichtig gehe ich weiter. Einen Container mit WC oder eine Bautoilette kann ich nicht sehen. Es gibt nur einen Steg aus Holzbohlen. Links und rechts davon liegen Fäkalien. Es ist die illegale Bedürfnisanstalt für die Bauleute unter der Erde. Ich sehe mich um. Niemand außer uns beiden ist da. Jin hockt sich hin und erleichtert sich. Die Taschenlampe geht aus.

„Lass die Lampe an!“, ruft sie wütend.

Um uns ist finstere Nacht.

Ich schüttle die Lampe. Nichts tut sich. Sie bleibt aus.

„Die Batterie ist leer. Wir müssen uns nach draußen tasten. Fass mich an!“, rate ich Jin.

„Wo bist du?“

„Hier, hier, hier, …“, wiederhole ich ständig, damit Jin mich hört und zu mir findet.

Sie hat es geschafft und ist nicht von den Holzbohlen herunter getreten. Mit meinen Schuhspitzen versuche ich festzustellen, ob wir uns in der Mitte des Laufstegs befinden. Der leichte Schimmer von Lichtblitzen, die von den Schweißern in der Halle herrühren und an den feuchten Felswänden reflektiert werden, zeigen uns den richtigen Weg. Bald haben wir es geschafft. Jin wird leichtsinnig und nimmt ihre Hand von meiner Schulter. Gleich darauf rutscht sie vom Brett und tritt daneben in eine weiche Masse. Ich höre sie fluchen und ahne, was ihr widerfahren ist. Wir kommen zum Ausgang des Stollens. Der Bauarbeiter wartet auf seine Taschenlampe.

„Warum leuchtet sie nicht?“, will er wissen.

„Wahrscheinlich ist die Batterie leer.“

Er fängt an zu jammern, dass er die Lampe erst vor einer Woche gekauft hat und ich sie kaputt gemacht habe.

Mich plagen andere Sorgen. Jins Schuhe muss ich sauber bekommen. Zum Glück gibt es Wasser, das in kleinen Rinnsalen aus den Felsspalten dringt und sich in einem Kanal sammelt. Jetzt brauchen wir nur noch einen Lappen. Es ist nichts Derartiges zu finden. Ein Tuch oder Ähnliches haben wir nicht bei uns. Jin fängt an zu weinen.

„Zieh deinen Slip aus! Dein Kleid ist lang genug. Es fällt nicht auf“, sage ich.

Widerwillig tut sie es. Ich wische den Schmutz von ihren Schuhen und säubere ihre Füße. Ob alles beseitigt ist, kann ich nicht sehen. Zumindest riecht es nicht mehr penetrant.

Langsam bewegen wir uns, über den am Felsen fixierten Brettersteg, zurück zum Sammelplatz. Jin hat große Sorgen. Sie meint, dass die Bauarbeiter in der Grube ihr unter den Rock schauen können. Als ich in die Tiefe sehe, erkenne ich die gefährliche Situation, in der wir uns befinden.

Ich bekomme Höhenangst. Meinen ganzen Mut nehme ich zusammen und starre nur nach vorn. Personen kommen uns entgegen und der Brettersteg wippt im Rhythmus der Tritte. Mir ist zum Erbrechen schlecht. Mit letzter Kraft erreiche ich die betonierte Fläche am Ende des Stegs.

An einem Schaltschrank gelehnt kaure ich mich mit zitternden Knien auf den Boden.

Wir müssen noch ein paar Minuten warten, bis die Stunde um ist und die anderen kommen. Jin fühlt die Blicke auf sich gerichtet, obwohl sie keiner beachtet. Die nassen Schuhe bemerkt niemand.

Mit dem Bus geht es zurück nach Hongping. Als wir dort ankommen, kaufe ich sofort eine Taschenlampe und Ersatzbatterien.

Die Wahrscheinlichkeit, in der nächsten Zeit in die riesige Maschinenhalle zu kommen, ist gering. Sie ist in ihren Abmessungen vergleichbar mit der Größe eines Doms. Ich bin froh, dass ich nicht dort zur Arbeit eingesetzt wurde. Die Halle sieht aus wie eine gewaltige Drachenhöhle. Es würde mich nicht wundern, wenn ein Ungeheuer aus einem der Gänge herauskriecht. Bei dem Gedanken an den provisorischen Laufsteg an der Felsenwand, stellen sich mir die Haare auf. Ich vermute, dass er mich in meinen Träumen lange begleiten wird.

