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Die Thüringer Königin Amalaberga hat dem ehemaligen Rebellenführer Siegbert aus Rodewin das Vertrauen entzogen. Diese Entscheidung stößt bei vielen ihrer ausgewanderten Krieger auf Unverständnis und sie wenden sich von ihr ab. Als eigene Hundertschaft werden sie im Heer des Langobardenkönigs Wacho aufgenommen und Siegbert wird ihr Anführer.
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Seitenzahl: 496
Veröffentlichungsjahr: 2025
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1. Das Frühlingsfest
2. Der Widder
3. Die Rodewiner
4. Reisevorbereitungen
5. Reise nach Erphesfurt
6. Rodewin
7. Vertrag mit den Franken
8. Siegberts Gut
9. Der Skalde
10. Auftrag des Fürsten
11. Auswahl der Krieger
12. Schwertschmieden
13. Der Jagdunfall
14. Der Prinz zu Besuch
15. Fest der Schmiede
16. Reise nach Osten
17. Im Reich der Awaren
18. Die Heimreise
19. Das Thing
20. Die weißen Hengste
21. Reise nach Thüringen
22. Die alte Heimat
23. Die Pferde der Kaiserin
24. Konstantinopel
Bild auf der Umschlagseite 1: Blick auf die Siedlung Rodewin (Neuroda) in Thüringen um 538.
Siegbert ritt auf der Bernsteinstraße nach Norden in Richtung Vindobona. Er hatte es nicht eilig und ließ die Zügel seines weißen Hengstes locker durchhängen. In Gedanken war er bei seinem Freund Amalafred, den er bis zur ostgotischen Grenze begleitet und verabschiedet hatte. Die Königin Amalaberga forderte ihren Sohn auf, nach Ravenna zu kommen, da sie sich bei den Ostgoten nicht mehr sicher fühlte. Trotz der Verschlechterung der Lage dachte sie nicht daran ins Langobardenreich, nach Vindobona zurückzukehren. Dort lebte der Großteil ihrer Getreuen, die ihr auf der Flucht bis an die Donau gefolgt waren.
Ein kühler Wind blies vom Osten über das flache Steppenland und ließ ihn erschauern. Ob Amalafred gut über den verschneiten Gebirgspass gekommen war? Gern wäre er seinem Freund gefolgt, um einen gemeinsamen Traum zu verwirklichen. Sie wollten sich dem kaiserlichen Feldherrn Belisar anschließen. Seine Fähigkeiten und Tapferkeit reichten weit über die Grenzen des oströmischen Kaiserreichs hinaus. Doch Wunsch und Wirklichkeit waren nicht immer in Einklang zu bringen. Pflichten standen im Weg, die ein freies Handeln einschränkten. Der Langobardenfürst Audoin hatte ihm angeboten, die abtrünnigen Thüringer zum nächsten Heerzug als Hauptmann anzuführen und auch die Familie war für ihn ein Hinderungsgrund, obwohl seine Frau Hedwig und die Kinder auf dem Gut im Tullnerfeld gut versorgt waren. War es die Liebe zu ihr, die ihn vor diesem Schritt zurückhielt? Er konnte es nicht sagen. Seine erste Frau Brunhilde liebte er innig und als sie unter den Eisschollendes Schwemmteiches bei Rodewin ertrunken war, glaubte er nie wieder eine andere Frau lieben zu können. Doch es kam anders. Er hatte seine Schwägerin Hedwig in Vindobona kennengelernt, als sie mit Hartwigs Sekretär die Nachricht von der Ankunft der Rebellen überbrachte. Sie hatte damals die beschwerliche Reise von Thüringen bis an die Donau auf sich genommen, um ihrem Reisebegleiter nahe zu sein. Doch er hatte ihre Liebe nicht erwidert und sie trennten sich. Warum sie sich danach für Siegbert entschied, blieb ihm ein Rätsel. Im Wesen passten sie kaum zusammen. Sie war lustig und frohgestimmt und er ernst und in sich gekehrt. Manchmal dachte er, dass sie sich für ihn deshalb entschieden hatte, weil es für sie eine Möglichkeit war, in Vindobona zu bleiben und ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen gestalten zu können. Die Ehe mit ihm bot ihr all diese Vorzüge. Mit der Geburt ihres Sohnes hatte sich zwischen ihnen vieles verändert. Ihre Beziehung war gewachsen und von gegenseitigem Respekt geprägt. Siegbert fühlte sich ihr stärker verbunden als zuvor und bewunderte sie wegen ihrer Selbständigkeit und Durchsetzungskraft. Dieses Leben wollte er nicht aufgeben für einen Traum, dessen Realisierung ungewiss war.
Es wurde dunkel. Er benötigte eine Unterkunft für die Nacht. In der Ferne war eine kleine Siedlung zu erkennen, in der aus einem der Langhäuser Rauch durch den schilfgedeckten Dachfirst aufstieg. Bald erreichte er das Anwesen und ritt auf den Hof einer Herberge. In der Gaststube saßen einige Handelsleute an einem großen Tisch und speisten. Sie sahen kurz zu dem neuen Gast und schenkten ihm keine weitere Beachtung. Genüsslich griffen sie nach den Fleischstücken in den Holzschalen und ließen es sich schmecken.
Siegbert nahm an einem kleinen Tisch Platz, der neben dem Eingang zur Küche stand. Der Wirt kam und fragte, was er essen und trinken möchte.
„Bring mir ebensolch Gesottenes, wie das am Nebentisch und dazu einen Becher Wein!“
„Jawohl, mein Herr!“, entgegnete der Wirt und eilte in die Küche.
Kurz darauf brachte er eine Schüssel mit dampfenden Fleischstücken und einem halben Laib Brot. Siegbert hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und einen Bärenhunger. Gierig griff er nach dem ersten Knochen und verbrühte sich die Finger. Mit dem Messer schnitt er das Fleisch von den Röhrenknochen und schlug sie auf den Tisch auf, damit das Mark herausfiel. Zufrieden sah der Wirt zu seinem neuen Gast, dem anzusehen war, dass es ihm schmeckte. Siegbert leerte seinen Becher Wein und deutete dem Wirt, dass er noch Durst hatte. Geschwind kam der Wirt mit einer Kanne zu ihm und schenkte den Becher bis zum Rand nach.
„Habt ihr sonst noch einen Wunsch?“, fragte er lächelnd seinen Gast.
„Hast du ein Zimmer für die Nacht?“
„Ja, mein Herr! Ihr werdet zufrieden sein. Bitte folgt mir!“
Sie stiegen die Treppe hinauf in das obere Stockwerk, wo sich die Kammern für die Gäste befanden. Der Wirt öffnete eine der Türen und sah seinen Gast fragend an. Es war ein großer Raum mit einer Luke zur Straßenseite. Der Wirt nannte den Preis und Siegbert nickte.
„Ich bleibe nur eine Nacht und muss morgen früh zeitig wegreiten. Ab wann kann ich frühstücken?“
„Die Küchenmagd ist wie ich zeitig auf den Beinen und wird euch einen süßen Brei zubereiten. Wenn ihr noch eine Wegzehrung benötigt, kann sie euch einen Laib Brot und Speck mitgeben.“
„Das hört sich gut an, doch jetzt werde ich erst einmal nach meinem Pferd sehen.“
Sie gingen zurück in die Gaststube und der Wirt zeigte seinem Gast den Pferdestall.
Sein Hengst war gut untergebracht, er stand in einer Einzelbox. Der Pferdesklave hatte ihm ausreichend Heu und Stroh in die Raufe gegeben und bürstete ihm das Fell. Zufrieden ging Siegbert zurück in die Gaststube und setzte sich an seinen Platz. Vom großen Tisch kam einer der Männer zu ihm und fragte, ob er sich zu ihnen gesellen möchte. Siegbert willigte ein und folgte dem Mann. Er stellte sich mit Namen vor und wurde neugierig betrachtet. Besonders einer der Männer schien sich sehr für ihn zu interessieren. Er stellte eine Frage nach der anderen.
„Ist das ein Verhör?“
„Oh, nein lieber Freund. Ich bin, wie du ein Thüringer und ziehe seit vielen Jahren durch die Länder, um meine Waren zu verkaufen“, sagte der Mann beschwichtigend.
„Aus welchem Gau stammst du?“
„Dem Obergegau!“
Siegbert konnte es kaum glauben.
„Dann kommst du aus meiner Heimat. Wie ist dein Name?“
„Ich heiße Arkadius!“
„Das ist kein Name, wie er in Thüringen üblich ist.“
„Früher hieß ich Adalwin, doch die Byzantiner nennen mich Arkadius. Ich lebte lange auf der Halbinsel Peloponnes und habe diesen Namen angenommen. Mein Onkel ist der Gaugraf des Obergegaus“, erklärte der Mann.
„Dann bist du der Vetter meiner Schwägerin Heidrun“, rief Siegbert begeistert aus.
Die Männer am Tisch hatten interessiert zugehört und einer der Handelsleute wollte wissen, was Siegbert weit ab von der Heimat treibt und womit er seinen Lebensunterhalt bestreitet.
