Helene Hegemann über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition - Helene Hegemann - E-Book

Helene Hegemann über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition E-Book

Helene Hegemann

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Beschreibung

Der Funke, der die Gegenwart abfackelt. Helene Hegemann trifft Patti Smith zum ersten Mal in einer Mehrzweckhalle in Wien, die als Probebühne für Christoph Schlingensiefs »Area 7« dient. Eine Begegnung, die der damals Dreizehnjährigen im weitesten Sinne das Leben rettet. Patti Smith sprengt in ihrer Kunst alle Gesetzmäßigkeiten und Regeln, die in der Ruhrpott-tristesse, in der Helene Hegemann aufgewachsen ist, als unumstößlich gelten. Von dem Tag an, als sie aus einem Brennpunktstadtteil an die Seite von Patti Smith und in ein Theater katapultiert wird, in der Provokationskünstler die Doktrin vom sozialen Status komplett neu verhandeln, wächst in ihr eine Erkenntnis: Ein Leben, das an Gegensätzen nicht zerbricht, sondern aus ihnen eine explosive, heilende Kraft schöpft, ist möglich. In diesem scharfsichtigen, welthaltigen und dabei tief persönlichen Text erzählt Helene Hegemann von ihrer Liebe zu der Musikerin, Dichterin, Performance-Künstlerin, Malerin und Fotografin Patti Smith, von Menschen mit reinen Herzen und von einem toten Hasen, der im Januar 1965 durch eine Kunstausstellung geführt und vierzig Jahre später von Patti Smith in Afrika begraben wird.

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Seitenzahl: 75

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Helene Hegemann

PATTI SMITH

Helene Hegemann über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Helene Hegemann

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Free Money

Because The Night

Scarlett Fever Club

Piss Factory

What’s Opera, Doc?

Aria for Christoph

Der tote Hase

Birdland

Area 7 

Jesus died for somebody’s sins but not mine

Götterdämmerung

Dank

Zitate

Noch mehr Lesespaß

Inhaltsverzeichnis

Free Money

Bei unserer ersten Begegnung hielt ich Patti Smith für eine Obdachlose, wahrscheinlich ging ihr das mit mir nicht anders. Ich war dreizehn, fast vierzehn. Sie war achtundfünfzig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich erinnert.

Aber ich erinnere mich. Das Treffen mit ihr und die Verkettung der Ereignisse, die dazu geführt haben, setzen sich zu einer der grellsten Erinnerungen meiner Kindheit zusammen. Diese Erinnerung hat nicht nur mit ihrer Musik zu tun, sondern auch mit der von Richard Wagner. Sie hat mit der Kunst von Christoph Schlingensief und dem Verzehr von hundertfünfzig Neapolitanerwaffeln in einem Hotelzimmer in Wien und dem Tod meiner Mutter zu tun, mit einem apokalyptischen Müllberg im zweitältesten Sprechtheater der Welt und einem Slum in Namibia, mit Porträtbüsten der Dichter Calderón und Goethe und Shakespeare und Schiller und Grillparzer, und mit der Explosion, die einen Teenagerkopf in Stücke reißt, weil zwei Welten in ihm Krieg gegeneinander führen. Die Erinnerung hat auch mit einem Hasenkadaver zu tun. Mit einem toten Hasen, der im November 1965 durch eine Kunstausstellung geführt und vierzig Jahre später von Patti Smith beerdigt wird, in Afrika, am Rand einer Straße zwischen Wüste und Atlantik. Ich glaube, es gibt eine Aufnahme dieser Zeremonie auf YouTube. Wenn nicht, sorge ich dafür, dass sie morgen hochgeladen wird.

