Heinrich Mann: Ein politischer Träumer - Günther Rüther - E-Book

Heinrich Mann: Ein politischer Träumer E-Book

Günther Rüther

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Beschreibung

Heinrich Mann zählt zu den herausragenden deutschen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Doch auf seinem Werk lastet ein doppelter Schatten: Der Schatten seines erfolgreichen Bruders Thomas und der nachwirkende Schatten der deutschen Teilung. Während Thomas Mann in beiden deutschen Teilstaaten gefeiert wurde, galt dies für Heinrich Mann nicht in gleicher Weise. In der DDR geehrt und viel gelesen, aber auch politisch instrumentalisiert, blieb ihm in der Bundesrepublik die Anerkennung lange versagt. Zwischen den Brüdern entspann sich früh ein Konkurrenzverhältnis, sie blickten mit anderen Augen auf die Welt. Mit Hilfe der Literatur wollte Heinrich sie verbessern. Er war ein politischer Träumer, kein kalkulierender Ästhet wie Thomas, der sich lieber in die Rolle des unpolitischen Betrachters flüchtete. Heinrich Mann arbeitete am Alltag der Zeit. Dennoch ist sein Werk heute noch aktuell; die Zeiten haben sich geändert, die Grundprobleme sind geblieben. Seine sprachliche Schönheit, seine träumerische Eleganz, sein radikaler Idealismus und sein verzweifelter Kampf für eine bessere Welt haben nie an Bedeutung verloren. Diese Biografie möchte das bestehende Heinrich-Mann-Bild erweitern und sein Werk der Vergessenheit entreißen.

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Günther Rüther

HeinrichMann

Ein politischer TräumerBiographie

FÜR KORDULA

»There is a crack in everythingThat’s how the light gets in.«

Anthem von Leonard Cohen

Inhalt

Vorwort

Das Wilhelminische Reich

Der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik

Exil im Land der Träume

Ankunft und Lebensende in Los Angeles

Nachwort

Anhang

Zeittafel

Literaturauswahl

Abbildungsnachweis

Personenregister

Vorwort

Was verbindet die beschauliche Freie Hansestadt Lübeck mit der Millionenmetropole Los Angeles? Die Wahrzeichen dieser ungleichen Städte, das Holstentor auf der einen, das Schauspielermekka Hollywood auf der anderen Seite, sind es wohl kaum. Lübeck und Los Angeles trennen mehr als 9000 Kilometer. Die eine Stadt liegt in Europa, die andere in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die eine schmückt die Ostgrenze des Landes, in dem sie liegt, die andere die Westgrenze. Eine nähere Betrachtung zeigt: Nicht Gemeinsamkeiten, sondern Gegensätze prägen beide Metropolen. Und doch haben sie etwas ganz Besonderes, das sie verknüpft und in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Thema dieses Buches steht. Es ist das Leben Heinrich Manns. Es begann im Jahre 1871 mit einer glücklichen, wohlbehüteten Kindheit in Lübeck und endete in Vereinsamung und Not nach dem Zweiten Weltkrieg in Los Angeles.

Heinrich Manns Leben verlief nicht wie auf Schienen. Es war reich an Höhepunkten und öffentlicher Anerkennung, zugleich war es von vielen Widrigkeiten, Zerwürfnissen, existenziellen Nöten und Erniedrigungen geprägt. Es war ein Leben in einem konfliktreichen, zerstörerischen Zeitalter. In der Blüte des Kaiserreiches begann Heinrich, noch Schüler, in Lübeck zu schreiben. Seine ersten Werke atmen den Geist des Wilhelminischen Reiches, den Geist des Großbürgertums und der Aristokratie. Doch mit Beginn des 20. Jahrhunderts wandte er sich davon ab und wurde zu einem engagierten Kritiker seiner Zeit. Im Angesicht der Schrecken des Nationalsozialismus fühlte er sich mehr und mehr vom Kommunismus angezogen und trat für einen kämpferischen Humanismus ein. Er verehrte Stalin und sah in der Sowjetunion das Heil der Welt. Stand er im Exil in Nizza und Los Angeles, wo er 1950 starb, noch auf der Seite der Freiheit?

Wie die Zeitgeschichte war auch Heinrich Manns privates Leben von Umbrüchen und Rissen gekennzeichnet. Entmutigen ließ er sich davon nicht, auch wenn er unter den familiären Katastrophen litt: dem unerwarteten, frühen Tod seines Vaters, dem Freitod seiner Schwestern; der Entfremdung von seiner Frau Maria, genannt Mimi, und seiner Tochter Mitte der Zwanzigerjahre. Er wandte sich seiner kapriziösen zweiten Frau Nelly zu, die er im Kriegsjahr 1939 in Nizza heiratete. Seine erste Frau starb an den Folgen des KZ Theresienstadt 1947, die zweite nahm sich 1944 das Leben. Heinrichs Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder Thomas war fordernd und schwierig; es war geprägt von Hass und Liebe. Eine Biographie über Heinrich Mann bliebe unvollständig, wenn sie nicht auch auf diese Hassliebe einginge. Das Leben der Brüder stand in einem ebenso innigen wie strapaziösen Konkurrenzverhältnis, das Heinrich mehr belastete als Thomas. Heinrich fühlte sich missverstanden und zögerte, mit gleicher Münze zurückzuzahlen, weil er die Anerkennung seines Bruders suchte und seine Nähe ihm viel bedeutete. Darüber wird berichtet, soweit dieses komplizierte Mit- und Gegeneinander für das Verständnis von Heinrich Manns Leben und Werk bedeutsam ist. Und das blieb es bis zuletzt, weil die Brüder mit unterschiedlichen Augen auf die Welt schauten und der Literatur jeweils eine andere Aufgabe für die Gesellschaft beimaßen.

Heinrich Mann war ein Idealist und zugleich ein Träumer. Geprägt von der Aufklärung und der Französischen Revolution setzte er auf das Licht der Wahrheit und Gerechtigkeit. Er war davon überzeugt, dass dieses Licht auch in finsteren Zeiten, wenn es nur noch durch Risse eintritt, erhalten bliebe. Risse finden sich überall. Sie mindern das Licht, sie verdunkeln und verdüstern die Zeit. Dies erfuhr er im privaten wie im öffentlichen Leben mehrfach. Aber durch sie dringt auch neues Licht ein. In ihm keimt die Hoffnung auf Erneuerung. Licht schafft die Voraussetzung dafür, dass Träume Wirklichkeit werden können. Als Idealist träumte Heinrich Mann von einer besseren Welt. Als Moralist wollte er mithelfen, sie zu gestalten. Als Schriftsteller sah er sich dazu berufen. Auch in schlechten Zeiten, als nur wenig Licht das Leben in der Welt erhellte, hielt er daran fest.

Für die Durchsicht des Manuskripts danke ich dem literaturaffinen Altphilologen Dr. Erhard Schulte sehr herzlich, der sich zunächst als Ministerialbeamter im Bildungsministerium für die Verbreitung des Lesens und der Literatur einsetzte und dann über zwei Jahrzehnte zwei Bundeskanzlern als Referatsleiter für Bildung und Wissenschaft diente.

Für diese Studie wurde die einschlägige Sekundärliteratur herangezogen. Sie stützt sich jedoch besonders auf die Texte von Heinrich Mann selbst. Als besonders hilfreich erwies sich die neunbändige Kritische Gesamtausgabe. Essays und Publizistik, herausgegeben von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel, von der allerdings bisher lediglich die ersten sechs Bände vorliegen. Sie umfassen die Jahre 1890–1935. Die Bände 7–9 (1936–1950) stehen noch aus.

Euskirchen, im Frühjahr 2020

Das Wilhelminische Reich

Lübeck und die Manns – 1871 – Versuche anzukommen – Neue Romantik – Nervosität als Phänomen der Zeit – Reaktion gleich Fortschritt – Im Geist der Zeit: fahrlässig antisemitisch – Mit Nietzsche zu einer literarischen Neuorientierung – Der Renaissancekult – Menschlichkeit und Demokratie – Der Gesellschaftsvertrag – Der Obrigkeitsstaat und seine Untertanen

Lübeck und die Manns

»Halten Sie sich nicht das Näschen zu, mein Fräulein, wenn Sie zum ersten Male die Straßen meiner geliebten Vaterstadt durchschreitend, durch den in einigen derselben herrschenden, Fremde mehr oder weniger beleidigenden Unwohlgeruch berührt werden sollten. Das ist nämlich kein gewöhnlicher Gestank, das ist ein Gestank wie ihn nicht jede Stadt besitzt, das ist ein Millionengestank.«1

Dies schrieb Heinrich Mann im Mai 1889. Er hatte zu diesem Zeitpunkt gerade das Gymnasium – das ehrwürdige Katharineum – verlassen und schickte sich an, eine Buchhandelslehre in Dresden bei der Firma Zahn und Jaensch zu beginnen. Auch wenn er damit Lübeck den Rücken kehrte, brachte er es nicht übers Herz, diesen Text zu veröffentlichen, sodass er erst 1963 in der Zeitschrift Sinn und Form in Ost-Berlin erschien. Vermutlich hat er damit die Nerven seiner Eltern geschont. Sein ehrwürdiger Vater und seine temperamentvolle Mutter hätten sich wohl unter den Blicken ihrer Mitbürger geschämt, gehörte die Patrizierfamilie doch auch zu jenen, von denen angenommen werden darf, dass sie einen »Millionengestank« verbreite. Auch wenn der Sohn Heinrich das Gymnasium zwar ohne Abitur, aber mit Versetzung in die Oberprima, verließ, gelang es ihm, in der Lübecker Zeitung als Empfehlung für seinen zukünftigen Lehrherrn seine erste kleine Erzählung im Mai 1889 zu publizieren. Sie trägt den Titel: Beppo als Trauzeuge und schildert eine Theaterintrige. Damit machte Heinrich, der zuvor bereits seine Leseleidenschaft und sein Schreibtalent entfaltet hatte, am Ende seiner Schulzeit deutlich, wohin seine Neigungen gingen. Seine Eltern, insbesondere der Vater, wollten allerdings davon nichts wissen.