Aller Augen waren auf den großen hageren Thüringer gerichtet. Was sollte er den Kaufleuten erzählen? Was preisgeben?
„Ich bin dabei eine neue Handelsroute nach Thüringen aufzubauen“, erklärte er den Männern.
„Dann bist du ein Kaufmann wie wir. Vielleicht können wir gemeinsam Geschäfte machen“, schlug ein anderer am Tisch vor.
„Ich stehe noch ganz am Anfang und will Handelsstützpunkte entlang der Via Regia errichten.
„Sowas kostet viel Geld. Bist du reich genug, um das zu bezahlen?“, wollten die Männer wissen.
„An Silber fehlt es mir nicht, denn ich verwalte mehrere Güter und die werfen einen Batzen Geld ab. Auf der neuen Handelsroute will ich die Überschüsse der Ernten bis ins Frankenreich liefern und sie dort verkaufen.“
Arkadius runzelte die Stirn und sagte: „Das birgt viele Gefahren. Die Thüringer haben kein Geld, um deine Waren zu bezahlen und im Frankenreich kannst du deine Sachen nicht gewinnbringend loswerden. Die Franken sind sehr wählerisch. Das Beste, was du ihnen anbietest, ist für sie nicht gut genug. Du kannst nur weit unter dem Wert die Sachen verkaufen.“
„Ich denke, dass ich die im Frankenland erworbenen Waren, hier im Langobardenreich gut handeln kann. Das deckt die Verluste. Die Langobarden sind verrückt nach fränkischen Waren und bereit überhöhte Preise dafür zu zahlen.“
Jeder der Kaufleute hatte etwas dazu zu sagen. Zustimmung und Ablehnung wechselten sich ab. Es war spät geworden und die Männer suchten ihre Kammern auf.
Arkadius und Siegbert blieben am Tisch sitzen und unterhielten sich ungestört über ihre Sippen in Thüringen.
Als die Franken ihre Heimat vor sieben Jahren überfielen war Arkadius in Konstantinopel. Er lernte dort eine andere Welt kennen, eine Welt an der Grenze zwischen Abend- und Morgenland. Ein kleines Vermögen hatte er sich dort erworben, doch noch mehr zählte die Erfahrung und das Wissen, das er sich aneignete. Das Heimweh veranlasste ihn zurückzukehren. Die Heimat war besetzt, deshalb wollte er sich in Vindobona bei seinen ausgewanderten Landsleuten niederlassen und ein Handelshaus gründen. Ob das Vorhaben seines Verwandten gelingen könnte, wusste er nicht. Wenn er es von Anfang an richtig anpackte und genügend Geld besaß, hätte er eine Chance. Arkadius überlegte, ob er ihm seine Hilfe anbieten sollte.
Ähnliche Gedanken gingen Siegbert durch den Kopf. Einen erfahrenen Handelsmann könnte er gut brauchen. Er fragte Arkadius, ob er für ihn arbeiten würde. Der Vetter seiner Schwägerin versprach, darüber nachzudenken und ließ sich das Vorhaben genau erklären. In Vindobona wollten sie sich in den nächsten Wochen treffen und das Gespräch fortsetzen. Die Erfahrungen von Arkadius wären zweifellos eine Bereicherung für das Unternehmen. Vielleicht könnte er die Stützpunkte zwischen Erphesfurt und Reims übernehmen. Dorthin traute sich Siegbert nicht. Wie er von seinem Bruder Hartwig erfuhr, suchten ihn die Franken weiterhin. Wegen seiner Vergangenheit als Rebellenführer würden sie ihn vor Gericht stellen und bestrafen.
Am nächsten Morgen stand Siegbert zeitig auf. Die Handelsleute schliefen noch. In der Küche hörte er Geräusche. Es war die Wirtin, die in einem Eisenkessel über der offenen Feuerstelle den Frühstücksbrei umrührte. Bevor er sich niedersetzte, lief er zum Stall und sah nach seinem Hengst. Das Pferd stand ruhig in der Box und ein Sklave striegelte das silberglänzende Fell. Siegbert nickte ihm zufrieden zu und ging über den Hof in die Gaststube. Die Wirtin trug ihm eine Holzschüssel mit Haferbrei auf und wünschte guten Appetit. Mit warmer Milch stillte er seinen Durst und sah aus dem kleinen Fenster auf den Hof. Die Morgensonne ging langsam auf und warf lange Schatten. Die Wettersituation hatte sich erheblich verbessert. Nichts erinnerte mehr an die zurückliegenden Jahre mit verstärktem Regen, Schneefall, Sturm und Kälte. Die Asen-Götter schienen die Schlacht gegen die Riesen für sich entschieden zu haben. Ragnarök, der Untergang der alten Welt, konnte das noch nicht gewesen sein. Die Schlechtwetterzeit hätte dann länger gedauert, um die Zerstörung der Welt einzuleiten.
Nach dem Frühstück kam der Wirt und fragte seinen Gast, ob er mit allem zufrieden war. Siegbert bedankte sich und zahlte den vereinbarten Betrag für Unterkunft und Verpflegung.
Noch bevor die Handelsleute aufstanden, ritt er weiter in Richtung Vindobona. In wenigen Tagen erreichte er die Kreuzung, bei der sich die Heerstraße nach Vindobona und Carnuntum teilte. Da er zuerst zu seinem Gut im Tullnerfeld wollte, bog er links auf einen unbefestigten Nebenweg ab, der über die Berge in das Donautal führte. Die Gegend kannte er noch nicht. Sie war wenig besiedelt. Er traf nur auf Köhler und Hirten, die darauf warteten, ihr Vieh auf die Waldwiesen treiben zu können. In den kleinen Siedlungen übernachtete er. Es erinnerte ihn an die Berge der Thüringer Heimat und das karge Leben ihrer Bewohner. Überall wurde er herzlich aufgenommen und nach dem Abendessen saßen alle gemütlich am Herdfeuer und Siegbert erzählte von seinen Erlebnissen bei den Kriegszügen des Königs Wacho.
Nach drei Tagen erreichte er den Bergkamm, von dem das Donautal zu sehen war und er erkannte von weitem sein Gutshaus, das nach ihm als „Siegbertshof“ benannt wurde. Gut zu sehen waren auch die zahlreichen Stallungen und Unterkünften für die Knechte, Mägde und Sklaven. Dies war seine neue Heimat. Er trieb den Hengst an, um noch vor dem Abend zu Hause zu sein.
Der Pferdesklave Alban war der erste, der ihn von weitem heran galoppieren sah. Er war auf der Weide und winkte ihm zu.
„Wie geht es dir, Alban!“, rief Siegbert und hielt sein Pferd an.
„Es steht alles zum Besten, Herr! Auch deiner Frau und dem Kind geht es gut. Sie sind beide wohlauf. Es gibt keinen Grund zur Sorge“, antwortete Alban mit einer tiefen Verbeugung.
„Wir sehen uns später!“
Die Überraschung im Haus war groß. Niemand hatte mit der Ankunft des Gutsherrn gerechnet. Hedwig lief auf ihren Mann zu und er schloss sie fest in die Arme.
Tränen der Freude liefen über ihre geröteten Wangen. Sie wischte sie mit ihrem Halstuch ab und gab der Dienerschaft Anweisungen, was für den Herrn zu tun wäre. Kalte Speisen wurden aufgetragen und Wein aus dem Keller geholt. Hedwig fragte in einem fort nach diesem und jenem. Ihr Mann kam kaum dazu, seinen Hunger zu stillen. Erst als die Freundin Sigrid im Wohnzimmererschien, konnte er aufatmen. Die Frauen erzählten abwechselnd, was sich während seiner Abwesenheit auf dem Gut zugetragen hatte und wie sie die Probleme in und außerhalb des Hauses lösten. Er lobte ihr emsiges Tun. Hedwig und ihre Freundin waren in ihren Entscheidungen auf sich allein gestellt und meisterten alles in seinem Sinn. Die Hütten für die verheirateten Sklaven und Knechte waren fertiggestellt und ein langobardischer Priester sorgte für ihr seelisches Wohl. Er hatte als Einsiedler in dem Bergwald südwestlich von Vindobona gelebt, weil viele seiner Landsleute sich von dem alten Glauben abgewandt und den neuen Christengott angebetet hatten. Als Hedwig von diesem Priester hörte besuchte sie ihn und konnte ihn dazu überreden aufs Gut zu kommen und den Menschen von Odin und der großen nordischen Götterfamilie zu erzählen. Siegbert war sehr gespannt, ihn kennenzulernen.
Inzwischen war es dunkel geworden. Nach dem Essen nahm Hedwig eine Öllampe und führte ihren Mann in den Raum, wo die Kinderwiege stand. Das Baby schlief fest. Glücklich sah er seine Frau an und strich mit den Fingern vorsichtig über die zarten Wangen des Kindes. Im Nebenraum war für ihn ein Zuber mit warmem Wasser aufgestellt worden. Hedwig half ihrem Mann sich auszukleiden. Seife hatte sie bei der alten Kräuterfrau gekauft, die sie aus Ziegentalg mit Holzasche herstellte. Der angenehme Duft kam von den verschiedenen Kräuterund Blütenextrakten, die in die Seifenmasse hineingemischt wurden.
