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Vogel hätte gerne zu den Coolen gehört, tut er aber nicht. Er wäre gerne eine toughe Sau, ist aber sensibel und einfühlsam. Er zieht zum Studium in eine Stadt, genauer in Zimmerchen bei einem Rentner. Der unerwartete Tod des Alten löst eine Sinnkrise aus, stürzt Vogel in eine Depression. Er bleibt halb illegal in der Wohnung hausen und vegetiert zwischen Matratze, der im Haus ansässigen Pizzeria und seinem Job im Schwarzen Loch vor sich hin. Wie er es trotzdem schafft, seinem Leben eine Wendung zu geben, Freunde, Erkenntnisse und eine Richtung zu finden, was damit der kokelnde Schowanni-Igor, ein daumenloser Praktikant, ein zufällig gefundenes Altenheim, die lebensmüde Nachbarin und ein Kühlschrank namens Russland zu tun haben, um nur ein paar Weggefährten zu nennen, erzählen die nächsten sieben Tage.
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Moin Moin 1972 in Hamburg, Abitur, Grafik, München, Marketing, 20+ Jahre Webdesign, 2014 Webdesign logout, login@Altenheim:
Betreuungskraft im psychogerontologischen Fachbereich. Parallel seit 1992 Selbsterfahrung & Meditation, Ergebnis: Selbstständiger Coach für Hochbegabte und Autorin. Seit 1998 verheiratet, fünf vierbeinige Kinder.
Bisher veröffentlicht fünf Titel zum Thema Meditation.
Heiße Pizza ist ihr erster Roman.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Ich bin so faul, irgendwie peinlich. Auch wenn es jetzt eine Kettenpizzeria ist, ist und bleibt es für mich die nächste Möglichkeit kostengünstig satt zu werden. Sicher, früher, mit Giovanni, selbstgemachte Pizza, das war eine ganz andere Atmosphäre, leer, dunkel, gemütlich, irgendwie heimelig und die Pizza immer etwas zu schwarz von unten, was über kurz oder lang wohl zum sicheren Untergang meiner warmen Küche führte. Vielleicht auch der anonyme Brief ans Gesundheitsamt, nachdem ich unter meiner Pizza eine verschmorte Schabe oder so fand. Aber irgendwas musste ich ja tun, um weiterhin verkostet zu werden, jetzt zu fettig, etwas lappig, bezahlbar.
Ich war nicht immer so faul, ich war mal ein ganz normaler Mensch. Bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und sobald ich das Abi in der Tasche hatte, auf und davon, egal wohin, Hauptsache in eine Stadt. Der Kanarienvogel verlässt den goldenen Käfig Elternhaus in der Spießerei, endlich das Leben beginnen, worauf ich all die Jahre gewartet hatte!
In der Freiheit, ein Genuss,
Erwarte ich den Musenkuss
So dachte ich damals zumindest. Was ich studieren wollte hatte ich zwar keine Ahnung, irgendetwas Geisteswissenschaftliches, etwas, wobei man eine Ausrede zum Lesen hat. Das grenzte die Sache nur rudimentär ein, aber diese Orientierungslosigkeit barg zumindest den Vorteil, dass ich bei der Wahl meines zukünftigen Wohnorts sehr flexibel bis hin zu indifferent war, solange die Einwohnerzahl größer gleich 500.000 war.
So fand ich mich eines Tages mit meiner Futon-Sushirolle, einem alten Akkordeon im militärgrünen Instrumentenkoffer, mit abgestoßenen Ecken, einem mit „Gläser und Geschirrtücher“ betitelten Umzugskarton voller LPs (ja, Vinyl!), CDs und Bücher und einem Müllsack voller Klamotten vor der Wohnungstür vom alten Herrn Arndt ein. „Arndt“ stand auf dem beinahe blinden Metallschildchen an der Tür, das ich betrachtete, während ich wartete, dass mein Klingeln beantwortet wurde.
Ein ehern Schild
auf hölzern Tür.
Wer nur stillt
mein Mageng‘schwür?
Das Herz schlug mir bis zum Hals und das nicht nur, weil ich meinen Krempel bis in den zweiten Stock hatte schleppen müssen. Ich hatte nur das Nötigste von zuhause mitgenommen, das war ja erst die erste Fuhre, Stereo-Anlage und restliche Klamotten mussten bis nächstes Mal warten. Das ganze lief über die Studenten-Zimmervermittlung. Der alte Herr Arndt hatte ein Zimmer in seiner kleinen, muffigen Renterwohnung frei, die er immer an Landflüchtlinge vermietete. So fühlte ich mich in etwa, wie ein Flüchtling. All meine Habe um mich drapiert. Voller Vorfreude auf das neue Land, was hinter dieser Tür warten mochte, die Freiheit, ein besseres Leben! Und gleichzeitig ein Kloß im Hals, ob der Angst, vor dem Unbekannten, dem Unvertrauten, neuen Regeln und Gesetzen, die es erst zu erkunden galt. Wie ein Vöglein, das das Nest verlässt, ha, das passt ja! Doch bevor ich mich an der ungewollt humorvollen Metapher ergötzen konnte, sprang die Wohnungstür schlagartig auf. Dort stand ein alter Mann in einer ausgebeuelten Jogginghose, die für diesen Zwecke sicherlich keinerlei Verwendung fand, in ebenso verbrauchten Pantoffelslippern und einer weinroten Strickjacke, die um einen Knopf falsch zugeknöpft war und ein Hemd versteckte, was seinem Kragen nach in den 70ern produziert worden war. Auf dem Kopf war deutlich weniger los als auf dem Hemd, ein paar vereinzelte graue Haare starrten ebenso verwirrt in die Gegend, wie die etwas trüben Augen, die mich aus dem faltigen, fleckigen Gesicht anblickte. Wie alt der alte Mann sein mochte, vermochte ich überhaupt nicht zu sagen. Alle alten Menschen über, sagen wir mal, 60 sind alt, ob 80 oder 100, keine Ahnung. Irgendwo zwischen 60 und 100 Jahren, damit konnte ich nicht falsch liegen. Noch bevor ich mein eingeübtes Sprüchlein loswerden konnte, grunzte der alte Mann, schlurfte seitlich von der Tür weg und deutete ohne jegliche Erklärungen auf einen etwas, was von mir aus uneinsehbar hinter der Wohnungstüre lag.
