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Die Liebe ist nicht blind, manchmal sieht sie nur etwas verschwommen
Gerade noch feierte die junge Malerin Sadie den Finaleinzug beim Wettbewerb der North American Portrait Society, dann liegt sie mit einer Gesichtsblindheit im Krankenhaus - jedes Gesicht sieht für sie nun aus wie ein durcheinandergeworfenes Puzzle.
Während Sadie darum kämpft, trotzdem noch ihren künstlerischen Traum zu verwirklichen, gleichzeitig familiäre Probleme zu managen und ihren geliebten Hund Peanut zu versorgen, stolpert sie in die Arme nicht nur eines, sondern gleich zweier sehr unterschiedlicher Männer: Der charmante Tierarzt ihres Hundes und ihr Vespa-fahrender Nachbar wetteifern um ihre Aufmerksamkeit. Sadie ringt um Klarheit in ihrem Leben und in der Liebe - und erkennt, dass die beste Art, die Welt zu sehen, immer noch mit dem Herzen ist.
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Liebe ist nicht blind, manchmal sieht sie nur etwas verschwommen Gerade noch feierte die junge Malerin Sadie den Finaleinzug beim Wettbewerb der North American Portrait Society, dann liegt sie mit einer Gesichtsblindheit im Krankenhaus - jedes Gesicht sieht für sie nun aus wie ein durcheinandergeworfenes Puzzle. Während Sadie darum kämpft, trotzdem noch ihren künstlerischen Traum zu verwirklichen, gleichzeitig familiäre Probleme zu managen und ihren geliebten Hund Peanut zu versorgen, stolpert sie in die Arme nicht nur eines, sondern gleich zweier sehr unterschiedlicher Männer: Der charmante Tierarzt ihres Hundes und ihr Vespa-fahrender Nachbar wetteifern um ihre Aufmerksamkeit. Sadie ringt um Klarheit in ihrem Leben und in der Liebe - und erkennt, dass die beste Art, die Welt zu sehen, immer noch mit dem Herzen ist.
Katherine Center ist NEW-YORK-TIMES-Bestsellerautorin und wird auch »die amtierende Königin der Wohlfühllektüre« genannt. Sie schreibt bittersüße Geschichten darüber, wie wir wieder aufstehen, wenn uns das Leben auch mal zu Boden wirft. Die Netflix-Verfilmung ihres Romans HAPPINESS FOR BEGINNERS hat es gerade in 81 Ländern in die weltweiten Top Ten geschafft. Sie lebt mit ihrem Mann, den gemeinsamen Kindern und ihrem Hund in Houston, Texas.
KATHERINE CENTER
HELLO STRANGER
Roman
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch vonAnita Nirschl
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Hello Stranger«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2023 by Katherine Center
Published by arrangement with St. Martin’s Publishing Group.
All rights reserved.
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Publishing Group durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Angela Kuepper, München
Umschlaggestaltung: Olga Grlic
Einband-/Umschlagmotiv: Katie Smith
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-7524-3
luebbe.de
lesejury.de
Für meine wunderbare Mom Deborah Inez Detering. Nochmals.Es ist eine solche Ehre, deine Tochter zu sein. Wie kann ich dir je genug danken?
Der erste Mensch, den ich anrief, nachdem ich erfahren hatte, dass ich mich für den gewaltigen, karrierefördernden jährlichen Wettbewerb der North American Portrait Society qualifiziert hatte, war mein Dad.
Was seltsam ist. Weil ich meinen Dad nie anrief. Nicht freiwillig jedenfalls.
Klar, ich meldete mich an Geburtstagen oder am Vatertag oder an Silvester – in der Hoffnung, Glück zu haben und ihn zu verpassen, damit ich eine säuselnde Nachricht im Stil von »Tut mir so leid, dass ich dich verpasst habe« hinterlassen konnte, mir sein Wohlwollen sicherte und die Sache damit erledigt war.
Aber ich rief nur aus Verpflichtung an. Nie zum Spaß. Garantiert nie, um einfach zu reden. Und niemals – Gott behüte –, um etwas mitzuteilen.
Mein Ziel war immer, meinem Vater nichts mitzuteilen. Wie pleite ich war. Dass ich immer noch in meinem selbst gewählten Beruf versagte, und wie! Dass ich wieder einmal eine Beziehung aufgegeben hatte und in mein für menschliche Wohnzwecke nicht geeignetes Atelier gezogen war, weil ich mir keine eigene Wohnung leisten konnte.
Das waren alles Informationen, die man nur bei Bedarf über mich wissen musste. Und es war definitiv nicht nötig, dass er davon Kenntnis bekam.
Das gab mir in gewisser Weise etwas Freiraum, um für ihn und meine böse Stiefmutter Lucinda ständig falsche Erfolgsgeschichten über mich selbst zurechtzubasteln. Es lief bei mir immer »großartig«. Oder ich war »irre beschäftigt«. Oder hatte »jede MengeErfolg«.
Ich erfand nicht aktiv Dinge. Ich bemühte mich nur wirklich sehr, die Wahrheit zu verschleiern.
Die Wahrheit war, dass ich mich vor acht Jahren allen Anweisungen meines Dads widersetzt hatte, indem ich mein Medizinstudium hingeschmissen und stattdessen zu Bildender Kunst als Hauptfach gewechselt hatte.
»Bildende Kunst?«, hatte mein Vater gesagt, als hätte er den Begriff noch nie gehört. »Wie genau willst du damit deinen Lebensunterhalt verdienen?«
Ich hatte ihm mit einem Schulterzucken geantwortet. »Ich werde einfach … eine Künstlerin sein.«
Wow, diese Worte waren nicht gut bei ihm angekommen.
»Dann möchtest du mir also sagen«, hatte er erwidert, wobei diese Vene auf seiner Stirn hervorgetreten war, »dass du in einem Armengrab beerdigt werden willst?«
Ich hatte die Stirn gerunzelt. »Ich würde nicht sagen, dass ich das will.«
Gut möglich, dass mein Dad wollte, dass ich Ärztin wurde, weil er selbst Arzt war. Ebenfalls gut möglich, dass mein Dad nicht wollte, dass ich Künstlerin werde, weil meine Mom eine Künstlerin gewesen war. Aber darüber sprachen wir nie.
»Du wirfst eine vielversprechende Karriere weg – ein gutes Auskommen –, damit du dein Leben damit verschwenden kannst, etwas Unbedeutendes zu machen, wofür du kein Geld kriegst?«
»Wenn du es so ausdrückst, hört es sich an, als wäre das eine schlechte Idee.«
»Es ist eine schreckliche Idee!«, hatte mein Dad gesagt, als wäre das alles, was es dazu zu sagen gäbe.
»Aber du vergisst dabei zwei Dinge«, hatte ich erwidert.
Gespannt hatte mein Dad darauf gewartet, aufgeklärt zu werden.
»Ich mag Medizin nicht. Und ich mag Kunst.«
Es genügt wohl zu sagen, dass er nichts davon für relevant gehalten hatte. Dann hatte er angedeutet, ich sei verwöhnt und töricht und hätte noch nie echtes Leid gekannt.
Obwohl wir beide wussten – zumindest, was Letzteres betraf –, dass er log.
Wie dem auch sei, seine Haltung machte keinen Unterschied. Es stand ihm nicht zu, darüber zu entscheiden, was ich mit meinem Leben machte.
Schließlich war ich diejenige, die dieses Leben leben musste.
Mein Dad war kein großer Fan davon zu verlieren. »Bitte mich nicht um Hilfe, wenn du pleite bist«, sagte er damals. »Du bist auf dich allein gestellt. Wenn du diesen Weg für dich einschlägst, dann musst du ihn auch gehen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe dich nicht mehr um Hilfe gebeten, seit ich vierzehn war.«
Daraufhin stand mein Dad auf und schob dabei seinen Kaffeehausstuhl mit einem Quietschen zurück, das verkündete, dass er fertig sei. Fertig mit dieser Unterhaltung – und womöglich auch fertig mit der Vaterschaft.
Ich erinnere mich noch an die Entschlossenheit, die ich spürte, als ich ihn dabei beobachtete, wie er ging. Es kommt mir jetzt beinahe drollig vor. Ich werde es dir zeigen, dachte ich mit einem selbstgerechten Feuer in den Augen. Ich werde dafür sorgen, dass du dir wünschst, du hättest die ganze Zeit an mich geglaubt.
Spoiler-Warnung: Ich habe es ihm nicht gezeigt. Zumindest nicht bis jetzt.
Das Ganze war acht Jahre her.
Ich machte meinen Bachelor in Bildender Kunst. Mein Diplom nahm ich ganz allein entgegen, und dann marschierte ich an all den Familien vorbei, die stolz Fotos machten, und fuhr triumphierend vom Parkplatz der Universität, in meinem verbeulten Toyota, den meine Freundin Sue und ich für die Art Car Parade knallpink mit Flammen lackiert hatten.
Und dann?
Machte ich mich zu vielen endlosen Jahren auf, in denen ich es ihm nicht gezeigt habe.
Ich bewarb mich für Wettbewerbe und gewann nicht. Ich reichte meine Arbeit für Veranstaltungen ein und wurde nicht angenommen. Ich schlug mich mühsam damit durch, Porträts von Fotos (Menschen sowie Haustiere) auf Etsy zu verkaufen, für hundert Dollar das Stück.