Nachdem sie ihm gründlich den Rücken abgeschrubbt hatte, stieg sie selbst in das heiße Wasser. Entspannt saßen sie sich gegenüber. Sigrid brachte kühlen Wein in einer Kanne und schenkte beiden ein.
„Wie geht es deinem Mann? Ist er in Carnuntum?“
„Er begleitet den Fürsten Audoin zu König Wacho, der sich am See Pelso aufhält. Ich hörte, dass dort einige seiner Krieger an einer tückischen Krankheit verstorben sind. Ich wollte ihn begleiten, doch er hat es mir nicht erlaubt, wegen meiner Schwangerschaft.“, erklärte Sigrid.
„Es wird gut sein, wenn du hier bist. Vielleicht ist es die Beulenpest, die sich dort ausbreitet. Der Medicus hatte mir berichtet, dass es keine Medizin dagegen gibt und niemand weiß, wie sich die Seuche verbreitet. Doch hier sind wir weit weg vom See Pelso und es besteht keine Gefahr.“
Sie sprachen von angenehmeren Dingen und der Wein half, eine gute Stimmung aufkommen zu lassen. Eine Magd goss heißes Wasser nach und brachte süßes Gebäck. Siegbert trank hastig und zu viel. Die Müdigkeit überkam ihn. Er stieg schwankend aus dem Wasser und legte sich in das geräumige Ehebett. Im Nu war er eingeschlafen und schnarchte. Sigrid gesellte sich zu ihrer Freundin und sie genossen noch eine Weile das heiße Wasser, bevor sie zu Bett gingen.
Als der Hausherr zeitig am Morgen aufwachte spürte er zuerst seinen Brummschädel und konnte sich daran erinnern, dass er am Abend dem Wein sehr zugesprochen hatte. Langsam hob er den Kopf und ließ ihn gleich wieder fallen. Wie er ins Bett gelangte, wusste er nicht. Eingekeilt zwischen Hedwig und Sigrid, stand er vorsichtig auf. Die Frauen schliefen tief, wie Murmeltiere. Wieso lag Sigrid mit in dem Ehebett fragte er sich verwundert. Was war in der Nacht passiert? Er ging in den Nebenraum, wo Sigrids Bett stand. Es war vollkommen zerlegt und der Raum wurde neu hergerichtet. Jetzt war ihm klar, warum die Freundin in dem Ehebett schlief. Auf leisen Sohlen ging er die Stufen hinab zur Küche. Die Magd fachte das Feuer an der Herdstelle an. Sie wusste, dass der Herr ein Frühaufsteher war und wunderte sich nicht als er plötzlich erschien.
„Möchtest du Tee?“
Siegbert nickte und stellte fest, dass sein Schädel ruhig gehalten werden musste, um nicht stechende Schmerzen auszulösen.
„Wann steht die Herrin gewöhnlich auf?“, fragte er die Magd.
„Erst wenn die Sonne aufgegangen ist“, flüsterte sie, als wollte sie niemand im Haus aufwecken.
„Dann sind wir wohl die Einzigen, die zu dieser Zeit auf dem Gut wach sind?“
„In der Sklavensiedlung beginnt der Tag, wenn es noch dunkel ist. Sobald die Sonne aufgeht, stehen die Leute schon auf dem Acker. Sie sind sehr fleißig und scheuen keine Mühen“, antwortete die Magd.
Siegbert schlürfte den heißen Kräutertee und sah in die Flammen der Feuerstelle. Er hing seinen Gedanken nach. Es war gut, dass er seine Sklaven heiraten ließ, wie es in Thüringen Brauch war. Sie waren nicht als Sklaven geboren und kamen als Kriegsbeute in einem der siegreichen Feldzüge auf den Hof. Die Menschen hatten das Pech, die Verlierer im Kampf gegen das starke Heer des Langobardenkönigs Wacho zu sein. Es hätte auch anders kommen können. Was wäre, wenn Wachos Heer in den schwer zugänglichen Bergen Illyriens den Rebellen unterliegen würde. Sein Pferdesklave Alban verriet ihm, dass es den Tod aller Krieger bedeutet hätte.
Überall in der Sklavensiedlung brannten Fackeln und die Flammen der Herdstellen flackerten durch die Türöffnungen der Erdhütten. Alle schienen wach zu sein und gingen ihrer gewohnten Arbeit nach. Verwundert sahen sie zu Siegbert. Um diese Zeit hatten sie den Herrn nicht in ihrer Siedlung erwartet, doch keiner ließ sich von seinem Erscheinen im Tun beirren. Die Männer und kinderlosen Frauen liefen schweigsam in Gruppen zu den parzellierten Äckern des Guts. Sie lagen weit auseinander. Jeder wusste, was seine Aufgabe war. Es gab keinen Aufseher oder Antreiber.
Die Frauen, welche Kinder zu versorgen hatten, blieben zu Hause und kümmerten sich auch um die Alten und Kranken. Am Rande der Siedlung befand sich ein kleiner Teich. An seinem Ufer stand eine schilfgedeckte Hütte, aus der eigenartige Geräusche zu hören waren. Es ähnelte einem Gesang, begleitet von einer Trommel. Durch die offene Tür war ein Mann zu erkennen, der nur leicht bekleidet war und vor einer Feuerstelle saß. Ob das der Priester war? Langsam trat Siegbert in die Hütte und blieb in der Nähe des Eingangs stehen. Nach einer Weile wurde der Mann still und sprach: „Was hat dich hierhergeführt, Fremder!“
„Dein Gesang!“
„Setz dich zu mir! Ich werde dir erklären, was ich tue. Es ist ein Loblied für die Götter in Asgard. Ich weiß nicht, ob du sie kennst?“
Siegbert nickte.
Der Priester sprach weiter.
„Einst lebte mein Volk im Norden. Sie nannten sich Winniler und wurden von den Vandalen bedroht. Diese beteten zu Odin und er sagte zu ihnen, dass der Heerhaufen, den er am frühen Morgen als ersten erspähen würde, den Sieg bekäme. Die Weiber der Winniler beteten zu Frigga, der Frau Odins. Sie riet ihnen, dass sich alle Frauen der Winniler bei Sonnenaufgang im Osten aufstellen und ihre Haare wie Bärte vor dem Gesicht gebunden tragen sollen. Am Morgen stand Frigga zeitig auf und verschob das Bett ihres Mannes Odin, dass er nach Osten sah, wenn er sich erhob. Er wachte auf und rief erstaunt: ‚Wer sind diese Langbärte?‘
Frigga entgegnete ihm: ‚Du hast ihnen soeben den Namen gegeben. Jetzt gib ihnen den Sieg!‘
Im Kampf gewannen die Winniler und nannten sich von da an ‚Langobarden‘, die mit den langen Bärten. Für ihre Standhaftigkeit im Glauben an die Asen wurden sie von allen germanischen Stämmen hochgeachtet. Doch was ist geblieben? Die meisten haben vergessen, wo sie herkommen und wer ihre Ahnen sind. Sie lassen sich durch den neuen Christengott verführen und merken nicht, dass sie dem Untergang geweiht sind. Arianer kämpfen gegen Katholiken und andersherum. Unzählige christliche Sekten wachsen aus dem Boden, wie giftige Pilze. Sie lassen nichts anderes gelten als sich selbst. Was ist nur geschehen mit unserer Welt?“, klagte der Priester und wechselte zu dem vorangegangenen Gesang. Siegbert unterbrach den Alten nicht und entfernte sich langsam.
Er war froh, dass dieser heilige Mann in seiner Siedlung lebte und den Menschen von Odin, Thor und der gesamten Götterfamilie in Asgard erzählte. Bisher hatte er als Hausherr diese Aufgabe wahrgenommen, doch das reichte nicht. Er war zu selten auf dem Gut und sein Wirken war wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Mit diesem Mann könnte sich in Glaubensfragen vieles ändern. Die meisten seiner Sklaven stammten aus Illyrien, doch es waren inzwischen auch viele Slawen dazugekommen, deren ursprünglicher Glauben ein anderer war. Sie verehrten verschiedene Naturgottheiten.
Am Horizont zeigte sich zaghaft die Sonne. Siegbert ging zu den Pferdeställen, die unter der Aufsicht von Alban bereits fertiggestellt waren. Drei Langhäuser standen eng beieinander vor dem Zaun zur großen Koppel. Im mittleren Haus war der Pferdesklave mit seiner Frau untergebracht. Alban saß am Tisch und seine Frau bereitete den Frühstücksbrei im Kupferkessel über dem offenen Herdfeuer.
„Setz dich zu mir!“, rief er dem Gutsherrn zu und rückte am Tisch zur Seite.
Ohne zu fragen, reichte Albans Frau dem Gast eine Schale mit duftendem Hirsebrei und wünschte lächelnd guten Appetit. Die beiden Männer löffelten genüsslich den Brei, der mit Trockenfrüchten angereichert war.
„Was gibt es Herr, dass du so früh unterwegs bist. Hat dich dein Sohn geweckt?“, fragte Alban beiläufig.