„Ja, äh, danke!“, stammelte ich dann und schleifte meinen Futon umständlich über die Türschwelle in den kleinen Flur, der mit einer japanischen Matratze, einem Rentner und mir definitiv an seine räumlichen Grenzen kam, und umkurvte die Wohnungstür um zu sehen, worauf der alte Herr Arndt, um den es sich hier wohl handelte, denn ich bezweifelte, dass gleich zwei Rentenempfänger in dieser Wohnung zu finden wären, denn nun deutete. Auf eine Tür. Die zu meinem Zimmer, vermutete ich und stieß sie auf. Ui, nett! Das Zimmer war schön hell, ganz anders als der freudlose Flur, die Sonne warf einen freundlichen Schatten auf das betagte Parkett, durch ein altes Fenster, das auf den Hinterhof blickte, wo ich andere Hinterhäuser sehen konnte und unten im Hof fristete ein Baum sein trauriges Dasein. Ja, Stadtleben, perfekt! Auf den zweiten Blick war dieses Zimmer eher ein Zimmerchen. Es war kaum breiter als mein Futon, wenn ich ihn entrollen würde. Ein Tisch würde nicht mehr reinpassen, aber lesen und schreiben mache ich eh auf dem Bett und sollte akuter Schreibtischmangel auftreten, gibt es ja die Uni-Bibliothek. Ich schob meine XXL-Sushirolle in das Zimmerchen, trat ans Fenster, guckte mich um, brabbelte etwas, von wegen schön, hell, Sonne und so. Herr Arndt sagte nach wie vor nichts, starrte mich vom Flur aus an, gab noch einmal ein Grunzen ab, ein zufriedenes möchte ich meinen, und verschwand dann wortlos und schlagartig hinter einer anderen Tür. Ok, so weit so gut, hätte schlimmer laufen können.
In den nächsten Tagen arrangierten wir uns weiterhin ohne viele Worte ganz gut. Seine Wohnung verfügte noch über ein lila Schlauch Badezimmer, das so schmal war, dass ein korpulenter Mensch mit Sicherheit stecken geblieben wäre. Und das so lila war, dass es hingegen gut war, dass dem möglichst wenig Wandfläche zur Verfügung stand. Ein typisches Oma-Lila, ein bisschen zu grell irgendwie, so wie von Oma gestrickte, kratzige Wollmützen, die man als Kind übergestülpt bekommt. Ich musste unwillkürlich an die Gedärme des Asteroiden Wurms denke, in denen der Millenium Falke in Star Wars gelandet war. Zum Glück roch es besser als in einem echten Wurmdarm, so mutmaßte ich, ich bildete mir zwar ein, dass es auch lila roch, aber das kann auch ein Trick meiner Sinne gewesen sein. War wahrscheinlich eher der Klostein. Visuell geblendet und gefangen,
Purpur, lila, violett
flirtet das Bad ganz kokett
Die Augen schmerzen, oh mein Schreck!
wie ein Voyeur bei einem Autounfall, durfte ich auch sogleich schmerzhaft einen winzigen Heizkörper kennenlernen, der sich hervorragend dafür eignete, gleich wenn man die Tür aufzog, sich das Schienbein zu stoßen. Wie ich in den nächsten Tagen noch ermattet erfahren durfte, glühte er lavagleich ununterbrochen vor sich hin und füllte das violette Wurmgekröse mit stickiger Hitze. Dahinter im Verdauungstrakt waren auf der linken Seite ein zwergenhaftes Waschbecken in rosafarbener Keramik, gabs wohl nicht in lila, eine Darmzotte sozusagen, mit einem niedrig hängen den Spiegel drüber, dahinter in Fahrtrichtung die Toilettenschüssel (weiß), mit so einem Kasten oben, mit einer langen Kette dran zum Ziehen, alles bemüht stromlinienförmig an die Wand geschmiegt. Ganz hinten, die gesamte Breite des Raumes einnehmend, oha – nur nicht verlaufen, war eine winzige Duschwanne, ein Vogelbad, passende Größe, direkt vor einem alten Fenster mit rissigem Kitt und einer wobbeligen Milchglasscheibe, von außen mit einem Gitter gesichert. Falls sich jemand ob der optischen Strapazen in den Freitod zu stürzen wünscht, vermutete ich. Den knauserigen Duschkopf sollte ich noch oft verfluchen und möchte Dir hier Schilderungen verlustreicher Shampoo-Augen-Gefechte ersparen, doch eines darf nicht unerwähnt bleiben: Der Duschvorhang, der wie alles seine Brüder sofort mit jeglicher nackter Haut auf Tuchfüllung ging, war ebenfalls lila, ebenso der Badezimmerteppich, lila, der plüschige WC-Vorleger, lila, der dazu passende Plüschbezug des WC-Deckels, lila, sowie zwei abgetakelte Handtücher und ein Waschlappen, alles lila. So gehört sich das! Keine Kompromisse Herr Arndt! Oder hatte das mal eine Frau Arndt eingerichtet? Ich bezweifelte, dass ich das bei meinem wortkargen Mitbewohner jemals herausfinden würde. Und was macht man eigentlich mit einem Waschlappen? Sowas haben doch nur noch alte Leute, oder? Leute mit Kindern vielleicht, um klebrige Eishände zu waschen. Das ist so ein Gegenstand, wie Tischdecken. Welcher normale, junge Mensch hat zuhause Tischdecken?! Die werden doch nur schmutzig, musste waschen, bügeln, deine Mudda, Tisch wischst du ab und gut is, aus die Maus. Ich bin überzeugt, dass Waschlappen und Tischdecken aussterben werden. Ich werde in jeden Fall nichts für deren kulturellen Erhalt tun.
Im Flur, der farblich eher den Erdtönen zusprach, auch wenn die Wände wohl mal in weiß gestrichen worden waren, direkt nach dem Erbau des Gebäudes, schätze ich, stand ein kleines Telefonbänkchen unter dem an der Wand festmontierten Telefonapparat in mausgrau, der über ein erstaunlich kurzes und starres Spiralkabel verfügte. Wenn man auf dem Möbel der mittlerweile komplett überflüssigen Spezies saß, was ich spaßeshalber natürlich ausprobieren musste, blickte man auf die Wohnungstür, neben der ein Schlüsselbrett in Form eines Schlüssels hing. Originell.