Aber es reichte nicht mal, um die Miete zu bezahlen.
Und wann immer ich mit meinem Dad redete, tat ich so, als wäre ich »erfolgreich«.
Weil er an jenem Tag vielleicht recht gehabt haben könnte. Ich könnte auf dem Weg ins Armengrab sein. Aber ich würde eher in diesem Grab unter der Erde liegen, bevor ich das je zugeben würde.
Das muss wohl auch der Grund dafür gewesen sein, warum ich ihn wegen der Annahme bei dem Wettbewerb anrief.
Der Wettbewerb selbst war eine große Sache – und mit einem saftigen Preisgeld verbunden, wenn man ihn gewinnen konnte.
Ich schätze, die Verlockung, einen echten Triumph berichten zu können, hinderte mich daran, klar zu denken.
Außerdem – haben wir nicht alle, tief drinnen, eine unauslöschliche Sehnsucht danach, dass unsere Eltern stolz auf uns sind? Sogar lange nachdem wir es aufgegeben haben?
In der Begeisterung des Augenblicks vergaß ich, dass es ihm egal war.
Es war gut – und keine Überraschung –, dass mein Anruf direkt auf seine Voicemail ging. Das bedeutete, dass ich meinen nächsten Anruf machen konnte. Bei jemandem, dem es nicht egal war.
»Was!«, schrie meine Freundin Sue, sobald die Worte heraus waren. »Das ist riesig!« Sie dehnte das »i« eine gefühlte Minute lang aus. Riiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiesig.
Und ich genoss es einfach.
»Der Hauptpreis sind zehntausend Dollar«, fügte ich hinzu, als sie fertig war.
»Oh mein Gott«, sagte sie. »Sogar noch riesiger.«
»Und rate, was noch?«
»Was?«
»Die große Show – die Ausstellung, bei der die Jury den Gewinner wählt – findet hier statt. In Houston.«
»Ich dachte, die wäre dieses Jahr in Miami.«
»Das war letztes Jahr.«
»Dann brauchst du nicht mal hinzufahren!«, sagte Sue.
»Was perfekt ist! Weil ich mir das nicht leisten kann!«
»Es ist Schicksal!«
»Aber ist es zu sehr Schicksal? Fügt sich alles so gut für mich, dass es mir zum Fluch werden wird?«
»So was wie zu sehr Schicksal gibt es nicht«, erwiderte Sue. Dann, als hätte da auch nur eine Frage bestanden, sagte sie: »Jedenfalls ist das entschieden.«
»Was ist entschieden?«
»Dass wir eine Party schmeißen!«, sagte sie. Stets die extrem Extrovertierte.
»Eine Party?«, fragte ich, als ob ich den Begriff noch nie gehört hätte.
»Eine Party! Eine Party!« Sue sang regelrecht ins Telefon. »Du hast viele, viele Jahre tragisch im Leben versagt! Das müssen wir feiern!«
Tragisch im Leben versagt zu haben, erschien mir ein bisschen hart.
Aber na gut. Sie hatte nicht unrecht.
»Wann?«, fragte ich, wobei mir vor all dem Putzen graute, das mir bevorstand.
»Heute Abend!«
Es war bereits kurz vor Sonnenuntergang. »Ich kann heute Abend keine …«, setzte ich an, aber bevor ich auch nur »Party geben« sagen konnte, war es bereits beschlossen.
»Wir machen es auf deinem Dach. Du hast sowieso eine Hauseinweihungsparty gebraucht.«
»Es ist kein Haus«, korrigierte ich. »Es ist ein erbärmlicher Schuppen.«
»Dann eben eine Schuppen-Einweihungsparty«, fuhr Sue locker fort.
»Werden deine Eltern nicht sauer werden?«, fragte ich. Mr. und Mrs. Kim gehörte das Gebäude – und technisch betrachtet sollte ich gar nicht dort wohnen.
»Nicht, wenn es eine Party für dich ist.«
Sue, deren koreanischer Vorname Soo Hyun von einem Einwanderungsbeamten leicht amerikanisiert worden war, hatte ihre Eltern ebenfalls enttäuscht, indem sie Kunst als College-Hauptfach gewählt hatte – wodurch wir uns angefreundet hatten –, allerdings waren ihre Eltern zu weichherzig, um lange böse auf sie zu sein. Am Ende hatten sie mich irgendwie adoptiert, und sie neckten Sue gern damit, mich ihr Lieblingskind zu nennen.
All dies bedeutete: Diese Party würde stattfinden.
Das war unsere Ein-seltsames-Paar-Dynamik. Sue suchte immer optimistisch, energiegeladen und fröhlich nach Möglichkeiten, uns unter die Leute zu mischen. Und ich sträubte mich jedes Mal. Und gab dann widerwillig nach.
»Du kannst innerhalb von zwei Stunden keine Party organisieren«, protestierte ich.
»Herausforderung angenommen«, sagte Sue. Dann fügte sie hinzu: »Ich habe die Gruppennachricht schon verschickt.«
Aber ich protestierte weiter, selbst nachdem ich verloren hatte. »Meine Bude ist nicht geeignet für eine Party. Die ist nicht mal für mich geeignet.«
Darüber würde Sue nicht mit mir streiten. Ich schlief in einem Schrankbett, das ich auf dem Sperrmüll gefunden hatte. Aber sie duldete auch keinen Protest. »Wir werden alle draußen bleiben. Das ist schon okay. Du kannst endlich diese Außenlichterkette aufhängen. Wir werden sämtliche coolen Leute einladen. Alles, was du tun musst, ist, etwas Wein zu besorgen.«
»Ich kann mir keinen Wein leisten.«
Aber Sue gefiel meine Einstellung nicht. »Wie viele Leute haben sich für die erste Runde beworben?«, wollte sie wissen.
»Zweitausend«, sagte ich.
»Wie viele Finalisten gibt es?«
»Zehn«, antwortete ich.
»Genau«, sagte Sue. »Du hast bereits eintausendneunhundertneunzig Mitbewerber vernichtet.« Sie machte eine effektvolle Pause, dann schnippte sie mit den Fingern und meinte: »Was sind da schon neun weitere?«
»Gutes Argument«, sagte ich.
»Du bist kurz davor, zehntausend Dollar zu gewinnen. Da kannst du dir eine Flasche Wein leisten.«
Und so machte sich Sue daran, eine Last-Minute-Party auf die Beine zu stellen.
Sie lud all unsere Freunde aus dem Kunststudium ein – mit Ausnahme meines Ex-Freundes Ezra –, ein paar ihrer Kunstlehrer-Kumpel und ihren langjährigen Freund Witt – kein Künstler, sondern ein Business-Typ, der auf dem College Captain des Leichtathletik-Teams gewesen war. Sues Eltern hatten ihn für gut befunden, obwohl er kein Koreaner war, weil er lieb zu ihr war – und außerdem, weil er gut verdiente und sie dadurch, wie ihr Dad es ausdrückte, »eine darbende Künstlerin sein könnte, ohne tatsächlich zu darben«.
Sue sagte – liebevoll –, dass Witt unser Quoten-Sportler sein könne.
Mein Job war es, das altmodische rosa Partykleid mit Blumenapplikationen anzuziehen, das einmal meiner Mutter gehört hatte und das ich nur zu sehr, sehr besonderen Gelegenheiten trug. Und dann machte ich mich auf die Suche nach dem meisten Wein, den ich für einen Zwanzig-Dollar-Schein kriegen konnte.
Ich wohnte in dem alten, lagerhauslastigen Teil des Stadtkerns, und das einzige fußläufig erreichbare Lebensmittelgeschäft stand da schon seit den Siebzigern – eine Kreuzung zwischen einer Bodega und einem Tante-Emma-Laden. Es gab frisches Obst am Eingang, die Stereoanlage spielte altmodischen R&B, und Marie, die allgegenwärtige Inhaberin, saß vorne neben der Kasse. Sie trug immer bunt gemusterte Kaftane, die ihre warme braune Haut leuchten ließen, und nannte jeden Baby.
Gerade als ich reinging, klingelte mein Handy. Es war mein Dad, der mich zurückrief.
Jetzt, wo der erste Freudentaumel abgeklungen war, überlegte ich, ob ich rangehen sollte. Vielleicht verurteilte ich uns beide einfach nur dazu, enttäuscht zu werden.
Aber am Ende nahm ich ab.
»Sadie, was gibt es?«, fragte mein Dad völlig geschäftsmäßig. »Ich steige gerade in den Flieger nach Singapur.«
»Ich habe dich angerufen, weil ich gute Neuigkeiten habe«, sagte ich, während ich in den Gang mit den Frühstücksflocken huschte und meine Stimme dämpfte.
»Ich kann dich nicht hören«, sagte mein Dad.
»Ich habe einfach nur gute Neuigkeiten«, sagte ich ein bisschen lauter. »Die ich« – tat ich das gerade wirklich? – »dir mitteilen wollte.«
Aber mein Dad klang nur gereizt. »Hier machen sie gerade gleichzeitige Durchsagen über die Lautsprecher, und ich habe nur noch ein Prozent Akku. Kann das warten? Ich bin in zehn Tagen zurück.«
»Natürlich kann das warten«, sagte ich, während ich bereits entschied, dass er seine Chance vertan hatte. Vielleicht würde ich es ihm erzählen, sobald ich diesen Zehntausend-Dollar-Scheck in der Tasche hatte. Wenn er Glück hatte.