Das Buddenbrookhaus in der Mengstraße 4 in Lübeck

Doch zurück. Was, bitte schön, ist ein »Millionengestank«, wie es in seiner Fantasie über seine Vaterstadt heißt? Das ist einfach erklärt. Heinrich Mann drehte die lateinische Redewendung »pecunia non olet«, Geld stinkt nicht, einfach um. Geld stinkt. Diesen Gestank nahm er bei den geschäftstüchtigen Lübeckern auf eindringliche Weise wahr. Die von jenen Zeitgenossen ausgehenden »markanten Gerüche« deuteten für ihn darauf hin, dass solch ein Mensch »sehr, ja außerordentlich reich sein« müsse, »vielleicht ein Millionär … mein Fräulein, Sie verstehen jetzt den Ausdruck ›Millionengestank‹.«2

Heinrich Mann kam nicht im Buddenbrookhaus in der Mengstraße 4 mit seiner prächtigen Fassade unweit der Marienkirche zur Welt, wie nach dem Furore machenden Roman Die Buddenbrooks seines jüngeren Bruders Thomas, der 1901 im Verlag S. Fischer erschien, vielfach angenommen wird, sondern in einer stattlichen Etagenwohnung in der Breite Strasse 54. Doch schon bald nach seiner Geburt am 27. März 1871 zog die Familie in ein anderes Haus in derselben Straße um. Hier kamen auch seine Geschwister zur Welt, mit Ausnahme des Nachzüglers Viktor.3 Von dort waren es nur wenige Schritte zum Firmensitz der Familie, dem heutigen Buddenbrookhaus, wo sein Vater Johann Thomas Mann aufwuchs und seit 1863 die Geschäfte führte. Vater Mann wurde 1877 zum Senator auf Lebenszeit berufen und zeichnete in Lübeck für Steuerwesen, Handel und Wirtschaft verantwortlich. Damit zählte er zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der Stadt. Zudem zierte ihn der ererbte Titel eines königlich-niederländischen Konsuls. Seiner öffentlichen Stellung gemäß bezog er als erfolgreicher Kaufmann für Getreide-, Kommissions-, und Speditionsgeschäfte gemeinsam mit seiner Frau Julia 1881 ein repräsentatives, dreistöckiges, im Stil der Zeit erbautes Haus in der Beckergrube 52, das 1942 im Krieg zerstört wurde. Es atmete den Geist der Gründerjahre und verbarg nicht den gedeihenden Wohlstand der ersten Nachkriegsjahre, obwohl die Geschäfte nachließen. In unmittelbarer Nähe der Börse und des Theaters gelegen machte es gewollt oder dem Zufall geschuldet deutlich, dass sich Kapital und Kultur sehr wohl ergänzen können. Die Familie wohnte in einem Viertel der reichen Leute, umgeben von anderen feinen Patrizierhäusern. Aber auch bis zur Trave war es nicht weit. Von dort führte der Weg zum Hafen mit seinen Kneipen, Etablissements, Speichern und Anlegeplätzen. So wuchs Heinrich einerseits in einer pikfeinen Gegend, andererseits nicht fern vom Trubel des weltoffenen, in manchen Ecken aber auch anzüglichen Hafengeschehens auf. Deshalb vermochte er auch andere Gerüche wahrzunehmen. Er spürte sogar hier und da eine wahrhaft armselige Geruchslosigkeit. Vielleicht wehte sie vom Hafen her. Vor allem breitete sie sich in der Straße aus, in der das Theater lag. »Welch ein bedauerliches Institut!«, schrieb er. »Wer verdient denn etwas dabei? Kaum der Direktor; denn die weit einträglicheren und erfolgreichen Geschäfte, welche gewisse Damen vom Theater zuweilen mit wohlaccreditierten L.’er Herren eingehen, sind viel zu diskreten – Geruches, um hier erwähnt zu werden.«4 Die Familie Mann lebte folglich in einer Straße mit und ohne Geruch; denn das Theater befand sich ja wie das Elternhaus in der Beckergrube, wo es noch heute steht.

Lübeck, Stadttheater Großes Haus

Heinrich Mann (links) mit seinen Geschwistern Thomas, Carla und Julia, Fotografie um 1887

Die Firmengeschichte der Manns reicht bis in das Jahr 1775 zurück. Damals ließ sich der Urgroßvater Heinrichs als junger Mann in Lübeck nieder und gründete 1790 einen Handelsbetrieb. Die Geschäfte liefen bereits gut, als sie sein Großvater weiter voranbrachte und der Familie zu Wohlstand verhalf. Bereits im Jahr 1841 erwarb er das großzügige Haus in der Mengstraße und machte es zum Familien- und Firmensitz. Als Heinrichs Vater Johann Thomas Heinrich den Handel übernahm, war die Familiendynastie bereits gegründet, zugleich aber auch ihr unerwartetes Ende eingeläutet, wie es in den Buddenbrooks beziehungsreich geschildert wird. Infolge der großen Depression, die von Mitte der Siebziger- bis zu Beginn der Neunzigerjahre anhielt, konnte Sohn Johann nicht mehr an die wirtschaftlichen Erfolge früherer Jahre anknüpfen.5

Dennoch übten Heinrichs Eltern auf die Lübecker Gesellschaft eine besondere Anziehungskraft aus. Die Kinder spürten deren Exklusivität und blickten von oben auf die Gesellschaft herab. Von der Familie Mann ging eine exotische Ausstrahlung aus. Dies hatte nicht nur etwas mit ihrem gesellschaftlichen Stand zu tun, der natürlich auch eine nicht zu unterschätzende Wirkung tat. Vor allem war es das Ehepaar selbst. Heinrichs Mutter war die Tochter einer kreolisch-portugiesischen Brasilianerin und eines Lübeckers, der es in Brasilien als Plantagenbesitzer zu Reichtum gebracht hatte. Doch seinen Vater lernte sie nicht in Übersee kennen, sondern in Lübeck, wo Julia da Silva Bruhns in einem Mädchenpensionat erzogen wurde. Ihrem späteren Mann begegnete die elf Jahre jüngere Julia auf einem Fest. Obwohl die Lübecker Mitgift und Erziehung als nachhaltig bezeichnet werden darf, drückte ihr kreolisches und südamerikanisches Temperament der Familie einen gewissen, ja, man darf wohl sagen, für die standesbewussten, auf Etikette setzenden Lübecker, einen glamourösen und ungewöhnlichen Stempel auf. Dazu trugen die ausgelassenen Feste und Maskenbälle bei, die nicht nur in den Buddenbrooks faszinieren, sondern auch die Lübecker Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Häuschen brachten.

Heinrich bewunderte seine Mutter, die, als er zur Welt kam, gerade 20 Jahre alt war. Als junger Mann genoss er die Schwerelosigkeit, mit der sie sich als liberale Katholikin in der protestantisch geprägten, von bürgerlichen Moralvorstellungen geleiteten Gesellschaft ebenso selbstbewusst wie eigenständig bewegte. An der Seite ihres auf Würde und Konvention bedachten, etwas steifen norddeutschen Mannes führte sie ein elegantes, von der Leichtigkeit des Seins bestimmtes, bisweilen zum Bizarren neigendes Leben mit einem Hang zum Leichtsinn. Heinrichs Roman Zwischen den Rassen, der 1907 erschien, erinnert in seinen autobiographischen Zügen an die liebevolle, sinnliche, instinktiv handelnde, einnehmende Schönheit der Mutter – in der Figur der Frau Gabriel, Mai genannt, aber auch in deren Tochter Lola. Sie sind den schönen Seiten des Lebens zugewandt.6 Heinrich hatte insbesondere seiner Mutter eine behütete, den Musen zugewandte, romantische und glückliche Kindheit zu verdanken. Julia spielte gerne Klavier, sang wie eine Lerche und las viel vor. Ihre melodische Stimme öffnete die Herzen und weitete die Sehnsucht der Kinder.7 Diese frühen Prägungen begleiteten ihn sein Leben lang.

Julia Mann, Fotografie um 1885

Die Mutter mild, gütig und voller Lebensinitiative, Risiken nicht scheuend, der Vater streng und fordernd, mehr dem Geschäftsleben als dem Vergnügen zugetan. »Vaterwelt« und »Mutterwelt« standen in einer produktiven Spannung zueinander. In ihr trafen völlig unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. Der jüngste Bruder Viktor sprach in seinem Familienbuch Wir waren fünf bildreich von tropischem Regenwald und nordischen Dünen, um diese Gegensätze zu bestimmen.8 Sie entwickelten sich zu einer prägenden Mitgift für die Kinder, die bei den Brüdern Heinrich und Thomas in unterschiedlicher Weise zum Tragen kam.

Welcher von beiden Söhnen neigte mehr zum Vater, welcher mehr zur Mutter? Beide zeigten deutlich wahrnehmbare Charaktereigenschaften ihrer Eltern. Doch fällt auf, dass Heinrich seine Mutter in seinen Lebenserinnerungen Ein Zeitalter wird besichtigt nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt, ganz im Gegensatz zum Vater, auf dessen Beständigkeit, Ehrgeiz und Zielstrebigkeit er verweist. Seine Tugendhaftigkeit, seinen Gemeinsinn und seine Popularität hebt er hervor.9 Dieselben Eigenschaften erkennt Heinrich bei seinem Bruder, der sich durchaus zu ihnen bekannt hat und in seinem Vater ein leuchtendes Vorbild sah.10 Ihm imponierte, dass jener als »Euer Wohlweisheit« angeredet wurde.11 Heinrich dagegen fühlte sich von seinem Vater unverstanden, der in ihm seinen natürlichen Nachfolger als Kaufmann sah. Schon während der Schulzeit zeigte sich, dass er dafür nicht geschaffen schien. Durchaus begabt offenbarte sich schnell, wo seine Stärken und Schwächen lagen. Die musischen Fächer entsprachen eher seinen Neigungen als die mathematisch-naturwissenschaftlichen. Dies verband ihn mit seiner Mutter. Ihre Mitgift prägte sein Leben stärker als die des Vaters.

