Hellboy 2: Eine offene Rechnung -  - E-Book

Hellboy 2: Eine offene Rechnung E-Book

4,0

Beschreibung

Frank Darabont, bekennender Hellboy-Fan unter Hollywoods Filmemachern, deutet das Motto des zweiten Bandes von Hellboy-Geschichten bereits im Vorwort an: Man reist nicht, um anzukommen, man reist, um unterwegs zu sein. Fast ausnahmslos große anglo-amerikanische Horror-Autoren, darunter David J. Schow, Tom Piccirilli und Ray Garton, entführen uns in Hellboys Welt. Ihnen ist es zu verdanken, dass Hellboys Sprüche so gut passen wie die "rechte Faust des Schicksals" aufs Auge der Ungeheuer ? und zwar immer und überall.

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Seitenzahl: 508

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Impressum

Die amerikanische Erstausgabe erschien 2004 unter dem Titel Hellboy™: Odder Jobs bei Dark Horse Comics, LLC

Mike Richardson – President and Publisher

Scott Allie – Consulting Editor

Text and Illustrations © 2004, 2018 Mike Mignola. All other material, unless otherwise specified © 2004, 2018 Dark Horse Comics, LLC. Hellboy™, Lobster Johnson™, B.P.R.D.™, Abe Sapien™, Liz Sherman™, and all related characters are trademarks of Mike Mignola. Newford and all (non-Hellboy) associated Newford characters and settings are © and ™ Charles De Lint. Dark Horse Books® is a trademark of Dark Horse Comics, LLC. All rights reserved.

Deutsch von

molosovsky [Seite 15–194] und

Verena Hacker [Seite 195–357]

Die Einleitung übersetzte André Taggeselle

Deutsche Erstausgabe

© 2018 by Golkonda Verlag GmbH, München • Berlin

Mit freundlicher Genehmigung von Dark Horse Comics, Inc.

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: André Taggeselle, Melanie Wylutzki

Korrektorat: Clemens Voigt

Innenillustrationen: Mike Mignola

Innengestaltung (Konzept): Lani Schreibstein, Lia Ribacchi

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]

unter Verwendung eines Motivs von Mike Mignola

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN 978-3-942396-99-8 (Buch)

ISBN 978-3-944720-50-0 (E-Book)

www.golkonda-verlag.de

Inhalt

Impressum

Inhalt

EINFÜHRUNG

Frank Darabont

DIE BRUDERSCHAFT DES COLTS

Frank Darabont

DER VOR DEM ZAUBRER FLIEHT

Peter Crowther

VERSUNKEN IN DER FLUT

Scott Allie

NEWFORD-SPUK-SCHWADRON

Charles de Lint

WASSERMUSIK

David J. Schow

DAS VAMPIR-MANDAT

James L. Cambias

EINE OFFENE RECHNUNG

Ed Gorman & Richard Dean Starr

SANKT HELLBOY

Tom Piccirilli

SCHLAFLOS IN MANHATTAN

Nancy Kilpatrick

DIE WUNSCHHUNDE

Sharyn McCrumb

GNADENAKT

Thomas E. Sniegoski

DER DREIMAL BENANNTE HÜGEL

Graham Joyce

AUS BLUT, AUS LEHM

James A. Moore

EIN REICHES UND ERFÜLLTES LEBEN

Ray Garton

DIE GLASSTRASSE

Tim Lebbon

LECKERE ZÄHNE

Guillermo del Toro & Matthew Robbins

Autorinnen und Autoren

EINFÜHRUNG

Frank Darabont

Jedes Ziel hat eine Reise, jede Endstation einen Ausgangspunkt. Eine offene Rechnung – von dem ich hoffe, dass es Ihnen Vergnügen bereitet, und an dem ich mit Begeisterung mitgearbeitet habe – ist das Ergebnis eines scheinbar harmlosen Gesprächs, das vor einigen Jahren in einem legendären Establishment in L. A. stattfand, welches leider nicht mehr unter uns weilt. Der Ort hieß Dave’s Laser Video im San Fernando Valley (ungefähr zehn Minuten hinter den Hollywood Hills gelegen), und dort wurde der Grundstein für diese Hellboy-Anthologie gelegt. Wenn Ihnen das Buch gefällt, behalten sie im Hinterkopf, dass Sie es einem Kerl namens Paul Prischman zu verdanken haben.

Paul wer, fragen Sie? Dazu komme ich gleich, aber erstmal:

Was kann man über Dave’s sagen? Das ist, als würde man einen geliebten Freund, der verstorben ist, lobpreisen und betrauern. Es war Dave’s, Brüder und Schwestern (sagt Amen!), das Mekka für Filmliebhaber im ganzen Tal rings um L. A. Damals, in den finsteren alten Tagen, als das VHS-Format die Welt beherrschte, war Dave’s einer der wenigen Orte in dieser Stadt, die sich auf Laserdiscs spezialisiert hatten – erinnern Sie sich an diese riesigen glänzenden schallplattengroßen Vorläufer der DVDs? Vielleicht nicht – die meisten Leute bekamen sie niemals zu Gesicht, wussten nicht mal, dass es sie gab, aber Filmverrückte wie ich lebten für sie. Die Ton- und Bildqualität konnte es fast mit heutigen DVDs aufnehmen, und obwohl die Laserdisc eigentlich nie bis zu den Mainstream-Kunden durchgesickert ist (dafür hätte Ihre Omi sie dutzendweise bei Walmart kaufen und unter den Weihnachtsbaum legen müssen), hatte sie genug hingebungsvolle Anhänger, dass sie ein Jahrzehnt oder länger als Nischenprodukt gedieh. Ironischerweise war es die Ankunft des neuen Laserformats, der DVD, die den Untergang von Dave’s Laser Video herbeiführte. Als die Welt den Wechsel vollzog, gerieten Laserdiscs von heute auf morgen in Vergessenheit. Dave’s machte diesen Wechsel ins DVD-Geschäft mutig mit und hielt noch ein paar Jahre durch, aber kleinere Gewinnspannen und eine immer allgemeinere Verfügbarkeit (verdammt, plötzlich konnte man DVDs im Supermarkt kaufen) machten ihm schließlich den Garaus.

Ich war einer der frühesten Fans von Laserdiscs und somit einer von Dave’s frühesten Kunden. Ich folgte ihnen über drei Standortwechsel und die Umstellung auf DVDs hinweg, und es verging keine Woche, in der ich nicht hinging (abgesehen von den seltenen Gelegenheiten, an denen ich verreiste, um bei einem Film Regie zu führen). Tatsächlich war ein Besuch bei Dave’s immer ein phantastischer Vorwand, um aus dem Haus zu kommen und weg von dem Abgabetermin für welches Drehbuch auch immer, das momentan an mir zehrte; eine Möglichkeit, etwas Tageslicht zu sehen und einen klaren Kopf zu bekommen. Und aufgepasst, denn jetzt folgt das, auf was es wirklich ankommt: Es ist nicht so sehr das Rausgehen und Filme kaufen, das ich vermisse (das kann ich überall tun); es ist der gesellschaftliche Aspekt davon. Dave’s war der perfekte Tante-Emma-Laden – nicht das anonyme, gigantische Megaketten-Ding wie Tower oder Virgin, sondern eher wie die Bar in Cheers. Du gingst rein, und alle kannten deinen Namen. Die Mitarbeiter waren nicht irgendwelche gepiercten und tätowierten Zombies, wie man sie in den großen Kaufhäusern trifft, sie waren wie Familie.

Einfach ausgedrückt, jeder Besuch bei Dave’s war ein Besuch bei Freunden – man plauderte, tauschte Geschichten aus, besprach Filme oder Bücher, lachte, hing rum. Die Leute, die an diesen Ladentischen arbeiteten, waren ein besonders belesener und gastfreundlicher Haufen, und ich freute mich immer, sie zu sehen. Und fast zwangsläufig kamen andere Stammkunden von Dave’s hereingeschlendert wie die schrulligen Nachbarn in irgendeiner Sitcom – angesichts unserer hektischen Terminkalender ist es ein lustiges Detail, dass ich meinen Filmemacher-Kumpel Mick Garris öfter bei Dave’s zu sehen bekam als im täglichen Leben (sein Haus befindet sich von dort, wo Dave’s früher war, gerade die Straße hinauf, und er schaute fast jeden Tag nach seiner Laufrunde vorbei). Es war dort, dass ich zum ersten Mal Guillermo del Toro traf, mit dem ich inzwischen gut befreundet bin (du kannst dich unmöglich nicht mit Guillermo anfreunden, so umgänglich und nett, wie er ist). Eine meiner schönsten Erinnerungen an Dave’s war der Abend, an dem ich dort eine Signierstunde anlässlich der DVD-Veröffentlichung von The Green Mile gab – was zwei Stunden dauern sollte, aber es tauchten so viele Leute auf, dass ich sieben Stunden da war, und der Laden schloss nicht vor ein Uhr nachts. (Fragen Sie sich, was irgendetwas davon mit Hellboy zu tun hat? Geduld – es ist eine Reise, schon vergessen?)