Oder vielleicht auch nicht. Denn genau da war die Leitung tot.
Er hatte nicht direkt aufgelegt. Er hatte sich einfach nur anderen Dingen zugewandt.
Wir waren hier fertig. Ohne eine Verabschiedung. Wie üblich.
Das war okay. Ich hatte eine Party zu feiern. Und Wein zu kaufen.
Als ich zum Weinregal ging, erklang Smokey Robinson über die Stereoanlage mit einem Song, der eines der Lieblingslieder meiner Mom gewesen war – »I Second That Emotion«.
Normalerweise würde ich in der Öffentlichkeit nie laut zu irgendetwas mitsingen – besonders nicht mit Kopfstimme. Aber ich hatte viele glückliche Erinnerungen daran, gemeinsam mit meiner Mom bei diesem Lied mitzusingen. Außerdem wusste ich, dass ich nur allzu leicht über die toxische Art meines Dads ins Grübeln kommen könnte, und es fühlte sich gerade irgendwie so an, als wäre Smokey genau in diesem Moment aufgetaucht, um mir einen emotionalen Rettungsring zuzuwerfen.
Ich warf einen Blick rüber zur Inhaberin. Sie telefonierte gerade mit jemandem, lachend. Und soweit ich sehen konnte, war sonst niemand im Laden.
Also gab ich nach und sang mit – zuerst leise und dann ein bisschen lauter, als Marie mich überhaupt nicht wahrnahm. Mit im Takt wiegenden Schritten, in meinen Ballerinas und dem rosa Partykleid meiner Mom gab ich einfach nach und erlaubte mir, mich besser zu fühlen – ich tanzte einen Shimmy, den mir meine Mom beigebracht hatte, und legte gelegentlich einen Powackler hin.
Nur eine kleine private, die Stimmung hebende Solo-Tanzparty.
Und dann traf mich ein Gedanke, dort in dem Gang, während ich einen alten Lieblingssong sang und dabei das Kleid meiner vor langer Zeit verlorenen Mutter trug: Meine Mutter – ebenfalls eine Porträtmalerin – hatte sich auch für diesen Wettbewerb qualifiziert.
In dem Jahr, in dem ich vierzehn geworden war, hatte sie sich für genau denselben Wettbewerb qualifiziert.
Ich hatte davon gewusst, als ich mich beworben hatte. Aber um ehrlich zu sein, bewarb ich mich so oft bei so vielen Wettbewerben und wurde so unbarmherzig abgelehnt, dass ich nicht viel darüber nachgedacht hatte.
Aber der hier war etwas Besonderes. Es war der Wettbewerb, für den sie ein Porträt gemalt hatte – von mir übrigens –, als sie gestorben war. Sie hatte das Porträt nie fertiggestellt, und sie hatte es nie zur Ausstellung geschafft.
Was war aus diesem Porträt geworden?, fragte ich mich plötzlich.
Wenn ich Geld darauf verwetten müsste? Dann hatte Lucinda es weggeworfen.
Ich bin im Allgemeinen keine große Heulsuse. Und ich bin sicher, es lag zum Teil an all der Aufregung, mich für den Wettbewerb platziert zu haben, und zum Teil an der unerwarteten Schroffheit in der Stimme meines Dads gerade eben, und auch an der Tatsache, dass ich die Kleidung meiner vor langer Zeit verlorenen Mutter trug, und wohl an der Erkenntnis, dass dieser Wettbewerb ihr Wettbewerb war … Aber so glücklich ich mich dabei fühlte, in einem leeren Tante-Emma-Laden bei diesem alten Lieblingslied mitzusingen, ich fühlte mich auch traurig.
Ich spürte, dass mir die Augen immer wieder vor Tränen überquollen, und musste sie wegwischen.
Aber vielleicht war dieser Song wirklich ein Glücksbringer, denn gerade als er zu Ende ging, entdeckte ich einen Wein mit partymäßigem Pünktchenmuster auf dem Etikett im Angebot für sechs Dollar die Flasche.
Als ich mit meinen Armen voll Wein an der Kasse ankam, hatte ich das Gefühl, dass Sue die richtige Idee gehabt hatte. Natürlich sollten wir feiern! Ich würde meinen Hund Peanut – der sogar noch introvertierter war als ich – für ein paar Stunden mit seinem Hundebett in die Abstellkammer sperren müssen.
Ich nahm ein paar kleine Taco-förmige Hundeleckerli als vorgezogene Entschuldigung mit.
Es würde ihm gut gehen. Und selbst wenn nicht, würde er mir irgendwann verzeihen.
An der Kasse liebäugelte ich mit einem kleinen Strauß weißer Gerbera, weil ich fand, dass es schön wäre, mir eine davon hinters Ohr zu stecken – etwas, das meine Künstler-Mom immer gemacht hatte, als ich klein gewesen war. Es fühlte sich an, als sähe sie mich gern so feiern. Mit einer Blume.
Aber dann entschied ich, dass der Strauß zu teuer war.
Stattdessen stellte ich den Wein und die Hundeleckerli auf den Tresen, lächelte die Ladeninhaberin an und griff nach meiner Handtasche …
Nur um festzustellen, dass ich sie nicht hatte.
Ich schaute runter und tastete dann zu meiner anderen Hüfte, für den Fall, dass ich sie vielleicht verkehrt herum umgehängt hatte. Dann schaute ich mich auf dem Fußboden um, ob ich sie fallen gelassen hatte. Ich ließ den Wein und die Hundeleckerli auf dem Tresen liegen und hielt einen Finger hoch, wie um »eine Sekunde« zu sagen, während ich zurückhastete, um in den leeren Gängen nachzusehen.
Nichts. So was. Ich hatte sie zu Hause liegen gelassen.
Gar nicht so überraschend in Anbetracht der Aufregung dieses Tages.
Die Inhaberin hatte bereits angefangen, den Wein einzutippen, als ich zurückkam, also wedelte ich mit den Händen, da ich ihre Unterhaltung nicht stören wollte.
Sie sah mich fragend an: Wollen Sie den nicht?
Und ich antwortete mit einem Schulterzucken, das zu vermitteln versuchte: Es tut mir so leid! Ich habe meine Handtasche vergessen.
Sie ließ mit einem Seufzen die Schultern sinken, aber bevor sie anfangen konnte, alles zu stornieren, sagte eine Männerstimme hinter mir: »Ich übernehme das.«
Ich drehte mich erstaunt um und sah ihn stirnrunzelnd an, wie um zu fragen: Wie sind Sie hier reingekommen?
Aber er nickte mir nur zu und wandte sich wieder an die Inhaberin. »Ich kann das bezahlen.«
Das ist zwar nicht relevant … aber er war süß.
Er war ein typischer weißer Junge – ihr wisst schon, so einer, der praktisch eine Ken-Puppe ist. Aber eine wirklich sehr ansprechende Version.
Wegen meines Berufs als Porträtmalerin kann ich nie ein neues Gesicht ansehen, ohne im Geiste die Form und Struktur und auffälligsten Züge zu taxieren – und ich kann euch genau sagen, warum er attraktiv war, und auch, warum er gewöhnlich war. Künstlerisch betrachtet, meine ich.
Alles an ihm war auf allgemeine, perfekte Weise proportional. Er hatte kein übergroßes Kinn, zum Beispiel, und auch keine große Nase oder Elefantenohren. Er hatte keine Steven-Tyler-Lippen oder verrückte Zähne oder eine Monobraue. Nicht, dass irgendetwas davon schlecht wäre. Markante Züge machen ein Gesicht einzigartig, und das ist etwas Gutes. Aber es ist auch eine Tatsache, dass die gewöhnlichsten Gesichter durchweg als die attraktivsten bewertet werden.
Man könnte sagen, je mehr du wie eine Kombination aus allen aussiehst, desto mehr mögen wir dich.
Dieser Typ kam einer Gesamtkombination so nahe, wie ich es schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Kurze, ordentliche Haare. Stirn, Nasenrücken, Kiefer und Kinn gut proportioniert. Perfekt platzierte Wangenknochen. Eine gerade Nase mit erstaunlich symmetrischen Nasenflügeln. Und bessere Ohren konnte man nicht zeichnen. Die perfekte Größe. Nicht zu anliegend, aber auch nicht zu abstehend. Und dazu rundliche kleine Ohrläppchen.
Ich bin ein wahrer Ohrläppchen-Snob. Schlechte Ohrläppchen können für mich wirklich ein Ausschlusskriterium sein.
Ohne Scherz: Ich habe Leuten schon Komplimente für ihre Ohrläppchen gemacht.
Was nie gut ankommt, nebenbei bemerkt.
Es gibt Tricks, ein Gesicht ansprechend aussehen zu lassen, wenn man ein Porträt malt. Menschen scheinen gewisse Elemente universell ansprechend zu finden, und wenn man die betont, sieht die Person viel besser aus. Das ist etwas Wissenschaftliches. Es wurde erforscht. Die Theorie lautet, dass gewisse Züge und Proportionen Gefühle von »Oh, ist das bezaubernd« in uns auslösen, was Pflegeverhalten, Zuneigung und das Bedürfnis anregt, jemandem näherzukommen. In der Theorie haben wir diese Reaktion im Hinblick auf Babygesichter entwickelt, damit wir uns verpflichtet fühlen, für unsere Jungen zu sorgen, aber wenn dieselben Züge und Muster an anderen Stellen auf anderen Gesichtern auftauchen, mögen wir sie dort auch.