Die letzte Tür, die vom Winzflur abging, führte zu Herrn Arndts Zimmer, was deutlich größer war als meines und damit auch die Bezeichnung Zimmer verdiente. Es hatte zwei Fenster, die nach vorne zur Straße raushingen und war mit hölzernen, alten Möbeln eingerichtet oder vielmehr waren die Objekte irgendwo abgestellt worden, ein Bett, fast in der Raummitte, ein hünenhafter Fernsehapparat, ein gut gefülltes Bücherregal, ein etwas schiefer Kleiderschrank, ein rundes, niedriges Beistelltischchen, ein abgenutzter moosgrüner Sessel und ein bisschen Kleinkram. Riechen tat es typisch nach alten Menschen, wie alte Erbsensuppe, Mottenkugeln und Körper. Ich versucht es zu vermeiden, mich neugierig nach zum Beispiel einer Suppenkanone umzusehen, wollte dem alten Herrn Arndt nicht über die Maßen auf die Nerven fallen, jedoch sah ich mich gezwungen immer auf dem Weg zur Küche durch eben diesen Raum huschen zu müssen. Denn die Küche war kein richtiger eigener Raum, es war eher ein Wurmfortsatz an der Straßenseite des Zimmers. Alien-Darm im Bad, Wurmfortsatz hier, eine Wohnung für einen Gastroenterologen. Die Nischenküche war ebenso ausgedient möbliert, wie der Rest der Wohnung, hinterlegt mit einer Tapete, auf der Apfel-Fliesen gezeigt wurden, gab es einen antiken Herd mit undurchsichtiger Ofenklappe und vier Herdplatten, von der eine mit einem verzierten Deckel dekoriert war, eine zerdellte Spüle, zwei Oberschränke mit schiefen Türen, ein Resoplatisch mit zwei ungleichen Stühlen und ein monströser Kühlschrank, der aggressiv vor sich hinbrummte. Eben dort stellte ich ab und an ein paar Joghurts rein, Pudding, einen Fertigsalat oder so. Doch im Allgemeinen versuchte ich mich aufgrund ihrer Lage im Grundriss ohne die Hilfe dieser Küche zu ernähren, aß viel in der Mensa, nur für die Hartgesottenen kann ich Dir sagen, kaufte belegte Brötchen beim Bäcker und so. Der alte Herr Arndt schien das Küchlein übrigens wohl ebenso selten zu nutzen wie ich, denn ich roch nie etwas Gekochtes, noch konnte ich irgendwelche Kochtöpfe entdecken. Dafür stapelte er Fleischwurst in Scheiben, saure Gurken, Schmelzkäse und weißes Toastbrot im missmutigen Kühlschrank. Über unsere Lebensmittel im Kühlschrank war unser Kontakt als Mitbewohner wohl am intensivsten.
Der Mann, der schweigt,
Der Schrank, der brummt,
In Freundschaft neigt,
Das Essen summt.
Mein erster längerer Wortwechsel mit dem alten Herrn Arndt ergab sich eines Abends ganz unverhofft. Es begann damit, dass ich beim Rangieren in meinem Zimmerchen den etwas gebrechlichen Akkordeon-Koffer kurzerhand öffnete und spontan entschloss ein bisschen herumzuschrummeln. Nicht dass ich es gekonnt hätte. Es war unzählige Jahre her, dass ich beim motivierten aber pädagogisch etwas gehemmten Herrn Junkers Unterricht erhalten hatte. Ich wusste beim Auszug auch nicht genau, weshalb ich das unhandliche Ding aus meinem Kinderzimmerschrank überhaupt mitgenommen hatte, war so eine spontane Eingebung gewesen, als ich dort wahllos Klamotten in die Mülltüte stopfte. Nun hievte ich das schwere Instrument raus, zog den knisternden Balg auf und drückte irgendwelche Tasten und Knöpfe, ohne Melodie, ohne System. Da öffnete sich urplötzlich die Zimmerchentür und der alte Herr Arndt stand in der Öffnung. Ich war zu erschrocken und verdattert, als dass ich etwas hätte erwidern können, da ergriff er schon das Wort:
„Detrompetavosecking.“
„Äh, wie bitte? Wenn Sie die Musik stört, dann…“ Musik, nice try!
„Der Trompetavonsecking.“, unterbrach er mich.
„Der Trompeter?“, fragte ich verwirrt.
Er nickte zufrieden und ergänzte „Von Secking.“
„Von Secking?“
„Säckingen!“, artikulierte er.
„Säckingen.“, wiederholte ich idiotisch.
„Der Trompeter von Säckingen.“, sagte er den kompletten Satz noch mal, wie im Sprachunterricht.
„Aha. Und wer ist das? Kennen Sie den?“, fragte ich ihn.
„Der Trompeter von Säckingen. Da war ich. Da war ich mal.“, brummelte er und blickte wirr im Raum herum, immer wieder unterbrochen von Momenten, in denen er mich durchdringend anstarrte.
„Sie waren mal beim Trompeter von Säckingen?“, fragte ich, um sicher zu gehen, dass ich ihn verstanden hatte.
„Ja, ja, da war ich mal. Der Trompeter von Säckingen!“ Sprachs und schloss die Tür ebenso schnell, wie er sie geöffnet hatte.
Nun gut. Okay. Interessante Information. Nehme ich an. Zumindest wusste ich jetzt circa 50 Prozent mehr vom alten Herrn Arndt als zuvor, das ist doch auch mal was!
Ich packte das Akkordeon sicherheitshalber wieder weg. Wer weiß, was ich damit noch für Konservationen herbeirufen würde. So wie der Schlangenbeschwörer mit Musik Reptilien aus dem Körbchen herausbeschwört, so vermochte ich vielleicht mit dem Akkordeon abstruse Konservationen zu beschwören. Ich beschloss das nicht heute herauszufinden. Wie ich später im Internet in der Uni-Bibliothek googelte, ist Der Trompeter von Säckingen eine Holzbrücke am Rhein, die längste gedeckte Holzbrücke Europas, falls Du es genau wissen willst. Weshalb eine Brücke jedoch Trompeter heißt, wird auf der dazugehörigen Homepage mit keinem Wort erwähnt. Warum nicht?! Wie kann man die Touristen so im Unklaren lassen?! Ist das ein Trick, um uns dahin zu locken, ein Anreiz es selber herauszufinden? Also, liebe Säckinger, bitte überdenkt eure Geheimhaltungspolitik zugunsten von befriedigter Touristenneugier, vielen Dank!
Der nächste Wortwechsel mit dem alten Herrn Arndts war ähnlich aufschlussreich. Wieder brach er urplötzlich in mein Zimmerchen, allerdings dieses Mal um kurz vor sieben am Morgen. Egal wie motiviert ein Student ist, morgens um sieben ist auf keinen Fall ein günstiger Zeitpunkt im Tagesablauf eines jungen Bildungsbürgers zur Aufnahme von Informationen. Er riss mich demzufolge aus dem Schlaf. Und zwar mit der Frage:
„Was hat Luther gesagt?“
„Wie, was?“, nuschelte ich, halb erschrocken hochgefahren, halb schlafend.