Ja, verdammt nochmal, ich vermisse Dave’s. Los Angeles ist auch so schon unpersönlich genug, und als Dave’s pleiteging, ist das noch viel schlimmer geworden. Ich vermisse die Leute, die dort arbeiteten – Keven, Hobe, Graham (ein sagenhaft attraktiver schwuler Mann, den wir an AIDS verloren haben), Jenni, Drew (alias Moriarty auf Ain’t it Cool News, der seitdem zu einer aufkeimenden Drehbuchautoren-Karriere übergegangen ist), Carl (der übercoole und lustige schwarze Kerl, der sich immer in eine Sechziger-Jahre-Lederjacke im Black-Panther-Stil kleidete und mich an Shaft erinnerte) … also, ich werde nicht alle nennen (Entschuldigung an jene, die ich ausgelassen habe), aber der letzte Name, den ich Ihnen entgegenschleudere, ist Paul Prischman, der Typ, den ich zu Beginn dieser Einführung als Verursacher dieses Buches erwähnt habe. (Ah, jetzt aber, sehen Sie? Die Reise ergibt allmählich einen Sinn.)

Paul ist ein Künstler, und ein verdammt guter. Eines Tages betrat ich Dave’s, nur um von Paul die aufregende Neuigkeit zu erfahren, dass er soeben das Engagement erhalten hatte, für Guillermo Storyboard-Skizzen für die Vorproduktion des ersten Hellboy-Films zu zeichnen. Da das war, bevor ich Guillermo überhaupt getroffen hatte, fragte mich Paul, ob ich je irgendeinen der Hellboy-Comics gelesen hätte. Die Unterhaltung ging etwa so:

ICH: Nein, hab ich nicht. Sind das die mit dem riesigen roten Kerl im Trenchcoat mit der Schutzbrille auf seiner Stirn?

PAUL (höflich): Ähm, eigentlich sind das abgesägte Hörner. Er stammt aus der Hölle.

ICH: Oh. Ich dachte, das wär eine Schutzbrille.

PAUL (schmerzhaft höflich): Nein. Hörner.

ICH: Aha. Ich verstehe.

PAUL: Du solltest sie wirklich lesen. Sie sind einfach spitze; besser erzählt heutzutage kein Comic-Künstler. Hey, ich bring einen meiner Sammelbände her – wenn du das nächste Mal da bist, kannst du ihn dir ausleihen.

Paul hielt sein Wort – bei meinem nächsten Besuch überreichte er mir sein Exemplar von Seed of Destruction. Ich nahm es mit nach Hause, las es in jener Nacht und verliebte mich prompt in alles, was es zu lieben gibt an Hellboy und seiner Welt. Ich meine, was gibt es denn nicht zu lieben? Übernatürliche Verschwörungen mit Nazis? Eine Behörde zur Untersuchung und Abwehr paranormaler Erscheinungen? Ein roter Riesendämon mit einem trockenen Sinn für Humor, der so coole Sprüche klopft wie Philipp Marlowe? Also, das sind bloß die einzelnen Bestandteile, aber offensichtlich ist die Summe viel größer. Mike Mignola hat etwas Einzigartiges erschaffen, das nicht nur der Kunstform der Comics zur Ehre gereicht, sondern sie oft transzendiert. Und obwohl Mike selbst weiterhin behauptet, dass er »kein richtiger Schriftsteller« ist (und das sogar zu glauben scheint), sage ich ihm weiterhin, dass er einer ist – nicht einfach ein Schriftsteller, sondern ein hammermäßiger. Hammermäßig in dem Sinne, dass er ein großartiger Geschichtenerzähler ist. Hammermäßig in dem Sinne, dass er ein Kerl ist, der mich mit der simpelsten Zeile eines Dialogs zum Lachen bringen kann und mir anschließend ganz überraschend Angst macht oder mich höllisch rührt. Und er tut all das schlicht mit Feder und Tinte und der nicht ganz so schlichten Kraft seiner Worte und Ideen. Wenn es nach mir geht, ist jeder, der eine Geschichte mit dem Humor, dem Gefühl und der klassischen Stimmung von »The Corpse« (die mich an den frühen Ray Bradbury erinnert) zustande bringt, ein großartiger Schriftsteller. Jeder, der dich mit dem Charme und der Schrulligkeit von »Pancakes« verblüffen kann – und das auf läppischen zwei Seiten! –, ist ein Geschichtenerzähler von seltener Kraft.

Okay, eigentlich nehme ich an, dass ich Ihnen gar nicht erzählen muss, wie großartig Mignola ist – wenn Sie dieses Buch gekauft haben, renne ich offene Türen ein. Worauf es ankommt ist: Paul hat mich zu Hellboy gebracht, und ich wurde ein fanatischer Fan. Mein Büro, in dem ich schreibe, beheimatet nicht weniger als sechs Hellboy-Figuren, die mir Gesellschaft leisten, und zwar alles, von Randy Bowens großartigen Skulpturen bis zu diesem albernen Wackelkopf. Ich habe mehrere Originalseiten von Mignola erworben, die stolz bei mir zu Hause hängen. Ich habe jedes Hellboy-Buch gekauft, das es zu kaufen gab, jede Zeile gelesen, die es zu lesen gab (mehr als einmal). Und eine der wirklich erfreulichen Überraschungen auf meiner Reise in Mignolas Welt war, dass ich auf die exzellente Kurzgeschichtensammlung Odd Jobs, herausgegeben von Chris Golden, gestoßen bin.

Mann, ich habe diese erste Anthologie geliebt. Da steckten jede Menge verdammt gute Geschichten drin. Ich wollte unbedingt einen Folgeband lesen, was uns zur letzten Etappe der Reise bringt:

Kurz nachdem ich der größte Hellboy-Fan der Welt geworden war (ich weiß, Sie denken, Sie sind das, aber Sie irren sich), gelang es mir, die E-Mail-Adresse von Dark-Horse-Herausgeber Scott Allie aus Paul Prischman herauszuquetschen. Daraufhin schaffte ich es, von Scott die E-Mail-Adresse von Mike Mignola zu erbetteln und zu erschmeicheln. Daraufhin schickte ich einen schwärmerischen Fanbrief an Mike selbst, der sehr freundlich antwortete – wie sich herausstellte, findet er meine Arbeiten auch nicht uninteressant, was sich für mich großartig anfühlt. Eine E-Mail-Freundschaft folgte, die in der großen Freude gipfelte, Mike auf der letztjährigen San Diego Comic-Con persönlich zu treffen … und nur damit Sie Bescheid wissen, je besser ich den Typen kennenlerne, desto mehr mag ich ihn. Er ist ein wunderbarer und witziger Mensch, und er besitzt keinen Filter – was auch immer er denkt, neigt dazu, aus seinem Mund zu purzeln, ohne den Vorteil der Zensur, was so ziemlich jeden vor Lachen auf dem Boden herumkugeln lässt – sehr zu Mikes Verwirrung.

Obwohl eine zweite Anthologie nach Odd Jobs nicht mein Motiv war, mit Mike Kontakt aufzunehmen, hatte ich damals mit der Idee gespielt, eine Kurzgeschichte zu schreiben, die auf einem alten Fernsehdrehbuch von mir basierte. Und je mehr ich darüber nachdachte, diese Geschichte zu erzählen, desto mehr begeisterte es mich, Hellboy darin vorkommen zu lassen. Also schickte ich Mike eines Tages eine E-Mail und fragte ihn, ob es irgendwelche Pläne gäbe, jemals einen Folgeband herauszubringen. Er erzählte mir, dass sie sich ein paar ins Leere laufende Gedanken dazu gemacht hätten, dass es jedoch bestenfalls eine entfernte Möglichkeit wäre – nichts Konkretes sei im Gange oder in absehbarer Zeit wahrscheinlich. Ich sagte ihm, dass er mir Bescheid geben solle, falls das Projekt wirklich jemals anlaufen würde, denn vielleicht könnte ich ja eine Geschichte beisteuern. Er sagte okay – und dachte wahrscheinlich, dass es sich damit erledigt hatte.

Dann tat ich etwas Hinterhältiges – ich legte los und schrieb die Geschichte trotzdem, und mailte sie Mike zu seinem Geburtstag. Ich teilte ihm mit, er solle sie als seine erste offizielle Einsendung für das Buch betrachten, und schlug vor, dass Odder Jobs ein toller Titel sein könnte. Mike mochte meine Geschichte sehr und schickte sie weiter an Chris Golden. Chris, Mike und Scott Allie ließen ihre Köpfe gegeneinander krachen und entschieden, dass dies ein klasse Vorwand sein könnte, um am Ende doch eine zweite Anthologie ins Rollen zu bringen. Und das Wort ging hinaus nach nah und fern, und siehe!, all diese hervorragenden Schriftsteller kamen herbeigestürmt, dem Ruf zu folgen. (Chris ist der Boss, dem Dank dafür gebührt, dass die meisten dieser Leute hier sind, aber ich werde mir das Verdienst für David J. Schows schätzenswerte Präsenz anrechnen – Dave ist einer meiner besten Freunde, wie ein Bruder, also rief ich ihn an und sagte ihm mehr oder weniger, dass er keine Wahl habe. Er zeigte sich der Situation gewachsen und trat durch einen feinen Stil hervor, gesegnet sei sein dunkles und nachgiebiges kleines Herz.)

So kam Odder Jobs zustande, vom Ausgangspunkt bis zur Endstation –, und, wie ich bereits erklärt habe, es begann alles an einem Tag in Dave’s Laser Video, weil Paul Prischman seine Fanbegeisterung für eine wirklich ungewöhnliche Schöpfung namens Hellboy mit mir teilte, von einem wirklich ungewöhnlichen Schöpfer namens Mike Mignola. Ich danke Paul, dass er mich auf etwas gebracht hat, das eine echte Freude in meinem Leben geworden ist – und ich bedanke mich noch mehr bei ihm für die Freundschaften mit Mike und Guillermo, die sich ergeben haben. Das sind echt Wahnsinns-Geschenke, Paul.