„Nein, ich war wach und konnte nicht mehr weiterschlafen. Da habe ich gedacht, dass ich euch einen Besuch abstatte.“
Die beiden Männer unterhielten sich über die Pferdezucht. Die Tiere hatten den Winter gut überstanden. Sie blieben in kleinen Gruppen auf den ausgedehnten Weiden. Nur die trächtigen Stuten waren noch in den Boxen der Pferdeställe untergebracht. Für sie wäre der ständige Aufenthalt im Freien zu riskant. Wölfe durchstreiften in der kalten Jahreszeit regelmäßig das Gebiet, in dem sich die Pferde aufhielten. Die Tiere befanden sich in einer ständigen Anspannung. Da es genug Rehwild in der Gegend gab, ließen sie die Pferde in Ruhe. Den weißen Hengst, den Siegbert von seinem Schwiegervater Weibel bekam, hatte er als Deckhengst eingesetzt und alle waren voller Erwartung, wie die Fohlen aussehen würden. Der Hengst stand in einer der Boxen im Langhaus, damit Alban ihn ständig im Blick hatte. Er wusste, dass der Herr großen Wert auf das schöne Tier legte, da es aus der Zucht seines Bruders Hartwig stammte, der im Frankenreich ein Gut besaß und dort eine eigene Rasse weißer Pferde züchtete.
Alban stand vom Tisch auf und ging zur Box des Hengstes. Aufmerksam hob das Tier den Kopf in Erwartung ein Stück Brot zu bekommen. Der Hechtkopf des Tieres verlieh ihm eine besonders feine Note und die Erwartung war groß, ob die von ihm gezeugten Fohlen das gleiche Aussehen haben würden oder ob sich der Ramskopf der Stuten durchsetzt. Lange sprachen die beiden Männer über die Ziele der Zucht. Alban teilte seine Vorstellungen im Ganzen.
Der Gutsherr ging zurück ins Haus. Sigrid war in der Küche beschäftigt und bereitete die Zutaten für eine Suppe vor.
„Wieso bist du so zeitig aufgestanden?“, wollte sie wissen.
„Ich bin es gewohnt, nicht lange zu schlafen und habe den Priester besucht. Es war eine gute Idee, ihn auf unser Gut einzuladen. Odin wird es uns danken. Wo ist Hedwig? Schläft sie noch?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er eilig die Stufen hinauf, um nach seiner Frau zu sehen. Sie saß auf der Bettkante und stillte ihren Sohn.
„Möchtest du frühstücken? Sigrid macht dir einen Brei“, bot Hedwig an.
„Ich habe bei Alban und seiner Frau gegessen. Lass dich nicht stören, ich habe alles, was ich brauche.“
Er legte sich aufs Bett und sah zufrieden den beiden zu. Sein Sohn schien satt zu sein. Hedwig hob ihn hoch, klopfte ihm mit der gewölbten Hand sanft auf den Rücken damit er ein Bäuerchen machen konnte und legte ihn zurück in die Wiege.
Erst gegen Mittag stand Siegbert auf und suchte den Knecht, der für die Schafe zuständig war. Er fand ihn in einer der kleinen Siedlungen, die nicht weit vom Gutshof entfernt lag. Der Mann war damit beschäftigt, die Klauen der Schafe zu schneiden und die größeren Jungen halfen ihm dabei. Sie waren verwundert als plötzlich der Gutsherr auftauchte. Es musste einen besonderen Grund geben, denn zuvor hatte er sich noch nie bei ihnen sehen lassen. Vielleicht wollte er ein Lamm aussuchen, das der germanischen Göttin Ostara geopfert werden sollte. In wenigen Tagen war das Fest. Das hatte die Herrin bestimmt und einen freien Tag für diejenigen festgelegt, die sich zu den germanischen Göttern bekannten. Die Christen und Andersgläubigen schienen es nicht so genau mit ihrer Religion zu nehmen und schlossen bei ihren Gebeten Thor und Freya mit ein.
Siegbert ging mit dem Knecht zu der Schafskoppel und suchte ein paar Lämmer und einen alten Widder mit einem prächtigen Gehörn aus.
Ein Junge trieb die Tiere zum Gutshof. Sie wurden gesäubert und gekämmt, damit sie am Feiertag der Frühlingsgöttin Ostara geopfert werden konnten. Ab nun durften sie sich frei auf dem Hof bewegen. Kinder verwöhnten sie mit Köstlichkeiten, wie Apfel- und Rübenscheiben. Auch Möhren und frisches Gras vom Ufer der Donau mochten sie sehr.
Hedwig und Sigrid zeigten den Mädchen, wie sie Girlanden aus den Zweigen von Sträuchern mit dem ersten Grün des Frühlings winden konnten. Sie suchten Gänseblümchen, die sie in ihre Haare steckten und sangen den ganzen Tag lang fröhliche Lieder.
Für Siegbert gab es an den folgenden Tagen nichts zu tun. Wenn er sich nicht bei seinen geliebten Pferden aufhielt, ging er zu dem germanischen Priester und unterhielt sich mit ihm. Bevor der Mann den spirituellen Weg einschlug, war er ein Krieger im Heer der Langobarden gewesen. Bald erkannte er jedoch, dass das Töten von Menschen nicht seinem Naturell entsprach. Er hatte jedoch Verständnis für die Sorge des Allvaters Odin, der das Heer der Einherjer in Walhall verstärken wollte. Wenn Ragnarök, der Weltuntergang, bevorstand, sollte das Geisterheer gegen die Riesen antreten können und mit Hilfe der wenigen Asen und Wanen den Sieg der Götter herbeiführen. Die Einherjer waren gefallene, heldenhafte Krieger aus der Menschenwelt, die nach ihrem Tod von den Walküren nach Walhall gebracht wurden. Sie sitzen dort mit Odin in einer großen Halle und erzählen sich Heldensagen. Nach Sonnenaufgang üben sie sich im Zweikampf und am Abend fügen sich ihre abgeschlagenen Gliedmaßen wieder zusammen. Der Priester erzählte Siegbert auch viel von den anderen Religionen, die es gab und stellte interessante Parallelen her. Das bevorstehende Osterfest gab es schon seit vorchristlicher Zeit. Es war das Fest der Morgenröte oder das Frühlingsfest nach den harten Entbehrungen im Winter, wo nun alles wieder grünte und blühte. Ob das Fest einer Göttin mit Namen Ostara zugeschrieben werden konnte, glaubte er nicht. Für ihn war es der Beginn des Frühlings, dem Anfang der Sommerzeit, denn er teilte das Jahr nur in Sommer und Winter ein. Siegbert konnte seinen Ausführungen nicht immer folgen.
Nach den Gesprächen mit dem Priester war er oft verwirrt und sprach mit Hedwig und Sigrid darüber, die den Mann auch nicht immer verstanden. Viele Dinge erklärte er gut, das schaffte Vertrauen und bei den unbegreiflichen Sachen suchten sie den Grund bei sich selbst. Sie schoben es auf ihre ungenügende Bildung und Auffassungsgabe. Sigrid verglich ihn mit ihrem Mann, der ein berühmter Medicus war und den die meisten Menschen kaum verstanden. Sie schloss sich selbst dabei nicht aus.
Siegbert sprach gern mit gebildeten Menschen, da er von ihnen vieles lernen konnte, genau wie Odin, der stets bemüht war, sein Wissen zu erweitern. Der Göttervater gab sogar eines seiner Augen dafür her, um einen Schluck des Wassers aus der Quelle des Wissens zu erhalten, die von dem Riesen Mimir bewacht wurde. Dazu wäre Siegbert nicht bereit, doch er war ja auch kein Gott, der mit nur einem Auge gut sehen konnte.
Der Priester erzählte ihm am nächsten Morgen, wie sich diese Sache mit dem Auge zugetragen hatte:
„Der Weltenbaum Yggdrasil ist der erste und größte Baum der Welt, dessen Äste sich über alle neun Welten des gesamten Universums erstrecken und diese miteinander verbindet. Im obersten Teil des Baums befindet sich Asgard, wo die Asen wohnen. Darunter liegt Albenheim mit den Lichtalben oder Elfen, wie wir sie kennen und neben ihnen leben die Wanen in Wanheim, einem Göttergeschlecht, von dem niemand weiß, woher sie stammen. In der Mitte befindet sich Midgard, der Wohnort der Menschen. Diese Welt ist umgeben von den Welten der Eisriesen in Niflheim, den Feuerriesen in Muspellheim und den Riesen in Jötunheim. Im unteren Teil von Yggdrasil, dem Weltenbaum, befindet sich Schwarzalbenheim, die Heimat der Zwerge und ganz unten das Totenreich Helheim mit ihrer Herrin Hel.“
„Du wolltest von der Mimir-Quelle sprechen“, unterbrach ihn Siegbert.
Der weise Mann hatte für kurze Zeit den Faden verloren und versuchte sich zu erinnern.
„Du hast recht! Ich wollte dir von der Mimir-Quelle erzählen, die an einer der großen Wurzeln des Weltenbaums entspringt, die ins Land der Riesen nach Jötunheim wächst. Die Quelle wird von dem Riesen Mimir bewacht und in ihrem klaren Wasser sind Wissen und Weisheit verborgen.