In der Schule lag sein Hauptmanko darin, dass er aus Unlust häufig dem Unterricht fernblieb. An Begabung fehlte es ihm nicht. Es steht zu vermuten, dass sich bei Heinrich schon früh ein literarisches und künstlerisches Interesse entfaltete. Dem Geist der Zeit folgend bewunderte er Heinrich Heine (1797–1856). Aber auch der Lübecker Schriftsteller Emanuel Geibel (1815–1884) hatte es ihm angetan. Nicht zu vergessen der alte Mann aus Berlin, der am Ende seiner Schulzeit 70 Jahre werden sollte: Theodor Fontane (1819–1898): »Diese Balladen! Stahl und Stein –, gegen sie sind die gepriesenen Meisterwerke des hochseligen Uhland Gummi.«12 Aber auch die Arbeiten des Badener Verseschmiedes und Erzählers, des Mannes vom Bodensee, Victor von Scheffel (1826–1886), faszinierten ihn. Er zählte ihn zu den ganz Großen seiner Jugendzeit.

Scheffel wurde im Wilhelminischen Reich viel und gerne gelesen. Er stärkte das Zusammenwachsen der verspätet zu einer Nation vereinigten Deutschen, indem er ihre nationale Begeisterung und ihr Selbstwertgefühl als Bürger in einem Reich mit einem frei gewählten Parlament beflügelte. Aber Heinrich blickte auch in jungen Jahren bereits über die deutschen Grenzen hinaus. Er begeisterte sich für Paul Bourget (1852–1935), der das innere Fieber der jungen Deutschen zu entfachen wusste. Dieser französische Schriftsteller war durch scharfsinnige psychologisierende Portraits zeitgenössischer Autoren wie Charles Baudelaire (1821–1867) und durch seine Romane, in deren Mittelpunkt das mondäne konservative Bürgertum stand, berühmt geworden. Unter dem Einfluss dieser geistigen Wegweiser hatte Heinrich, als er das Gymnasium verließ, zehn Novellen, die allerdings fragmentarisch blieben, und über 100 Gedichte geschrieben. Sie folgten dem zeitgenössischen Geschmack. Zudem zeichnete Heinrich leidenschaftlich gern und dachte daran, Maler zu werden. Dieser Begabung kam er bis ins hohe Alter nach. Derartige Talente entsprachen jedoch nicht den Vorstellungen des Vaters, der ihn für den Kaufmannsberuf zu begeistern versuchte, indem er ihn auf seine Geschäftsreisen mitnahm. Heinrich berichtete darüber noch im Alter: »Sein Geschäft war, Getreide zu kaufen, es zu lagern und es zu verschiffen. Als Knabe nahm er mich auf die Dörfer mit. Damals hoffte er noch, ich könnte ihm nachfolgen. Er ließ mich ein Schiff taufen, er stellte mich seinen Leuten vor. Das alles schlief ein, als ich zuviel las und die Häuser der Straße nicht hersagen konnte. Über Land fuhren wir im gemieteten Wagen. […]. Beim Getrappel der Pferde trat der Bauer vor seinen Hof, und der Kauf wurde ohne Besichtigung abgeschloßen, beiderseits bestand Vertrauen. Gerade um die gute Freundschaft frisch zu erhalten, reiste mein Vater.«13

Doch selbst eine Reise zu Onkel Gustav und Tante Olga Sievers nach St. Petersburg vermochte die Kaufmannsleidenschaft des Dreizehnjährigen nicht zu inspirieren. Die Spannungen zwischen Vater und Sohn wuchsen, je mehr sich ihre Lebenswelten voneinander entfernten. Dem Vater wurde das träumerische Sichgehen-Lassen seines Ältesten mehr und mehr zum Ärgernis.14 Daran änderte sich auch nichts, als er die erwünschte Lehre als Buchhändler in Dresden begann. Denn Heinrich scheiterte. Sein Chef, Herr Jaensch, beschwerte sich über seine Gleichgültigkeit, seinen Mangel an Schnelligkeit, seine Wortkargheit, seine Unhöflichkeit und vor allem seine Traumverlorenheit, die einer produktiven Zusammenarbeit allzu oft im Wege stehe.15 Der Vater war zutiefst enttäuscht; er ermahnte seinen Sohn und fragte, was denn einmal aus ihm werden solle. »So geht die Zeit über Dich weg«, tadelte er. Denn er befürchtete, dass sein Sohn, wenn er nicht zur Vernunft käme, irgendwann beiseitegeschoben am Wege stünde.16 Heinrich verteidigte sich und verwies auf das unmögliche Verhalten der Lehrherren. Trotzig fügte er an: »Aber ich bin alt und skeptisch genug, um nichts, gar nichts blindgläubig als Evangelium hinzunehmen«.17 Der Vater spürte, dass die Sache keinen guten Verlauf nehmen würde. Er wollte sicherstellen, dass sein Sohn weder »wie ein Flüchtiger noch wie ein Hinausgeworfener ein ehrenwertes Haus verläßt.«18 So fuhr er kurz entschlossen nach Dresden, um zu verhindern, dass sein Sohn in Unehren entlassen würde. Doch er konnte die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr verhindern. Heinrich empfand sein Leben dort als nichtsnutzig und fehlgeleitet. Seinem Freund Ludwig Ewers (1870–1946), der später als Journalist und Schriftsteller arbeitete, schrieb er: »Glaub mir, mein Leben in dieser Form ist zu öde. Den ganzen Tag am Kassapult mit einem Haufen zu ordnender Fakturen vor mir. Manchmal bleiben die Fakturen liegen, und ein paar Verse kommen zum Vorschein. Aber ich habe keine Freude daran. Ich war bei meinen naiv heinisierenden Poetastereien, die ich mit 14 Jahren in großer Menge fabrizierte, glücklicher als jetzt bei den wenigen vielleicht besseren ›Originalgedichten‹, die sich mir mit Ach und Krach und Ruck und Puff von der Seele winden. Meine Selbstkritik artet, je mehr ich meine Kenntnis der deutschen Literatur erweitere, je mehr ich erkenne, wie viele fast gänzlich unbekannte Dichter es gegeben, die Besseres geleistet, als ich je leisten werde, ins Krankhafte aus. – Und wenn ich dann endlich in meinem Zimmer bin – das trostlose Zusammensein mit meinem ›Kollegen‹, diesem Freß- und Kackmenschen! – Wenn ich dieses Malheur endlich zur Türe hinauskomplimentiert habe, dann kommen die schönsten Stunden, in denen ich mich mit meinen Dichtern beschäftigen oder nach Hause schreiben kann.«19

Diese Zeilen zeigen an, wie unglücklich sich Heinrich in der Buchhandlung fühlte und wie sehr er nach einem angemessenen Platz in der Gesellschaft suchte. Er strebte nach allem anderen, nur nicht zurück in die Lübecker Enge. Von Heimweh zeigte er keine Spur. Dagegen lehnte sich der »physische Genussmensch« in ihm auf. »Die Theater, Konzerte, Cafés, Puffs – das Leben ist doch zu amüsant«, schrieb er, um anzufügen: »Ich weiß nicht, ob Du diese Doppelnatur in mir verstehst.«20 Depression und Lebenssucht machten Heinrich zu schaffen. Sie entfalteten sich stärker als sie in der Mitgift der Eltern sichtbar wurden. Diese führten ein Leben im Rahmen bürgerlicher Konvention. Im Gegensatz zu ihnen scheute Heinrich nicht davor zurück, die Wechselfälle des Lebens auszukosten. Darin unterschied er sich wesentlich von seinem Bruder Thomas. Schon vor seinem Ausscheiden als Buchhändler bei Zahn und Jaensch hatte er sich beim S. Fischer Verlag in Berlin beworben. Dresden verließ er wenige Tage nach dem Besuch des Vaters Hals über Kopf und reiste nach Berlin. Im August 1891 trat er dort seine neue Lehrstelle an. Die Vorzüge der Großstadt genoss Heinrich fortan in vollen Zügen. Er träumte davon, Schriftsteller zu werden. Sein Vater unterstützte den Wechsel zu Fischer. Jedoch konnte er die berufliche Entwicklung seines Sohnes nicht mehr begleiten, da er am 13. Oktober 1891 an Blasenkrebs verstarb. Zuvor hatte er seine Firma veräußert und für seine Familie Vorsorge getroffen. Mit der Volljährigkeit erhielten alle Kinder ein Deputat, das Heinrich ein bescheidenes, aber auskömmliches Leben ermöglichte. Im Angesicht des nahen Todes galt die Sorge des Sterbenden dem ältesten Sohn. Würde er seinen Weg finden? Er befürchtete, dass dies nicht gelänge und er ins Unglück gerate, weil er aus purer Lebenslust und einem Mangel an Verantwortung nur für den Augenblick lebe und dabei das Ende aus dem Auge verlöre.

Für Heinrich bedeutete der Tod des Vaters einen tiefen Einschnitt in sein Leben. Er fühlte sich fortan entpflichtet. Rückblickend schrieb er in hohem Alter: »Ungeeignet befunden für das väterliche Geschäft […] hätte der Sohn den Vater auch nicht befriedigt, wenn er ein staubiger Sortimenter wurde – alle in dieser Branche sahen verstaubt aus. Senator Mann hat natürlich gewusst, daß sein Junge nur fort wollte, aus Lübeck, aus der Schule, gleichviel in welche Art Leben. Zuhälter wäre er bei passenden Umständen auch geworden. Baldmöglichst brannte er von der Stelle durch, warf sich in Berlin auf das Gebiet seiner Neigungen, […], machte Schulden. Von dem allen erfuhr der Vater nichts mehr. […] Dem Zwanzigjährigen sagte der Sterbende, was er längst gemeint, nur verschwiegen hatte: ›Ich will dir helfen‹, Schriftsteller zu werden: beiden war es klar; der eine küßte dem andern die Hand, er küßt sie ihm noch heute.«21