„Was hat Luther gesagt?!“, fragte er wieder, mich konzentriert anstarrend.
„Ich, ich weiß nicht.“, murmelte ich. „Eine ganze Menge vermute ich. Meinen Sie die Thesen, vielleicht, die er da an die Tür genagelt hat?“
„Nein, nein.“, beharrte er und schüttelte den Kopf.
„Auch wenn das eigentlich nicht stimmt.“, schob ich nach, „Das mit dem Nageln meine ich“, aber auch diese Akkuratesse konnte ihn nicht befriedigen.
Wir sahen uns noch einige Augenblicke an, er stehend in meiner Tür, ich liegend auf meinem Futon, blinzelnd, etwas desorientiert.
„Ich weiß es nicht, Herr Arndt.“, sagte ich schließlich. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
„Was hat Luther gesagt.“, sagte er abschließend und verließ mein Zimmer, wieder erstaunlich rasant.
Ich sank zurück auf den Futon, wälzte mich auf die andere Seite und versuchte wieder einzuschlafen. Leider brauchte ich eine ganze Weile, um meine geliebte Bettschwere wieder zu erlangen und nicht mehr über Luther nachzudenken und als ich eben begann wegzudämmern, sprang die Zimmerchentür wieder auf.
„Warum rülpset und furzet ihr nicht! Hat es euch nicht geschmecket!“, rief es mir entgegen.
Mein Gesichtsausdruck muss meine Frage deutlich transportiert haben, denn Herr Arndt führte aus:
„Warum rülpset und furzet ihr nicht! Hat Luther gesagt. Warum rülpset und furzet ihr nicht! Hat es euch nicht geschmecket!“, strahlte er mich triumphierend an.
„Echt?“, redete ich daher. „War das nicht jemand anderes? Mozart oder so?“
„Nein, nein, Luther. Warum rülpset und furzet ihr nicht!“
„Ich dachte das wäre jemand anderes gewesen, aber nun gut, Sie werden es wissen.“, lenkte ich ein.
„Ja, Luther. Warum rülpset und furzet ihr nicht! Hat es euch nicht geschmecket!“
Und weg war er.
Hätte es noch mehr Gespräche dieser Art und vor allem zu dieser Uhrzeit gegeben, hätte ich mich vielleicht dazu durchgerungen, meine Zimmerchentür stets abzuschließen, um Konversationsattacken bereits im Vorfeld abzuwehren. Aber es kam selten vor, zu selten, um meine Scheu überwinden zu können, dem alten Herrn Arndt in seiner Wohnung ein Zimmer vor der Nase zuzusperren. So blieb unser Zusammenleben parallel, schweigend, aber einvernehmlich. Ich sah ihn kaum, hörte ihn ab und an. Er rumorte in seinem Zimmer rum und machte Trompter, Luther und sonstige Althirn-Dinge. Am meisten bekam ich noch mit, wenn er das Schlauchbad besuchte. Eingeleitet wurden diese Besuche immer mit einem Grunzen auf dem Flur, die Alt-Arndtsche Art zu sagen „Hallo, Du, der Du in Deinem Zimmerchen weilst! Ich möchte Dich darüber informieren, dass ich jetzt das Bad aufzusuchen gedenke und dieses daher für geraume Zeit besetzt sein wird. Bitte gewähre mir den sozial vereinbarten Raum für Privatsphäre und stelle Deine Darm- und Blasenfunktion auf eine kurze Warteschleife ein. Ich danke Dir!“, Diese Form von Steno-Sprache wäre im Krieg sicherlich hilfreich. Ob der alte Herr Arndt im Krieg war? Vielleicht hat er diese Kunst dort erlernt. Oder der Krieg hat ihm der menschlichen Sprache beraubt. Die WC-Spülung war bedauerlicherweise sehr viel gesprächiger als deren Benutzer. Sie hört sich an wie ein Polka-Ensemble von leeren Ölfässern, gefüllt mit Schrauben. Ein Garant für nächtliche Schreckmomente. Die eine Generation hatte Fliegeralarm, die andere Polka-Alarm. Den Fernseher hingegen stellte der alte Herr Arndt erstaunlicherweise, entgegen all meinen Erwartungen, gar nicht zu laut! Ein Alte-Leute-Vorurteil, das ich revidieren musste.
Nicht taub, nur alt
Ohren heiß, Mund kalt
Ich ging meinen Studentendingen nach, besuchte Vorlesungen, hing in der Bibliothek rum, knüpfte hier und da soziale Kontakte zu Gleichaltrigen, deren Gespräche mir schon häufig ähnlich abstrus wie die zum alten Herrn Arndt vorkamen und schleppte stapelweise Bücher ins Zimmerchen, mit Glück aus der Bibliothek oder Bücherei, mit naja-Glück aus dem Antiquariat, mit Doh! aus der Buchhandlung, und das ein oder andere hatte doch tatsächlich auch mit meinem Studienfach zu tun. Die Bücher bildeten einen eigenen Stapel zwischen Futon und Zimmerchenwand. Deren Nachbaren waren Twin-Tower-CD-Stapel, LP-Stapel (natürlich stehend, ich liebe mein Vinyl) und der schiefe Turm von Klamotten-Pisa. Dadurch ergab sich eine gemütliche Schlafnische, umgeben von lauter schönen Dingen, herrlich! Meine eigene kleine Koje, meine Wohnwabe, müsste dem japanischen Bodenbelag ja bekannt vorkommen. Zur Abdeckung meines Etats, Grundstock gesichert durch elterliche Finanzspritzen, suchte ich mir postwendend einen Job und landete an der Garderobe in einem Theater, wo ich gemeinsam mit dicklichen Damen muffige Mäntel von harschen Herrschaften hin- und herreichte. Die Bezahlung war in Ordnung dafür, dass ich an den zwei Abenden die Woche die meiste Zeit mit Lesen verbringen konnte. Nur wäre eine Schmerzensgeldzulage für die Schürfwunde angemessen gewesen, die der steife Uniformblazer über viele Stunden im Nacken erschrubbte.
Die Mäntel nehm ich ihnen ab
mit Blut im Nacken, nicht zu knapp.