Odin hörte davon und begab sich als Wanderer verkleidet zu dem Brunnen. Der Riese erkannte ihn nicht und verweigerte ihm, davon zu trinken. Als Odin aufgab und wegging rief Mimir ihn zurück und bot ihm an, dass er aus seinem Brunnen trinken darf, wenn er ihm eines seiner Augen gibt. Odin riss sich eines aus und reichte es dem Riesen. Da wusste Mimir, dass er einen Gott vor sich hatte. Kein anderer hätte das getan. Der Altvater durfte trinken und seither sind sie gute Freunde geworden.“
„Was ist mit dem Auge geschehen?“
„Das liegt am Grund des Brunnens. Odin hatte erkannt, dass ihm eines zum Sehen genügte. Nach dem Verlust des einen Auges bekam er die Fähigkeit des Hellsehens.“
„Ich weiß nicht, ob mir diese Gabe das Opfer wert wäre.“
„Du bist auch kein Gott“, erwiderte der Priester trocken.
Siegbert erkannte, dass sein Vergleich unpassend war. Er nahm eine Wachstafel aus der Hosentasche und schrieb die Namen der Welten darauf. Zuhause wollte er die Geschichte von Odin und Mimir seiner Frau erzählen. Die Notizen würden ihm helfen, sich an alle Einzelheiten zu erinnern. Neugierig sah der Priester dabei zu.
„Ich sehe, dass du die Runenschrift beherrschst. Nur wenige können diese Schrift lesen, geschweige denn sie schreiben. Wo hast du sie erlernt?“, wollte der Priester wissen.
„In meiner Heimatsiedlung lebte ein römischer Schreiber, der sie uns lehrte, wie auch das Latein und andere Sprachen.“
„Kannst du mir das gesamte Alphabet auf meine Wachstafel schreiben und daneben den lateinischen Buchstaben?“, bat ihn der Priester.
Siegbert freute sich, dass er dem weisen Mann helfen konnte. Sie verabschiedeten sich danach und er ging frohgestimmt zum Gutshaus.
Hedwig war in der Küche. Die Frauen backten Honigplätzchen für das Frühlingsfest. Das kleine Gebäck war mit vielerlei frischen Kräutern, Nüssen, getrockneten Beeren und mit viel Honig angereichert. Die Plätzchen sollten am Festtag als Geschenk an Gäste und das Gesinde verteilt werden. Vor dem Backen wurde der Teig in Holzformen gepresst und von dort herausgeschlagen. Die Gebilde ähnelten Tieren, die im Besonderen die Fruchtbarkeit und den Frühling verkörperten. Es waren Bienen, Hummeln, Igel, Frösche, Eichhörnchen, Zugvögel, Schafe und Hasen. In Lehmöfen, außerhalb des Gutshauses, wurden sie gebacken. Wenn ein Plätzchen zerbrach, bekamen die ungeduldig wartenden Kinder, die bei den Vorbereitungen des Festes mitwirkten, einen Teil davon ab. Für sie war die Vorbereitungszeit ein großes Erlebnis und sie strömten aus allen umliegenden Siedlungen herbei. Hedwig konnte gut mit ihnen umgehen.
Siegbert war stolz auf seine Frau, wie sie sich auf dem Gut eingelebt hatte und gut wirtschaftete. Er war bemüht in ihren Wirkungsbereich nicht hineinzureden, dazu war er auch zu selten daheim und für die Dinge im Haus hatte er sich noch nie sonderlich interessiert.
Was den Außenbereich betraf, gab es Alban und den Vorknecht, die dafür sorgten, dass der Gutsbetrieb am Laufen blieb. Er als Gutsherr musste nicht gefragt werden, wenn Entscheidungen in der Tagesarbeit getroffen werden mussten. Standen wichtige Dinge an, gingen der Vorknecht und der Pferdesklave Alban gleich zu Hedwig. Sie entschied in seinem Sinn und verschaffte ihm die Freiheit, sich mit den Dingen zu beschäftigen, die ihn mehr interessierten als die Arbeiten auf dem Gut.
Hedwig war in der Küche mit der Vorbereitung des Essens beschäftigt. Siegbert wollte sie nicht stören, deshalb suchte er Alban im Pferdestall. Auch mit ihm konnte er nicht sprechen, da er die Zäune der Koppeln kontrollierte. Alle gingen ihrer gewohnten Arbeit nach. Was konnte er auf dem Gut tun, das ihn befriedigte. Darüber hatte er sich zuvor noch keine Gedanken gemacht. Die Situation, in der er sich befand, war neu für ihn. Er musste sich eine Beschäftigung suchen, die ihn befriedigte, denn sonst würde er ins Grübeln kommen und das wollte er nicht.
Noch vor wenigen Wochen war er ein vielgefragter Mann. Das änderte sich plötzlich als er das Amt, welches er von der Königin erhalten hatte, verlor. Damit musste er lernen klarzukommen. Schon bei der Abreise der Rebellenkrieger aus Thüringen war ihm der Gedanke gekommen, dass seine eigenmächtige Entscheidung des Abzugs der Rebellen aus der Heimat, der Königin missfallen könnte. Mit erheblicher Verzögerung hatte sie nun reagiert und ihm ihr Vertrauen entzogen. Siegbert fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Amalafred und Audoin standen fest hinter ihm, doch viel mehr als Trost zu spenden, konnten sie nicht tun. Einige seiner ehemaligen Rebellenkrieger hatten sich von dem Thüringer Heerhaufen in Vindobona, der dem Gaugrafen Gunnar unterstand, losgesagt. Es waren nur wenige, die der Langobardenfürst in Carnuntum in seine Dienste nahm und als eigene Hundertschaft in seinen Heerhaufen eingliederte. Er bot Siegbert an, als Hauptmann diese abtrünnigen Thüringer zu befehligen. Ausfüllen konnte diese Aufgabe den ehemaligen Rebellenführer nicht, doch es war ein Anfang, um wieder Fuß zu fassen.
Da es auf dem Gut nichts Wichtiges für ihn zu tun gab, entschloss er sich in wenigen Tagen nach Carnuntum zu seinen Männern zu reiten.
Gelangweilt sah er durch das Fenster auf den Gutshof. Neben dem Gemüsegarten grasten die Schafe, die er für das Ostara-Fest als Opfertiere ausgewählt hatte. Den Kopf des Schafbocks wollte er noch bis zu seiner Abreise präparieren und als Feldzeichen den Rebellenkriegern übergeben. Er ging zu der Gruppe Schafe und stellte sich demonstrativ vor den Schafbock. Misstrauisch sah ihn der Widder an und stellte sich schützend vor die Lämmer. Plötzlich stürmte er mit gesenktem Gehörn auf Siegbert los und wollte ihn rammen. Der sprang zur Seite und der Widder lief ins Leere. Dieses Spiel wiederholte sich mehrmals in gleicher Weise. Die Leute auf dem Hof kamen hinzu und sahen sich das Schauspiel an. Bei einem erneuten Angriff des Widders packte der Gutsherr ihn blitzschnell an den Hörnern und warf ihn zu Boden. Dabei brach er ihm das Genick und das Tier war augenblicklich tot. Gekonnt trennte er ihm mit seinem Gürtelmesser den Kopf ab und trug die Trophäe in den Pferdestall. Albans Frau schrie auf, als sie den blutbeschmierten Herrn sah. Sie vermutete, dass der Widder ihn verletzt hatte. Siegbert bat sie, den Kadaver des toten Tieres holen zu lassen, damit er ihn ordnungsgemäß ausweiden konnte. Den Kopf des Widders säuberte er und schärfte die Decke mit seinem Messer ab. Dann zog er den Unterkiefer heraus und legte den Schädel auf den Tisch.
Zwei Sklaven brachten den Kadaver in den Stall. Er zog dem Tier die Haut ab und weidete es aus. Verwundert sahen ihm Albans Frau und die Sklaven zu. Was war passiert? Warum erledigte der Herr die blutige und schwere Arbeit allein? Das Fleisch teilte er in kleine Portionen und wies die Sklaven an, sie in die umliegenden Siedlungen zu bringen und zu verteilen. Er betrachtete den Schädel mit dem wunderbaren Gehörn.
„Wenn du willst, mache ich weiter. Ich kenne mich damit aus“, sagte Albans Frau zu ihm.
Siegbert nickte ihr zu und ging zum Haus. Hedwig schrie vor Schreck auf als sie ihren Mann blutbeschmiert vor sich sah. Im ersten Moment dachte sie an einen Unfall und suchte nach Verletzungen an seinem Körper, doch sie konnte keine erkennen.
„Was ist passiert?“, jammerte sie ängstlich.
„Sei unbesorgt! Ich habe nur einen Widder geschlachtet.“
„Das hätten doch die Knechte tun können?“, rief sie aufgeregt.
„Die waren alle mit ihrer Arbeit beschäftigt. Nur ich hatte nichts zu tun. Mir war langweilig“, rechtfertigte er sich lachend.