Was meine Geschichte betrifft, »The Brotherhood of the Gun« (dt. »Die Bruderschaft des Colts«), so hat sie mir ermöglicht, die Freude am Schreiben wiederzuentdecken, vor allem am Schreiben von etwas, das nichts mit dem Druck, dem Stress und den Mega-Dollars einer Studioproduktion zu tun hat, am Schreiben aus dem puren, simplen Vergnügen am Schreiben heraus. Ich hoffe, Sie genießen das Lesen halb so sehr wie ich es genoss, die Geschichte zu Papier zu bringen, denn ich hätte nicht mehr Spaß haben können, fröhlich in Hellboys Welt zu schwelgen. Und nun – weil so viele wunderbare Autoren gewillt waren, sich zu beteiligen und sich an dieser Anthologie zu versuchen –, dürfen wir alle, meine lieben Hellboy-Fanatiker, eine Weile fröhlich in der Welt des roten Teufels schwelgen. Immer ein willkommener Ort für einen Besuch, nicht wahr?

Viel Spaß mit den Geschichten.

Frank Darabont

Los Angeles, California

DIE BRUDERSCHAFT DES COLTS

Frank Darabont

Sie erschienen wie ein Trugbild in der Hochofenhitze, schimmernd und sich in den Blick schlängelnd wie ein fieberhafter Traum. Die zwei Reiter trotteten über die weitläufigen Ödlande der Hochwüste, bei jedem Schritt geschlagen von einer Sonne, die an einem wolkenlosen, von Farben scheinbar leergesogenen Himmel stand, während ein Geschworenengericht wachsamer Bussarde hoch oben auf den Aufwinden segelte.

An der Spitze ritt Billy Quintaine, die Augen auf den Horizont vor ihnen gerichtet. Er war kein Mann, der jemals über viel gelacht hatte, und das zeigte sich in seinem Gesicht. Zwei Zwillings-Frontier-Colts, abgewetzt, aber von ihrem Besitzer mit der Hingabe eines Meisteruhrmachers gepflegt, gingen in einem zusammengehörigen Paar geölter Halfter an seinen Hüften.

Die Nachhut bildete Harley Tyrell, dessen Pferd gut vier Meter hinter Billys am Ende eines Seiles folgte. Harley schwankte im Sattel und hielt sich eine eiternde, ein paar Tage alte Schussverletzung an seinem Bauch. Geronnenes Blut hatte, braun wie ein alter Scheunenanstrich, die Vorderseite seines Hemds steif werden lassen. Er schien darauf hinabzustarren, wobei ihm das Kinn auf der Brust wippte. Eine Handvoll Fliegen summten und krabbelten dort, aber Harley bemerkte sie nicht. Er hatte in den letzten paar Tagen nicht viel mitbekommen.

Sein Kopf hob sich mit einem Ruck. Er starrte zur Sonne hinauf, sein Geist zwischen Schärfe und Unschärfe changierend, seine Stimme das Geräusch von trockenen Nesseln im heißen Wind: »Billy? Billy, biste da?«

Billy sah sich nicht um: »Jepp, Harley. Immer noch.«

»Die dürfen uns nicht kriegen, Billy!«

»Wir haben das Aufgebot vor drei Tagen abgehängt. Wahrscheinlich jagen sie noch Staubteufel in den Territorien.«

Harley stieß einen Schrei aus, riss den Kopf herum und erblickte Phantome. »Pass auf, Billy! Sie sind uns auf den Fersen! Ich höre Hufschläge! Ich sehe Staub am Horizont! Schau doch, dort!«

Billy wandte sich nicht um. Er wusste, wenn er es tat, würde er nichts als Wüste und noch mehr gottverdammte Wüste sehen. Harleys Verstand glitt wieder davon, sein Kinn sackte ihm wieder auf die Brust. Es war eine Gnade für beide Männer.

Sie waren noch keine hundert Meter weitergeritten, als Billy Harley aus dem Sattel rutschen und seinen Körper auf den harten Boden aufschlagen hörte. Billy blickte zurück, ließ sein Pferd anhalten. Stieg ab und ging dorthin zurück, wo Harley am Boden lag, Arme und Beine von sich gestreckt. Er starrte fieberhaft in den Himmel, sah jedoch fast nichts.

Er starb. Sinnlos, des Guten zu viel zu tun, dachte Billy. Ein Mann, der so übel in den Bauch getroffen worden war wie Harley Tyrell, hatte sowieso nie wirklich eine Chance gehabt. Billy hatte den sterbenden Mann weniger aus der Hoffnung mitgenommen, einen Arzt zu finden, sondern vielmehr aus schlichter Loyalität, wie um der alten Zeiten willen. Man ließ einen verletzten Mann nicht zurück, solange er noch im Sattel sitzen konnte, wenigstens nicht, wenn es sich vermeiden ließ – so sah Billy die Sache. Aber es war an der Zeit einzusehen, dass Harleys Tage als Reiter gezählt waren. Ein kurzes Aufflackern des Bedauerns huschte über Billys Gesicht.

»O Herr im Himmel, Maria und Jesus«, flüsterte Harley, wobei ihm die Worte von den aufgeplatzten Lippen liefen. »Es tut weh. Es tut sooo furchtbar weeeeehh. Wie Feeeeeuuuueeer …«

Mit einem Knarzen von Leder zog Billy einen Colt aus seinem Halfter. Er zielte mit der Waffe nach unten zwischen Harleys Augen und spannte den Hahn mit einem weichen, öligen Klicken. Irgendwo über sich hörte er einen Bussard kreischen.

Harley schien genau in diesem Augenblick zu Verstand zu kommen, vorübergehend jedenfalls. Sein Blick fand Billys, und er schenkte ihm ein kindliches, vertrauensvolles Lächeln.

»Billy?«

Billy spürte, wie sich der Colt in seiner Hand aufbäumte, hörte den Donnerschlag in seinen Ohren, und für einen kurzen Moment war die ganze Welt eine weiße Flamme.

Sie fanden das Grab ein paar Stunden später, gerade als die Sonne den Horizont küsste und der Wüste die Farbe von Blut verlieh. Viel zu sehen gab es nicht, nur einen rechteckigen Haufen Felsen, auf dem ein Schwarm Bussarde sich kabbelte und ärgerte und neugierig die Felsen beäugte. Die Markierung selbst war nicht mehr als ein in den Boden gerammter Stock, von dem ein verwitterter Waffengurt hing. Die Kugeln waren aus ihren Schlaufen entfernt worden, aber die Feuerwaffe – ein zerkratzter Navy Colt mit angeschlagenem hölzernem Griff – steckte immer noch im Halfter.

McMurdo feuerte aus seinem Sattel und verwandelte den Kopf eines Bussards zu Brei. Der plumpste in einem Geysir aus Federn vornüber, purzelte vom Grab und jagte seine Kollegen schreiend und in verdrießlichem Zorn himmelwärts. McMurdo stieg von seinem Pferd und schritt voran, das Winchester-Repetiergewehr in seine Armbeuge geschmiegt, sein Staubmantel hinter ihm emporwogend wie schwarze Flügel. Die Luft kühlte bereits ab, obwohl er immer noch die Hitze des schwindenden Tages spürte, die aus dem öden, rissigen Boden hervorströmte. Er war langgliedrig mit einer Neigung zur Hagerkeit, sein Gesicht so dünn und ausgehöhlt wie Trockenfleisch, sein Haar zurückgebunden zu einem Pferdeschwanz. Er trug Stiefel mit silbernen Spitzen und mexikanischen Sporen, eine Halskette aus Würfelknochen und das Abzeichen eines Texas Rangers über dem Herzen.

Er fegte sich den Hut vom Kopf und hockte sich ans Grab; nichts entging seinen scharfen Augen. Wie er da hockte, erinnerte er die anderen Männer an eine Spinne. Dürr und knochig wie er war, schien es unmöglich, dieses Bild nicht vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen.

Scorby stieg ab und tauchte hinter ihm auf, wartete in einem respektvollen Abstand. Bei McMurdo blieb man immer in einem respektvollen Abstand, nicht weil es jemals verlangt wurde, sondern aus schlichtem Instinkt heraus.

»Harley Tyrell, in Frieden hier ruhe«, murmelte McMurdo, »der, gerade aus dem Leben geschieden, direkt in die Hölle fuhr.« Er warf Scorby einen Blick zu und kicherte. »Na, verdammt soll ich sein, wenn ich kein Dichter bin.«

Scorby verzog keine Miene. McMurdo machte ständig kleine Scherze und Reime wie diese, aber aus irgendeinem Grund schienen sie bei ihm nie besonders komisch zu sein.

»Woher weißte, dass er es ist?«

McMurdos Blick glitt zurück zum Grab. »Die Initialen auf der Knarre. Da am Griff. Buddel ihn aus, wenn du mir nicht glaubst.«

McMurdo spürte etwas Unausgesprochenes. Er sah erneut hoch zu Scorbys Gesicht und erkannte einen Ausdruck darin, der ihm nicht besonders behagte. »Hast du etwas zu sagen? Dann sag es.«

»Also, Mr McMurdo … die Sache ist die … wir sind jetzt über eine Woche dabei. Die Jungs sind hundemüde. Überlegen umzukehren.«

McMurdo wog dies ab, blickte zu den anderen. Etwa zwei Dutzend gute Männer saßen rittlings auf ihren erschöpften Pferden, beobachteten ihn, warteten auf eine Reaktion. Er spuckte aus, mehr um den Staub aus seinem Hals zu kriegen als aus Verachtung, aber er wusste, sie würden es als Verachtung auffassen, und das war gut so.