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Teehaus am Bund in Shanghai

Wir fahren zweimal am Tag mit dem Bus zum Gebäude der Steuerzentrale und zurück. Ich habe mich gut an den Tagesrhythmus gewöhnt. In dem schönen Büroraum mit den neuen Möbeln und herrlichem Blick nach draußen, auf die bewaldeten Berge, fühle ich mich wohler als in unserem Quartier im Camp.

Verwöhnt bin ich diesbezüglich nicht. Ich kenne schlechtere Unterkünfte von früheren Praktika-Einsätzen. Diese dauerten nur wenige Wochen. In Hongping werde ich mich mehrere Jahre aufhalten. Eine bessere Unterkunft wünsche ich mir. Ich spreche mit Jin darüber, ob wir ein Privatzimmer im Ort mieten.

„Das können wir uns nicht leisten. Sie sind zu teuer und es gibt zu wenige“, erwidert sie heftig.

Unser Anfangsgehalt ist nicht ausreichend, um sich diesen Komfort zu leisten. Nach der Einarbeitungsphase rechne ich jedoch mit einer Gehaltserhöhung.

„Umsehen können wir uns und fragen kostet nichts“, wende ich ein.

Wir schlendern durch die Straßen von Hongping und erkundigen uns in einem Kramladen bei der Verkäuferin. Die Frau stammt aus dem Ort und klärt uns auf.

„Ich kenne kein freies Zimmer. Die zu vermietenden Unterkünfte bei den Bauern sind alle belegt. Ihr könnt noch in den Nachbarorten nachfragen. Vielleicht habt ihr Glück.“

Die Auskunft ist ernüchternd.

Nach dem Abendessen in der Kantine gehe ich mit Jin Tischtennis spielen. Feng hat mir einen Zweitschlüssel zu dem Trainingsraum gegeben damit ich mit meiner Freundin üben kann, wenn er nicht da ist. Es ist freundlich von ihm und er hat damit bei mir und Jin stark gepunktet. Sie ist in ihn verliebt, seitdem wir uns in dem Duschraum begegnet sind. Ihre schmachtenden Blicke beachtet er nicht. Die Zuneigung scheint nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Jin trägt es mit Fassung.

An den Samstagen arbeiten wir normal. Nach jeweils drei Wochen dürfen wir drei freie Tage an das darauffolgende Wochenende anhängen. Es ist, wie ein Kurzurlaub.

Heute ist es soweit. Wir wollen zu unseren Eltern nach Shanghai fahren und können bis Mittwoch bleiben. Ein Firmenbus bringt uns nach Hangzhou und von dort geht es mit dem Schnellzug weiter nach Shanghai.

Unsere Mütter holen uns vom Bahnhof ab. Ungeduldig stehen sie am Bahnsteig und winken mit einem weißen Taschentuch, damit wir sie nicht übersehen. Mit dem Taxi fahren wir nach Hause und müssen über unser Leben in Hongping berichten.

Wir bekommen unsere Lieblingsspeise vorgesetzt. Es ist Nudelsuppe mit Hühnerfleisch, die keine Köchin besser zubereiten kann als Jins Mutter. Während des Essens müssen wir weitererzählen.

Mein Vater sitzt abseits in seinem Sessel an dem kleinen Tisch und spielt Schach gegen sich selbst. Er tut als würde ihn unsere Erzählung nicht interessieren. Ich weiß, dass er zuhört.

Er wollte nicht, dass ich studiere. Ein Technikstudium findet er für eine Frau unpassend. Mittlerweile scheint er sich damit abgefunden zu haben. Er kann sich nicht vorstellen, dass mir die Arbeit Spaß macht. Zumindest toleriert er großzügig meinen momentanen Zeitvertreib.

Die Mutter gibt mir zu verstehen, wie stolz sie auf mich ist. Sie hatte sich ein beruflich erfülltes Leben gewünscht. Durch die Kinder ist alles anders gekommen.

Als Jin von Feng erzählt und ins Schwärmen gerät, blickt mein Vater auf und sieht zu uns herüber. Ich merke, dass bei ihm die Alarmglocken läuten und trete Jin gegen das Schienbein. Sie ist sofort still und täuscht einen Hustenanfall vor.