„Und da glaubst du die Zeit mit dem Töten von Schafen verbringen zu können“, tadelte Hedwig ihren Mann. Er versuchte sie mit seinen blutbeschmierten Händen anzufassen, doch sie wich ihm aus.
„Erst wenn du gewaschen bist, darfst du mir näherkommen“, erwiderte sie barsch.
Er gab den Mägden den Auftrag, ihm ein Bad herzurichten.
Diese Aktion hatte ihn zufrieden gemacht und er war voller Erwartung, wie seine Krieger auf die Trophäe reagieren würden.
Im Zuber dampfte das Wasser. Siegbert stieg langsam hinein und ließ wärmeres Wasser nachgießen. Sigrid kam, um ihm den Rücken zu waschen.
„Wo ist meine Frau? Hat sie immer noch keine Zeit für ihren Mann?“
„Sie gibt gerade die Plätzchen in den Backofen. Danach kommt sie zu dir“, entschuldigte Sigrid die Freundin.
Es dauerte lange, bis Hedwig erschien. Inzwischen hatte ihr Mann viel Wein durch die Kehle rinnen lassen, den ihm die Mägde brachten. Er war betrunken und ließ sich von Hedwig ins Bett bringen. Es war vormittags, als er einschlief und erst am Abend wachte er auf. Verwundert sah er sich um. Noch nie hatte er den größten Teil des Tages verschlafen. Schwankend ging er in den Speiseraum und hoffte dort seine Frau zu finden. Sie war in der Küche und hatte die Backarbeiten beendet. Körbe mit Plätzchen standen auf dem Tisch, und ihr Duft verbreitete sich im ganzen Haus. So gut roch es zum Julfest in Rodewin, wenn seine Mutter gebacken hatte. Er war froh, dass Hedwig die Traditionen aus der alten Heimat hier fortsetzte.
Die Frauen waren zufrieden, dass sie die vorgenommene Menge an Gebäck für das Fest zubereitet hatten. Dies war die größte Arbeit für das Frühlingsfest. Hedwig fand nun Zeit für ihren Mann. Sie fragte ihn, wie sein Besuch in der Früh beim Priester verlaufen war. Siegbert erzählte ihnen die Geschichte von Odin und Mimir, wie sie sich zum ersten Mal begegneten. Aufmerksam lauschten die Frauen seinen Worten und hätten gern noch mehr von der Beziehung zwischen dem Gott und dem Riesen erfahren, doch sie waren zu müde an diesem Abend und wollten sich gleich niederlegen. Siegbert war ausgeschlafen und überlegte, wie er die Langeweile totschlagen konnte. Es fiel ihm jedoch nichts ein. Hedwig rief ihm zu, ins Bett zu kommen. Auf dem Tisch im Schlafzimmer brannte eine Öllampe und leuchtete den Raum spärlich aus. Hedwig saß auf der Bettkante und stillte ihren Sohn. Sigrid lag auf der anderen Seite des Bettes und schlief fest. Für ihn blieb nur die Mitte des großen Bettes übrig. Hedwig legte ihr Baby in die Krippe und deckte es mit einer Daunendecke zu. Sie kam zurück und fragte scherzhaft, ob noch Platz im Ehebett sei.
„Ist Sigrids Schlafraum schon hergerichtet? Wir könnten in ihr Bett wechseln.“
„Das geht nicht, der Schreiner hat noch zu tun. Sie schläft tief, das kann ich an ihrem Schnarchen hören“, erklärte Hedwig und legte sich ins Bett.
Die Müdigkeit von der schweren Tagesarbeit war von ihr gewichen und sie erinnerte ihren Mann scherzend daran, seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Sie brauchte das nicht ein zweites Mal sagen. Mit Sorge achtete er auf Sigrids Geräusche. Lieber wäre er mit seiner Frau allein im Bett gewesen, doch wenn sie es so wollte, sollte es so sein. Hedwig hatte nicht nur im Haus, sondern auch im Bett das Sagen. Daran wollte er nichts ändern. Zufrieden schliefen beide ein, doch die Ruhe hielt nicht lange an. Das Baby beharrte auf seine festen Essenszeiten. Schlaftrunken stand Hedwig auf und versorgte das Kind. In dieser Nacht fand auch ihr Mann nur wenig Schlaf. Seine Frau erinnerte ihn ständig daran, für Nachwuchs zu sorgen.
Die Sonne schien durch die Fensteröffnung auf das Bett. Eine innere Stimme sagte Siegbert, liegen zu bleiben und Kraft zu tanken. Er hörte auf diese Stimme und ließ sich treiben. Erst gegen Mittag stand er auf, ging zum Fenster und sah zum Fluss. Die Donau war stark angeschwollen. Der Schnee in den Gebirgen taute und füllte die Nebenflüsse der Donau. Das Wasser reichte bedrohlich nah an das Gutshaus heran. Einige Wiesen waren bereits überschwemmt und es trieben allerlei Dinge auf dem Wasser flussabwärts.
Siegbert war in Sorge und lief zu Alban, der damit beschäftigt war, seinen Sattel für den Ausritt herzurichten. Aufgeregt rief er ihm zu: „Hast du das Wasser der Donau gesehen? Es wird das Haus bald erreichen.“
„Bis zu uns wird es nicht gelangen.“
„Woher willst du das wissen?“
Alban erklärte ihm, warum das Wasser nicht bis zum Gut gelangen konnte. Der Pegelstand der Donau müsste um das Doppelte anwachsen, bis das Wasser den Gutshof erreicht und das schien unmöglich. Siegbert beruhigte sich langsam. Mit Gewässern hatte er nicht viel im Sinn. Er fragte sich, woran das liegen könnte. Vielleicht war der Gedanke an seine ertrunkene Frau Auslöser für die Panik.
Mit Alban ritt er zu den Weiden, die bis zu den Bergen reichten. Zwei Sklaven begleiteten sie, die auf den Packpferden Werkzeug und Ersatzpfosten mit sich führten. Kleinere Reparaturen wurden gleich erledigt und bei größeren Schäden machte sich Alban Notizen auf seiner Wachstafel, die er um den Hals trug. Sie blieben den ganzen Tag unterwegs. Am Nachmittag machten sie Halt und Alban nahm aus seinem Ledersack einen Weinschlauch, Speck und Brot. Er schnitt Streifen von der Speckseite und zerteilte den Brotlaib. Seine zwei Gehilfen versorgte er ebenso, wie den Gutsherrn. Nichts erinnerte an den Standesunterschied zwischen den Männern. Die beiden Gehilfen trugen das gleiche Brandzeichen wie Alban, demnach stammten sie aus dem gleichen Gebiet. Sie hatten ein kleines Feuer entfacht und hielten Stöcke mit dem aufgespießten Speck darüber.
Siegbert wollte von Alban wissen, wie sie in seiner Heimat das Frühlingsfest feierten. Der Pferdesklave berichtete ausführlich von den Bräuchen und Ritualen zu diesem Anlass. Vieles, was man in Thüringen kannte, war bei den Illyrern zu finden. Es wurde zu diesem Fest gebacken, die Häuser und Ställe gereinigt und geschmückt, viel getrunken, gegessen und getanzt. Nicht nur Gottheiten wurden an diesem Tag angebetet, sondern es wurde auch den Helden im Kampf gegen die Römer gedacht. Besonders verehrt wurde eine Frau, die sich vor mehreren Jahrhunderten gegen die Römer stellte. Es war Königin Teuta, die eine große Piratenflotte besaß und die Adriaküste unsicher machte. Die Tapferkeit und der Mut dieser Frau lebten im Freiheitsgedanken der Illyrer fort. Alban erzählte von der Frau, deren kurzes Leben ein tragisches Ende fand. Vergleichbare Helden und Heldinnen, die sich der Fremdherrschaft der Franken entgegenstellten, gab es in Thüringen nicht. Sein Wirken als Rebellenführer in den Thüringer Bergen war gering gegenüber dem Heldenmut dieser Königin.
Alban drängte aufzubrechen, denn sie hatten noch viel zu tun und ritten zügig an dem Weidezaun entlang. Siegbert dachte noch lange über den Kampf der Illyrer nach. Sie wehrten sich gegen die Römer und blieben erfolglos. Ob es den Thüringern gelingen wird, sich aus der Fremdherrschaft der Franken zu lösen, wissen nur die Nornen, die drei Schicksalsgöttinnen, die alles bestimmten.
Am späten Nachmittag kamen sie im Gutshof an. Der Gutsherr war zufrieden mit dem, was er mit seinen Leuten geschafft hatte, und erzählte seiner Frau von der illyrischen Königin Teuta und ihrem Kampf gegen die Römer. Er versuchte ihr zu erklären, dass sie ein ähnliches Schicksal wie die Thüringer hatten und nur die Aufopferung für den Sieg und die Freiheit zählte.