»Dieses Grab ist erst Stunden alt. Ihr Übrigen könnt aufgeben, wenn ihr wollt. Was mich angeht, ich folge Quintaine.«

McMurdo erhob sich und eilte an Scorby vorbei. Stieg auf und gab seinem Pferd die Sporen, sich nur allzu bewusst, dass die Blicke der Männer auf ihn geheftet waren.

Am nächsten Tag entdeckte Billy einen kleinen Friedhof auf dem Gipfel eines niedrigen Hügels. Nichts Besonderes, nur ein Stiefelhügel, aber er war umgeben von einem kleinen Lattenzaun und das einzige Anzeichen von Zivilisation, das er gesehen hatte, seit er und Harley vor zehn Tagen übereilt aus Danielsville losgeritten waren, wobei die Kugeln an ihren Ohren vorbeipfiffen wie Wespen. Er ließ sein Pferd langsam den Hügel hinaufgaloppieren, und in seiner Kehle brannte zum ersten Mal seit Tagen ein winziger Hauch von Hoffnung. Harleys reiterloses Pferd lief an der Leine hinterher ihm her.

Sein Herz machte einen leichten Satz, als er die Steigung erklomm. Da war eine Stadt auf der anderen Seite, fast in Rufweite. Sie bot keinen tollen Anblick, ein hoffnungslos aussehender Ort, von Staub und Hitze erdrückt. Wenn Gott in die Wüste kackte, würde das wahrscheinlich ziemlich genau so aussehen. Aber, verflucht nochmal, wenn das nicht die Rettung war! Billy blickte auf den winzigen Friedhof und erlaubte sich ein müdes Lächeln. »Macht euch nichts draus, Jungs, gammelt einfach weiter vor euch hin. Noch ist’s nicht meine Zeit.« Er stieß seinem Pferd die Absätze in die Rippen und hielt auf die Stadt zu.

Ein träges, metallisches Klank-Klank-Klank begrüßte ihn, als er die einzige Durchgangsstraße der Stadt heraufkam. Jemand, der ein Hufeisen bearbeitete. Von den Gebäuden auf beiden Seiten der Straße trafen ihn die starrenden Blicke vereinzelter Stadtbewohner, die zusahen, wie Billy angeritten kam. Ein alter Mann, der im Schatten eines Friseurladens in einem Schaukelstuhl saß, nickte ihm zu. Einige Kinder, die lustlos im Dreck spielten, hielten inne, um zu gaffen. Ein knochiger alter Hund hockte sich mitten auf der Straße hin und begrüßte ihn mit einem Spritzer Pisse, nur der Förmlichkeit halber.

Er folgte dem müden Klirren zur Schmiede und stieg ab. Das Geräusch verstummte, und der Schmied spähte nach draußen, blinzelte ins Tageslicht.

»Verpflegung und Wasser für eine Nacht«, sagte Billy.

Der Mann nickte und wischte sich die Hände ab. Billy grub eine Münze aus seiner Tasche und schnippte sie ihm zu. Der Schmied prüfte sie mit einem Grunzen, war anscheinend zufrieden, warf dann den Pferden einen leeren Blick zu. »Was ist mit dem anderen Reiter passiert?«

Billy setzte eine Miene auf, die dem Mann das Mark gefrieren ließ. Der Schmied schrak zurück – er hatte zu spät begriffen, dass man die Nase nicht in die Angelegenheiten eines Fremden steckte. »Na, mir solls egal sein«, murmelte er. »Ich werde mich gut um Ihre Tiere kümmern, das werd ich bestimmt.«

Billy ließ ihn kommentarlos stehen und stapfte über die Straße zum Saloon. Er betrat den Bohlenweg und war ein paar Schritte davon entfernt einzutreten, als eine Stimme ihn mitten im Schritt erstarren ließ.

»Billy! Billy Quintaine!«

Billy wandte sich um. Ein Mann so dürr wie eine Peitsche stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, im kargen Schatten eines Gebäudes an die Wand gelehnt. Er trug Stiefel mit silbernen Spitzen und eine Kette aus Würfelknochen um den Hals. Sie standen für lange Sekunden da und sahen einander unter schweren Lidern hervor an. Sie waren beide vom selben Schlag und wussten das auf einen Blick, ohne Worte. Es würde kein Parlieren zwischen ihnen geben, keine Frage von Verhaftung oder Aufgabe, nichts von diesem höflichen Gewäsch. Der dünne Mann löste sich von der Wand und bewegte sich auf die Straße, den Staubmantel zurückgeschlagen und in der Brise flatternd, die Hand über dem Halfter schwebend.

»Ich fordere dich heraus, Quintaine!«

Billy trat von den Bohlen herunter und schritt im Halbkreis auf die Straße, bezog Stellung. Die Sonne schien direkt über ihren Köpfen und keinem der Männer in die Augen, er wusste also, dass die Voraussetzungen für beide weitgehend gleich waren. Er behielt seinen Widersacher im Auge, aber aus den Augenwinkeln stellte er fest, dass die Stadtbewohner in Deckung hasteten.

»Du hast mich also verfolgt?«

»Quer durch den Staat.«

»Was ein Mann alles auf sich nimmt, um sich umbringen zu lassen.« Billy blieb stehen, stand dem anderen in einer Entfernung von etwa vierzig Schritten gegenüber.

»Hast du einen Namen?«

»McMurdo.«

»McMurdo.« Billy kannte den Namen, hatte Respekt vor ihm. »Mit Vornamen Tom, nicht wahr? Texas Ranger. Hab gehört, du bist der Beste, den es gibt.«

McMurdo holte langsam Luft. »Muss dich mitnehmen, Billy. Du entscheidest, wie.«

Billy nickte, spreizte die Füße ein wenig, fand seine Haltung. Die Finger gekrümmt, nah an seinen Colts.

»Na dann, Ranger … zieh.«

Die Revolverhelden standen so starr wie Statuen da, und ganze Äonen vergingen im Zeitraum bloßer Herzschläge. Ein heißer Wind aus der Hochwüste blies Staub um ihre Stiefel. Ein Steppenläufer rollte vorüber.

Sie griffen nach ihren Revolvern, beide Männer zogen wie geölte Blitze.

Billy spürte, wie sich der Colt in seiner Hand aufbäumte, hörte den Donnerschlag in seinen Ohren, und für einen kurzen Moment war die ganze Welt eine weiße Flamme.

Billy betrat den Saloon, und der Nachhall der Revolverschüsse klang ihm noch in den Ohren. Ihm war schwindlig, und er fühlte sich seltsam, ohne Zweifel die Folge der vielen Tage in der Hitze. Er bewegte den Kiefer, um sein Gehör freizubekommen, und wartete darauf, dass seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten. Der Ort war düster, sah man von dem trüben Tageslicht ab, das durch die schmutzigen Fenster hereindrang. Dutzende schemenhafter Gestalten tranken und spielten Karten, um kleine runde Holztische geschart, die sich nach hinten in die schummrigen Tiefen des Raumes erstreckten. Billy war überrascht, so viele Stammkunden vorzufinden, und fragte sich, ob dies nicht die Männer sein mochten, die mit McMurdo geritten waren. Nun, dachte er, wenn sie es waren, waren sie sicherlich eingeschüchtert, wenn sie erfuhren, dass ihr Anführer mausetot draußen in der Mittagssonne lag, mit einem sprachlosen Ausdruck auf dem Gesicht.

Billy ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Falls das hier tatsächlich McMurdos Männer waren, dann war Flucht sehr wahrscheinlich keine Lösung. Eingeschüchterte Männer können in Sekundenschnelle Mut schöpfen. Wahrscheinlich würden sie hinter ihm her sein wie Wölfe und ihn zur Strecke bringen. Besser, den Stier bei den Hörnern zu packen und die Sache gleich hier im Saloon zu beenden. Mit gespielter Unbekümmertheit wandte er sich der Bar zu, bereit, jedem Kerl, der den Finger gegen ihn erhob, eine Kugel zu verpassen.

Er ging bis an die Theke und wandte dem Raum den Rücken zu. Ihm standen die Nackenhaare zu Berge, doch er hörte keine einzige schnelle Bewegung. Weit und breit war kein Wirt zu sehen, also nahm sich Billy eine Flasche Roggenwhiskey, schenkte sich ein Glas ein und kippte es hinunter. Immer noch wurde die Stille im Saloon von nichts anderem als dem sanften Kartenrascheln der Pokerspieler und dem müden Surren der Fliegen unterbrochen.

Als Billy sich ein zweites Glas einschenkte, weckte das beherzte Ablegen einer Karte seine Aufmerksamkeit. Er richtete den Blick auf einen Mann, der allein an einem Tisch Solitaire spielte und dabei eine Flasche Rum niedermachte. Das im Halbdunkel verborgene Gesicht des Mannes konnte er nicht erkennen, aber es war klar, dass der Fremde ihn beobachtete.

»Sie sehen aus wie jemand, der gern Karten spielt«, beendete eine kultivierte, umgängliche Stimme das Schweigen.