Vor diesem Hintergrund überraschte es kaum, dass Heinrich alsbald seine Stelle bei Fischer aufgab. Den Herzenswusch seines Vaters, ein praktisches Leben zu führen, konnte er nicht erfüllen. Heinrich strebte nach Unabhängigkeit. Er wollte auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Er lebte »in Berlin wie im Rausch«.22 An der damaligen Friedrichs-Wilhelms-Universität belegte er einige Lehrveranstaltungen als Gast; er ging ins Theater, besuchte Ausstellungen und lumpte die halbe Nacht herum. In Etablissements der Schmetterlinge tobte er sich bis zur physischen Erschöpfung aus.23 An eine systematische Arbeit war nach dem Tod seines Vaters nicht mehr zu denken. Er las viel und veröffentlichte hier und da einen Artikel in einem Journal. Nach einem Blutsturz musste er sich in ein Sanatorium begeben. Es hatte ihn buchstäblich niedergehauen. »Ich bin noch nicht ruhig und mutig genug, irgend etwas Dauerhaftes zu beginnen«, schrieb er Ludwig Ewers Anfang Februar 1892 aus dem Sanatorium von Dr. Oppenheimer. »Ich nasche von allem Möglichen, bestelle eine Menge Bücher und durchblättere alles.«24 Die schwere Erkrankung hatte seinem ausgelassenen Treiben ein abruptes Ende gesetzt; er zog von einem Sanatorium zum anderen und führte ein rastloses Dasein ohne Halt und Heimat. Lübeck sah er nur noch einmal in seinem Leben wieder, im Mai 1893. Die Heimat bedeutete ihm nicht mehr viel. Stattdessen schweifte er die nächsten Jahre durch Deutschland und Europa und träumte von einem Künstlerleben jenseits der bürgerlichen Moralvorstellungen am Rande der Gesellschaft. Die Ära der Familie Mann als angesehene Kaufleute und einflussreiche Bürger ging mit dem Umzug der Mutter und ihrer Kinder 1893 nach München zu Ende. Die Mutter lebte dort bis 1923. Sie verfolgte mit Stolz, wie die Brüder Heinrich und Thomas ein neues Buch der Familiengeschichte aufschlugen.

1871

Im Jahr 1871, als Heinrich Mann am 27. März geboren wurde, kündigte sich in dem nebelverhangenen, grauen Lübeck, wo, wie auch in anderen Küstenstädten, die Winter zwar mild, aber lang sind, der Frühling an. Auch wenn wir nicht genau wissen, ob Heinrich an einem regennassen Tag oder an einem sonnigen das Licht der Welt erblickte, so erahnen wir, dass die Menschen damals ohne Zentralheizung und elektrisches Licht noch mehr als heute von der Erwartung auf den Frühling lebten, der in der Luft lag.

Heinrich Mann wurde nicht nur in eine neue Jahreszeit hineingeboren. Seine Generation wuchs mit dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges, der Krönung des preußischen Königs in Versailles zum Deutschen Kaiser und der Gründung des Deutschen Reichs in ein neues Zeitalter hinein. Ein Zeitalter, das, wie er es in seinem Erinnerungsbuch Ein Zeitalter wird besichtigt ausdrückt, ein neues Lebensgefühl entfaltete. Es ist ein Lebensgefühl zwischen Traum und dem Zauber der Freiheit; es ist aber auch geprägt von der bitteren Erkenntnis vom Missbrauch der Macht, der, wie Heinrich früh spürte, in der Katastrophe enden musste. Das Deutsche Reich und seine Sinnesart sind 1871 im Krieg mit dem Sieg über Frankreich erzeugt worden. »Der Fluch dieser Vaterschaft hat uns nie verlassen, er hetzte uns bis hierher« und »vermehrte sich in unserm Blut wie ein Giftkeim, millionenfach«,25 schrieb er 1919 in seinem Essay Macht und Mensch, ohne zu ahnen, dass Hitler einmal an diese unselige Tradition anknüpfen würde.26

Das sogenannte Wilhelminische Zeitalter begann keine 100 Tage vor der Geburt Heinrich Manns. Endlich hatten die deutschen Staaten und Gesellschaften zueinander gefunden: politisch, sozial, wirtschaftlich und kulturell. Aber der Preis für die nationale Einheit war groß. Drei Kriege gingen ihr voraus. Der Krieg 1864 gegen Dänemark gemeinsam mit Österreich, der Krieg von 1866 gegen Österreich und 1870 gegen Frankreich. Alle drei endeten siegreich für Preußen, das sich nun endgültig dazu aufschwang, zu einer großen und einflussreichen europäischen Macht zu werden. Der Architekt dieser fulminanten Entwicklung war Otto von Bismarck (1815–1898). Als Friedrich Wilhelm I. im Januar 1871 im Speisesaal von Versailles – fast widerwillig – zum Kaiser gekrönt wurde, verfolgte Bismarck die Zeremonie als preußischer Ministerpräsident noch ein wenig blass um die Nase und mit grimmiger Miene. Denn der preußische König gefiel sich keineswegs in der ihm nunmehr zugedachten neuen Rolle. Deshalb würdigte er Bismarck, den Architekten des Kaiserreiches und des neuen preußisch-deutschen Nationalstaates, keines Blickes und verweigerte ihm den Handschlag, als er zur Proklamation schritt.

Bismarck ertrug dies mit der ihm eigenen kühlen Rationalität. Er fühlte sich sicher, dass diese Demütigung nicht von Dauer sein würde, denn der Deutsche Kaiser bedurfte seiner mehr als der preußische König. Kurz vor Heinrichs Geburtstag hatte die Geringschätzung Bismarcks denn auch ein Ende. Der Kaiser ernannte ihn zum Reichskanzler und erhob ihn in den Fürstenstand. Damit er fürderhin auch fürstlich leben konnte, vermachte er ihm in der Nähe von Hamburg mit Friedrichsruh ein ansehnliches staatliches Lehen, das ihn zu einem der begütertsten Grundbesitzer im Deutschen Reich machte. Bismarck lag nichts ferner, als sich dorthin zurückzuziehen. Vielmehr kam es ihm nunmehr darauf an, Deutschlands Stellung in der europäischen Welt zu behaupten und die deutsche Einheit zu festigen. Als preußischer Ministerpräsident, als frisch gebackener Reichskanzler und umtriebiger Außenminister vereinte er in seiner Person mehr Macht als jeder andere Mensch in Europa zu Beginn der Siebzigerjahre. Der Kaiser, von seiner Tüchtigkeit überzeugt, ließ ihn gerne schalten und walten. Da Bismarck ihm und dem Hause Hohenzollern treu ergeben war und der Kaiser sich selbst nicht gern in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit stellte, hatte er auch nichts dagegen, dass sein Kanzler im Reich bald mehr Popularität und Anerkennung fand als er selbst. Des Kaisers Selbstinszenierung mit Uniform und Pickelhaube dürfte Bismarck mehr amüsiert als gestört haben.

Heinrich Mann lebte unter dem Regiment des Reichskanzlers in eine bewegte Zeit hinein. Deutschland prosperierte. Größe und Einheit beflügelten das Wirtschaftswachstum ebenso wie bahnbrechende Erfindungen. Das Deutsche Reich gelangte zu einer nie zuvor erreichten wirtschaftlichen Blüte. Sie kam nicht nur der Oberschicht zugute, sondern half auch Teilen des einfachen Volks aus der Verelendung, doch bei Weitem nicht allen. Die Reform des Bildungswesens eröffnete den Unterschichten den sozialen Aufstieg. Die Analphabetenquote verringerte sich. Sie lag im Reich zur Jahrhundertwende mit einem Prozent weit unter dem europäischen Niveau. Wissenschaft und Technik gelangten zu Weltruhm.

Von diesen Entwicklungen profitierte auch Lübeck. Als alte Hansestadt mit Handelsverbindungen in die ganze Welt, vor allem aber zu den Anrainerstaaten der Ostsee bis in das Zarenreich hinein, mehrte sie ihren Wohlstand. Stolz war sie schon zuvor. Nach der großen Depression profitierte sie von dem rasanten Aufschwung des Deutschen Reiches. Da geriet schnell in Vergessenheit, dass Lübeck sich als Freie Hansestadt der Zentralgewalt des Reiches beugen musste. Heinrichs Vater Johann Thomas Heinrich wusste nur zu gut, dass nicht beides zugleich zu haben war, wirtschaftliches Wachstum und Unabhängigkeit vom Reich. Als er 1877 als Senator in die Verwaltung der Hansestadt eintrat, florierte sein Geschäft noch. Vielleicht lag nicht zuletzt darin einer der wesentlichen Gründe für seine Berufung zum Senator mit gerade 37 Jahren.

Die Familie Mann fühlte im »Bismarck-Reich« national-konservativ. Sie dachte patriotisch. Die Einheit des Reiches empfand sie als Segen. Die vorherige Kleinstaaterei entsprach nicht ihrem Horizont. Aber an dem als Bürger einer Hansestadt, die über Jahrzehnte von einer republikanischen Verfassung geprägt wurde, typischen liberalen, weltoffenen Einschlag hielt sie fest. Das Credo »Gott erhalte den Kaiser und Bismarck« zählte zu den Selbstverständlichkeiten der aufstrebenden Patrizier, obwohl die Familientradition und das Lübecker Standesbewusstsein immer noch auf die Ideale der bürgerlichen Revolution von 1848 zurückverwiesen.27 Den an Einfluss gewinnenden Parteien, den Sozialdemokraten und dem Zentrum, begegnete die Familie mit Vorbehalten. Es entsprach dem guten Ton, dass der junge Heinrich in seinem Puppentheater nicht dem Arbeiterführer August Bebel, sondern dem Gründer des Nationalstaates Bismarck die Ehre erwies.28 Bei aller Sympathie für Kaiser und Reich blieb jedoch stets ein Schuss Skepsis erhalten. Diese trat spätestens dann hervor, wenn der Senator in der Zeitung Bismarcks Satz las: »Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts in der Welt.« Bei dieser Gelegenheit pflegte er tief Luft zu holen, und ergänzte: »In Wirklichkeit fürchten wir manches.«29