Nach mehreren Wochen, von meiner Mutter als Ewigkeit tituliert, besuchte ich zum ersten, und wie sich herausstellen sollte auch für lange Zeit einzigen Male, meine Eltern. Ein ganzes Wochenende eingepfercht in den vier Wänden meines Kinderzimmers kam mir dann wie eine Ewigkeit vor. Als ich dort im Bett lag und im Dunkeln an die mir so vertrauten Schatten an der Decke starrte, schienen Wände und Decke immer näher zu kommen, das Zimmer wurde kleiner und kleiner, kleiner als Zimmerchen, immer enger und stickiger, bis ich am Sonntagabend beinahe schon euphorisch die Treppe zur Wohnung vom alten Herrn Arndt emporsprang, um im Palast meines Zimmerchens wieder Freiheit finden zu können! Du magst dich fragen, wie konnte der Vogel nur springen, wo er doch mit Stereoanlage und Klamotten beladen sein müsste, so seine damalige Ein- und Umzugsplanung. Tja, was soll ich sagen, vielleicht spähte da schon die Faulheit durch die temporäre Membran, warf ihr klebriges Spinnennetz nach mir aus oder es war der Drang ja keine weitere Minute in dem elterlichen Heim verbringen zu müssen, als unbedingt notwendig, auch wenn es heißt, noch für weitere Wochen auf die musikalische Untermalung von in Vinyl gravierten Kunststücken verzichten zu müssen. Kurz: Ich habe nichts zu meinen Eltern mitgenommen, auch keine Stinkwäsche für die mütterliche Waschmaschine, und habe nichts wieder mit zurück genommen. Vielleicht kann ich Papa mal überreden, mir das Zeug mit dem Auto zu bringen und damit gleich den Pflichtbesuch meiner Hersteller hinter mich zu bringen. Somit konnte ich also unbeschwert die knarzigen Stufen emporeilen, doch auf den letzten Stufen bremste ich abrupt ab, kam ins Straucheln und schlug mir fast das Schienbein auf! Die Wohnungstür war weit geöffnet, drei Leute standen darin herum und noch weitere Stimmen drangen aus dem Arndtschen Zimmer. Was ist denn hier los?
Verhalten, ein wenig feindselig und vornehmlich skeptisch betrat ich die Wohnung, woraufhin sich eine beleibte Frau um die 50, mit rötlich gefärbten Strohlocken auf dem Kopf, zu mir umdrehte, ungefragt meine eine Hand ergriff und diese unverzüglich zu kneten begann. Ihre Hände fühlten sich an wie warmer, weicher Teig, wie der Hefeteig, den Mami nach dem Gehen-lassen, wieso, der geht doch nicht, viel logischer wäre Stehen-lassen, aus dem lauen Ofen holt, fluffig und puffig und ständig in Bewegung, wie von Generationen von Müttern durchgewalkt, hier jedoch durch die feuchte Note klebrigen Handschweißes erweitert. Während sie mir in abgehackten Sätzen, unterbrochen immer wieder von Befehlen und Jas und Neins an die anderen Personen in der Wohnung, und mit knetenden Händen erklärte, dass der alte Herr Arndt gestorben sei, dass sie seine Tochter sei, dass sie ihren Vater wie jede Woche angerufen habe, dass er nicht ran gegangen sei, dass sie einen Krankenwagen und die Polizei gerufen habe, dass sie ja meine Nummer nicht hatte, sonst hätte sie ja versucht, dass es ja besser so wäre, dass es ja irgendwann soweit hätte komme müssen, dass es ja nur eine Frage der Zeit gewesen wäre. Während dieser ganzen Erklärungen, die nicht sinnvoll und kontinuierlich, sondern stichwortartig sprunghaft vorgetragen wurden, konnte ich nur auf die roten Flecken auf ihren Wangen starren, die dort wie die Male einer Alienrasse saßen, mal größer wurden, mal kleiner, mal hier, mal dort, als reisten sie unter der Haut, bewegten sich, ihren neuen Wirt in Beschlag nehmend. Ihre Lakaien trugen derweil Dinge aus dem Zimmer vom Herrn Arndt, alten und toten Herrn Arndt, dem nicht mehr alten, sondern nur noch toten Herrn Arndt. Das Tischchen, Kisten, Bücher, Nippes, ein Bild, keine Ahnung. Tochter Arndt dirigierte mit kurzen Worten diesen Treck der Objekte. Plötzlich erschienen drei gefaltete 50 Euro Scheine in unserer händischen Knetmasse, schon leicht feucht von ihren schwitzigen Händen und wurden fleißig zwischen unseren Händen weitergeknetet. Damit ich mich kümmere, sagte sie, dass der Rest weg komme, das würde ich doch machen, fragte sie, sie könne ja nicht alles, damit die neuen Mieter reinkönnen, Ende des Monats, ich kümmere mich doch, für meine Unkosten. Ich spürte mich nicken und bekam nach einem trocken Räuspern ein „Ja, ja klar, mach‘ ich.“, über die Lippen. Sie blickte mir tief und ernst in die Augen, mit zusammengekniffenen Mund und nickte, bevor sie das Kneten so urplötzlich einstellte, dass meine Hand herunterfiel. Dann war sie weg. Sie schien ebenso rapide verschwinden zu können, wie der alte Herr Arndt. Das war wirklich seine Tochter.
Ich realisierte, dass ich alleine in der Wohnung war. Ganz alleine. Zum ersten Mal. Ich stand im Flur herum. Wie angewurzelt. Meine Hand verlassen, noch warm, gut durchblutet, leicht feucht und reich. Ich starrte auf das zerknitterte Geld auf meiner zitternden Handfläche. Ich starrte durch die Tür in das Zimmer vom alten Herrn Arndt. Aber sehen tat ich nichts.
Ein Mann ist tot
Mein Kopf ist leer
in meiner Brust die Not
wiegt schwer.
Man nennt mich übrigens Vogel. Nach der achten Klasse hatte ich meine schulischen Leistungen drastisch heruntergefahren, in der Hoffnung, dass ich sitzenbleibe und so endlich von den Klassenkameraden aus der Grundschule in einer Ehrenrunde befreit würde. Es kam sogar noch besser, ich durfte die ganze Schule wechseln! Ein neuer Start, ohne peinliche Anekdoten, ohne hämische Hänseleien, ein postpubertärer Teenager-Traum! Doch gleich in der ersten Woche in der neuen Klasse, als ich das französische Verb vouvoyer buchstabieren sollte, und statt „v“ [faʊ] „Vogel-F“ sagte, hatte ich den Lacher des Monats verursacht, selbst Herr Dietrich, der sonst bierernste Lehrer, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Schön, dass Du in der 1. Klasse aufgepasst hast, Vogel!“ Bald merkte ich jedoch, dass das im Grunde nicht böse gemeint war und mit der Zeit wurden sogar mehr oder weniger geistreiche Variationen in Form verschiedener Vogelarten kreiert, Sprichwörter adaptiert und ich machte das Beste draus, übernahm es, willentlich, kultivierte es, fügte eigene Sprüche bei, geflügelte Worte, so dass es irgendwann gang und gäbe wurde. Und ich ein Vogel.