Billy nahm die Whiskeyflasche und das Schnapsglas und schlenderte zum Tisch des Mannes. Er achtete genau darauf, ob einer der Anwesenden eine feindselige Bewegung machte, doch niemand rührte sich. Stattdessen spürte er, wie der Whiskey seine Eingeweide wärmte und er sich entspannte. Langsam setzte er sich hin und ließ den Mann vor sich nicht aus den Augen. »Gut möglich, solange ehrlich ausgeteilt wird.«

Der Fremde neigte sich ins Licht und stupste sich zum Gruß mit dem Finger gegen die Melone. Er war klein, mit blutunterlaufenen Augen, trug ein Drahtgestell auf der roten Nase und einen abnehmbaren Kragen, der sich jeden Augenblick davonzumachen drohte. Sein Anzug war abgewetzt und zerschlissen, genau wie der Mann, der darin steckte. Seine Hände jedoch … die waren von einem ganz anderen Kaliber. Sie waren nicht bloß geschickt, sondern unfassbar schnell und bewegten sich mit der Präzision begnadeter Chirurgenhände. Mit einer einzigen Bewegung fächerte er die Karten mit dem Wert nach oben auf dem Tisch aus. Ein gewöhnliches Deck. Eine Wischbewegung später lagen die Karten wieder in den Händen des Fremden, wo sie von wieselflinken Fingern gemischt wurden. Mit der Rückseite nach oben verteilte er je fünf Karten an Billy und sich selbst.

»Sie haben geschickte Hände«, sagte Billy.

»So wie Sie, Partner, so wie Sie«, antwortete der Mann mit einem Blick auf Billys Colts.

Billy nahm seine Karten, fächerte sie auseinander … und erstarrte. Die Karten waren identisch. Fünfmal Pik-Ass. Finster spähte Billy über seine Karten, dann knallte er sie mit der Bildseite nach unten auf den Tisch. »Was versuchen Sie hier durchzuziehen, Partner?«

»Gar nichts, werter Herr, überhaupt nichts. Ich will nur einen wichtigen Sachverhalt klären.«

»Und der wäre?«

»Dass die Hand …«

Seine blassen Finger schnellten vor und drehten Billys Karten um – alle sahen wieder völlig normal aus.

»… schneller ist als das Auge.« Der Taschenspielertrick brachte Billy ins Grübeln, und er unterdrückte angestrengt ein Lächeln. Wenn er etwas bewunderte, dann Kunstfertigkeit, egal auf welchem Gebiet. Und er musste zugeben, dass das, was dieser kleine Mann mit der Melone da vorführte, wirklich sehenswert war. Als dieser die widerwillige Bewunderung von Billys Gesicht ablas, lächelte er und langte nach unten, hievte einen zerbeulten Handkoffer vom Boden auf den Tisch. Er öffnete die Schnallen, und Billy reagierte schnell – ein Frontier-Colt war plötzlich auf die Stirn des Mannes gerichtet. Das war wiederum sein Taschenspielertrick, und er führte ihn aus, ehe der Fremde überhaupt wusste, dass die Waffe Billys Halfter verlassen hatte. Der kleine Kerl erstarrte und hob langsam und mit einem mulmigen Lächeln die Hände; seine flinken Finger kitzelten die Luft.

»Meine Güte, sind Sie schnell. Verzeihen Sie, ich vergaß, dass ein Mann in Ihrem Gewerbe gar nicht umsichtig genug sein kann.« Er blickte nach unten und deutete auf den Koffer. »Darf ich?«

Billy nickte gemessen, was bedeutete: immer schön langsam. Der kleine Mann legte seine Hände auf den Koffer, drehte ihn halb herum, sodass Billy hineinschauen konnte, und öffnete den Deckel. Darin befanden sich, mit hübschen Stoffbändern befestigt, reihenweise braune Fläschchen. Auf jeder klebte ein Etikett mit der Aufschrift DOKTOR ARGUS’ WUNDERTINKTUR. Der Mann nahm ein Fläschchen, hielt es in die Höhe und begann sprudelnd wie ein Wasserfall sein Produkt anzupreisen: »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Cornelius Bosch, ursprünglich aus Duluth. Waren Sie jemals in Duluth, mein Freund?« Billy antwortete nicht. »Hätte mich auch gewundert. Nun, ich will die Gelegenheit nutzen, Ihnen von den Segnungen der modernen Medizin zu berichten … die eine, die einzigartige, die in jeder Hinsicht erstaunliche Doktor-Argus-Wundertinktur! Erquickt die Sinne, schärft die Reflexe und verbessert das Sehvermögen, so sicher wie das Amen in der Kirche. Ja, Sie haben recht vernommen, ich sagte: verbessert das Sehvermögen. Und selbst die Schnellsten unter uns haben wohl nichts einzuwenden gegen das gewisse Etwas, das einen noch schneller macht, nicht wahr? Nur heute hier und jetzt biete ich jede Flasche zu dem unglaublich günstigen Einführungspreis von einem schnöden Dollar an! Jawohl, Sie haben richtig gehört, nur ein mickriger Dollar! Wie viele Flaschen wollen Sie, mein Freund?«

Das Geschwätz des Mannes wurde mit beharrlichem Schweigen vergolten. Billy hatte sich die ganze Zeit über weder bewegt, noch mit der Wimper gezuckt. Sein Colt hatte sich keinen Zentimeter gerührt und zielte immer noch auf Boschs Stirn. Bosch schluckte, wobei sein Adamsapfel hüpfte.

»Habe ich schon meinen besonderen Rabatt erwähnt? Nur für einen Tag zehn Prozent Nachlass, wenn Sie …« Er wurde von einem sanften Klick unterbrochen, als Billy mit dem Daumen den Hahn spannte. Bosch räusperte sich behutsam. »Zwanzig Prozent?«

»Drehen Sie sonst wem Ihre Tinktur an, kleiner Mann. Ich bin so schnell, wie man nur sein kann, und ich habe nicht viel übrig für Schnellschwätzer und Schwindler.«

»Mr Quintaine. Ihre Hand ist schneller als das Auge, so viel steht fest. Doch selbst ein Mann mit so bemerkenswerten Fertigkeiten wie Sie kann ein wenig von dem profitieren, was Doktor Argus zu bieten vermag.« Er stellte sein Fläschchen auf den Tisch und schob es so langsam wie möglich zu Billy. »Schärft die Sinne und verbessert die Sehkraft, garantiert. Geben Sie sich einen Ruck, mein Herr. Mein letztes Angebot, das ich noch nie jemanden gemacht habe, nur dieses eine Mal. Eine ganze Flasche von Doktor Argus’ Wundertinktur … vollkommen umsonst. Wenn Sie keine Veränderung bemerken … Sie nicht klarer sehen, als Sie es je für möglich gehalten haben … dann zahle ich Ihnen den Dollar.«

Billy schenkte Bosch ein vages, kaltes Lächeln. Der Colt verschwand wieder in seinem Halfter. »Also gut, kleiner Mann. Und sei es nur, um Ihnen beizubringen, dass man einen Kerl nicht an der Nase herumführt. Im Zweifelsfall schulden Sie mir mehr als nur einen Dollar. Ich mag es nicht, wenn man mich für dumm verkauft.«

»Sie verhandeln hart, Mr Quintaine. Aber in Ordnung.«

Billy entkorkte das Fläschchen, führte es an die Lippen und nahm einen langen Zug. Sein Gesicht verzog sich. Mit dem Nachgeschmack kämpfend, ließ er den Blick durch den Saloon schweifen.

Nichts Ungewöhnliches machte sich bemerkbar. Dort hockten dieselben zähen Burschen im selben trüben Halbdunkel und spielten Karten. Billy verkorkte das Fläschchen wieder und schob es zurück über den Tisch. »Sieht aus als wäre Ihr magischer Trank nichts weiter als Quacksalberei, Partner.«

Bosch lehnte sich vor, die Augen an Billy festgenietet. »Sind Sie sicher, Mr Quintaine? Sehen Sie noch einmal hin, ich flehe Sie an. Sehen Sie genau hin.«

Billy kam sich töricht vor, aber er ließ seinen Blick von einem schattenhaften Gast zum nächsten wandern. Tatsächlich stimmte mit diesen Männern irgendetwas ganz und gar nicht … sie tranken und spielten Karten, ohne dabei etwas zu sagen, und wenn, dann flüsterten sie nur. Jetzt fiel ihm auf, dass ihre Gesichter, wenn er sie einen flüchtigen Moment lang im matten Licht erkennen konnte, blass wirkten … zu blass für Männer, die unter einer erbarmungslosen Wüstensonne lebten.

Er sah einen kahlköpfigen Mann, der sich durch einen Lichtfleck beugte. Ihre Blicke begegneten sich kurz. Gleich darauf wurde der Mann wieder von einem anderen Kartenspieler verdeckt. Billys Gesicht verriet einen Schimmer von Wiedererkennen. Er riss seinen Blick weg, versuchte seine Besorgnis abzuschütteln.

»Was ist?«, flüsterte Bosch.

»Nichts. Nur der Kerl dort drüben.«

»Was ist mit ihm?«

Billy zögerte. »Für einen Moment sah er aus wie jemand, den ich mal …«

Bosch leckte sich nervös die Lippen. »Den Sie mal was?«

»… mal gekannt habe. Er kann’s aber nicht sein. Er ist tot.«

»Oh. Ich verstehe.« Bosch lehnte sich zurück.

Billy wurde immer mulmiger zumute, verstohlen huschte sein Blick durch den Saloon. Hier und dort bekam er flüchtig ein Gesicht zu sehen, aber nie lange genug, um es genauer betrachten zu können. Noch beunruhigender war, dass einige Männer sich immer dann abwandten, wenn Billy seinen Blick auf sie richtete, als hätten sie ihn einen Herzschlag zuvor noch angestarrt.

Schließlich war da ein Mann, der seine Karten auf den Tisch warf und sich bis zur nächsten Runde in seinen Stuhl zurücksinken ließ, wobei sein Gesicht in einen Lichtstrahl geriet. Er hatte einen Schnauzbart und trug einen schwarzen Gehrock. Billy wandte sich von dem Mann ab, kniff ungläubig die Augen zu und schlug sie wieder auf. Bosch beugte sich mitfühlend zu ihm.