 

Ich kenne ein paar Liedtexte auswendig, aber erwarten Sie bitte keine Lobrede. Ich werde hier nicht ihre Androgynität beweihräuchern oder die Sprengkraft, mit der sie sich 1971 in eine Kirche im East Village gestellt und lange vor der Erfindung des Gangsta-Rap improvisierte Gedichtfetzen ins Mikrofon gegrölt hat, obwohl das tolle Auftritte gewesen sind, gerne mal auf Drogen und durchaus gewaltorientiert. Auftritte, bei denen sie die Grenze zur Blasphemie überschritten hat und gegen die Jay-Z wie ein steifer Banker wirkt und Eminem wie ein Konfirmand auf zu viel Jägermeister, und gegen die fast jeder, der heute auf Spotify von links nach rechts läuft und behauptet, er verhalte sich progressiv, nur ein Erfüllungsgehilfe von etwas ist, das elitäre Biedermänner für Auflehnung halten und abnicken, weil es sie nicht groß beim Steuerhinterziehen beeinträchtigt. Das hat aber auch Patti Smith in den Siebzigern nicht getan, nicht wirklich.

 

Im Grunde grenzt das, was ich Patti Smith gegenüber empfinde, an konfuse Genervtheit, ich kann das nicht anders sagen. Mich strengt da etwas an, das man als »Scheuklappenspiritualität« bezeichnen könnte. Sie als Hohepriesterin der Auflehnung oder der Freiheit oder der Geschlechterindifferenz zu huldigen, sich der gesellschaftlichen Verabredung darüber, was Patti Smith heute repräsentieren darf und was nicht, zu fügen, würde sich nach Heuchelei anfühlen. Als würde ich die Wände eines Museums pink streichen, damit die Renaissancegemälde zeitgenössischer aussehen. Bisschen auch nach dem Boykott meiner eigenen Zukunft, fragen Sie mich bitte nicht, wieso.

Auf Instagram, aus dem schlimmstmöglichen Blickwinkel, wirkt sie heute wie eine nette Hausfrau. Irgendwo zwischen Esoterik und Konformismus unterwegs. Sie trägt einen Damenbart und hat sich nie botoxen lassen. Inzwischen tritt sie als eine Art Guru bei Nobelpreisverleihungen auf, in Kunstmuseen, als spirituelles Maskottchen der Hochkultur in elitären Einrichtungen, als Schutzheilige, die aber nie wirklich mitmischen darf. In ihrer Freizeit schreibt sie ihre Träume auf, fotografiert Schachbretter und führt Gespräche mit Skulpturen in Parks. Ich wiederhole, sie ist auf Instagram. Und das verzeihe ich ihr nicht. Das lässt sich auch nicht mit ihrem Alter rechtfertigen, im Gegenteil. Sie hat auf Parkbänken übernachtet, ist von der Polizei verkloppt worden und wäre mit Anfang zwanzig fast verhungert, einfach nur, um keiner geregelten Beschäftigung nachgehen zu müssen. Es stellt sich die Frage, warum jemand, der den äußeren Rand der Gesellschaft zu überschreiten versucht hat und damit erfolgreich war, finanziell erfolgreich, weltweit erfolgreich, die Distanz zu dieser Gesellschaft restlos aufgegeben hat.

Entweder hat Patti Smith sich der Welt unterworfen. Oder die Welt hat sich ihr unterworfen. Oder es hat sich nichts und niemand irgendwem oder irgendetwas unterworfen, sondern die Sache verhält sich folgendermaßen: Das Lebensgefühl der Zeit, in der Patti Smith berühmt wurde, war revolutionär. Die Leute brachen aus und erfanden die Welt neu. Aber vielleicht hat die Autonomiebewegung die Verhältnisse, die sie zu zerstören vorgab, gar nicht zerstört, sondern zementiert. Mir ist klar, dass es sich hierbei um eine provokante These handelt, aber vielleicht sind wir in der Zeit zwischen 1968 und 2008 der Gleichberechtigung nicht nähergekommen, vielleicht hat sich in diesen Jahren sogar eher eine völlig neue, schwer zu durchschauende Variante brutalster Degradierung von Frauen manifestiert. Vielleicht war die sexuelle Befreiung etwas, das ganz nett anfing, aber innerhalb kurzer Zeit zu einem Verkaufsargument verkam, zu einer Verschleierungsmaßnahme dessen, was zeitgleich im Hintergrund politisch beschlossen wurde. Zu etwas, bei dem es nicht um entspannte Freizügigkeit ging, sondern um das Propagieren von Zwängen, die an keiner Stelle als solche gekennzeichnet waren. Überall nur noch nackte oder halb nackte Frauen, in jeder Autowerbung, auf jeder Titelseite, die alle identisch aussahen. Ich gehe so weit, zu behaupten, dass mir das weniger für die nackten und halb nackten Frauen leidtut als für die Männer, die mit diesen Weibern tyrannisiert worden sind.