Ich hoffe, dass die Lawine nicht ins Rollen kommt und mein Vater mir die Arbeit in Hongping verbietet. Sein Freund aus Hongkong hatte ihm geschrieben, dass die Zeit gekommen ist und er zu seinem Wort steht. Es ist ein vor vielen Jahren abgegebenes Heiratsversprechen für seinen einzigen Sohn Gehao, das er einlösen will. Im nächsten Jahr wollen sie sich treffen und Näheres bereden. Meinen Vater hatte diese Nachricht froh gestimmt, da der Freund mit seiner Bank in Hongkong und einer Filiale in London zu den reichen und angesehenen Auslandschinesen zählt.

Einst waren die beiden Männer in der gleichen Ausgangsposition. Sie hatten den Beruf des Bankkaufmanns erlernt und lebten in einem begüterten Elternhaus. Ihre Jugendzeit hatten sie miteinander verbracht. Die äußeren Umstände wiesen ihnen unterschiedliche Wege zu. Beide waren sie in ihrem Beruf angesehen. Der eine verarmte und der andere wurde reicher. Das änderte nichts daran, sich an ihr Versprechen bezüglich der Verheiratung ihrer Kinder zu erinnern.

Mir ist somit eine Zukunft in Reichtum beschieden und der Glanz meines Ehemannes wird auf unsere ganze Familie ausstrahlen. Vater ist besorgt, dass trotz aller Vorsicht die ersehnte Verschmelzung beider Familien gefährdet ist.

Ich verstehe seine Sorgen und bin bemüht ihn nicht unnötig zu strapazieren. Wenn Jin schwärmerisch von einem Jungen in Hongping spricht, könnte mein Vater denken, dass mir dort ein Mann über den Weg laufen könnte, in den ich mich verliebe.

Es würde nicht helfen, wenn ich ihm sage, dass er sich diesbezüglich keine Sorgen machen muss.

Wir kommen auf das unverfängliche Thema „Essen“ zu sprechen und mein Vater widmet sich erneut dem Schachspiel.

Als ich mit meiner Mutter allein bin, frage ich sie, ob sie ein Foto von meinem zukünftigen Ehemann hat. Sie kramt in ihrer Fotokiste und holt ein altes Bild hervor, auf dem er als Fünfjähriger zu sehen ist. Er sieht süß aus. Ein neueres hat sie nicht und will Vater nicht fragen ob sein Freund eines schicken könnte.

„Du wirst sehen, meine liebe Tochter, dass er wie ein strahlender Prinz eines Tages hier in unserem Haus stehen wird. Er ist nicht nur reich, sondern hoch gebildet. Es ist wichtig, dass du dich nicht nur deinem Beruf, sondern ebenso den schönen Dingen des Lebens verstärkt widmest.“

„Was meinst du damit?“

Meine Mutter ist überrascht, dass ich hinterfrage.

„Zum Beispiel die Musik.“

„Ich kann zwei Instrumente spielen, die Arhu und Querflöte. Genügt das nicht?“

„Das kann ich nicht sagen. Es kommt darauf an, welche Instrumente dein Bräutigam mag. Ich weiß nichts über ihn und habe keine Möglichkeit, es herauszufinden.“

„Soll ich ihm schreiben und fragen?“, erwidere ich.

Meine Mutter ist entsetzt über dieses Ansinnen.

„Nur das nicht! Das gehört sich nicht.“

„Wie willst du es herausbekommen?“

„Dein Vater muss seinem Freund schreiben und mit feinen Umschreibungen das Gewünschte erfahren.“

„Soll ich mit Vater sprechen?“, biete ich an.

Das scheint meiner Mutter nicht der richtige Weg zu sein. Sie vertröstet mich und will später allein mit meinem Vater darüber reden.

„Was soll ich außer Musik noch können?“

Ich habe das Gefühl, dass sich meine Mutter auf Glatteis befindet und nicht weiß, wie sie herunterkommt. Es macht mir Spaß, sie zu beobachten.

„Um einem Mann zu gefallen, gibt es vieles, was man wissen und können muss. Du wirst nach deiner Heirat eine wichtige Rolle an der Seite deines Gatten einnehmen. Ihr werdet viele Gäste haben, die du geistreich unterhalten musst. Manche Männer sehen es gern, wenn ihre Frau anderen Herren begehrenswert erscheint. Sie wissen, dass sie nur ihm gehört.“

„Mich soll kein Mann besitzen!“, erwidere ich barsch. „Das habe ich anders gemeint. Ich wollte sagen, dass der Mann das Oberhaupt in der Familie ist und die Frau sich ihm unterordnet.“