»Mr Quintaine?«

Billys Stimme war kaum mehr als ein Wispern. »Der Kerl dort. Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht das wandelnde Abbild von Doc Jessup ist.«

»Doc Jessup? Der Gesetzeshüter?«

»Gesetzeshüter, so ’n Quatsch! Das war ein läppischer Kopfgeldjäger … bis er mich in Nogales einholte, wo ich ihm ein Loch in den kleinen Blechstern gestanzt hab.«

Boschs Augen weiteten sich. »Er ist verschieden? Sind Sie sicher?«

»’türlich bin ich sicher. Ich war es, der ihn aus dem Leben ›geschieden‹ hat.« Wieder wagte er einen heimlichen Blick. »Verdammt, der Kerl dort könnte sein Zwillingsbruder sein.«

In diesem Moment griff der Mann mit dem Schnauzbart nach seiner Weste und schob seinen Gehrock zur Seite. Ein Blechstern wurde dort sichtbar, angeheftet direkt über dem Herzen. In der Mitte des Abzeichens prangte ein Einschussloch, vollkommen rund und von braunen Flecken verkrustet. Ein Blutschwall hatte sich einst über die Vorderseite der Weste ergossen und das Hosenbein durchtränkt, wo er getrocknet war und den Stoff hatte hart wie Holz werden lassen. Ein paar Fliegen waren aus dem Innern des Mantels geschlüpft, als der Mann ihn geöffnet hatte, und summten nun träge durch die Luft. Er wedelte sie müßig beiseite, während er aus seiner Westentasche einen Stumpen zog und ihn sich zwischen die Zähne klemmte. Mit dem Daumennagel riss er ein Streichholz an, hielt die Flamme an den Stumpen und paffte daran. Rauchkringel wirbelten empor und fingen das Licht ein.

Ihre Blicke begegneten sich, und der Mann mit dem Schnauzbart lächelte.

Alle Farbe wich aus Billys Gesicht. Kraftlos wandte er sich von dem Mann ab. Er sah zu Bosch, doch der war ihm keine Hilfe – der kleine Gentleman stellte ein starres Lächeln zur Schau, und es war unmöglich zu sagen, was in ihm vorging. Billy kam sich vor wie in einem Albtraum. Wieder richtete er seinen Blick auf den Mann mit dem Schnauzbart.

Doc Jessup beobachtete ihn ebenfalls. Er stieß einen Rauchring aus, der hinauf zur Decke waberte, und brummte den beiden Männern am Tisch etwas zu. Dies veranlasste den Mann gegenüber von Jessup, sich auf seinem Stuhl umzudrehen und geradewegs Billy anzuschauen. Es war Harley Tyrell, Billys jüngst verstorbener Partner, seine Stirn aufgerissen durch eine Kugel vom Kaliber .45, die gerade gestern ein Loch zwischen seine Augen gepustet hatte, aus dem ihm Blut übers Gesicht gelaufen war. Einige Fliegen krabbelten ziellos in der Wunde umher, als suchten sie dort nach Schätzen. Dann lehnte sich der dritte Mann am Tisch ein Stück zurück und spähte um Harley herum, um ebenfalls einen Blick auf Billy zu erhaschen. Es war Tom McMurdo, der Texas Ranger, den Billy gerade eben tot auf der Straße zurückgelassen hatte, und er stellte zwei klaffende Einschusslöcher zur Schau – eins auf der Brust, das andere in der Höhlung seines Halses. Eine leere Schnur, einst eine Halskette mit Würfelknochen, hing lose um seinen Hals. Billys zweiter Schuss hatte sie entzweigerissen, die Knochen von der Schnur gesprengt und durch die Luft befördert. Sie hatten sich vor McMurdos Füßen im Staub verteilt, bevor er zusammengebrochen war. Billy hatte gesehen, wie es passiert war.

Billy saß da, schlaff, ihm war alle Kraft aus Armen und Beinen gewichen, sein Verstand geriet ins Taumeln.

»Ich habe Halluzinationen«, flüsterte er.

Da ergriff ich schließlich das Wort. »Hm, ja und nein«, erklärte ich ihm.

Billy drehte sich um und sah mich. Ich schätze, es versteht sich von selbst, dass ihm der Kiefer herunterklappte.

Ich befand mich hinter der Theke. Ich hatte die ganze Zeit dort gestanden und zugeschaut, wie sich diese ganze Sache entwickelte. Billy hatte mich natürlich nicht gesehen, als er reingekommen war, obwohl ich dort war, sonnenklar, und ich bin irgendwie schwer zu übersehen. Er hatte geradewegs durch mich hindurch gestarrt, als er an der Theke angedockt und sich diesen ersten Schuss Roggenwhiskey eingegossen hatte. Ich muss sagen, dass ich seinen Mut in jenem Moment wirklich bewundert habe, die Art, wie er seine Haltung mit dem Rücken zum Raum gewahrt und irgendwen herausgefordert hatte, auch nur eine Bewegung zu tun. Er hatte mich nicht gesehen, weil sein Verstand einfach noch nicht bereit dazu gewesen war, aber jetzt, da er es war, bot ich ihm sicher einen beeindruckenden Anblick – über zwei Meter groß, fast 160 Kilo schwer und rot. Außerdem war da die Sache mit den abgesägten Hörnern. Aus der Distanz verwechseln die Leute sie gelegentlich mit einer Schutzbrille, die ich auf meiner Stirn geparkt habe. Fast war ich versucht, meinen Schweif hinter der Theke hoch in Sichtweite zucken zu lassen, nur um seinen Gesichtsausdruck zu sehen, aber ich gab nicht nach. Dies war eine heikle Angelegenheit und bestimmt kein guter Moment für irgendwelche Spielchen. Billy saß wie festgenagelt auf seinem Stuhl und gaffte. Obwohl er ein zäher Bursche war, schien er kurz davor, die Nerven komplett zu verlieren. Wie ein Kind rieb er sich mit den Fäusten die Augen, offenbar in der Hoffnung, das Schreckgespenst würde verschwunden sein, sobald er die Augen wieder aufmacht. Aber diesen Gefallen tat ich ihm nicht, denn ich bin kein Schreckgespenst.

»Du siehst nichts, was nicht wirklich da ist«, fuhr ich sachte fort. »Oder was nicht schon die ganze Zeit da war.«

Billy riss seinen Blick von mir los und wandte sich an Bosch. Obwohl ihm das Atmen schwerfiel, fragte er in rauem Flüsterton: »Was war in diesem Fläschchen?«

»Wie ich gesagt habe, mein Herr, die Tinktur des Doktors schärft die Sinne und verbessert das –«

Billy schnellte über den Tisch, packte Bosch an der Kehle und zog ihn würgend auf die Füße. »Du hast mir was von diesen Peyote-Rothäuten untergejubelt, nicht wahr? Ich knick dir den Hals um wie ein Streichholz, du Huren…«

Das Geräusch von Stuhlbeinen, die über den Boden scharrten, ließ Billy erstarren. Er drehte sich um, das Herz hämmernd. Ein Washita-Cherokee-Halbblut war von einem Tisch am anderen Ende des Raumes aufgestanden. Ihm hatten Kugeln drei Einschusslöcher über die Brust gestickt. Billys Gesichtsausdruck nach zu urteilen, erinnerte er sich, sie dort untergebracht zu haben.

»Frank? Frank Little Bear?«

Little Bear nickte ihm zu. »Ist lange her, Billy.«

Noch ein Stuhl scharrte und lenkte Billys Aufmerksamkeit auf einen weiteren Mann, der sich aufgerichtet hatte. Auch ihn schien Billy zu erkennen. Im ganzen Saloon scharrten Stühle, als die Toten sich erhoben. Revolverschüsse hatten jeden von ihnen zerfetzt, getrocknetes Blut zeichnete sie alle. Der beißende Gestank von Schießpulver hing in der Luft und vermengte sich mit dem widerlichen Zimtgeruch, der mir bis jetzt bei all meinen Begegnungen mit den Toten untergekommen ist. Billys Blick huschte ruhelos umher, von einem bleichen, hohläugigen Gesicht zum nächsten. Kein Zweifel, dass er alle Anwesenden wiedererkannte. Schließlich hatte er jeden einzelnen von ihnen auf dem Gewissen.