Wir können sogar Nacktschnecken hinreißend finden, aus dem richtigen Blickwinkel.
Oder den Mann, der versucht, unseren Wein und unsere Hundeleckerli zu bezahlen.
Denn zusätzlich zu seiner allgemeinen Attraktivität hatte dieser Kerl auch Elemente in seinen Zügen – für das ungeübte Auge unsichtbar –, die unterbewusst den Eindruck von Niedlichkeit hervorriefen. Seine Lippen waren geschmeidig, voll und von einem warmen, freundlichen Rosa, das Jugendlichkeit suggerierte. Seine Haut war rein, auf eine Weise, die auf gute Gesundheit schließen ließ. Und der wirklich entscheidende Trumpf waren die Augen – ein bisschen größer als der Durchschnitt (immer gern gesehen) mit leicht melancholisch nach unten geneigten Augenwinkeln, die ihm einen süßen Hundeblick verliehen.
Ich garantiere, dieser Kerl bekam jede Frau, die er je wollte.
Aber das war seine Sache.
Ich hatte eine Geldbörse-vergessen-Situation, um die ich mich kümmern musste. Und eine Last-Minute-Party zu veranstalten.
»Ist schon gut«, lehnte ich sein Angebot, für meine Sachen zu bezahlen, mit einer abwinkenden Geste ab.
»Das macht mir nichts aus«, sagte er, wobei er seine Brieftasche aus der Jeans zog.
»Ich brauche keine Hilfe«, sagte ich, und das kam ein bisschen schroffer heraus, als ich beabsichtigt hatte.
Er schaute von mir – handtaschenlos – zu dem Tresen voller Zeug, das ich bezahlen musste. »Ich denke, vielleicht doch.«
Davon wollte ich nichts wissen. »Ich kann schnell nach Hause laufen und meine Handtasche holen«, sagte ich. »Das ist kein Problem.«
»Das ist doch nicht nötig.«
»Aber ich will es.«
Welchen Teil von Ich brauche keine Hilfe hatte dieser Kerl nicht verstanden?
»Ich weiß Ihre Geste zu schätzen, Sir«, sagte ich dann. »Aber ich komme zurecht.«
»Warum nennst du mich Sir? Wir sind etwa gleich alt.«
»Sir hat nichts mit Alter zu tun.«
»Das hat es absolut. Sir ist für alte Männer gedacht. Und Butler.«
»Sir ist auch für Fremde.«
»Aber wir sind keine Fremden.«
»Da muss ich Ihnen widersprechen, Sir.«
»Aber ich komme dir zu Hilfe«, sagte er, als machte uns das zu Freunden.
Ich rümpfte die Nase. »Ich ziehe es vor, mir selbst zu helfen.«
Nur fürs Protokoll, mir war bewusst, dass er versuchte, etwas Nettes zu tun. Mir war ebenfalls bewusst, dass ihn der Großteil der Menschheit das hätte tun lassen, ihm freundlich gedankt und die Sache als erledigt betrachtet hätte. Das ist so ein Moment, der im Internet landen und weitergeleitet werden könnte, mit einer Caption wie: Seht ihr? Die Leute sind doch nicht so furchtbar!
Aber ich war nicht wie der Großteil der Menschheit. Ich ließ mir nicht gern helfen. Ist das ein Verbrechen?
Sicher bin ich nicht der einzige Mensch auf dem Planeten, der es vorzieht, die Dinge auf seine Weise zu regeln.
Ich hatte nichts gegen ihn. Er war anziehend. Auf starke, instinktive Weise anziehend.
Aber das Helfen – einschließlich seiner Aufdringlichkeit diesbezüglich – war es nicht.
Wir starrten einander eine Sekunde lang an – in einer Sackgasse. Und dann, ohne Grund, sagte er: »Das ist ein tolles Kleid, übrigens.«
»Danke«, sagte ich argwöhnisch, als könnte er das Kompliment benutzen, um mich dazu zu bringen, meine Vorsicht fallen zu lassen. Dann, ohne es wirklich zu wollen, sagte ich: »Es hat meiner Mutter gehört.«
»Und du hast übrigens einen tollen Smokey Robinson drauf.«
Oh mein Gott. Er hatte mich gehört. Verärgert senkte ich die Lider auf Halbmast. »Danke.«
»Ich meine es ernst«, sagte er, als sollte ich nicht verärgert sein.
»Das klang sarkastisch.«
»Nein, das war toll. Es war … faszinierend.«
»Sie haben mich beobachtet?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur Müsli kaufen. Du warst diejenige, die zwischen den Regalen eine Cabaret-Nummer hingelegt hat.«
»Ich hatte gedacht, der Laden wäre leer.«
Er zuckte mit den Schultern. »Das war er nicht.«
»Sie hätten mich aufhalten sollen.«
»Warum denn das?«, fragte er, offenbar aufrichtig verwirrt. Dann, bei der Erinnerung, ließ etwas wie Sanftheit seine Miene aufleuchten. Er zuckte leicht mit den Achseln. »Du warst eine Freude.«
Ich hatte keine Ahnung, was ich von diesem Kerl halten sollte.
War er ironisch oder ernsthaft? War er attraktiv oder gewöhnlich? War er freundlich und hilfsbereit oder zu aufdringlich? Flirtete er mit mir, oder ging er mir auf die Nerven? Hatte er mich bereits für sich gewonnen, oder hatte ich noch eine Wahl? Schließlich kehrte ich zurück zu: »Na schön. Nur … helfen Sie mir nicht.«
Er zog die Brauen hoch. »Ich bekomme das Gefühl, du willst nicht, dass ich dir helfe.«
Aber ich blieb ernst. »Das ist korrekt.«
Dann, bevor ich noch mehr an Boden verlieren konnte, wandte ich mich an die Inhaberin am Tresen – die immer noch munter mit ihrer Freundin plauderte – und flüsterte laut: »Ich bin in fünf Minuten mit meiner Handtasche wieder da.« Dann flitzte ich zur Tür hinaus. Der Fall war abgeschlossen.
Ich wartete an der Kreuzung darauf, dass die Ampel umschaltete, als ich mich umdrehte und sah, wie der Lebensmittelladentyp mit einer Papiertüte herauskam, die verdächtig danach aussah, als könnten drei sehr billige Weinflaschen und ein paar Hundeleckerli drin sein.
Ich starrte ihn an, bis er mich sah.
Dann schenkte er mir ein breites, unverfrorenes Hast-mich-ertappt-Lächeln.
Gut. Ich hatte meine Antworten: Ja.
Als er neben mir zum Stehen kam, um an derselben Ampel zu warten, hielt ich den Blick stur geradeaus gerichtet, sagte aber, als wären wir Spione oder so was: »Ist in dieser Tüte das, was ich denke?«
Er wandte sich ebenfalls nicht in meine Richtung. »Denkst du, sie ist voll mit Nächstenliebe?«
»Ich denke, sie ist voll mit unerwünschter Hilfe.«
Er schaute hinunter, um den Inhalt der Tüte zu untersuchen. »Oder vielleicht stehe ich einfach total auf … Sechs-Dollar-Wein.«
»Und Hundeleckerli«, sagte ich mit einem flüchtigen Blick in seine Richtung.
Ich konnte sehen, wie sich seine Augenwinkel kräuselten.
»Na schön«, sagte ich, meine Niederlage akzeptierend, und streckte die Arme nach der Tüte aus.
Aber er schüttelte den Kopf. »Ich mach das schon.«
»Wollen Sie deswegen jetzt auch noch stur sein?«
»Ich denke, das Wort, nach dem du suchst, ist ritterlich.«
»Ist es das?«, fragte ich und legte den Kopf schief.
Dann, als hätte sich die Frage selbst beantwortet, streckte ich erneut die Arme nach der Tüte aus.
»Warum sollte ich sie dir geben?«, fragte er.
»Weil Sie beim letzten Mal bekommen haben, was Sie wollten«, sagte ich mit einem Nicken zurück zum Laden. »Und jetzt bin ich dran.«
Darüber dachte er nach.
Also fügte ich hinzu: »Das ist nur fair.«
Daraufhin nickte er, und dann, als wäre er die ganze Zeit über total vernünftig gewesen, drehte er sich mir zu, trat näher und legte mir die Tüte in die Arme.
»Danke«, sagte ich, als ich sie im Besitz hatte.
Die Ampel hatte umgeschaltet, und die Menge um uns herum trat auf die Straße. Während ich mich mit der Tüte in Bewegung setzte, schaute ich hinunter, um den Inhalt zu überprüfen, und entdeckte einen Strauß weißer Gerbera. Ich wandte mich zu ihm um, doch er war nicht an meiner Seite – und als ich mich umdrehte, stand er immer noch am Bordstein und schaute auf sein Handy, als wäre er vielleicht wegen einer Nachricht stehen geblieben.
»Hey!«, rief ich von der Mitte der Straße. »Sie haben Ihre Blumen vergessen!«
Er blickte auf und schüttelte den Kopf. »Die sind für dich.«
Ich widersprach ihm nicht. Schließlich war er an der Reihe.