Auch der Pinguin ist ein Vogel. Ein Vogel, der nicht fliegen kann. Der Königspinguin sitzt auf seinem Ei, bleibt, ohne sich zu fortzubewegen, komme was wolle, Hunger, Durst, Schneesturm. Das ist Hingabe, das ist Entschlossenheit, das ist Liebe, Liebe an das Leben, das Leben an sich, die Evolution, ich darf sterben, solange mein Nachkomme überlebt. Ich hatte keine Nachkommen. Niemanden, für den es sich zu sterben lohnte. Niemanden, für den es sich zu überleben lohnte. Liebe, Hingabe, Entschlossenheit, fuck you! Die einzige Hingabe, die ich noch hatte, war die, mich der Melancholie hinzugeben, dem schwarzen Loch, der Sinnlosigkeit, der depressiven Antriebslosigkeit, der Schwere, der Schwere der Seele und der Schwere des Körpers. So lag ich wie ein gestrandeter Wal an den Gestaden des Arndtschen Vermächtnisses, lag auf seinem Bett, derselben Matratze, sauber abgezogen, ihr altmodisches Muster nach außen kehrend, der Matratze auf der er tot aufgefunden worden war und ergab mich dem Leben. Leben: 1; Vogel: Nuuull! Die Wände wurden schattiger, die Farben fahler, die Ecken dunkler, Tag übergab an Nacht, Nacht übergab an Tag, wiederholte das Spiel, während ich schlief, ich döste, ich dämmerte, ich lag, ich stierte, Gedanken wälzten sich wie träge Wellen aus trüber Melasse durch meinen Kopf, brandeten an die Innenseiten meines Schädels, brachen sich in wirre Fetzen, Schnipsel von Erinnerungen, Verwirrung, Fragen und wälzten sich fort, auf die andere Seite, die selbe trübe Brühe, in sich selbst eingelegt, keine Möglichkeit zu entkommen, keine Möglichkeit auf eine frische Brise, keine Möglichkeit.
Quälender Morast, ich sinke tief
Ertrinke in Geistern, die ich rief.
Mir war ein Rest an Selbstreflektionsfähigkeit geblieben, eine Pfütze voller Fragen, unbeantworteter Fragen, Fragen nach Warum? Warum haut mich das so aus der Bahn? Das Thema Tod war ja nichts Neues für mich, einer meiner drei verbliebenen Großeltern waren in den letzten Jahren gestorben, ebenso wie ein Onkel von mir und auch ein Klassenkamerad, der sich vom Schuldach gestürzt hat, mitten in der großen Pause. Dazu kamen zwei Hamster und eine Hauskatze. Ich wusste, dass es den Tod gibt. Ich hatte ihn kennengelernt, als Herren, der ein- und ausgeht, der nimmt, wen er will, umso wichtiger Carpe Diem, YOLO und so. Und jetzt breche ich zusammen wegen eines alten Knackers, den ich nicht einmal gekannt habe? Mit dem ich keine zehn Worte gewechselt habe? Von dem ich nicht mal weiß, wie wie was, ja was überhaupt? Nichts, nichts weiß ich! Nichts über ihn, nichts über mich! Ich weiß ja nicht einmal wie ich selber ticke! Diese Endlosschleife des Nichtwissens wechselte sich ab mit ungeplanten Quatschgedanken, so zum Beispiel das Geheimnis um die saubere, altmodische Matratze, wieso eigentlich ist die dicke Matratze des alten Herrn Arndt so sauber, wenn er doch darauf gestorben sein sollte. Scheißt man sich nicht ein, wenn man stirbt? Sollte sie nicht große, stinkende Fäkalienflecken aufweisen? Sollte sie nicht verbrannt werden? Oder ist er womöglich gar nicht einsam liegend hier verendet, mutterseelenallein vor sich hin rottend, gottverlassen zu Gott gerufen? Hat Tochter Arndt ihn möglicherweise hinterrücks ermordet, um sich endlich sein Tischchen unter den Nagel reißen zu können? Ihn sofort danach sauber vom Notarzt entfernen lassen, ehe die wertvolle Matratze verräterische Spuren aufsaugt? Oder das Mysterium, dass der alte Herr Arndt einmal in der Woche mit seiner Tochter telefoniert haben soll. Dieser wortkarge Mann soll telefoniert haben? Hatte er mit ihr gesprochen? Wenn ja, worüber? „Hallo Schatz, ich lebe noch. Noch kannst Du meinen Krempel nicht rausholen. Ich habe jetzt das kleine Zimmer wieder vermietet, Du kannst nicht bei mir einziehen und mich in den Tod ignorieren.“ Oder sie hat gesprochen und er hat gelauscht, sie hat das Schweigen kompensiert, in fragmentarischen, selbstsüchtigen Monologen, ihn zum Zuhören verdonnert. Während sie telefoniert hat, hat er telegehört. Sprich mir in die Tüte, ich höre es mir später an. Was ist grau und klingelt? Ein Telefant. Bullshit! Während dieser nicht anzuhaltenden Hirnaktivitäten beschäftigte ich meine Augen mit intensiven Beobachtungen, Beobachtungen der Falten des Lakens, der Skyline der hinterlassenen Bücher, ihres Regalbodenhimmels, mit Wolken aus Schatten, Beobachtungen des schiefen Winkels des Kleiderschrankes, seine zwei schwarzen, kleinen, Schlüssellöcher, seine zwei braunen, kleinen Füßchen, die einzelnen groben Fäden des Teppichläufers, ihr Zusammenspiel, ein Auf und Ab, oben und unten, verwoben, ausgeblichen, ausgescheuert, kleine weiße Wüsten, das Skelett des Teppichs preisgebend, Beobachtungen der Spiegelungen in der konvexen Mattscheibe des Fernsehhünens, verzerrt, graugrünlich, langsam changierend, Hand in Hand mit dem Tageslicht. Ich trommle mit meinen Fingernägeln asymmetrische Rhythmen auf das Bett, ich bin ein Specht, ich kommuniziere mit den Toten, Klopfzeichen, wie ein Poltergeist, ich bin ein Vogelgeist, ein Geisterspecht.