Dessen ungeachtet blieb Heinrich bis ins hohe Alter ein »Bismarckianer«, ein Verehrer des Architekten des deutschen Nationalstaates und weitsichtigen Diplomaten. Auch wenn er in einem Brief an seinen Freund Ludwig Ewers am Tag seiner Abdankung am 18. März 1890 nicht in Trauer verfiel, sondern nur beiläufig darauf einging und stattdessen, einer Laune folgend, lieber über die Beschaffenheit des menschlichen Wesens räsonierte, für das Essen, Trinken, Schlaf und Beischlaf die eigentlich wesentlichen Funktionen seien, auf die es im Leben ankomme, versäumte er es nicht, Bismarck wenige Tage später über den grünen Klee zu loben. In einer über Realismus und Naturalismus, Malerei und Musik kreisenden Betrachtung kommt Heinrich auf den Reichsgründer zu sprechen, der dem Naturalismus zum Siege verholfen habe. Er trifft hier keine erkennbare Unterscheidung zwischen Realismus und Naturalismus. Vielmehr möchte er Bismarck als Realpolitiker darstellen. Seine Hoheit zu Lauenburg, Fürst Bismarck, habe »der Diplomatie des Ancien Régime, jener Intrigenkunst der Kaunitze, Metterniche und Konsorten, hoffentlich für immer, ein Ende bereitet. Er ist stets geradeaus und ohne Seitenschliche vorgegangen, hat nichts beschönigt und alles beim rechten Namen genannt«30. So lautete sein Urteil. Nun mag man diese Äußerung als Laune des Augenblicks betrachten, wie sie ja häufiger in Briefen zum Ausdruck kommt. Doch dies würde dem Bismarckfreund Heinrich Mann nicht gerecht. Denn noch in seinen Lebenserinnerungen rühmt er ihn als Meister der Kunst des Möglichen,31 als Mann, der für gespannte, gewagte Naturen wie etwa den Sozialisten Ferdinand Lasalle Verständnis zeigte und seine Ideen aufgriff, weil er verwandten Sinnes war.32 Konservativ sein hieße für ihn nicht, auf dem Unhaltbaren zu beharren, sondern das Machbare zu gestalten. »Ich bin verpflichtet, darauf zu bestehen, daß Deutschland durch Otto von Bismarck eine konservative Wohltat dieses Erdteils gewesen ist«, heißt es in seinen Erinnerungen.33

War Heinrich Mann ein Parteigänger, ein Schwärmer und unkritischer Zeitgeist-Schwimmer des Wilhelminischen Reiches? Fast möchte der Leser es meinen, wenn er diese Zeilen liest. Er ist irritiert und denkt an eines seiner berühmtesten Bücher Der Untertan. Die Annahme, Heinrich Mann habe wilhelminisch gedacht, stimmt nur zum Teil. Sie trifft vor allem auf die erste Phase des neuen Reiches zu. Als Wilhelm II. im Dreikaiserjahr 1888 unerwartet auf den Thron gelangte, beherzt die Macht an sich riss, Bismarck entließ, die Bundesstaaten schwächte und den Offizier Georg Leo von Caprivi de Caprera de Montecuccoli (1831–1899) zum neuen Reichskanzler ernannte, trauerte Heinrich zwar Bismarck nach, unterstützte aber dennoch die junge Monarchie mit ihrem Anspruch auf Weltgeltung. Sieg und Triumph zählten für Wilhelm II. mehr als Ausgleich und Verständigung. Bismarck hegte deshalb tiefen Hass gegen Wilhelm II. Er traute ihm nicht zu, das Reich zusammenzuhalten. Den »eisernen Kanzler« habe der Unernst des Erben gegenüber dem preußischen Vermächtnis ebenso empört wie die Leichtfertigkeit, mit der er ihn beiseiteschob: »sie verriet nur den ahnungslosen Komödianten«.34

Trotz der ungetrübten Wertschätzung für Bismarck mochte Heinrich Mann diese Skepsis zunächst nicht teilen. Seine Meinung änderte sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts. Bis dahin huldigte er dem jungen Monarchen. Mit der Errichtung des Nationalstaates schienen ihm alle Voraussetzungen dafür gegeben, dass das 19. Jahrhundert ein deutsches Jahrhundert würde, ebenso wie das 18. mit der Revolution von 1789 das französische Jahrhundert war. In der deutschen Literatur, in der Musik und in der Philosophie entdeckte er — wie in der Politik — die maßgeblichen Kräfte Europas. Ganz Unrecht hatte er damit nicht. Selbst die schärfsten Kritiker des Kaiserreiches unter Wilhelm II., wie der weltweit anerkannte britische Forscher John C. G. Röhl, stellten fest, dass Deutschland damals »der erfolgreichste Staat der Welt« war, »wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell, auch in sozialreformerischer Sicht.«35 »Die Deutschen waren das wohl kultivierteste Volk der Welt«, schreibt David Fromkin, Professor für Geschichte an der Universität Boston in seinem Buch Europas letzter Sommer.36 Aber dieses Reich wusste politisch nicht mit Bismarcks Erbe umzugehen. Der junge Kaiser war ein Modernisierer, aber in ihm steckte zugleich der Muff der Hohenzollern-Dynastie. Er liebte es, sich hoch zu Pferde in der preußischen Paradeuniform zu präsentieren. Zugleich erwies er sich als ein Narr moderner Technik. Trotz seiner Leidenschaft für Pferde hatte das Automobil es ihm angetan. In Berlin ließ er mit der Avus eine moderne Rennstrecke bauen. Das Bewusstsein für technischen Fortschritt inspirierte ihn zu seinen Weltmachtfantasien und entfernte ihn von Volk und Parlament. Heinrich Mann spürte diese Fehlentwicklung. Bismarck schätzte er zeitlebens, Wilhelm II. nur kurze Zeit. Zunächst blieb er dem jungen Kaiser und dem Reich jedoch eng verbunden. Er führte kein komfortables, aber ein von Leidenschaft besessenes, nach Selbstverwirklichung strebendes Leben, den »Traum von der Bohème Dorée«.37

Versuche anzukommen

»Ich versuche viel in dieser Zeit, um ›anzukommen‹«,38 bekennt Heinrich Mann im März 1891. Zu diesem Zeitpunkt spürte er bereits, dass er für ein ordentliches, konventionell-bürgerliches Leben nicht bestimmt sei. Seine erste Novelle, Haltlos, zeugt von dieser Unsicherheit und Suche nach festem Grund zur Jahrhundertwende in der sich rapide verändernden Gesellschaft. Die Novelle trägt starke autobiographische Züge. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann, Sohn vermögender Eltern, der die Hingabe und Naivität eines mittellosen, in armen Verhältnissen lebenden Mädchens ausnutzt und sich in seiner Schamlosigkeit selbst ein Rätsel bleibt. Beide, Sohn und Autor, sind »nervöse Helden«. Sie werden vom Fieber der Zeit getrieben, verfallen in radikale Selbstreflexionen, leben ihre Leidenschaften aus, geben ihren starken Gefühlen und ihren sexuellen Neigungen scheinbar willenlos nach. Ihr Leben ist ein Leben des Sowohl-als-auch, da es ebenso von Trieben wie von Gefühlen, von Vernunft wie vom Selbstzweifel bestimmt wird. Auch wenn ein Autor nie in der von ihm geschaffenen literarischen Figur aufgeht, wird in diesem Fall offenkundig, dass hier eine weitgehende Kongruenz besteht. Beide repräsentieren die damals in Mode stehende »Figur der europäischen Avantgarde«39. Heinrich Mann fühlt sich von der Industrialisierung und den von ihr ausgehenden radikalen Veränderungen der modernen Welt herausgefordert. In Unstimmigkeit zu ihr, innerlich zerrissen, flüchtet er in eine abstrakte Welt, in der er seine ästhetischen und idealistischen Vorstellungen gegen die Rohheit des Alltags zu retten sucht. In der Novelle ästhetisiert er die Alltagswelt und setzt Bruchstücke aus ihr zu einer Wunschwelt zusammen, die geistige Zuflucht bietet. Die literarische Avantgarde jener Tage findet ihre Vorbilder im französischen Symbolismus, der sich zum Ende des 19. Jahrhunderts entfaltet. Er wird geprägt von Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé (1842–1898), Arthur Rimbaud (1854–1891) und Paul Marie Verlaine (1844–1896). Sie stehen im Gegensatz zu Naturalismus und Realismus, die auf die industrielle Revolution eine literarische Antwort suchen. Der Symbolismus entsprach ganz Heinrich Manns damaliger Gemütsverfassung.

Trotz dieses markanten Zeitbezugs und mehrfacher Korrekturen konnte Heinrich Mann sich nicht zu einer Veröffentlichung des Textes entschließen. Er war sich nicht sicher, ob er mit dieser Novelle seine Karriere als Schriftsteller beginnen solle. Vermutlich spielte für diese Unentschlossenheit sein ästhetischer Anspruch eine Rolle, — seinem Vorbild Theodor Fontane folgend — alles in der Schwebe zu halten und als Autor hinter den Personen zurückzutreten. Denn es ging ihm vor allem darum, die seelischen Prozesse und Gefühlswelten der im Mittelpunkt der Novelle stehenden Personen offenzulegen.

Vom familiären Druck befreit versuchte Heinrich Mann nach dem Tod seines Vaters, seinem Leben Halt und einen tieferen Sinn zu geben. In dem verzweifelten Bemühen, sich selbst zu erkennen, hatte er sich in eine »innere Verbitterung, Welt- und Ichverachtung« begeben.40 Die Novelle Haltlos gibt darüber Auskunft. So viel stand für ihn fest: Er wollte Schriftsteller werden. Aber wie ließ sich dieses Ziel verwirklichen, wenn er sich selbst fremd gegenüberstand?

Nach seiner schweren Erkrankung kam es zunächst darauf an, wieder gesund zu werden. Deshalb besuchte er verschiedene Kurorte und Sanatorien. Nirgendwo verweilte er. Am längsten noch in Wiesbaden, wo er fast vier Monate blieb, ehe ihn wieder das Reisefieber packte und zu kürzeren Aufenthalten in Baden-Baden, Todtnau, Freiburg, St. Blasien und auf den Feldberg trieb. Im Schwarzwald schrieb er in dem Gedicht Wohin:

»Ich wußte nicht, wohin ich ging –

Vor mir auf, durch den Park, der so dunkel jetzt,

Matt flattert ein weißer Schmetterling –

Ist nun meine Liebe zu Tod gehetzt, –

Sah ich Dich diese Nacht zuletzt? –

Oder wird das schmerzende Licht mich lehren,

Zu dir, zum Vergessen zurückzukehren?«41

Heinrich spürte, dass ihm eine rückwärtsgewandte Sehnsucht, eine Flucht aus der Welt, die Welt der Sanatorien, nicht guttue. Die Zeit würde sich dafür rächen, da sie nun einmal »selber Kinder ja der neuen Zeit« seien.42 Dennoch pendelte er auch nach seiner Genesung jahrelang weiter hin und her zwischen Lausanne, Florenz, Viareggio, Bologna, Verona, Riva am Gardasee, Bozen, Rom und dem nahegelegenen Bergdorf Palestrina. Wenn er in Deutschland war, hielt er sich am häufigsten in München auf. Er lebte so dahin, aber war nicht unproduktiv. Er schrieb zahlreiche Novellen, traf Vorbereitungen für Romane, die er zum Teil später literarisch verarbeitete und ging zeitweise einer festen Beschäftigung nach.