Wenn ich gewusst hätte, was als Nächstes passieren würde, dann hätte ich diesen Moment vielleicht anders gehandhabt. Ich hätte womöglich weiter diskutiert, nur damit wir weiter miteinander reden konnten. Oder ich hätte ihn nach seinem Namen fragen können, damit ich eine Möglichkeit hatte, mich an ihn zu erinnern – damit er in meiner Erinnerung danach nicht einfach nur der Lebensmittelladentyp wäre, der mir durch die Lappen gegangen war.
Natürlich, wenn ich gewusst hätte, was als Nächstes passieren würde, dann wäre ich gar nicht erst auf die Straße getreten.
Aber natürlich wusste ich es nicht. So wie es niemand von uns je weiß. So wie wir alle einfach nur mit Mutmaßungen und Hoffnung durch die Welt gehen.
Stattdessen zuckte ich einfach nur mit den Schultern, wie um Okay zu sagen, drehte mich um und ging weiter – wobei ich bemerkte, dass er der erste Mann war, zu dem ich mich in all den Monaten seit meiner Trennung hingezogen fühlte, und halbwegs hoffte, dass er in ein, zwei Minuten angelaufen käme, um mich einzuholen.
Aber das war es nicht, was als Nächstes passierte.
Als Nächstes erstarrte ich mitten auf der Kreuzung, die Arme immer noch um meine Tüte mit Wein geschlungen.
Und danach erinnere ich mich an nichts mehr.
Als ich im Krankenhaus aufwachte, saß meine böse Stiefmutter Lucinda an meinem Bett.
Und du weißt, dass es schlimm ist, wenn Lucinda auftaucht.
Ich öffnete die Augen, und ich sah, wie sich einer meiner ungeliebtesten Menschen auf diesem Planeten vorlehnte, die Ellbogen auf den Knien, und über das Bettgitter spähte, die Nasenflügel blähte und mich anstarrte, als hätte sie mich noch nie gesehen.
»Was ist passiert?«, war alles, was mir zu sagen einfiel.
Daraufhin verfiel Lucinda in vollen Klatsch-Modus und informierte mich über die Details, als tratschte sie mit irgendeiner Nachbarin – und ich kann euch nicht sagen, wie seltsam es war, die Geschichte meines Lebens von der Person erzählt zu bekommen, die es ruiniert hatte.
Wie auch immer.
Offenbar hatte ich etwas gehabt, was man einen nicht-konvulsiven Anfall nennt, mitten auf der Kreuzung vor meinem Wohnhaus. Ich war mit leerem Blick auf der Straße erstarrt und fast von einem VW Käfer umgemäht worden, bevor mich ein geheimnisvoller guter Samariter in letzter Sekunde an den Straßenrand geschubst und mir das Leben gerettet hatte.
Als Nächstes, nachdem ich nicht überfahren worden war, hatte ich auf dem Bürgersteig vor meinem Wohnhaus das Bewusstsein verloren.
Dann hatte der gute Samariter den Notruf gewählt und mich den Rettungssanitätern übergeben, als sie aufgetaucht waren. Laut der Schwester im Krankenhaus war ich halb bei Bewusstsein gewesen, als man mich in die Notaufnahme gebracht hatte, und hatte jeden darum gebeten, meinen Vater zu finden – wobei das noch etwas ist, an das ich mich nicht erinnere.
Ich muss wirklich völlig daneben gewesen sein, wenn ich nach meinem Dad gefragt habe. Ausgerechnet. Einer Person, die ich nie freiwillig um Hilfe bitten würde.
Aber offenbar hatte ich immer wieder nach ihm gefragt und seinen Namen gesagt. Welchen die Pflegekräfte kannten. Denn mein Dad war, um ehrlich zu sein, eine Art Promi-Chirurg.
Das Personal hatte in seinem Büro angerufen, jener Schwester zufolge, aber er war nicht erreichbar gewesen.
Wodurch diese ganze Lucinda-Sache zustande gekommen war.
Sie war der absolut letzte Mensch, den ich an meiner Bettkante haben wollte – außer vielleicht ihrer Tochter. Um ehrlich zu sein, wäre ich lieber neben Miranda Priestly aufgewacht. Oder Rabenmutter Joan Crawford. Oder Ursula aus Die kleine Meerjungfrau.
Und dem Aussehen ihrer Nasenflügel nach zu urteilen, war Lucinda auch nicht allzu begeistert, mich zu sehen.
Trotzdem, irgendwie mochte sie das Drama.
Ihr Tonfall war ein bisschen ungläubig, während sie mich auf den neuesten Stand brachte, als wäre ihr unbegreiflich, warum ich mir ausgerechnet eine viel befahrene Kreuzung ausgesucht hatte, um diesen nicht-konvulsiven Anfall zu haben.
»Wenn dich dieser gute Samariter nicht gerettet hätte, dann wärst du jetzt platt wie ein Pfannkuchen.« Sie verstummte kurz und legte den Kopf schief, als würde sie sich das im Geiste vorstellen. »Ich war gerade bei meinem Weinkränzchen, als seine Sekretärin anrief, aber das ist schon in Ordnung. Wirklich. Natürlich habe ich alles stehen und liegen gelassen und bin sofort hergekommen.«
Bei ihrem Tonfall fragte ich mich, ob das wahr war. Oder ob sie vielleicht noch ein letztes Glas Chardonnay runtergekippt hatte.
Ich schüttelte erneut den verwirrten Kopf, wie in Moment mal. »Was ist passiert?«
Sie lehnte sich ein wenig zu mir, als ob ich nicht aufgepasst hätte. »Du wärst auf der Straße fast gestorben.«
»Aber was hat den Anfall ausgelöst?«, fragte ich schließlich, als mein Verstand allmählich zurückkehrte.
»Das wissen sie nicht. Könnte einfach eine Dehydration gewesen sein. Aber sie wollen ein MRT machen, bevor sie dich entlassen. Wie es aussieht, wirst du über Nacht bleiben müssen.«
Und dann, schnell, um sogar die Möglichkeit im Keim zu ersticken, dass ich sie bitten könnte zu bleiben – was ich absolut niemals tun würde –, fügte sie hinzu: »Ich werde gleich morgen früh wiederkommen.«
Ich wartete darauf, dass alles zu mir durchdrang, während Lucinda ihre Nachrichten überprüfte und dann ihre Sachen zusammensammelte.
Sie war eine dieser gepflegten Damen, bei denen Schuhe und Handtasche immer zusammenpassten. Sie trug ihr Haar praktisch und kurz, aber sie hatte stets ein komplett geschminktes Gesicht. Ich vermutete, dass sie sich angestrengt auf ihre Oberfläche konzentrierte, weil nicht viel darunter war. Aber ich kannte sie wirklich nicht so gut. Nicht einmal nach all diesen Jahren.
Ich erwartete zum Beispiel nicht, dass sie, als ihre Tochter Parker, auch bekannt als meine böse Stiefschwester, sie genau in diesem Moment über FaceTime kontaktierte, den Anruf annehmen würde. Oder dass sie daraufhin Parker in alles einweihen würde, was gerade passiert war, als erzählte sie den heißesten neuen Klatsch direkt aus der Druckerpresse. Und dann, als Parker sagte: »Lass mich mal sehen«, dass Lucinda das Handy umdrehen und auf mich richten würde.
Ich starrte Lucinda an und schüttelte den Kopf. Aber es war zu spät.
Da war Parkers katzenhaftes Gesicht – in iPhone-Größe ebenso furchteinflößend wie in natura.
Wie lange war es her, seit ich sie gesehen hatte? Jahre.
Und wenn ich sie mein ganzes Leben lang nicht mehr sehen würde, wäre das nicht lang genug.
»Oh mein Gott!«, kreischte Parker. »Ich kann nicht glauben, dass du fast von einem VW Käfer umgebracht worden wärst! Ich meine, nimm doch wenigstens was Cooles, wie einen Tesla.«
»Ich werd’s mir merken«, sagte ich.
Es war seltsam, sie wiederzusehen. Sie hatte ihre Haare gnadenlos blondiert. Und sie war wirklich tief in die Welt der Lidschatten eingetaucht. Sie hatte bessere Haare als in der Highschool – auf irgendwie nachrichtensprecherinnenmäßige Weise. Ihr Anblick tat mir in den Augen weh. Aber ich konnte nicht leugnen, dass sie technisch betrachtet – und ich sage das als Profi in dem Bereich – ein hübsches Gesicht hatte.
Zu dumm, dass sie es ruinierte, indem sie … durch und durch böse war.
»Du siehst grauenhaft aus«, sagte Parker mit vor falschem Mitgefühl zusammengekniffenen Augen. »Bist du auf dein Gesicht gefallen?«
Ich sah Lucinda an, wie um zu sagen: Ernsthaft?
Aber Lucinda lächelte nur und bedeutete mir zu antworten, als hielte sie das hier für eine nette Unterhaltung.
Ich seufzte und richtete den Blick wieder auf das Display. »Ich bin nicht auf mein Gesicht gefallen«, antwortete ich roboterhaft.
»Du siehst einfach nur so aufgedunsen aus«, fuhr sie fort.