Am schwersten sind die unabdingbaren Gänge zur Toilette, die ich trotz intensivster Muskelanspannungen ab und an nicht mehr verhindern kann. Zum einen ist da die schier übermenschliche Anstrengung, die es kostet, mich aus der Horizontalen zu bewegen, diesen schweren, betäubten, plumpen Körper, der irgendjemanden, aber nicht mir gehört, in eine Richtung zu steuern. Zum anderen die tückische Falle, die der anorektische Zwergenarchitekt vor das WC gestellt hat, der über der Darmzotte hängende Spiegel, ein treibsandgleicher Magnet für meine Pupillen. Selbst wenn ich versuche an die lila Wand zu starren oder mich auf den lila Plüschteppich zu fixieren, mich ganz darauf konzentriere, landen meine Augen einfach auf dem Spiegel, spiegeln sich, zeigen mir meinen fragenden, verzweifelten Blick, in einem fremden Gesicht, eine Seele, die meine noch nie gesehen hat, eine Seele, die sich selbst nicht erkennt, heimatlos ist, heimatlos einen Körper benutzt, als Vehikel, auf der Fahrt zu ihrem nächsten Auftrag, übergangsweise, eine Interimslösung. Und nie komme ich daran vorbei, mich für viele Minuten lästig anzustarren, die beschädigte Ware zu begutachten, kein Umtausch ohne Kassenbon, krank, verloren, zerrissen, ein offener Blick in den Abgrund der Existenzangst. Und das einmal auf dem Hinweg zum Klo und einmal auf dem Rückweg. Seelenstriptease in der lila Hölle. Ich beschloss schlechterdings nur noch nachts diesen Weg anzutreten, wenn es so dunkel ist, wie möglich, um dem Treibsandspiegel zu entkommen. Das ist natürlich leichter geplant als getan, gegen die eigene Natur streng zu sein, sie dem Willen unterwerfen zu wollen, sie, die allmächtige, die immer gewinnt.
Mitten in meinem leidvollen Martyrium wurde ich hinterrücks von einem markerschütternden Scheppern verschreckt, just als ich dem Aliendarm-Bad entronnen war. Als Reflexhandlung, nur um den Lärm zu beenden, reagierte mein Unterbewusstsein instinktiv, ortete den Auslöser und nahm den Telefonhörer ab. Ahh, Ruhe! Oh, da spricht jemand! Ein Mensch spricht. Ich sollte zuhören, das ist es, was man tut mit einem Telefonhörer. Ich halte den Hörer an mein Ohr.
„… alles erledigt, oder?“, höre ich eine fremde Stimme.
„Äh, wie bitte? Die, die Verbindung war gerade etwas schlecht.“, lüge ich schnell, etwas verwundert über mich selbst, dass ich a. überhaupt noch zu sprechen in der Lage bin und b. noch so galant zu flunkern vermag.
„Ich fragte, ob Sie alles erledigt haben? Ob Sie die Möbel alle entsorgt haben?“
Fuck, das ist Tochter Arndt! „Ja, klar, habe ich alles erledigt, alles schon erledigt!“, lüge ich standhaft weiter.
„Dann ist es ja gut. Am Freitag kommt dann ja der Hausverwalter, wegen der Wohnungsübergabe, das machen Sie ja noch, nicht?“
„Wohnungsübergabe, klar, natürlich, alles geplant!“ What?!
„Gut, gut, dann kann ich das ja abhaken.“
„Ja, können Sie abhaken, ich habe alles im Griff.“ Aktuell nur den Telefonhörer.
„Gut, gut.“, wiederholt sie. „Auf Wiedersehen!“, und legt so prompt auf, wie nur ihre Sippe sich zu entziehen vermag.
Der Hörer tutet nichtssagend in mein Ohr. „FUCK!“, flüstere ich laut, während ich den Hörer auflege. Und es dämmert langsam in mein Hirn, was sich da eben zugetragen hat, und welche Implikationen und Komplikationen das mit sich bringt. Fuck ist denke ich eine treffende Zusammenfassung. Es hilft immer die Dinge auf den Punkt zu bringen.
Ok, ok, Konzentration! Was hat sie gesagt? Freitag. Wann ist Freitag? Keine Ahnung. Ich schalte den hünenhaften Fernsehapparat vom alten Herrn Arndt an, nur um nach etwas Herumschalten zu erfahren, dass heute bereits Donnerstag ist. Das ist schlimmer als befürchtet. Fuck ist doch nicht zutreffend. Fucking Fuck geht in die richtige Richtung, so von der Tendenz her. Ok, ganz ruhig. Ich atme aus und schildere mir laut die Situation. Morgen kommt der Verwalter und erwartet eine leere Wohnung. Tochter hat mir 150 Tacken gegeben, um das zu erledigen. Ich habe ihr vorgelogen, dass alles erledigt sei. Wenn der Typ morgen nun kommt und die Bude ist voller Möbel, was sie aktuell ist, NOT GOOD, um es mit Captain Jack Sparrow zu sagen. Ergo, erkläre ich mir weiter, die Möbel müssen raus. Das wäre zweifelsohne die beste Lösung. Möbel raus, Bude leer, Typ happy, ich auf der Straße, nun ja, nicht ganz perfekt die Lösung, aber eines nach dem anderen. Schritt 1 ist also: Möbel müssen raus. Ok, ja. Ich gehe zurück ins Zimmer und sehe mich um. Uff, das ist eine ganze Menge. Aber Du schaffst das, Du schaffst das! Feuere ich mich an. Jetzt meldet sich mein Magen zu Wort. Mit einem ähnlichen Geräusch, wie die Klospülung. Er nutzt die Chance meiner Aufmerksamkeit, um sein tagelanges Ignorieren zu beenden. Iss, Kind, iss! großmuttert er mir zu. Message received. Wenn ich das Ganze schon angehe, dann mache ich es richtig. Ich brauche Essen. Erst stärken, dann starten. Anforderung: schnell, unkompliziert, kalorienreich. Status: nichts im Haus, was diesen Anforderungen entspricht. Vielleicht ist noch alte-Männer-Wurst im Kühlschrank, aber weit komme ich damit nicht. Finanzen: 150 Euro. Nicht schlecht. Damit lässt sich was anfangen. Ich schäle mich in meine Jeans rein, schnapp mir meine Jacke, stolpere in meine Sneaker und verlasse die Wohnung, ehe die Matratze meine neuentdeckte Motivation erstickt.