»Schau dich um, Billy«, sagte ich. »Jede Menge vertraute Gesichter hier. Jede Menge alte Freunde.«

»Sie sind hier, um Ihnen die letzte Ehre zu erweisen, Mr Quintaine«, fügte Bosch hinzu. »Alle, die Sie jemals getötet haben. Sie sind heute hier der Ehrengast.«

Billy ließ Bosch los und sah mich entsetzt an. »Wer bist du? Der Teufel selbst, der meine Seele einkassieren will?«

Ich gab mir Mühe, nicht zu lachen, um den Burschen nicht vor den Kopf zu stoßen. »Ach was. Man nennt mich Hellboy, das liegt vor allem an meinem Aussehen. Ich bin ein Freund, der aushilft, mehr nicht.«

Genau in diesem Moment begannen die Toten, sich Billy aus allen Winkeln des Saloons zu nähern. Er hielt das für ein schlechtes Zeichen, wich zurück und schrie Bosch an: »Dann bist du der Teufel? Und dieses Ungetüm hinter der Theke ist dein Diener?«

»Der Teufel? Du liebe Güte. Da trauen Sie mir aber zu viel zu. Wie ich schon sagte, mein Name ist Cornelius Bosch, ursprünglich aus Duluth. Fahrender Händler, gelegentlicher Spieler. Gesegnet mit der Gabe der goldenen Zunge, weshalb die anderen Herrschaften hier mich eingeladen haben. Strenggenommen gehöre ich nämlich gar nicht zu dieser erlesenen Versammlung, obwohl ich indirekt ihr Schicksal teile. Mich hat es im Kreuzfeuer erwischt, als Sie eine Wells-Fargo-Niederlassung in Haddonton, Missouri überfielen.« Dank seines Dialekts klang es wie Missoura. Er knöpfte sein Jackett auf und entblößte das blutige Loch in seiner Weste. »Eine verirrte Kugel. Ihre verirrte Kugel, fürchte ich.«

Die Toten strebten weiter aus allen Richtungen auf Billy zu. Schließlich blieb ihm kein Platz mehr, und er stieß mit dem Rücken gegen die Bar. Dabei sah er zu, wie die Wiedergänger drohend näherkamen. Seine Hände zuckten nach unten, und er zog beide Revolver, zielte und feuerte wahllos drauflos. Ich legte mir die Hände auf die Ohren in der Hoffnung, vom Donnern der gewaltigen Schüsse nicht taub zu werden – heiliges Kanonenrohr, diese alten Frontier-Colts sind vielleicht laut! Ich rief Billy zu, dass er aufhören sollte, dass er überreagierte, aber er feuerte Schuss um Schuss und brüllte: »IHR SEID DÄMONEN AUS DER UNTERWELT, IHR WOLLT MICH IN DIE HÖLLE ZERREN!« Jeder Treffer ließ die toten Männer taumeln, Staubwolken stoben auf, als die Kugeln sie durchschlugen – aber mehr als Staub waren sie nicht, spröde wie Backpapier; nichts haute sie um. Billys Revolvern ging die Munition aus, vergebens klickte der Hammer auf leere Kammern.

Erleichtert nahm ich die Hände von den Ohren und bewegte die Kiefer. Das Pfeifen in meinem Kopf war gewaltig, aber ich konnte immer noch hören, was McMurdo sagte: »Himmel oder Hölle, Billy, wie du es auch nennst, es ist ein angenehmer Ort. Ein stiller Ort. Vielleicht hat sich jemand da draußen gedacht, dass wir nach einem Leben voller Geballer etwas Ruhe verdient haben.« Mich überraschte der sanfte Ton, in dem er das sagte. Selbst so zähe Burschen wie er können voller Güte sein.

»Wir alle sind dort, Billy«, fügte der von Fliegen umschwärmte Harley hinzu. »Wir alle, die wir mit dem Colt in der Hand gelebt haben und durch ihn gestorben sind.«

»Wir sind eine Bruderschaft«, sagte Doc Jessup. »Die Bruderschaft des Colts.«

»Du gehörst nicht hierher, Billy«, sagte Little Bear. »Du gehörst zu uns.«

»NEIN!«, brüllte Billy, der sich wieder halbwegs im Griff hatte. »Jetzt hört ihr mir zu!« Die Wiedergänger standen still und warteten, was er ihnen zu sagen hatte. Die Toten können ziemlich freundlich sein, manchmal sogar richtig gemütlich. Es kommt darauf an, in welcher Stimmung sie einem über den Weg laufen. Billy zeigte auf Bosch. »Tut mir ja leid, dass du so ein Pech hattest, Freundchen, aber meine Kugel war nicht für dich bestimmt! Wenn du zur falschen Zeit am falschen Ort warst, bist nur du selber schuld! Und du, Harley, wärst ohnehin gestorben! Ich habe dir lediglich einen qualvollen Abgang erspart! Hab dir einen Gefallen getan.« Er reckte sein Kinn und schien einige Zentimeter zu wachsen. Unerschütterlich sah er den Toten in die Augen, und wieder musste ich zugestehen: Der Kerl hatte Mumm. »Was den Rest von euch angeht, ich hab jeden Einzelnen von euch in einem fairen Kampf erledigt! Hab niemandem von hinten in den Rücken geschossen. Kein Grund, dass ihr aus euren Gräbern gekrochen kommt, um euch zu beschweren.«

»Ich kann nicht widersprechen«, flüsterte McMurdo. »Stimmt, was du sagst. Aber unsere Zeit ist abgelaufen. Du gehörst nicht hierher. Keiner von uns gehört hierher.« Er trat ganz nah an Billy heran, und für einen Moment dachte ich, er würde ihn küssen. »Wie ich schon sagte, Billy. Du kommst mit mir.«

»Hör auf ihn, Billy«, sagte ich, die Ellenbogen auf die Theke gestützt. »Er hat verdammt Recht. Frag mich doch mal, welches Jahr wir haben.«

Aber Billy beachtete mich nicht, brüllte stattdessen McMurdo an: »Ich hab dich erschossen, Tom McMurdo! Hab dich kaltgemacht, mausetot! Wäre nur anständig und fair von dir, wenn du’s auch bleibst!«

»Ganz richtig, du hast mich erschossen. Aber du kannst dich nicht erinnern, was danach geschehen ist, oder?«

Billy stockte. Ich sah, wie sich Verwirrung auf seinem Gesicht breitmachte bei dem Versuch, sich zu erinnern. »Ich … ich bin hier in den Saloon gegangen.« Er warf mir einen kurzen Blick zu, vielleicht in der Hoffnung, dass ich ihm zustimmen würde. Aber ich zuckte nur mit den Schultern.

»Du kannst dich erinnern, wie du die Leiche dort liegengelassen hast? Wie du die Straße überquert hast? Die Stufen zum Saloon raufgestiegen bist? Mal ehrlich: Kannst du dich an all das wirklich erinnern?«

»So muss es gewesen sein! Ich bin schließlich hier, oder etwa nicht?«

»Is’ nur gähnende Leere da oben, stimmt’s?« Ich tippte mir mit dem Zeigefinger meiner mächtigen Steinhand gegen den Schädel. »Komm schon, denk nach! Sag mir aufrichtig, dass du dich an irgendwas erinnern kannst, nachdem McMurdo ins sprichwörtliche Gras gebissen hat. Kannste nicht, oder?«

»Natürlich nicht«, sagte McMurdo und schüttelte den Kopf. »Stur wie ein Esel und doppelt so blöd. Du bist genau so einer wie wir alle, nur hast du nicht genug Mumm, es dir einzugestehen.«

»Finden Sie sich damit ab, Mr Quintaine«, sagte Bosch. »Mehr müssen Sie nicht tun. Einfach nur damit abfinden.«

Die Toten begannen zu murmeln, sie redeten auf Billy ein, mit geisterhaften Stimmen, die gespenstisch nachhallten, sich vermischten, anschwollen zu einem beklemmenden Dröhnen, das mir Gänsehaut bescherte. Billy sackte in sich zusammen. Ich kann’s ihm nicht verübeln – das Totengewisper war mordsunheimlich und zerrte auch mir an den Nerven. Er drehte sich von ihnen weg, presste die Hände auf die Ohren, stemmte die Ellbogen auf die Bar, krümmte den ganzen Körper und schrie in dem Versuch, die letzten Reste seines Verstandes zu retten, gegen die Toten an: »IHR SEID TOT! IHR SEID TOT UND ICH BIN LEBENDIG! VERSCHWINDET JETZT! VERSCHWINDET! VERSCHWIIIINDET!«

Ganz plötzlich war es still. Das geisterhafte Gemurmel hatte aufgehört. Auch die Heimsuchung war vorüber. Bis auf Billy und mich war der Saloon leer. Er schlug die Augen auf und sah, dass ich immer noch da war. Er zuckte herum und erkannte, dass die anderen verschwunden waren. Ich hatte gesehen, wie sie sich hinter ihm in Rauch aufgelöst hatten.

»Da hast du den Salat«, sagte ich.

»Jetzt weiß ich, was du bist«, knurrte er und schaute mich finster an.

»Ach ja? Da bin ich ja mal gespannt.«

»Du bist, wie sagt man, ein Hirngespinst. Gleich wirst du wie die anderen einfach verschwinden. Die waren alle nicht wirklich hier, nur dieser kleine Typ, dieser Bosch, nur der war echt. Er hat mir dieses Peyote-Zeug angedreht. Ich bin auf ’ne Traumreise gegangen, wie’s bei den Rothäuten heißt. Alles nur Albträume und dummes Zeug.« Er schnippte ein paar Mal mit den Fingern in meine Richtung, als Signal, dass ich mich verziehen sollte wie ein Trugbild. »Na los, du Ausgeburt meiner Phantasie, sei brav und scher dich fort. Verschwinde gefälligst.«

»Junge, Junge«, seufzte ich. Verächtlich starrte er mich an, der ich einfach nicht verschwinden wollte, wie er es sich vorgestellt hatte. Ich kratzte mich am Kopf und kam mir ziemlich bescheuert vor. Suchte nach dem besten Weg, ihm die Sache zu erklären, aber ich war ratlos.

Plötzlich drang von draußen auf dem Bohlenweg das Geräusch von Stiefelabsätzen herein. Jemand näherte sich dem Saloon. Billy heftete seinen Blick auf den Eingang, einmal mehr von Entsetzen überwältigt, nicht ahnend, was für ein neuer Schrecken ihn erwartete.

Die Schritte hielten inne. Und dann: Big Bart platzte durch die Schwingtüren herein, in einem Aufzug wie aus einem Gene-Autry-Musical – lächerlich weißes Cowboy-Kostüm, bedeckt mit Strassstein-Imitaten, rote Plastik-Holster an den Hüften, Stiefel glitzernd und funkelnd von winzigen Paillettenspiegeln, Fransen im Stil von Grand Ole Opry an den Ellbogen. Zum zweiten Mal an ein- und demselben Tag, möglicherweise in seinem gesamten Leben, klappte Billy Quintaine der Kiefer herunter.