»Es geht mir gut.«
»Haben sie dich mit Kochsalzlösung vollgepumpt oder so was?«
»Was? Nein.«
»Du siehst einfach gerade ein bisschen aus wie James Gandolfini. Das ist alles, was ich sage.«
Okay. Wir waren hier fertig.
»Junge, Junge«, sagte ich mit einem prüfenden Blick auf die nicht vorhandene Uhr an meinem Handgelenk. »Wie spät es schon ist.«
Dann drehte ich mich mit dem Gesicht zur Wand.
»Schmollt sie?«, wollte Parker wissen, als Lucinda das Handy wieder zurückdrehte.
»Du wärst auch knatschig, wenn dir das passiert wäre.«
»Aber mir würde das nie passieren. Wenn ich überfahren werden würde, dann von einem Aston Martin.«
Tausend Jahre später, nachdem Lucinda endlich aufgelegt hatte und zum Gehen bereit war, blieb sie an meinem Bett stehen und musterte mich, als könnte sie meine Lebensentscheidungen nicht einmal ansatzweise begreifen.
»Ich hoffe, als Nächstes kommt nicht die Betty-Ford-Klinik für dich«, sagte sie dann kopfschüttelnd, als wäre ich ein unlösbares Rätsel. »Sie haben gesagt, du wärst regelrecht vor Rotwein triefend in die Notaufnahme eingeliefert worden.«
Bei den Worten hielt ich den Atem an. »Wo ist das Kleid?«
»Welches Kleid?«
»Das, was ich anhatte. Als ich eingeliefert wurde.«
»Oh«, sagte Lucinda und schüttelte angewidert den Kopf. »Das ist im Müll.«
»Im Müll?« Ich packte das Bettgitter.
»Es war ruiniert«, sagte Lucinda. »Weindurchtränkt, blutbefleckt – die Sanitäter mussten es von dir runterschneiden. Das taugt jetzt nicht mal mehr als Putzlappen. Nicht zu retten. Ich habe dem Krankenpfleger gesagt, dass er es wegwerfen soll.«
Ich erinnere mich nicht daran, dass ich zu weinen anfing, aber als Lucinda verstummte, war mein Gesicht nass, meine Kehle zugeschnürt und meine Atmung zittrig. »Sie haben das Kleid weggeworfen?«
»Es war Müll, Sadie«, sagte Lucinda mit Nachdruck. »Es war nicht mehr zu retten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber ich brauche es«, sagte ich.
Lucinda zog die Augenbrauen hoch, wie um zu sagen: Du hast besser einen guten Grund. »Warum?«
»Weil …«, setzte ich an.
Aber da gab es nichts zu sagen. Lucinda hatte ihre gesamte Ehe mit meinem Dad damit verbracht, sämtliche Spuren meiner Mutter auszulöschen. Wenn sie gewusst hätte, dass das Kleid meiner Mutter gehört hatte, hätte sie es sogar noch schneller weggeworfen.
Und vorher vielleicht noch angezündet.
»… weil ich es einfach brauche«, beendete ich den Satz.
Daraufhin trat Lucinda zurück und musterte mich, als wollte sie sagen: Genau, was ich erwartet hatte. Als hätte sie meinen beleidigend offensichtlichen Bluff durchschaut. »Es ist weg«, sagte sie auf ihrem Weg zur Tür hinaus. »Lass es einfach gut sein.«
Nachdem sie gegangen war, drückte ich den Knopf für die Schwester.
Als sie auftauchte, weinte ich so heftig, dass sie meine Hand nahm und sie drückte. »Tief durchatmen. Tief durchatmen«, sagte sie ermutigend.
Schließlich, durch Atemzüge hindurch, die eher wie Krämpfe waren, brachte ich die Frage heraus: »Das Kleid – das ich anhatte – als ich herkam – meine Stiefmutter hat gesagt – Sie sollen es wegwerfen – aber ich brauche es. Gibt es irgendeine Möglichkeit – es zurückzubekommen?«
Ihr Seufzen schien ihren ganzen Körper zusammensacken zu lassen. »Oh, Schätzchen«, sagte sie – und schon nach diesen zwei Worten wusste ich, dass alle Hoffnung verloren war. »Wenn wir es weggeworfen haben, dann ist es in die Verbrennungsanlage gekommen.«
Und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich in den Schlaf zu weinen.
Lucinda kam nicht »gleich morgen früh« zurück. Was mir recht war.
Ich hatte schon gefrühstückt, ein MRT gehabt und ein Beratungsgespräch mit einem tiefernsten philippinischen Gehirnchirurgen namens Dr. Sylvan Estrera begonnen, als sie im Zimmer auftauchte, gerade als er zum pikanten Teil kam.
»Der Scan hat nichts Akutes gezeigt«, sagte Dr. Estrera gerade. »Keinen Schlaganfall oder eine Hirnblutung. Keine signifikanten Einblutungen im Gehirn.«
»Das ist eine Erleichterung«, sagte ich.
Dann fuhr er fort. »Aber er hat ein neurovaskuläres Problem offenbart.«
Okay, das hörte sich nicht gut an. »Ein neurovaskuläres Problem?« Das Wort neurovaskulär fühlte sich in meinem Mund wie eine Fremdsprache an.
»Eine Läsion«, erklärte er, »die behandelt werden sollte.«
»Eine Läsion?«, fragte ich, als ob er etwas Obszönes gesagt hätte.
Dr. Estrera steckte ein paar Bilder des MRT an einen Leuchtkasten. Er zeigte auf eine Stelle mit einem winzigen dunklen Fleck und sagte: »Der Scan hat ein Kavernom enthüllt.«
Er wartete auf Erkenntnis, als sollte ich wissen, was das ist.
Ich wusste es nicht. Also wartete ich einfach, dass er fortfuhr.
»Das ist eine Fehlbildung eines Blutgefäßes im Gehirn«, erklärte er sodann. »Sie haben das schon Ihr ganzes Leben lang. Ein ererbtes Leiden.«
Ich warf einen Blick zu Lucinda, als könnte das nicht stimmen.
Lucinda hob die Hände und sagte: »Gib nicht mir die Schuld. Ich bin nur die Stiefmutter.«
Ich schaute wieder auf den Scan – und diesen bedrohlichen kleinen Fleck.
Könnte er meinen Scan mit dem von einem anderen Patienten verwechselt haben? Ich meine, ich fühlte mich einfach nicht wie jemand, der mit einem fehlgebildeten Blutgefäß im Gehirn herumlief.
Stirnrunzelnd sah ich Dr. Estrera an. »Sind Sie sicher?«
»Das ist völlig sonnenklar«, sagte er und zeigte auf das Bild.
Sonnenklar? Eher unscharf verschwommen, aber okay.
»Kavernome verursachen häufig Anfälle«, fuhr er fort. »Sie können neurologisch unauffällig bleiben. Sie könnten Ihr ganzes Leben lang nie ein Problem damit haben. Aber es kann auch zu einer Blutung kommen. Also ist Ihre beste Option, es chirurgisch entfernen zu lassen.«
»Es blutet?«, fragte ich.
»Ja. Das hat den Anfall ausgelöst.«
»Den nicht-konvulsiven Anfall«, bemerkte Lucinda, als ob es das besser machen würde.
»Ich dachte, Sie hatten gesagt, da waren keine Einblutungen im Gehirn«, sagte ich.
»Keine signifikanten Einblutungen«, verdeutlichte er.
Warum diskutierte ich mit ihm?
Er fuhr fort: »Wir müssen reingehen und dieses Blutgefäß resezieren.«
Hm. »Mit reingehen meinen Sie … in mein Gehirn?«
»Genau«, antwortete er zufrieden, dass ich es kapierte.
Ich kapierte es jetzt definitiv. »Wollen Sie mir damit sagen, dass ich eine Gehirnoperation brauche?«
Wieder sah ich Lucinda an. Es gab sonst niemanden, den ich ansehen konnte.
Lucinda lehnte sich zum Arzt, als hätte sie ein pikantes Geheimnis. »Ihr Vater ist ein sehr bekannter Herz-Thorax-Chirurg«, sagte sie, als ließe mich das irgendwie darum herumkommen. Dann, mit all dem Selbstbewusstsein einer Frau, deren größte Errungenschaft es war, einen sehr bekannten Herz-Thorax-Chirurgen geheiratet zu haben, verkündete sie: »Richard Montgomery.«
Dr. Estrera nahm das auf wie eine beiläufige Floskel, die zu ignorieren er zu höflich war. »Ja. Ich bin ihm bei mehreren Gelegenheiten begegnet.« Er wandte sich wieder mir zu. »Es ist ein elektiver Eingriff, in dem Sinne, dass Sie den Termin frei wählen können. Aber ich würde Ihnen raten, sich lieber früher als später operieren zu lassen.«
»Wie kann eine Gehirnoperation ein elektiver Eingriff sein?«, fragte ich. Botox war ein elektiver Eingriff. Bauchstraffungen. Eine Mandeloperation.
»Ich werde Sie an die Terminvergabe verweisen müssen«, fuhr Dr. Estrera fort, »aber wir können den Eingriff wahrscheinlich innerhalb den nächsten paar Wochen durchführen.«
Der nächsten paar Wochen! Äh, nein. Das würde nicht klappen.