Vor dem Haus blicke ich die Straße runter, nichts, Straße hoch, Café an der Ecke, da gibt’s höchstens noch Kuchen, erfüllt die Anforderungen, ist aber für die bevorstehende Möbelaktion zu süß. Ich brauche was Deftiges! Hinter mir das Pizza Cozza. Pro: schnell, weil stehe davor, unkompliziert, weil stehe davor und Pizza, kalorienreich, siehe Pizza. Contra: 1. Ich weiß, dass Cozza nicht Kotze heißt, aber dennoch klingt es so! In deinem Land mag es ja köstliche Meeresfrüchte bezeichnen, aber wie kann man in Deutschland ein Restaurant eröffnen, dass das Wort „Kotze“ mit im Namen hat?! Naja, wenn selbst eine Weltmarke wie Nissan es geschafft hat, sein Modell Pajero mit dem spanischen Slangwort für Wichser zu benennen, wie soll ich derartige Unbedachtheit dann der kleinen Pizza-Butze hier vorwerfen. Dennoch hätten sie beim Glücksrad besser ein paar Vokale kaufen sollen, Cozaza, Cozoza, schlimmer kann’s nicht werden. 2. Aber guck Dir den Laden doch mal an, ey! Die komplette Glasfront des wohl ehemaligen Ladengeschäftes ist mit einer undurchsichtigen Folie im Butzenglasdesign zugeklebt. Diese Folie ist von der Sonne ausgeblichen, das frühere Flaschengrün ähnelt jetzt mehr einem blassen Schimmelgrün, das Dunkelbraun einem Kinderdurchfallocker, mit Rissen und Blasen durchsetzt, sich in den Ecken spröde abpellend und von einer schwarzen Amöbenfamilie unterwandert. Die gläserne Eingangstür bildet bei der Außengestaltung keine Ausnahme, nur steht hier zusätzlich im schiefen Halbkreis aus einzelnen weißen Buchstaben zusammengestückelt der wenig einladende Kotz-doch-nicht-Kotz-Name. Es sieht aus wie ne asslige Kneipe, eine Pinte, ein Saufloch, keine Ahnung, was mich da hinter der Tür erwarten würde. Pizzaknabbernde Alks? Rauchende Mafiosi mit Zementfüßen? Der Petersdom der Pizzawelt? Als ich hier einzog, bestand in meinem Kopf nicht mal die Option, je hier reinzugehen. Nicht dass ich etwas gegen Pizza hätte, ha, ich bitte Dich! Oder gegen Kneipen, immerhin bin ich Student, aber habe mich bisher ehrlich gesagt eher in den typischen Studentenkneipen herumgetrieben und verspüre doch gewisse Berührungsängste mit finanziellen und geistigen Randgruppen und deren Vergnügungsetablissements, snobby ich weiß, bin nicht stolz drauf. Verzweifelte Situationen verlangen verzweifelte Maßnahmen. So wie ich nach meiner Matratzeneinsiedelei aussah, könnte ich rein optisch sogar gut in einen solchen Laden passen, nahm ich an, meinen Mut zusammen, und zog die Tür zum Pizza Cozza auf, was eines erheblichen Krafteinsatzes bedurfte, wie ich verdutzt feststellte und nur durch ein Zurücklehen meines gesamten Körpers aufzubringen vermochte. Eine Körperhaltung, die mir in der nächsten Zeit in Fleisch und Blut übergehen sollte.
Mir stieg sogleich ein vertrauter Geruch in die Nase: kalter Rauch. Ich fühlte mich augenblicklich zurückversetzt in meine Kindheit, wenn meine Eltern nachts mit Freunden eine Party gefeiert hatten und ich morgens in meinem Schlafanzug neugierig durch die erwachsenen Hinterlassenschaften tapste, und mit großen Augen und kleinen Fingern kalte Biergläser mit gelben Pfützen und rissigen Schaumrändern, Erdnussbrösel und verlorene Teller erforschte, Reste beknabberte, Weinflaschen beschnupperte, alles untermalt von einzigartiger Luft, kalter Rauch von Zigaretten. Ein abenteuerlicher Ausflug in die unverstandene Welt der großen Menschen. Es lag hier noch eine zweite Duftnote in der Luft, die ich aber noch nicht auf den Punkt zu bringen vermochte. Rein optisch war mein erster Eindruck: dunkel. Und gleichzeitig grell. Hä? Ok, die Einrichtung war dunkel, dunkles Holz, wohin man blickte, dunkle Tische, dunkle Stühle, dunkle Balken an den Decken, an den Wänden, eine dunkle Sauna, Finnland im Winter, dunkles Holz als Tresen und Tresenpfeiler, am Boden dunkelbraune Fliesen. In Kombination mit der Fensterfolie ergab sich eher der Eindruck einer fränkischen Weinstube, als einer toskanischen Pizzeria. Es versuchten auch keinerlei Wandfresken, Styropor-Statuen oder Hausfrauenbilder den Eindruck eines Mittelmeerstaates zu vermitteln. Die Beleuchtung hingegen stammte aus Neonröhren, genauer genommen nur einer, groß, summend, über dem Tresen und die tauchte an ihrem Wirkungsort die Dunkelheit in eine schonungslose, grelle Klarheit. Erleuchtete Dunkelheit. Holz aus, Spot an! Der ewige Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, Gut und Böse, Himmel und Hölle! Der nächste Eindruck war weniger überraschend: leer. Nur im hinteren Bereich des Raumes fand sich Leben. Bis auf einen Koch-Kellner-Inhaber-Mann-mit-der-Schürze saß nur noch ein anderer Gast auf der rechten Seite des mittig positionierten Tresens und schaufelte irgendwelche Nudeln in sich hinein. Der Koch-Kellner-Inhaber-Typ blickte mich missmutig an, so würde ich die zusammengezogenen Brauen am ehesten interpretieren. Als ich für sein Wohlbefinden zu lange zögernd in der Tür stehen blieb, öffnete er den hageren Mund und leierte:
„Benwennuti im Pizza Kozza, ich bin Schowanni.“
Wie Du siehst, klang es nicht gerade authentisch italienisch, es hatte eher einen russischen Schlag, würde ich sagen, aber ich war schon immer schlecht darin Dialekte zu identifizieren, was weiß denn ich.
„N‘Abend.“, erwiderte ich wortkarg.
Schowanni-Igor und Nudel-Gast glotzten mich beide unverwandt an, nicht zu ertragen, so setzte ich mich schnell an den nächstbesten Tisch, mit dem Rücken zum Publikum. Das Licht der unbarmherzigen Neonröhre vermochte diesen Bereich des Ladens auch nur noch mühsam zu bescheinen, gut, je dunkler desto besser, der geheime Held verschmilzt mit den Schatten. Schowanni-Igor, hihi, das gefällt dem Spaßvogel, noch treffender wäre wohl Schowanni-Ivan, wo der Russ doch Ivan heißt, man könnte auch ein liquides Schwoannivan draus schmieden, doch das ist mir alles zu konstruiert. In meinem Kopf heißt er Igor, mit rrrollendem rrr, Schowanni-Igor, Punkt. Schowanni-Igor also schlurfte alsbald mit der Speisekarte an, die er mir schweigend übergab.