Ich unterdrückte ein Grinsen und dankte Big Bart im Stillen für sein Timing. Dies konnte sich sogar zu meinem Vorteil entwickeln, und ich hätte es bestimmt nicht planen können.

»Kommt schon, Leute, reinspaziert!«, bellte Big Bart. »Es gibt noch eine Menge zu sehen!«

Er schritt in den Saloon, wobei seine Sporen wie billige Christbaumglöckchen klingelten. Er war ein alter Stuntman, der den größten Teil seines Lebens damit verbracht hatte, von Pferden zu fallen, und sich schließlich in Arizona mit den paar Knochen, die noch heilgeblieben waren, zur Ruhe gesetzt hatte. Nun verbrachte er seine Tage fröhlich damit, den Touristen die größten Bären aufzubinden. Sie strömten hinter ihm herein, breiteten sich im Saloon aus mit ihren Eiswaffeln und Slushis, und die billigen Sonnenbrillen fielen von ihren Gesichtern, als sie sich umsahen und anfingen, Fotos zu schießen. Ihre Kleidung war ein Chaos aus Stilen und Farben – grelle Hawaiihemden mit Aufdrucken, Sneakers so dezent wie Neonreklame, Sandalen und Flip-Flops, alberne Strohhüte. Die Kids trugen hauptsächlich Bermuda-Shorts, in meinen Augen eine blöde Entschuldigung für ein Kleidungsstück, weil sie sich nicht entscheiden konnten, ob sie Shorts oder Hosen waren. Ein paar von den Damen trugen so viel Sonnencreme, dass sie bleicher aussahen, als die toten Cowboys es getan hatten.

Ich sah zu Billy hinüber. Na ja, ihr könnt euch seine Reaktion vorstellen. Der arme Kerl war völlig entgeistert, denn die Touristen wuselten um ihn herum, als sei er gar nicht da. Er wedelte mit der Hand ein paar Besuchern vor der Nase herum, was bestenfalls mit einem Blinzeln quittiert wurde. Schließlich dämmerte ihm, dass sie ihn nicht sehen konnten. Die Leute fingen jedoch an, mich zu bemerken, warfen mir unbehagliche Blicke zu. Big Bart hob die Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und die Leute zu beruhigen. Ich hatte ihm vorher erklärt, weshalb ich einige Zeit im Saloon verbringen wollte, und er hatte nichts dagegen gehabt. Er war ein guter Kerl, erinnerte mich an Lee Ermey. Vier Enkelkinder und ein weiteres auf dem Weg.

»Keine Sorge, Leute, das da ist Hellboy, ein alter Kumpel von mir. Er schaut heute hier vorbei, um ein bisschen Spaß zu haben und sich um ein paar Geister zu kümmern.«

Ich machte brav Winke-Winke. »Kümmert euch nicht um mich, ich gehöre zur Show.«

Nachdem somit alle wieder beruhigt waren, fuhr Big Bart mit dem Programm fort, das er im Lauf der Jahre wirklich perfektioniert hatte: »Dies ist also der Saloon! Hier kehren die Kuhjungs und Hombres nach einem harten Tagesritt ein, um Dampf abzulassen und ihre Kehlen zu befeuchten. Die Großen unter euch brauchen gar nicht erst versuchen, was zu bestellen. Happy Hour ist längst um.« Ein paar Besucher kicherten. Billy wandte sich mir zu, und in seinem Blick stand deutlich die Frage: Was in Gottes Namen soll das alles? Ich bedeutete ihm, dass er geduldig sein und zuhören sollte – außerdem mochte ich Big Barts Auftritt wirklich und wollte so wenig wie möglich verpassen. »Es wird euch wahrscheinlich interessieren, dass dieser Saloon von einem Geist heimgesucht wird.«

Ein kleiner Junge sah mit großen Augen zu ihm auf. »Du meinst, es spukt, Big Bart?«

»Genau das will ich damit sagen, kleiner Partner! Eine Geisterstadt ohne einen waschechten Geist wäre doch keinen Pfifferling wert, oder?« Er zwinkerte den Eltern des Jungen zu und brachte sie zum Grinsen. Mir fiel ein älterer Junge auf, der seine Baseballkappe verkehrt herum trug, seinen Kumpel mit dem Ellbogen anstieß und mit den Augen rollte, um klar zu machen, wie lahm er die Führung fand. Der Junge ahnte nicht, dass Billy Quintaine neben ihm stand. Halt den Rand, Pickelgesicht, dachte ich mir. Wenn du wüsstest!

Big Bart beugte sich zu dem kleinen Jungen runter und schnitt eine täuschend echte Grimasse des Entsetzens: »Hier spukt nicht irgendein x-beliebiger Geist, sondern der Geist des berüchtigtsten, verabscheuungswürdigsten Schurken, der je den Alten Westen heimgesucht hat! Ich rede von niemand anderem als Billy Quintaine!« Die Touristen tuschelten beeindruckt. Bart richtete sich auf, ging zwischen den Besuchern umher und sponn sein Garn. »Er war der schnellste Schütze, den es je gab … aber sein Glück verließ ihn an dem Tag, als Tom McMurdo ihn stellte. Fährtenleser-Tom, der Texas Ranger! Das war ein Duell für die Ewigkeit! Auf der Straße vor diesem Saloon standen sich die beiden Hombres gegenüber. Die Erde muss gezittert haben bei jedem Schritt, den sie taten.«

Mit einem Schlag aufs Leder – oder, in dem Fall, mit einem Schlag auf rotes Plastik – zog er einen seiner falschen Revolver. Die Gruppe schnappte nach Luft. »Beide Männer zogen! Beide Männer feuerten! Doch nur Tom McMurdo fiel in den Staub, gefällt von der Kugel des Gesetzlosen!« Er machte eine Pause, blickte in die Gesichter seines Publikums und fuhr mit dramatisch gesenkter Stimme fort: »Doch wir alle wissen, Fährtenleser-Tom war nicht alleine an diesem schicksalhaften Tag. Billy ahnte jedoch nicht, dass McMurdos Männer in jedem Winkel dieser Stadt Stellung bezogen hatten. Und ja, meine Damen und Herren, in dem Moment, als Tom Staub fraß, stürzten sich diese Männer auf Billy Quintaine. Aus jedem Hauseingang, jedem Fenster, von allen Dächern ließen sie ihr Blei auf Billy niederregnen!« Er zog auch die zweite Knarre so schnell wie die erste. Wieder staunte die Gruppe.

»Wie ein geölter Blitz zog Billy Quintaine das andere Schießeisen! Mit unmenschlichem Gebrüll, den funkensprühenden Sechsschüsser in der Hand, versuchte er sich einen Weg über die Straße freizukämpfen und sein Pferd zu erreichen … aber er hat es nie bis zu den Stallungen geschafft. Sie mähten ihn auf der Straße nieder wie den tollwütigen Hund, der er war. Billy Quintaine starb zuckend und strampelnd im Staub, einen Ausdruck des Erstaunens auf seinem ewig mürrischen Gesicht.«

Der Billy neben mir schaute keineswegs mürrisch drein. Er guckte mich mit ausdrucksloser Miene an, versuchte, von meinem Gesicht abzulesen, ob das die Wahrheit war. Ich nickte ihm behutsam zu.

Bart wandte seinen Blick zur Decke und fuhr mit tiefer, unheimlicher Stimme fort: »Manche Leute sagen, dass man spät nachts – so gegen Mitternacht, um genau zu sein –, wenn man die Ohren weit aufsperrt, hören kann, wie die verlorene Seele von Billy Quintaine im Dachgebälk des Saloons wimmert und stöhnt.«

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die Touristen sahen nach oben, tasteten mit ihren Blicken die von Rissen gezeichneten Deckenbalken ab, in der Erwartung, dass eine fahle Geisterfratze zurückgaffte. Selbst Billy starrte mit großen Augen hinauf. Plötzlich brüllte Bart: »DA IST ER!« und feuerte mit Platzpatronen auf die Decke – peng-peng-peng-peng! Ich hatte meinen Spaß, als die Touristen vor Schreck kreischten und zusammenzuckten, denn beim ersten Mal hatte Bart auch mich kalt erwischt. Big Bart heulte und jauchzte vor Vergnügen, ließ die Revolver um seine Finger kreisen und stieß sie mit einem breiten Grinsen wieder in seine Holster. »Hab dich erwischt, du Schurke!«, sagte er – was die Touristen mit erleichtertem Gelächter quittierten. Einige applaudierten sogar. »Also, Leute, lasst uns weiterziehen, es gibt noch viel zu sehen.«

Er führte die Besucher aus dem Saloon. Stille kehrte zurück. Billy verharrte für eine Weile, ohne mich anzusehen, dann ging er zu den Schwingtüren und sah nach draußen. Ich wusste, was er dort sehen würde. Einen Imbiss. Ein Souvenirgeschäft. Ein ausgestopftes Pferd, auf das man sich setzen konnte, um sich fotografieren zu lassen. Er reckte den Hals, und ich glaube, er konnte sehen, wie sich das Sonnenlicht auf den Karossen der Geländewagen und Wohnmobile am anderen Ende der Straße spiegelte.

Er tat mir leid. Es war bestimmt schwer für ihn zu begreifen, dass sein gesamtes Leben, all die Kämpfe, Widrigkeiten, Tränen und Schmerzen in einen billigen Touristenspaß mündeten. Er wandte sich von der Tür ab und blickte mich an.

»So ist das also?«

»So ist das.«