Im Geiste ging ich die E-Mail noch mal durch, die ich gestern bezüglich der Teilnahme am Porträtwettbewerb bekommen hatte.
In diesem Wettbewerb unter den ersten zehn Bewerbern von zweitausend gelandet zu sein, bedeutete, dass ich genau sechs kostbare Wochen hatte, um das beste Porträt zu planen und fertigzustellen, das ich in meinem Leben je gemalt hatte. Vom Auswählen eines Modells, einer Farbpalette und einem Setting über die Vorarbeit und die ersten Skizzen bis zur Ausfertigung des endgültigen fertigen Gemäldes würde ich jede Minute brauchen, die ich hatte.
Der Wettbewerb. Das hätte ich fast vergessen. Ich war eine Finalistin im prestigeträchtigsten Porträtwettbewerb des Landes. Das hier war meine Chance. Wahrscheinlich die einzige, die ich je haben würde.
Ich durfte sie nicht verpassen. Ich musste gewinnen. Nach all diesen Jahren des Versagens, in denen ich mich nur mühsam durchgeschlagen, in mehreren Jobs gleichzeitig gearbeitet und meinen Wert als menschliches Wesen infrage gestellt hatte.
Sue hatte gestern feiern wollen, aber jetzt fing die richtige Arbeit an.
Die Arbeit, eine einzige wunderbare Chance auf meinen flüchtigen Traum zu ergreifen – und sie verdammt noch mal nicht zu vermasseln.
Also nein, ich würde mich im Augenblick nicht für eine elektive Gehirn-OP anmelden, recht herzlichen Dank auch.
»Ähm«, sagte ich zu Dr. Estrera, mit sanfter Stimme, als wollte ich ihn nicht beleidigen: »Ich habe einfach nicht die Zeit für eine Gehirnoperation.«
Wie bizarr, diese Worte laut auszusprechen.
Und dann kam mein Wunsch, keine Gehirnoperation zu haben, in direkten Konflikt mit meinem Wunsch, Lucinda nie irgendetwas über mein Leben wissen zu lassen – und ich zögerte so heftig damit, meine Situation zu erklären, dass schließlich ein einziger schneller Schwall herauskam: »Ich bin Porträtmalerin, und ich bin eine Finalistin in einem Wettbewerb, der einen Abgabetermin in sechs Wochen hat, und das Preisgeld für den ersten Platz sind zehntausend Dollar, und das ist wirklich mein großer Durchbruch, der alles für mich verändern könnte, und ich werde bis dahin jede einzelne Sekunde brauchen, um das arschgeilste Porträt der Geschichte zu malen, weil ich dieses Ding wirklich, wirklich gewinnen muss.«
Hatte ich gerade das Wort arschgeil in Gegenwart eines Gehirnchirurgen gesagt?
»Ich verstehe«, sagte Dr. Estrera. »Aber bitte begreifen Sie, dass hier eine gewisse Dringlichkeit herrscht. Blutungen – selbst geringfügige – im Gehirn sind nie etwas Gutes. Und obwohl sich ›Gehirn-OP‹« – er machte mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft – »nach einer große Sache anhört, und das ist es auch, geht dieser Eingriff relativ schnell. Sie würden nur zwei bis vier Tage im Krankenhaus sein müssen. Wir können sogar haarschonende Techniken anwenden, um zu vermeiden, Ihnen den Kopf zu rasieren.«
Versuchte er, es ansprechend klingen zu lassen? Ich hatte nicht mal daran gedacht, dass sie mir den Kopf rasieren würden.
Was als einfaches Nein angefangen hatte, wurde schnell zu einem »Auf gar keinen Fall«. Ich nickte, als würde ich darüber nachdenken. Aber was gab es da nachzudenken?
Ein alter Cartoon im New Yorker von einer Person, die ein Meeting vereinbart und »Wie wär’s mit nie?« sagt, kam mir in den Sinn.
»Ich denke«, sagte ich daraufhin, »ich würde die Operation wirklich gern so lange aufschieben wie nur menschenmöglich.«
Lucinda versuchte, mich dazu zu zwingen, mit ihr in ihrem Lincoln Navigator nach Hause zu fahren, aber ich rief mir stattdessen ein Uber.
Auf keinen Fall würde ich Hilfe von ihr annehmen.
Oder sie meine Wohnung sehen lassen.
Wobei »Wohnung« eine zu großzügige Bezeichnung war. Eher »Einzimmerbude«. Oder noch treffender »Schuppen« – erbaut als Hausmeisterquartier in den 1910er-Jahren, als das Gebäude als Lagerhalle errichtet worden war. Damals, bevor sie Aufzüge erfunden hatten. Als es sich wirklich hinzog, fünf Treppen hochzusteigen.
Sues Dad Mr. Kim hatte das Gebäude renoviert und in hippe Eigentumswohnungen im Industriestil verwandelt. Aber der Dachschuppen war der letzte Punkt auf seiner Liste – und in seinen Worten immer noch »für menschliche Wohnzwecke nicht geeignet«. Sue hatte ihn dazu überredet, ihn mir als Atelierraum zu vermieten – mit dem Versprechen, dass ich ihn »praktisch wie einen Lagerraum« nutzen würde.
Das war, bevor ich meinen Ex Ezra verlassen hatte – nachdem er komplett meinen Geburtstag vergessen hatte und ich, während ich im Restaurant von ihm versetzt worden war, auf meinem Handy über einen Clickbait-Artikel über Narzissten gestolpert war – und mit einem Schlag erkannt hatte, dass ich mit einem zusammen war. Zwei lange Jahre voller Hinweise, die ich ignoriert hatte, dann ein einziger sehr erhellender Artikel – und ich hatte plötzlich genug gehabt.
Ihn zu verlassen, war einfach nur eine Erleichterung gewesen.
Mit dem Einkommen aus meinem Etsy-Shop eine Wohnung zu finden, war bestenfalls eine Herausforderung. Einstweilen war mein Schuppen okay. Für 475 Dollar im Monat brauchte ich keine Vorzeigewohnung.
Aber meine Wohnsituation war jetzt eher ein Szenario à la »Verbannte Prinzessin im Gesindequartier« als »High Life im Luxus-Penthouse«.
Ich hatte Mr. Kim versprochen, dass ich nicht wirklich dort wohnen würde, und er drückte mitleidig beide Augen zu. Soll heißen, was für den einen »für menschliche Wohnzwecke ungeeignet« sein mag, ist für andere eine vollkommen akzeptable Behausung.
Schon allein das Licht war unglaublich.
Ganz zu schweigen von dem Ausblick auf die Innenstadt. Und den Bayou.
Sue hielt meinen Einzug in mein Atelier für einen genialen Trick, das System zu überlisten. Keine normale Wohnsituation, sondern cooler. Sie hatte von Anfang an auf eine Schuppen-Einweihungsparty gedrängt. Aber sosehr ich mir diese Sichtweise, ich wäre zu fantastisch, um wie normale Leute zu wohnen, auch zu eigen machen wollte, war ich in Wahrheit einfach nur zu pleite.
Ich hatte noch ein paar Porträts ausstehen – ein kleines Mädchen mit ihrem Cockerspaniel, das Schulabschlussfoto eines jungen Mannes, eine süße Großmutter mit einem Partyhütchen zum achtzigsten Geburtstag – und ich konnte sie erst in Rechnung stellen, wenn ich sie verschickt hatte. Sie brachten hundert Mäuse das Stück ein, also war Malen das, was ich den ganzen Tag hätte tun sollen, nachdem ich aus dem Krankenhaus zurückgekommen war: die Miete für diesen Monat erarbeiten.
Aber stattdessen ertappte ich mich dabei, Kavernome zu googeln.
Haufenweise körnige graue Hirnscan-Fotos, haufenweise Illustrationen von Leuten, die sich den Kopf hielten, als hätten sie die schlimmste Migräne der Geschichte, und haufenweise Zeichenskizzen von Adern mit dicken, himbeerförmigen Fehlbildungen.
Die niedlicher waren, als ich erwartet hatte.
Ich versuchte, mir das Innere meines Kopfes vorzustellen. War da drin wirklich schon die ganze Zeit eine winzige kleine Blut-Himbeere gewesen?
Ich googelte auch Dr. Sylvan Estrera. Der offenbar amateurmäßig Swing-Tanzen als Hobby betrieb. Wenn er nicht gerade, na ja, Gehirne operierte.
Als meine Augen vom Scrollen trocken wurden, klappte ich den Laptop zu und setzte mich neben meinen Hund, Seelenverwandten und das einzige wirkliche Familienmitglied Peanut, der alle viere von sich gestreckt und mit dem Bauch zur Decke auf dem Sofa eingeschlafen war, als wäre auf der ganzen Welt noch nie irgendetwas Verrücktes passiert.
Ich wusste seine Einstellung zu schätzen. Es war schön, dass wenigstens eine Person in meinem Leben nicht ausflippte.
Er war ein Geburtstagsgeschenk meiner Mom gewesen, als ich vierzehn geworden war. Ein Hund aus dem Tierheim, aber immer noch ein Welpe, und er hatte auf jede Oberfläche im Haus gepinkelt, bis wir ihn stubenrein bekommen hatten. Mein Dad hätte aus diesem Grund wahrscheinlich entschieden, Peanut nicht zu mögen – wenn Peanut meinen Dad nicht schon zuerst nicht gemocht hätte. Er hatte von Anfang an eine Abneigung gegen ihn – er bellte und starrte ihn böse an, wann immer er ins Zimmer kam. Später fanden wir heraus, dass Peanut alle Männer hasste, und wir fragten uns, ob ihm vor seiner Zeit im Tierheim etwas Schlimmes zugestoßen war, das ein Trauma hinterlassen hatte.