In Italien führte er ein Künstlerleben. Er bewegte sich in der Zone der »Geruchlosigkeit«. Er hatte nicht viel Geld, aber genug, um die Freuden des Lebens zu genießen: »Beim Verlassen der Osteria hinter S. Paolo machte ich die, jedesmal wieder überraschende, Bemerkung«, schreibt er, »daß es in Wirklichkeit nur drei wahrhaft reelle und durch nichts zu compensierende Werthe gibt: Satt zu essen, schönes Wetter in einem schönen Lande und dann und wann eine angenehme Frau. Sollte ich diese mein Leben lang á disrcrétion besitzen, so will ich nicht klagen.«43 Der Traum von einem Leben der durch Europa reisenden Aristokratie, wie sie Otto Flake (1880–1963) in dem Roman Hortense und die Rückkehr nach Baden-Baden schilderte, ließ sich nicht realisieren. Aber die »Bohème Dorée« übte offensichtlich auf ihn eine besondere Anziehungskraft aus, auch wenn sie dann und wann, wenn die Mittel eng wurden, Züge einer Boheme in Armut annahm. Vermutlich war diese Sehnsucht nach Leben auch eine Reaktion auf seine schwere Erkrankung. Sie lag aber auch in seiner Natur und in der »Luft der Zeit«, die ihr Flügel verlieh.

Neue Romantik

Das romantische, vergnügungssüchtige, rastlose Künstlerdasein hielt bis in die zweite Hälfte der Neunzigerjahre an. Trotzdem gelang es Heinrich Mann, in dieser »nervösen Zeit« den Grundstein für ein Leben als Schriftsteller zu legen. Er schrieb zahlreiche kulturpolitische Aufsätze, die er zunächst vor allem in der Zeitschrift Die Gesellschaft veröffentlichte, einer Monatsschrift für »Litteratur, Kunst und Sozialpolitik«. Die Gesellschaft empfand er alsbald als öde und wenig inspirierend. Im Januar 1892 erschien dort sein letzter Beitrag. Im Sommer kam die liberale, renommierte Wochenzeitschrift Die Gegenwart hinzu. Sie wurde von dem erfolgreichen und geschätzten Schriftsteller und Theatermann Paul Lindau (1839–1919) im Jahr nach der Gründung des Deutschen Reiches ins Leben gerufen. In ihr schrieben namhafte Autoren vor und nach der Jahrhundertwende. Für Heinrich Mann bedeutete es viel, hier publizieren zu können.

Mit dem Essay Neue Romantik brachte er sich in die aktuelle literarische Debatte um Naturalismus, Realismus und Symbolismus ein. Er bezog Stellung gegen den Naturalismus in Literatur und Kunst, der sich im Zuge der Industrialisierung den Problemen der Verstädterung, der Landflucht, der Verelendung und Verarmung weiter Teile der Gesellschaft zuwandte. Die ihm zuneigenden Schriftsteller und Künstler nahmen für sich in Anspruch, die soziale Wirklichkeit in ihren Werken abzubilden. Dabei griffen sie auch auf empirisch-naturwissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse zurück. Vorreiter unter diesen Autoren waren in Frankreich Émile Zola (1840–1902), der später zu Heinrich Manns großem Vorbild werden sollte, und in Deutschland Gerhart Hauptmann (1862–1946).

Heinrich Mann warf den Naturalisten vor, bei der Analyse stehen zu bleiben und die tiefere Dimension des Menschlichen, »die Gefühlswerte«, wie er es nannte, sträflich zu vernachlässigen. Deshalb sei es nunmehr Aufgabe der Literatur, nach dem Naturalismus, »die kommende Romantik zeitgemäß zu machen.«44 Es gelte jede Schwingung und Empfindung, die die menschliche Seele bewege, literarisch zu gestalten, erläuterte er Ewers, der diesbezüglich eine andere Auffassung vertrat. »Die Seele eines Menschen wird mit Umständlichkeit und Sorgfalt zerlegt in einzelne Fasern, jede Nervenschwingung festgehalten. Das leitende Motiv des Dichters ist einzig das Interesse für das, was dabei wohl zutage tritt.«45 In Abgrenzung zum Symbolismus komme es der »Neuen Romantik« nicht mehr darauf an, eine spezifische Wirkung auf den Leser auszuüben. In der Psychologie wurde das geeignete Hilfsmittel erkannt, die Seele eines Menschen zu analysieren. Heinrich Mann las zu Beginn der Neunzigerjahre Hermann Bahrs Essay Die neue Psychologie, mit dem jener eine Psychologisierung der Weltliteratur ankündigte. Von ihr würde eine neue Form des Erzählens und eine bisher gegen alle Konventionen verstoßende Themenwahl ausgehen. Vorrangiges Ziel sei es, Seelenzustände und Seelenentwicklungen darzustellen. Bahr (1863–1934) leitete diese nicht primär aus äußeren Einflussfaktoren ab, sondern aus inneren. Nach seiner Meinung bestimmte nicht die neue Hektik der Zeit oder ein von Vernunft geleitetes Handeln den Menschen, sondern seine Nerven, die auf äußere Ereignisse reagieren und innere Wirkungen auslösen. Das innere Empfinden zeige den Weg zur Wahrheit und leite den Menschen. Diese Reduzierung menschlichen Verhaltens auf seine nervliche Disposition machte Bahr zum »Propheten der Moderne«. Mit seinen ungewöhnlichen, zum Teil revolutionären Thesen erwarb er sich als Schriftsteller, Dramatiker und Literaturkritiker einen Namen. Seine »nervöse Romantik« stellte die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften und die auf ihnen basierenden Kunstformen des Naturalismus infrage. Er setzte dem Naturalismus einen romantischen Idealismus entgegen. Bahr lebte zu Beginn der Neunzigerjahre in Berlin, wo er für die Zeitschrift Neue Bühne arbeitete. Dort wurde Heinrich auf ihn aufmerksam. Seinem Freund Ewers gegenüber hatte er bereits im November 1890 bekundet, dass er sich mit Bahr geistesverwandt fühle: »Wohl das anregendste, glänzendste Werk, das ich in letzter Zeit kennengelernt habe. Die Psychologie wird hier aufs Höchste getrieben.«46

Fortan las Heinrich Mann auch Heines Gedichte mit anderen Augen. Sie seien eben nicht nur »›flüchtige Stimmungen‹«, wie viele mutmaßten, sondern »sein sich entwickelndes Lebenswerk«47: seine Individualität. Die Individualität und nicht das gesellschaftliche Ganze rückten für ihn fortan mehr und mehr in den Mittelpunkt; die Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft trat zurück. Denn in der Literatur komme es seiner Meinung nach darauf an, »romantisch-suggestive Menschen für sich genommen und abgesehen von den Wirkungen, die sie auf uns hervorbringen, dennoch natürlich und ganzmenschlich erscheinen zu lassen, ohne den Märchenapparat der alten Romantik – das ist eben die Kunst.«48

Heinrich Mann erhielt auch wesentliche Impulse für die Stilrichtung der »Neuen Romantik« von seinem Freund Heinrich Lehmann (1862–1898), einem Berliner Physiker und Schüler des damals berühmten Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz (1821–1894). Lehmann prägte Heinrichs Sichtweisen zur wachsenden Bedeutung der Naturwissenschaften im Alltag des Menschen und der Frage, in welchem Verhältnis sie zu den Grundfragen der Philosophie stehen. Er weckte auch sein »Faible für wissenschaftliche Psychologie«.49 Verändern die Naturwissenschaften das Wesen des Menschen? Haben sie Einfluss auf seine Seele, auf seine Individualität? Können sie seinen Willen verändern? Kann die moderne Psychologie die menschliche Seele offenlegen und sie beeinflussen? Die »Neue Romantik« scherte sich nach Heinrich Mann nicht um die Frage, ob »die Handlungen und das Schicksal eines Menschen das Ergebnis seiner Anlagen und der auf ihn einwirkenden Umstände sind, ihr ist es an sich gleichgültig; sie ist nur darauf bedacht, aus der bestehenden Abhängigkeit des Menschenlebens von unberechenbaren Faktoren eine Tragik von möglichst intensiver Nervenwirkung herauszuziehen.«50 Sie ziele nicht darauf ab, die mit Hilfe der Naturwissenschaften gewonnenen Erkenntnisse infrage zu stellen. Vielmehr käme es ihr darauf an, auf ihre Unzulänglichkeiten aufmerksam zu machen und darauf zu verweisen, was die moderne Literatur ergänzend zu leisten vermöge.51

Es ist im Einzelfall nicht möglich, die verschiedenen Einflussfaktoren auf Heinrich Manns Literaturverständnis in dieser Lebensphase nachzuweisen. Ganz sicher spielte dabei Gustave Flaubert (1821–1880) eine Rolle. Mit ihm beschäftigte er sich bereits seit Beginn der Neunzigerjahre. In seiner Bibliothek hatte er stets seine wichtigsten Werke zur Hand. Er bewunderte seinen Stil und seinen Mut, vor allem, weil er mit seinem Epoche-Roman Madame Bovary neue literarische Wege beschritten hatte, was ihm viel Ärger einbrachte. Mann wandte sich in seinen Essays Flaubert mehrfach zu. Noch zu Beginn der 1920er-Jahre sprach er voller Bewunderung, auf ihn Bezug nehmend, von den unfruchtbaren »Schmerzen der Seele«, den »Aufflügen des Geistes« und den »Kämpfen der Leidenschaften«, die als reines Gefühl einzig des Daseins würdig seien. In Flauberts Roman L’Éducation sentimentale erkannte er dessen Lebensextrakt.52