Man guckt sich auf YouTube Videos von Homepartys im East Village Mitte der Siebziger an, sieht da Allen Ginsberg zwischen Hippies irgendwas Gesellschaftskritisches auf einer Trommel improvisieren und William Burroughs mit einer Knarre rumfuchteln, der hatte ja nicht nur sechs Katzen und ein Heroinproblem, sondern war auch noch Waffenfetischist. Und man sieht Patti Smith, die Bob Dylan anbaggert wie ein unterwürfiges Tierkind, aber glaubt, genug Grenzen eingerissen zu haben, um trotzdem das revolutionäre Bild der freigeistigen, unabhängigen Bestie bedienen zu können. Erinnert mich an das Phänomen, dass sich Frauen heute gerne mal für emanzipiert genug halten, um doch auch alleine den Haushalt zu schmeißen.

Man sieht in diesen Dokumenten eines Kampfes um Frieden und Freiheit also Menschen, die behaupteten, das System umzuwälzen. Und deren Umwälzungsversuche vielleicht missbraucht wurden, zur dekorativen, amüsanten Ablenkung von den Gesetzen, die unbemerkt in ihrem Schatten erlassen wurden. Die Welt wurde klammheimlich in die umgekehrte Richtung dessen gelenkt, was von den Freiheitskämpfern an ihrer Oberfläche erkämpft wurde, und zwar nachhaltig, so nachhaltig, dass noch immer, ein halbes Jahrhundert später, die Folgen spürbar sind. Ich will hier nicht die These aufstellen, dass die Studentenbewegung zur Wahl von Donald Trump geführt hat. Aber wenn ich mich an Patti Smith abarbeite, dann kurz auch an den Verhältnissen, gegen die sie rebelliert hat, oder eben genau nicht rebelliert hat, ich kann das gerade nicht mehr beurteilen.

 

Passenderweise steht gestern E.R. am Bügelbrett und legt die Spannbettlaken zur Seite, um mir von einer Entdeckung zu erzählen, die sie am Vorabend gemacht hat. Zufällig. Im Internet. Beim Lesen irgendeines Textes über die psychologischen Hintergründe von was auch immer, dem Aufstieg autokratischer Arschlöcher, nehme ich an.

Die Entdeckung heißt Melinda Cooper, sie ist Marxistin und Professorin an der Universität von Sidney. Melinda Cooper beschreibt in ihrem Buch Family Values: Between Neoliberalism and the New Social Conservatism die Kooperation von Neoliberalen und Konservativen Mitte der Siebziger. Das war genau die Zeit, als E.R. ein junger Teenager war und Patti Smith berühmt wurde und beide davon ausgingen, dass ab jetzt alles besser werde, dass da ein System entstehe, das sich über Chancengleichheit und Solidarität definiere und nicht über familiäre Herkunft oder Geschlecht.

Vertreter neoliberaler Strömungen, die immer als die größten Feinde der Familie gegolten hatten, begannen jedoch zeitgleich, sich laut darüber zu beschweren, dass die sozialpolitischen Umwälzungen die traditionelle Familie zerstört hätten. Vor allem die Ausweitung von Sozialprogrammen, die alleinerziehenden Müttern eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit von den Erzeugern ihrer Kinder ermöglichen sollten, hätten zu diesem Zerfall beigetragen. Und der Feminismus war in den Augen der Neoliberalen nur eine fatale Folge dieser fatalen Entwicklungen, nicht der Grund dafür.

Die Liberalisierung des Familienrechts von 1965 sollte in den darauffolgenden Jahren auf das Sozialrecht ausgeweitet werden – der Staat sollte nicht mehr in die Privatsphäre des Einzelnen und in dessen Beziehungen eindringen dürfen, das war jedenfalls der linksliberale Ehrgeiz. Stattdessen wurden aber alle politischen Regelungen, die die individuelle Freiheit unabhängig von Geschlecht und Herkunft staatlich gewährleistet hatten oder hätten, nach und nach gelockert oder gleich ganz eingestampft.