Hedwig war, wie so oft anderer Meinung. Sie glaubte nicht daran, dass der Kampf der Rebellen auf lange Sicht zum Sieg geführt hätte und entgegnete: „Wenn du mit deinen Kriegern nicht nach Vindobona gezogen wärst, wären die meisten von ihnen verhungert, wir wären uns hier nicht begegnet, es gäbe keine Heirat und du hättest nicht das schöne Gut von Amalafred bekommen. Du bist kein Rebellenführer mehr. Jetzt bist du mein Mann und wir leben als Familie auf einem schönen Gut an der Donau.“
Siegbert störte es, dass seine Frau das Private über die Sache des Freiheitskampfes ihres Volkes stellte. Beschwichtigend strich Hedwig ihm über die Hand. Sie wollte keinen Streit. Als ihr Mann nicht davon abließ erinnerte sie ihn an die Flucht der Thüringer Königin nach Ravenna und wie gering sie seine Bemühungen im Kampf gegen die Franken in der Heimat gewürdigt hatte. Betrübt musste er feststellen, dass sie recht hatte.
Hedwig wechselte das Thema und berichtete ihrem Mann, dass sie mit Sigrid den Priester aufgesucht hatte und über den Ablauf des Frühlingsfestes sprachen. Dabei sollte Siegbert eine wichtige Rolle einnehmen. Als Gutsherr erwartete man von ihm eine Ansprache, in der er die Götter für ein gutes neues Jahr bitten sollte.
Am nächsten Morgen ging er zu den überschwemmten Weiden an der Donau, um über seine Rede zum Frühlingsfest nachzudenken. Immer wieder sah er zum Fluss, der zu einem riesigen See angeschwollen war. Der größte Teil der Grasflächen stand unter Wasser. Die Tiere hatte man rechtzeitig auf höher gelegene Wiesen getrieben. Angeblich sollte für das Gutshaus und die umliegenden Siedlungen keine Gefahr bestehen, doch er blieb skeptisch. Fasziniert blickte er auf die Wasseroberfläche. Umgestürzte Bäume trieben im Strom, die auf das Überschwemmungsgebiet drifteten und liegen blieben. Er sah zerstörte Boote und Tierkadaver, die im Strom schnell dahintrieben. Nichts konnte diese Wassermassen aufhalten.
Plötzlich war eine Kinderstimme zu hören. Siegbert blickte sich erschrocken um. Es war niemand zu sehen. Vielleicht hatte er sich geirrt. Erneut hörte er die klagende Stimme. Auf einem Baumstamm sah er ein Bündel liegen. Es konnte ein Tier sein, doch vielleicht war es auch ein Kind. Der Stamm trieb langsam im seichten Wasser dahin. Siegbert musste handeln. Hilfe war keine in der Nähe und die nächste Siedlung zu weit, als dass ihn jemand hören könnte. Er watete eilig in die Richtung des Stammes und vermutete, dass von dort das Weinen kam. Bald ging ihm das stark verschmutzte Wasser bis zur Brust und er musste sich schwimmend vorwärtsbewegen. Zum Glück war die Strömung im Überschwemmungsgebiet nicht so stark, wie im Hauptstrom, dessen Ufer durch die aufgereihten Baumkronen in der Ferne erkennbar war. Mit Mühe erreichte er den Stamm und sah ein kleines Mädchen, wie es sich ängstlich an einem starken Ast festklammerte. Beruhigend redete er auf das Kind ein, das zu jammern aufhörte. Er überlegte, wie er den Baumstamm zum Ufer bringen könnte. Vor sich sah er in Fließrichtung einen Weidenbaum, der bis zur Hälfte aus dem Wasser ragte. Zu ihm musste er den Stamm schieben und ihn an den Ästen fixieren.
Es gelang ihm mit großen Mühen. Die schlimmste Gefahr schien gebannt. Wie sollte er mit dem Kind zum trockenen Ufer gelangen? Nach kurzem Überlegen sah er keine andere Möglichkeit als zu schwimmen. Das Mädchen wollte jedoch den Sitz auf dem Baumstamm nicht verlassen. Er brauchte lange, sie zu überreden, dass sie sich auf seinem Rücken festklammerte.
Mit letzter Anstrengung erreichte er mit dem Kind die flache Wasserzone und konnte nun mit dem Mädchen im Arm zum trockenen Ufer waten. Erschöpft setzte er sich nieder. Das Mädchen fing wieder an zu weinen und zitterte vor Kälte. Sie rief ständig nach ihrer Mutter. Siegbert raffte sich auf und lief mit dem Kind in den Armen in Richtung Gutshof. Er erreichte den Pferdestall und sank entkräftet nieder. Albans Frau gab ihm eine Decke und führte die beiden zur Feuerstelle. Dort legte sie mehrere Holzscheite in die Glut und rubbelte das Mädchen mit einem Leinentuch trocken. Die Lippen des Kindes waren blau vor Kälte. Sie setzte es in einen Holzbottich und gab warmes Wasser hinein. Siegbert fröstelte unter der Decke. Albans Frau gab ihm Tee zum Aufwärmen.
Eine Magd hatte die beiden in den Pferdestall laufen sehen und informierte die Herrin. Hedwig eilte zu den Stallungen und sah ihren Mann zitternd auf einem Strohballen in eine Decke gehüllt sitzen. Er war bleich im Gesicht.
„Was ist passiert? Wer ist das Kind?“, fragte Hedwig ihren Mann.
„Sie trieb auf einem Baumstamm in der Donau“, flüsterte ihr Mann kaum hörbar.
Das Mädchen weinte immer noch und rief wimmernd nach ihrer Mutter. Albans Frau kümmerte sich rührend um sie. Hedwig stützte ihren Mann und ging mit ihm zum Haupthaus. Sie brachte ihn in die warme Küche und half ihm die nasse Kleidung auszuziehen. Er zitterte am ganzen Körper. Die Köchin goss Wasser in den bereitgestellten Holzzuber für ein heißes Bad. Sigrid wärmte Met auf und reichte ihm das Getränk. Es schien seine Lebensgeister zu wecken. Neugierig saßen beide Frauen auf ihren Schemeln und hofften, dass Siegbert ihnen erzählen würde, was passiert war. Die Geschichte von der Rettung des Kindes berührte sie sehr und sie glaubten, dass sie ein Geschenk der Götter sein musste. Hedwig lief zum Pferdestall, um nach dem Mädchen zu sehen und herauszufinden, woher es kam. Das Kind stand unter Schock. Es musste etwa zehn Jahre alt sein. Ihre Augen blickten ins Leere. Sie hatte aufgehört nach ihrer Mutter zu rufen und zu weinen. Bei Albans Frau schien sie in guten Händen zu sein. Hedwig bot ihr jede notwendige Hilfe an und fragte, ob sie die Kräuterfrau kommen lassen soll, doch Albans Frau verneinte.
Beruhigt ging sie zurück ins Haus und sah nach ihrem Mann. Er hatte sich ins Bett gelegt und fröstelte. Sigrid erkannte, dass er eine starke Erkältung hatte und versorgte ihn, wie sie es von ihrem Mann gelernt hatte.
Am nächsten Morgen gab es großen Tumult auf dem Gutshof. Tische und Bänke wurden aufgestellt und die letzten Vorbereitungen für das Fest abgeschlossen. Siegbert hatte sich ein wenig erholt. Das starke Fieber war zurückgegangen und die Schweißausbrüche ebbten ab. Sigrid riet ihm noch nicht aufzustehen und mindestens drei Tage das Bett zu hüten, damit er keine Lungenentzündung bekäme. Widerwillig gehorchte er und legte sich gleich wieder nieder.
Das Geschrei der Kinder auf dem Gutshof nahm zu. Sie hatten sich aus allen Siedlungen auf dem Hof versammelt und Alban zeigte ihnen verschiedene Spiele, bei denen sie etwas gewinnen konnten. Am beliebtesten schien das Eierlaufen zu sein. Es ging darum, ein gekochtes Ei auf einem Holzlöffel über eine Ziellinie zu bringen. Der Sieger durfte es behalten und verspeisen. Die Frauen und Männer, die an diesem Tag frei bekamen, standen dabei und amüsierten sich. Hedwig und Sigrid kümmerten sich um die Gäste. Sie verteilten wohlschmeckende Fleischsuppe und reichten frisches Brot, das in dem Lehmbackofen gebacken wurde. Für die Männer gab es Bier und die Frauen tranken Tee.
Noch vor der Mittagszeit begann der Priester mit seinem Ritual. Er hielt eine Trommel in der Hand und schlug mit einer Art Holzlöffel darauf. Die Bespannung der Trommel zeigte mehrere Bilder von germanischen Göttern und verschiedene Runen. Sein Gesang war monoton, wie der von den Schamanen, die sich damit in einen Rauschzustand versetzen. Zwei Gestalten, in schwarze Decken gehüllt, standen unbeweglich an seiner Seite. In einem Weidenring in der Mitte des Hofes war Erde geschüttet worden und bildete den Altar. Darauf waren mehrere Strohgarben aufgestellt. Der Priester entzündete sie, um die Aufmerksamkeit der Götter zu erzielen. Das Stroh brannte lichterloh und die Flammen schlugen in die Höhe. Das war der Moment als die Decken der eingehüllten Personen zu Boden fielen. Eine schöne junge Frau und ein junger Mann kamen zum Vorschein. Sie waren mit Blätter- und Blumengirlanden geschmückt. Es sollten Freya und ihr Bruder Freyr sein, die für Fruchtbarkeit auf der Erde sorgten. Die von Siegbert ausgewählten Lämmer wurden auf dem Altar geopfert und ihr Blut mit Wasser verdünnt in mehrere Kupfergefäße gegossen. Damit wurden die umstehenden Personen und Tiere von den personifizierten Göttern bespritzt.