Seine in dieser Lebensphase entstehenden acht Novellen sind vom Literaturkonzept der »Neuen Romantik« bestimmt. Er schrieb eine nach der anderen. »Es ist der reine Sport«,53 ließ er Ewers wissen. So erscheint es dem Betrachter auch heute; seine Produktivität erstaunt. Zur Veröffentlichung kamen sie in der Zeitschrift Moderne Kunst und in Pan.54 Später führte er sie in den zwei Sammelbänden Das Wunderbare und andere Novellen (1897) und Ein Verbrechen und andere Geschichten (1898) zusammen. Jedoch fanden sie nur wenig Beachtung bei den Kritikern und Lesern. Besonders am Herzen lag ihm die Novelle Das Wunderbare, die zwischen 1894 und 1896 entstand: »Sie enthält wirkliche Sensationen, Visionen und Sehnsucht. Es wäre schlimm, wenn sie nichts taugte«55, äußerte er mit gewissem Zweifel aus München, wo er sich gerade aufhielt. Die Kritik vermerkte: Es ist »eine melodische Geschichte von zartbunter Romantik«56. In Pastelltönen schildert Heinrich auf distinguierte Weise ein seelisches Erlebnis. Der Verstand verschmilzt im Gefühl. Das Wunderbare spielt in einer märchenumwobenen Landschaft und offenbart die Schwierigkeiten der Suche nach dem richtigen Leben. Er folgt damit seinen Reflexionen zu einer zeitgemäßen Romantik. Vor diesem Hintergrund stellt die Novelle ein wahres Meisterwerk dar. Der Sammelband trägt nicht von ungefähr ihren Titel.

Nervosität als Phänomen der Zeit

Dem Stil der »Neuen Romantik« fühlte Heinrich sich verpflichtet, als er seinen ersten Roman In einer Familie niederschrieb. Zu dieser Zeit, um 1892 und 1893, pendelte er zwischen Wiesbaden, Lausanne, Paris und Riva hin und her, bis er sich dann für ein knappes halbes Jahr vom November 1893 bis März des darauffolgenden Jahres in Florenz niederließ. Seine Wahl fiel auf die Metropole der Toskana, weil er dort hoffte, wie zuvor in Paris, ein kosmopolitisches Leben führen zu können. Nach den Tagen rund um den Eiffelturm hatte er davon geträumt, wenigstens für ein paar Wochen die »haute vie«, die Luft der Oberschicht, einatmen und genießen zu können. Er meinte zu beobachten, dass sie viel mehr in der illustren, schillernden Halbwelt zuhause wäre als in der anderen. Er glaubte, dass ihre Analyse nicht zuletzt deshalb für seine literarische Arbeit bedeutsam sei. Er müsse aus seinem beschränkten Alltag heraustreten und einen Ausflug in jenen Lebenskreis wagen, »wo die Blume blüht, aus deren Duft« er »eine Essenz zu fabriciren habe«57, schrieb er in seinem Tagebuch. Er träumte von dieser »Herrlichkeit auf Zeit« — mit einer guten Adresse nicht weit von den Boulevards, eingekleidet vom feinsten Schneider und umgeben von einer eleganten Frau, die ihn in die schicksten Restaurants und die intimsten Logen der Theater zu führen wüsste, bis diese »Herrlichkeit auf Zeit« allein aus physischer Erschöpfung ein abruptes Ende fände, selbst wenn noch nicht alle Wünsche restlos erfüllt wären.58 Als er diesen »Plan« niederschrieb, hatte er sein Romandebüt so gut wie beendet. In Florenz gab er ihm den letzten Schliff.

Sprach aus seinem »Plan« bereits eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Erreichten? Spürte er, dass er möglicherweise der Schilderung des Lebens der vermögenden Oberschicht, der er sich in seiner Prosa zuwenden wollte, vielleicht doch nicht gerecht werden könnte?

Seine Mutter musste ihm bei der Finanzierung des Erstlings unter die Arme greifen, weil sich kein Verlag finden wollte, der das wirtschaftliche Risiko zu tragen bereit gewesen wäre. Der Roman erschien 1894, er verkaufte sich schlecht. Trotz geringer Startauflage kam es erst vier Jahre später zu einer zweiten Auflage. Nach einer Überarbeitung in der Zeit der Weimarer Republik verschwand er mehr oder weniger in der Versenkung. Der Autor selbst betrachtete sein literarisches Debüt zurückblickend mit Skepsis. Er mutmaßte, dass er zu einem solchen Werk noch nicht reif gewesen sei. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Zeit darüber hinweggegangen. Inzwischen hatte das elektrische Licht die Kerzen ersetzt und die Autos die Kutschen. Die Menschen bekümmerten andere Sorgen, als ihre Gefühle zu beobachten und in den Griff zu bekommen. Die Art zu schreiben hatte sich von Grund auf verändert. Selbst bei den Herausgebern der Gesammelten Werke im Aufbau Verlag fand der Roman keine Gnade und wurde nicht in die 19-bändige, allerdings unvollständige, Gesamtausgabe aufgenommen. Der S. Fischer Verlag schloss im Jahr 2000 die entstandene Lücke mit einer erneuten Ausgabe unter gleichem Titel, in der versucht wurde, den Roman in ein neues Licht zu stellen. Tatsächlich bietet die Lektüre über 100 Jahre nach ihrer Niederschrift den Reiz, in eine ferne Zeit einzutauchen und zu erfahren, was die reiche Oberschicht damals bewegte, wie sie lebte und was ihr wichtig schien. Die Kritik fiel recht negativ aus. Und in der Tat wirkt die geschilderte Beziehungsgeschichte mit zahlreichen autobiographischen, familiären Bezügen und Anklängen an Goethes Wahlverwandtschaften heute noch mehr konstruiert als damals, von der farblosen Darstellung der im Mittelpunkt stehenden Charaktere und dem dort vermittelten unzeitgemäßen Frauenbild einmal ganz abgesehen.

Dennoch ist dieser Erstling Heinrich Manns von Interesse, da er aufzeigt, wie der damals 23-jährige Autor mit seiner psychologisierenden Darstellungsweise dem Zeitgeist Tribut zollte. Dabei vermochte er an das Niveau seines geistig-literarischen Übervaters der frühen Jahre, den französischen Erfolgsautor, Paul Bourget, nicht ansatzweise heranzureichen. Ihm hatte er seinen Debütroman gewidmet.

In der Gegenwart veröffentlichte er den Essay Bourget als Kosmopolit, dem eine intensive Beschäftigung mit dessen Werk vorausgegangen war. Sie verlief parallel mit der Niederschrift seines ersten Romans. Es fällt nicht schwer, eine geistige, seelische und poetische Übereinstimmung zwischen beiden Autoren nachzuweisen. Heinrich teilte damals Bourgets kulturkritische Grundhaltung. Auch politisch stimmte er mit seinem radikalen, verklärten Konservatismus überein. Bourget war kein Anhänger der Dritten Republik (1870–1940). Er war Monarchist und lehnte die Demokratie ab. Später zählte er zu den Mitbegründern der rechtsradikalen »Action Française«. Sein Weltbild kann am Ende des 19. Jahrhunderts als mondän-konservativ bzw. monarchistisch-nationalistisch bezeichnet werden. In dieser Welt spielt auch Heinrich Manns Roman In einer Familie.

Der Held der Ehebruchgeschichte, der wohlsituierte, willensschwache Erich Wellkamp, repräsentiert den »fin-de-siècle-Mann« des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der in seiner von Selbstzweifeln bestimmten Lebensweise zum tragischen Helden wird, ohne sich dessen bewusst zu sein. Erich Wellkamp findet zwar nach dem Ehebruch zu seiner Frau zurück, die ihm vergibt. Er reflektiert aber – z. B. im Gegensatz zu Baron von Innstetten in Theodor Fontanes Effi Briest, dessen Frau Ehebruch begeht, weil sie die Kälte ihres Mannes nicht erträgt – seine gesellschaftliche Rolle nicht und die auf ihn und sein Handeln einwirkenden gesellschaftlichen Kräfte. Heinrichs »Plan«, literarisch in die mondäne Welt der Reichen einzutauchen, nähert sich Bourgets psychologisierender Darstellungsform ebenso an, wie seiner Neigung, mondäne Milieus als Orte der Handlung zu wählen. Mit ihm folgt er dem Kosmopolitismus, der Europa als seine Heimat betrachtet: Diese Heimat ist eine grenzenlose Welt. Sie fördert die »Kunst des Verallgemeinerns«, in ihr lebt »kaum Einer nach den ihm von Hause eigenen Gewohnheiten«. Die von ihm geschilderten Menschen verweilen fern ihrer Herkunft. Sie halten sich in einer Stadt zumeist nur vorübergehend auf. Aber sie verbindet die »gleiche Existenz des vornehmen Genusses«, die sie trotz fortbestehender Gegensätze und Leidenschaften über ihre Gewohnheiten, Gefühle und Gedanken zu Repräsentanten einer aristokratischen weltbürgerlichen Gesellschaft zusammenführt. »›Allmählich und dank einem unvermeidlichen Zusammentreffen der verschiedenen Adepten des weltbürgerlichen Lebens‹«, zitiert er Bourget, »›bildet sich eine europäische Gesellschaft, eine Aristokratie besonderer Art, deren vielfältige Sitten noch nicht ihren endgültigen Maler gefunden haben.‹«.59 Und auch nicht finden sollen. Denn Bourget beschreibt eine Lebens- und Geisteshaltung, die weniger vom Verstand als von der Sinneslust geprägt wird. Von ihr bestimmt wenden sich seine Protagonisten je nach Bedarf verschiedenen Formen des Lebens zu, ohne in ihnen ganz aufzugehen. Ihr Schicksal liegt darin, nirgends heimisch zu werden, nirgendwo anzukommen.

Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gilt diese Einstellung als »Dilettantismus«, verstanden in seiner ursprünglichen Bedeutung als Freude an einem Gegenstand oder Handeln, ohne es zur Perfektion zu bringen. Der Dilettant sucht den Lebensgenuss, wo er ihn finden kann. Er genießt, gibt sich planlos der Sonnenseite des Lebens hin und betrachtet es wie einen niemals endenden Rausch. Um die Sicherung seiner Existenz muss er sich nicht kümmern, bzw. sie kümmert ihn nicht. Er wird nicht von seiner Vernunft geleitet, sondern von seiner Gefühlswelt bestimmt, der er sich willenlos ausgeliefert sieht. Mit gewissen Einschränkungen traf diese Charakterisierung auch auf Heinrich Manns Lebensstil und nicht nur auf Erich Wellkamp in seinem Roman In einer Familie zu.

In den autobiographischen Parallelen spiegelt sich Friedrich Nietzsches (1844–1900) Traktat Menschliches, Allzumenschliches von 1878. Heinrich kannte ihn. Für Nietzsche geht moralisches Empfinden auf einen Irrtum zurück, nämlich den Irrtum von der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln. Diese Fehlannahme wiederum beruhe auf dem Irrtum von der »Freiheit des Willens«. Nietzsche löst den Menschen aus seiner sozialen Verantwortung, indem er ihm zugutehält, nicht frei entscheiden zu können. Er erteilt der Willensfreiheit eine klare Absage. Der Dilettant ist nicht fähig, zu wollen.

In einer Familie spielt in einem privaten Wohlfühlraum, in den die soziale Realität der wilhelminischen Gesellschaft nicht einzudringen vermag. Die Handlung vollzieht sich wie unter einer Käseglocke, fernab vom alltäglichen Leben der Mehrheitsgesellschaft. Allerdings ist dieser private Raum alles andere als spannungsfrei. Die im Mittelpunkt stehenden Personen sind mit ihren Unzulänglichkeiten so sehr beschäftigt, dass sie selbst die offensichtlichen Probleme ihrer nächsten Angehörigen nicht wahrnehmen. Ursache dieser Selbstsucht ist eine nervliche Überspanntheit, deren Symptome u. a. Wehleidigkeit, Willen- und Haltlosigkeit sind. Überlegtes Handeln liegt ihnen ebenso fern, wie ihr Leben nach begründeten Überzeugungen auszurichten. Heinrich Mann und viele der zeitgenössischen Schriftsteller äußerten sich zu diesen Leiden, sodass die Literatur selbst zum Motor der Nervosität wurde. In der Novelle Doktor Biebers Versuchung schreibt er: »Ich? Ich bin Neurastheniker. Dies ist meine Profession und mein Schicksal.«60

Die manische Selbsterforschung des Einzelnen entsprach einem typischen Wesenszug der Moderne zur vorletzten Jahrhundertwende. Der moderne Mensch entpflichtet sich. Er flieht vor der Zivilisation in einen Schutzraum jenseits der Realität. Er ist überall und nirgends zuhause — und findet deshalb seinen Platz nicht.61 Die Heimat hat ihn vergessen und er hat die Heimat vergessen. So wie Orte verschwimmen auch Wahrheit und Irrtum. Wie Erich Wellkamp ist man bereit, alles gelten zu lassen.

Der New Yorker Nervenarzt George M. Beard fasste diese Leiden in dem Begriff der »Neurasthenie« zusammen. Er fand damit bis ins 20. Jahrhundert hinein weltweit Aufmerksamkeit. Tatsächlich attestierten Ärzte auch Heinrich Mann eine »schwere Neurasthenie«. Sein Bruder Thomas bekannte sich ebenfalls zu diesem Leiden.62 Wie kam es dazu, dass es sich epidemisch in der Zeit der »Belle Époque« ausbreitete? Schließlich ging es doch der Oberschicht traumhaft und selbst der »Bohème Dorée« gut. Auch Künstler führten ein weitgehend sorgenfreies, freizügiges Leben jenseits gesellschaftlicher Konventionen. Vermutlich lag in dieser Ungezwungenheit und Ungebundenheit eine der zentralen Ursachen der »Neurasthenie«. Man konnte es sich leisten, sich schlecht zu fühlen und von Kur zu Kur zu reisen, so wie es auch der junge Heinrich tat. »Neurasthenie« beschrieb einen Zustand der Schwäche und Überreiztheit als Folge der modernen Zivilisation. Die nervöse Sinn- und Haltsuche drückte der vornehmen Gesellschaft einen Stempel auf. Wer sich nicht dazu bekannte, gehörte nicht dazu: »Nervosität als Krankheit und als Kulturzustand, als individuelle Erfahrung und als nationales Befinden.«63 Als Zivilisationskrankheit war »sie ein kulturelles Konstrukt und zugleich eine echte Leidenserfahrung«64 mit vielfältigen pathologischen Symptomen. In einer Familie erzählt von diesem Schicksal. Die Figuren werden zu ihrem vorherbestimmten Unglück verführt.

Reaktion gleich Fortschritt

Die Regierungszeit Wilhelms II. wird als »Wilhelminismus« oder »Wilhelminische Epoche« bezeichnet. Sie umfasst im Kern die Jahre nach der Entlassung Bismarcks 1890 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1914. Ihre äußeren Merkmale waren das Getöse und Pompöse. Mit Getöse ließe sich die Art und Weise bezeichnen, wie Wilhelm II. seine Politik öffentlich machte. Das Pompöse beschreibt die Form, in der dies geschah. Neben diesen auf äußere Wahrnehmung zielenden Attributen kennzeichnete die wilhelminische Politik vor allem zwei Phänomene. Sie präsentierte sich einerseits reformorientiert, technikbegeistert und modern, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Andererseits blieb sie aber alten Konventionen und Traditionen verhaftet. Das Neue kollidierte mit dem Althergebrachten. Nirgends zeigte sich dies stärker als in der antiparlamentarischen Haltung des Kaisers, seiner Eingebundenheit in die Strukturen des preußischen Adels und des Militärs, denen seine besondere Wertschätzung galt. Den Versuch, das Alte mit dem Neuen zu versöhnen, unternahm er nicht. Es entsprach nicht seinem Charakter, zu versöhnen. Beide Wesenszüge fanden in ihm wie selbstverständlich nebeneinander Platz. Doch in der Gesellschaft konnte dieser widernatürliche Spagat nicht auf Dauer fortbestehen. Dafür waren die parlamentarischen und sozialen Kräfte in ihr zu stark.

Bemerkenswerterweise fand sich auch in der Literatur der »Neuen Romantik« Paul Bourgets diese Widersprüchlichkeit. Einerseits nahm sie für sich in Anspruch, die Avantgarde zu sein und an der Spitze des Fortschritts zu stehen, andererseits setzte sie der Moderne vormoderne Sicht- und Verhaltensweisen in ihren Figuren entgegen, die in einer anderen, überkommenen Welt räumlich, sozial und geistig zu Hause waren. In ihren Erzählungen blieb die politische ebenso wie die soziale Wirklichkeit ausgeblendet. Eine rückwärtsgewandte Perspektive wird als fortschrittlich ausgegeben, obwohl sie in ihrem innersten Kern reaktionäre Züge offenbart.65

Auch die in Heinrich Manns frühen Werken anklingende Kulturkritik suchte nicht nach neuen Formen der geistigen und politischen Auseinandersetzung. Vielmehr versuchte sie eine Zeit zu konservieren, die bereits vom Untergang gezeichnet war. Manns Jugendwerk bietet einen Bilderreigen »von Neurotikern, erschöpften jungen Damen« und »entnervten Jünglingen«, eine Art »Lazarett-Poesie«66 mit dekadenten Zügen. Sie knüpft an Friedrich Nietzsches Kritik am Wilhelminismus insoweit an, als sie das Krankheitsbild einer aristokratischen und bürgerlichen Oberschicht schildert. Nur stellt sich die Frage, ob der junge Autor ihre Lebensweise kritisieren oder doch vielleicht eher schützen wollte, weil er von ihr fasziniert war. Wenn er sie überhaupt als krank empfand, dann nicht in einem sozialen, sondern in einem kulturellen Sinne. Ihren Niedergang erkannte er zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht. Vielmehr entdeckte er, wie ihre Orientierungslosigkeit ihre Ratlosigkeit beflügelte und umgekehrt.

Für diese These spricht Heinrich Manns Lebenswandel, der von unerfüllten Sehnsüchten und Träumen bestimmt war. Während seine Mutter mit ihren Kindern in München einen neuen Lebensmittelpunkt fand, flanierte er durch Italien. Riva am Gardasee, das damals noch zum Habsburgerreich gehörte, aber das Tor nach Italien war, Florenz und Rom wurden zu seinen bevorzugten Aufenthaltsorten für die nächsten Jahre. Zwischendurch kehrte er gelegentlich nach München zurück, wo er in der Wohnung seiner Mutter noch eine gewisse Zeit ein eigenes Zimmer hatte, bis er sich selbst eine kleine möblierte Bleibe mietete. Die Rastlosigkeit seines Lebens nahm in diesen Jahren ihren Anfang. Nach dem frühen Verlassen seines Elternhauses in Lübeck fand er kein Zuhause mehr. An seine Stelle traten andere Zauberorte, die sein Leben prägen sollten. Er träumte von einer väterlichen Erbschaft und ausschweifenden Reisen, die ihn auch an die Riviera führen sollten, nach Nizza und Monte Carlo.67 Ein möglicherweise dort anzutreffender »Unwohlgeruch des Millionengestanks« bekümmerte ihn nicht.

Doch dazu kam es vorerst nicht. »Armselige Geruchlosigkeit« blieb sein ständiger Begleiter. Zur Jahrhundertwende verweilte Heinrich am liebsten in Florenz und Rom. Italien, nicht Frankreich, wurde zu seiner Wahlheimat. In Florenz begeisterte ihn der schon damals blühende Tourismus, der die alte Stadt mit einem modernen kosmopolitischen Flair überzog; vor allem aber das milde Klima und ihre stille Schönheit: »Vor allem Glanz schließt man am Ende halb die Augen, und wie nun Alles zu einer weit abgestimmten Lichtfläche verschwimmt, überläßt man sich gern der Illusion, schon in den Sonnendunst eines Maitages zu blicken, der sich dort drunten wie über einen bezaubert schlummernden See legt«, schrieb er in einem Reisefeuilleton für die Berliner National-Zeitung.68