Aber meine Mom vergötterte ihn in jedem Fall. Er war acht Kilo pure Niedlichkeit – eine Art Malteser-Havaneser-Pudel-Shih-Tzu-Mischling. Wenn Leute stehen blieben, um uns nach seiner Rasse zu fragen, was sie oft taten, weil er buchstäblich der niedlichste Hund der Welt war, dann sagten wir einfach »texanische Flauschkugel«. Als wäre das eine anerkannte Rasse.
Meine Mom liebte es, ihn in Norwegerpullis und Hunde-Bomberjacken zu stecken. Wenn mein Dad etwas davon brummte, dass es »demütigend« für den Hund sei, Menschenkleider zu tragen, drückte sie Peanut an sich und sagte: »Du bist doch nur eifersüchtig.«
Meine Mom starb später im selben Jahr, und ich glaube, danach hat mein Dad Peanut nie mehr auch nur angesehen. Peanut blieb in meinem Zimmer und ging mit mir überallhin. Ich besorgte mir einen Nachmittagsjob in einer Tierhandlung und gab viel von meinem Gehalt für Spielzeug und Leckerli für ihn aus. Von da an waren wir völlig unzertrennlich.
Bis auf die zwei Jahre, in denen ich weggeschickt worden war.
Aber darüber sprachen Peanut und ich nicht.
Als ich jetzt neben Peanut saß – während meine Gedanken rasten und ich versuchte, diese neue Realität in mich aufzunehmen –, spürte ich zum ersten Mal seit einer Weile wieder die bittere Sehnsucht, die sich stets einschlich, wenn ich meine Mom wirklich vermisste. Sie stand abseits von allen anderen Gefühlen, feucht und kalt – als wäre meine Seele nassgeregnet worden und wollte einfach nicht trocknen.
Meistens versuchte ich, einfach dankbar für die Zeit zu sein, die ich mit ihr gehabt hatte.
Ich wusste, dass ich so viel Glück gehabt hatte.
Jeden Sonntag hatte sie einen Strauß Blumen im Laden gekauft. Dann hatte sie jeden Morgen eine der Blumen abgeschnitten und sich hinters Ohr gesteckt. Ich habe keine Erinnerung an meine Mom ohne eine Blume hinter ihrem Ohr.
Sogar an dem Tag, an dem wir sie begraben hatten.
Hier in meinem Kabuff, auf meinem kleinen Zweisitzersofa, spürte ich eine Sehnsucht nach meiner Mom, die so heftig war, dass es sich anfühlte, als füllte sie meine Lungen aus. Wenn sie hier gewesen wäre, dann hätte ich den Kopf an ihre Schulter gelehnt, und sie hätte mir das Haar gestreichelt. Ich hätte mein Ohr auf ihre Brust gelegt, beruhigt durch den Rhythmus ihres Atems. Und dann hätte sie mich fest in die Arme genommen, damit ich sicher wüsste, dass ich nicht allein war.
Denn das war das Essenziellste an meiner Mom. Sie konnte nicht alles für mich in Ordnung bringen, aber sie war immer da.
Bis zu dem Tag, an dem sie es nicht mehr war.
Ich fragte mich gerade, ob ich mich je in meinem Leben schon so allein gefühlt hatte, als ich eine Nachricht von meinem Vater bekam.
Ich bekam nie Nachrichten von meinem Vater.
Ich hatte nicht mal gewusst, dass er meine Kontaktdaten hatte.
Aber das Handy piepste, und da stand es auf dem Display: Hier ist Dad. Ich bin vor deinem Gebäude. In welchem Apartment bist du? Ich komme rauf.
Moment mal – vor meinem Gebäude?Er wollte raufkommen? War er nicht in Singapur?
Bist du nicht in Singapur?, schrieb ich.
Ich bin wieder zurück.
Oh nein. Er würde nicht raufkommen. Ich tat seit Jahren vor ihm so, als wäre ich erfolgreich. Auf keinen Fall würde ich ihn die Wahrheit über mein Leben sehen lassen.
Ich komme runter, schrieb ich.
Ich muss mit dir reden. Unter vier Augen.
Warte unten.
Bevor er widersprechen konnte, wurde ich aktiv. Er würde nicht hier raufkommen.
Ich hatte mich bereits bettfertig gemacht. Es war diese Art von Tag gewesen. Aber ich warf mir meinen Lieblings-Baumwollbademantel mit Batikmuster um – der mal meiner Mom gehört hatte –, schlüpfte in flauschige Pantoffeln und machte mich auf den Weg zum Flur des obersten Stockwerks, wobei ich, sagen wir mal, nicht gerade bereit für die Primetime aussah.
Ich schlüpfte in den Aufzug, gerade bevor sich die Türen schlossen, und bemerkte erst, als ich mich umdrehte, dass noch jemand mit mir hier drin war.
Ich konnte nicht mehr sehen als seinen Rücken und die Rückseite seines Baseball-Caps, aber das reichte.
Er war in sich zusammengesunken und lehnte sich von mir abgewandt an die vordere Ecke, als wäre sie das Einzige, was ihn aufrecht hielt. Er trug eine Vintage-Bowlingjacke im Stil der Fünfziger, wie sie Hipster gern im Secondhandladen finden. Aber er wirkte nicht wie ein Hipster. Und die Jacke wirkte auch gar nicht so vintagemäßig. Eher wie eine neue Version einer alten Jacke?
Wer machte so was?
Ich wollte ihn gerade bitten, für mich auf den Knopf für die Lobby zu drücken, als mir bewusst wurde, dass er ihn erstens schon gedrückt hatte, und zweitens, dass er damit beschäftigt war, mit jemandem zu telefonieren.
»Oh mein Gott, sie ist so fett«, sagte er zu seinem Handy, definitiv mit dem Vibe, dass er keine Ahnung hatte, dass ich anwesend war. »Ich dachte, dass sie schwanger sein muss, aber nein. Sie ist einfach nur unglaublich übergewichtig.«
Ich spürte, wie mein Gesicht eine Ähm-was?-Miene machte.
»Ernsthaft«, fuhr er fort. »Das ganze Bett hing auf ihrer Seite durch. Fifty-fifty, dass sie die Sprungfedern kaputtgemacht hat. Guinnessbuch-verdächtiger Bauchspeck, ich schwör’s. Und sie gibt dieses Schnaufen von sich, als würde sie keine Luft kriegen. Saukomisch.«
Saukomisch? Was zum Teufel war das für eine Unterhaltung?
Er fuhr fort. »Wieder mal ein One-Night-Stand. Großer Fehler. Riesenfehler. Sie hat die Laken zerrissen. Diese Krallen. Ohne Witz – ich muss vielleicht wirklich genäht werden. Aber was hätte ich tun sollen? Sie hat mir in den Wohnungsflur gekotzt.«
Okay. Jetzt hatte er meine Aufmerksamkeit.
»Ich weiß«, fuhr er fort, immer noch in voller Lautstärke. »Aber dann, fünf Minuten später, hängt sie wieder rammelnd an mir dran – genau wie in der Tiefgarage. Ich glaube, ich habe mir was gezerrt.« Er lehnte den Kopf an die Wand des Aufzugs. »Ich habe versucht, sie aus dem Bett zu werfen«, sagte er als Nächstes, »aber sie kam einfach immer wieder rein. Und, oh Gott, was für Geräusche die von sich gibt.«
Das muss die schlimmste Unterhaltung sein, die ich je belauscht habe. Wer redete so? Ich gab nur ungern zu, so naiv zu sein, aber mir war nie auch nur in den Sinn gekommen, dass solche schrecklichen Unterhaltungen überhaupt stattfanden.
Wer war dieser Kerl? Was für ein Wiesel.
Ich musterte ihn von oben bis unten nach identifizierbaren Merkmalen. Aber da gab es nicht viel zu sehen, so, wie er von mir abgewandt in der Ecke kauerte. Seine Haare waren irgendwie braun. Von der Statur her war er irgendwie groß. Das einzig Markante an ihm war diese Bowlingjacke. Rot und weiß mit aufgestickter kursiver Schrift.
Er redete immer noch. »Ja, ich komme von der Arbeit nach Hause, und sie liegt immer noch im Bett. Also ist es jetzt ein Two-Night-Stand. Außerdem hat sie diese Sache gemacht, wo sie ihren fetten Hintern mitten auf die Matratze gepflanzt und sich dann auf mein Gesicht gewälzt hat. Ich wäre beinahe erstickt, ich schwör’s – unter einem Berg aus Schwabbelspeck.«
Einem Berg aus Schwabbelspeck???
Habe ich das gerade wirklich gehört?
Ich starrte die Rückseite der nichtssagenden Baseballkappe dieses wieseligen Kerls jetzt offen und unverhohlen an.
Was zum Teufel sollte das? Wer dachte solche Dinge überhaupt über jemanden, mit dem er gerade die Nacht verbracht hatte, geschweige denn, sprach sie laut aus?