Die Feier dauerte bis zum Nachmittag. Dann gingen alle zurück in ihre Siedlungen. Hedwig war zufrieden mit dem Ablauf und erzählte ihrem Mann ausführlich darüber.
Am dritten Tag fühlte er sich gesund und wollte bald nach Carnuntum zu seinen Kriegern reiten. Ob ihre Anzahl inzwischen gestiegen war? Da sie nicht mehr als Thüringer an den Kriegszügen von König Wacho teilnehmen durften, sondern einen freien Heerhaufen bildeten, brauchten sie einen neuen Namen. Aus Dankbarkeit für den Gaugrafen Harald aus Rodewin, der sie im Kampf gegen die Franken in den Thüringer Bergen unterstützt hatte, sollten sie fortan „Rodewiner“ genannt werden.
Siegberts Gedanken waren nur noch bei den Kameraden. Er suchte Alban auf und betrachtete den Widderschädel, den sein Weib gebleicht hatte. Der Pferdesklave hatte geahnt, was Siegbert damit vorhatte und eine zusammensteckbare Stange gefertigt, an der man den Schädel mit dem prächtigen Gehörn befestigen konnte. Es sollte das neue Feldzeichen der „Rodewiner“ sein. Als Jungkrieger im Heer des Thüringer Königs Herminafrid hatte Harald ein solches Feldzeichen für seine Kriegerschar gewählt. Nichts konnte Siegbert mehr zu Hause halten. Den nächsten Tag bestimmte er für seine Abreise. Hedwig bedauerte es, doch sie wusste, dass sie ihren Mann nicht dazu bewegen konnte, länger zu bleiben.
Der Weg nach Carnuntum war beschwerlich. Siegbert übernachtete in Vindobona und ging in die Therme. Das heiße Bad tat ihm gut und die Kräfte kehrten langsam zurück. Die Erkältung war noch nicht ganz ausgeheilt, weshalb er zwei Tage in seiner Kemenate im Prinzenhof verbrachte. Die Haushälterin Hildegard tat ihr Bestes, dass er bald wieder zu Kräften kam und nach Carnuntum weiterreiten konnte.
Mit dem Feldzeichen auf dem Packpferd kam Siegbert am späten Nachmittag in Carnuntum an. Er ritt zur Villa von Fürst Audoin, die außerhalb des Militärlagers lag. Dort nahm er Quartier in den Räumen, die Prinz Amalafred und ihm vorbehalten waren. Der Fürst war bei König Wacho am See Pelso und bereitete mit ihm den neuen Heerzug gegen die aufständischen Illyrer vor. Siegbert hielt sich nicht lange in der Villa auf und ritt sogleich in das ehemalige Legionslager Carnuntum.
Die abtrünnigen Krieger hatten ihren Anführer schon sehnsüchtig erwartet. Ihre Anzahl war inzwischen um das Fünffache angewachsen. Im Heerlager Carnuntum wurden ihnen vier Langhäuser von der Verwaltung zur Verfügung gestellt, in denen zwei Hundertschaften Platz hatten. Die meisten Abtrünnigen waren ehemalige Rebellen, die mit Siegbert die Heimat verließen. Mit gemischten Gefühlen folgten sie damals ihrem Anführer an die Donau. Ihre Bindung zu ihm war stärker als die zur Königin, deren Entscheidung sie nicht verstanden und den neuen Befehlshaber der Thüringer Gunnar erkannten sie nicht an. Der Rebellenführer hatte die Männer in ihrem Entschluss nicht beeinflusst. Es war ihr alleiniger Wille ihm zu folgen und an seiner Seite an den Heerzügen von König Wacho teilzunehmen.
Die Krieger befanden sich in ihren Langhäusern, um das Abendessen einzunehmen. Als sie Siegbert erblickten, kam große Freude auf. Lautstark begrüßten sie ihren Hauptmann und baten ihn Platz zu nehmen und mit ihnen zu speisen. Er ließ sich nicht ein zweites Mal dazu auffordern. Zeit für eine Rast hatte er sich nicht genommen und der Hunger war unüberhörbar. Nach einer Schale wohlduftender Brühe und frischem Brot wurde gebratenes Fleisch und Fisch aufgetragen. Einer der Krieger schenkte Wein in die bereitstehenden Zinkbecher. Es waren Beutestücke von den erfolgreichen Heerzügen gegen die Illyrer. Der Hauptmann musste erzählen, wie er den Prinzen bis zur Grenze des Ostgotenreiches begleitet hatte. Es gab dazu nicht viel zu sagen. Mit Stolz berichtete der Hunno Reimund, vom stetigen Anwachsen ihres neuen Heerhaufens. Immer mehr Krieger hatten sich von Hauptmann Gunnar in Vindobona abgewandt. Sie konnten und wollten das Gebaren des alten Gaugrafen nicht mehr ertragen. Er nutzte jede Gelegenheit einen Vorteil aus seiner neuen Stellung zu ziehen und behielt einen höheren Anteil des Solds für sich selbst als es bei anderen Heerhaufen, wie den Slawen oder Hunnen, üblich war. Fürst Audoin kam für die Besoldung aller Heeresteile in seinem Lager auf. Sie erhielten einen Geldbetrag, der ihrer Truppenstärke entsprach. Dieser wurde an den jeweiligen Anführer ausbezahlt. Wie die weitere Aufschlüsselung innerhalb des Heeresteiles erfolgte, war Sache des Hauptmanns, der dieser Einheit vorstand.
Als der Prinz noch in Carnuntum weilte, zahlte er die Thüringer Krieger aus seinem Privatvermögen aus. Das fiel nach der neuen Vorgangsweise weg, doch bekamen sie insgesamt den gleichen Sold aus der Kriegskasse von König Wacho entsprechend der Anzahl der Krieger. Wie der jeweilige Hauptmann mit dem Geld umging kontrollierten die Langobarden nicht.
Eine ähnliche Vorgangsweise gab es auch bei der Verteilung der Beute nach einem erfolgreichen Heerzug. Der Schlüssel war gleich für alle Truppenteile im Heer der Langobarden.
Mit der großen Abwanderung der Thüringer Krieger von Vindobona zu Audoin nach Carnuntum, verringerten sich die Einnahmen für Gunnar, dem Befehlshaber der Thüringer in Vindobona. Er nannte jeden Abtrünnigen einen Deserteur und würde ihn am liebsten hart bestrafen. Da dies nicht ging, befahl er jedem seiner Männer den Kontakt zu den Abtrünnigen abzubrechen. Bei Verstoß drohte er hohe Strafen an.
Siegbert war nicht froh über diese Entwicklung. Es waren alle seine Brüder, die einen gemeinsamen Feind hatten, die Franken. Im Stillen hoffte er, dass die Königin eines Tages die entzweite Kriegerschar wieder zusammenführen würde. Er spürte die Müdigkeit und verabschiedete sich bald von seinen Männern. Da fiel ihm das Geschenk ein, das er ihnen mitgebracht hatte. Er packte den präparierten Widderschädel aus und legte ihn auf den Tisch. Was soll das, riefen mehrere erstaunt aus? Als er die Stange zusammensteckte und den Schädel an der Spitze anbrachte war jedem klar, dass es ein Feldzeichen war. Siegbert stand auf und blickte in die Runde. Es wurde plötzlich still und alle sahen zu ihm.
„Ein solches Feldzeichen führte Harald und seine Jungkrieger bei ihren ersten Kämpfen gegen die Franken mit sich. Seine Jungschar war immer siegreich. Leider verlor mein Bruder in der letzten siegreichen Schlacht gegen den Merowingerkönig Theuderich ein Bein und konnte an der Entscheidungsschlacht zwei Jahre später nicht teilnehmen. Die Befreiung der Heimat war und bleibt sein Ziel. Deshalb unterstützte er uns mit Lebensmitteln in der schweren Zeit, als wir noch Rebellen waren. Wir hatten seine Hilfe in der Not dankbar angenommen. Ohne die Zuwendungen hätten wir am Rynnestig nicht überleben können. Daran wollen wir jeden Tag denken und dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass Thüringen einst wieder frei sein wird und wir unseren Beitrag dazu leisten. Das Feldzeichen wird uns den Weg zeigen. Eines Tages werden wir in die Heimat zurückkehren und die Franken aus unserem Land vertreiben, das sollt ihr auf das Feldzeichen schwören.“
Ein Beifallssturm brach aus, wie Siegbert ihn noch nie erlebt hatte. Jeder versuchte den anderen zu übertönen. Der ehemalige Rebellenführer war zufrieden. Siegesrufe begleiteten ihn aus dem Langhaus. Mit seinem weißen Hengst ritt er allein aus dem Lager zur Villa von Audoin.