Helvetias Töchter - Nadine A. Brügger - E-Book

Helvetias Töchter E-Book

Nadine A. Brügger

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Beschreibung

Hélène, Emerita, Luisa, Véronique, Elsa, Thea, Inez und Amara. Sie sind keine Leuchtgestalten der feministischen Bewegung, sondern gewöhnliche Frauen. Sie entstammen verschiedensten gesellschaftlichen Schichten und leben in unterschiedlichen Kantonen und zu unterschiedlichen Zeiten. "Helvetias Töchter", das Buch der Historikerin und Journalistin Nadine A. Brügger, erzählt nicht die Geschichte zum Frauenstreik und Frauenstimmrecht, sondern deren acht. Wir begleiten die fiktiven Frauenfiguren auf dem langen Weg zum Stimmrecht und zur Gleichstellung, während einer Zeitspanne von 1846 bis 2019. Im Jahr 2021 feiert die Schweiz 50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht. Am 14. Juni jährt sich zudem der erste Schweizer Frauenstreik zum 30. Mal. Um zu verstehen, warum gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, Elternzeit oder ausgeglichene Geschlechteranteile in Führungspositionen noch immer unerfüllte Forderungen sind, braucht es den Blick zurück. Nur, wenn wir verstehen, warum die Schweiz so lange brauchte, um das Frauenstimmrecht einzuführen, können wir verstehen, warum dieses Land sich noch immer schwer tut darin, seine Frauen und Männer gleichwertig zu behandeln.

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Hélène, Emerita, Luisa, Véronique, Elsa, Thea, Inez und Amara sind keine Leuchtgestalten des Feminismus, sondern ganz gewöhnliche Frauen – aus unterschiedlichen Epochen, Gesellschaftsschichten und Regionen. Anhand dieser fiktiven Frauenbiografien erzählt die Historikerin und Journalistin Nadine A. Brügger den langen Weg zur Gleichstellung in der Schweiz nach und macht ihn somit unmittelbar erlebbar – und zwar über eine Zeitspanne von 1846 bis 2019.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Verlag und die Autorin bedanken sich für die freundliche Unterstützung bei

und der Cassinelli-Vogel-Stiftung

Gedruckt mit Unterstützung der Ulrico Hoepli-Stiftung, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2021, Arisverlag

(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH) Schützenhausstrasse 80

CH-8424 Embrach

www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch

Umschlag und Satz: Lynn Grevenitz | www.kulturkonsulat.com

Foto: Privatarchiv Nadine A. Brügger

Lektorat: Katrin Sutter & Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.

Korrektorat: Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.

Druck: CPI books GmbH | www.cpibooks.de

ISBN Print: 978-3-907238-15-8

E-Book: CPI books GmbH, Leck | www.cpibooks.de

ISBN E-Book: 978-3-907238-17-2

Inhalt

Hélène Zürich & Genf, 1846 – 1868

Emerita Arosa, 1915 – 1919

Luisa Zürich, 12.–14. November 1918

Véronique Bern & Genf, 1928 – 1929

Elsa Schaffhausen, 1938 – 1945

Thea Unterbäch, 1957 – 1959

Inez Basel, 1968 – 1971

Amara Bern, 2017 – 2019

Nachwort

Dieses Buch ist den Frauen gewidmet.

Hélène

Als die Schweiz zur egalitärsten Demokratie der Welt wurde – für Männer. Die Geschichte einer jungen Frau, die mehr will, als sie darf.

Als Maya von Steig, geborene Bleuler, ein gesundes Mädchen zur Welt brachte, war sie enttäuscht. Gesund war gut – aber ein Junge wäre besser gewesen. Seit der Hochzeit hatte die Schwiegermutter auf einen Fehltritt gewartet. Von ihr, Maya Bleuler, die den letzten Spross der von Steigs geheiratet hatte. Ein Berner Patriziersohn, verführt von einer bürgerlichen Zürcherin. Ausgerechnet. Das hatte zu reden gegeben. Jetzt war er also da, der Fehltritt: ein Mädchen – und es sollte noch schlimmer kommen. Hélène Sophie war ein ärgerliches Kind und die Jahre machten sie nicht besser. Sie wuchs zu einer ärgerlichen jungen Frau heran, die ärgerliche Dinge tat.

Davon aber ahnte Maya von Steig an diesem Februarmorgen noch nichts. Die Hebamme führte mit ruhiger Stimme und geübten Handgriffen durch die Geburt, der Hausarzt war zu spät dran und Maya brüllte ihren Schmerz in immer kürzeren Abständen Richtung Decke. Nach sieben Stunden war endlich eine dritte Stimme zu vernehmen. Runzlig und schrumpelig hatte ein gesundes Mädchen sich an das Licht der Welt gekämpft. Die Hebamme durchtrennte die Nabelschnur, wusch das Kind und legte es eingewickelt in weißes Leinen an die Brust der Mutter. Maya war selig. Die Enttäuschung kam erst später. Der Hausarzt traf wenige Minuten vor dem Hausherrn ein. Er informierte Johann Gottlieb von Steig über die Geburt seines ersten Kindes: Mutter und Tochter seien wohlauf. Johann Gottlieb lugte durch die Tür, küsste seine Frau auf die abgetupfte Stirn und betrachtete das Kind, das die Hebamme ihm auf Augenhöhe präsentierte. Zögerlich fuhr er mit seinem tintengeschwärzten Finger über die Händchen und das Näschen. Er hatte nicht gewusst, dass der Mensch so klein begann, Mensch zu sein. Seine Finger fuhren über den schwarzen Flaum auf dem Kopf des Kindes und die Runzeln auf der Stirn. Eindeutig eine von Steig, befand er dann, dem Urgroßvater wie aus dem Gesicht geschnitten. Dann küsste er seine Frau erneut auf die Stirn, fühlte sich überflüssig in dem schlecht gelüfteten Raum und zog sich in sein Studierzimmer zurück. An seine Stelle trat die Schwiegermutter, eben zurück von einem ihrer Treffen mit den Kirchenfrauen, deren Vorsitz sie innehatte.

«Ein Mädchen», sagte sie kalt, «ein Mädchen leistet man sich zuletzt. Wenn die Linie gesichert ist, wenn man Buben auf die Welt gestellt hat. Ist dir bewusst, Maya, dass unser Geschlecht ausstirbt, wenn du keinen Buben gebierst? Ein Mädchen nützt uns erst, wenn wir wissen, dass wir bestehen bleiben. Dann lohnt es sich, das Kind gut zu erziehen und zu verheiraten. Wir nennen sie Hélène, hoffentlich wird sie zumindest hübsch. Zum Glück bist du noch jung und kannst noch oft schwanger werden.»

Tatsächlich sollte Maya noch viermal schwanger werden. Ein Kind verlor sie mit viel Blut und Schmerzen, kurz nachdem sie gemerkt hatte, dass sie guter Hoffnung war. Ein Kind, wieder ein Mädchen, starb kurz nach der Geburt. Maya gab sich Mühe, das Gute darin zu sehen. Und dann, erst dann, waren sie endlich da: die Buben. Erst kam Alfred Johann, ein Jahr später Viktor Emil. Und nach den beiden Jungen kamen bald auch die ersten Hauslehrer. Hélène, die Erstgeborene, wurde mitunterrichtet – das nütze zwar wenig, meinte der Vater, schade aber auch nicht. Kein Jahr nachdem der letzte Hauslehrer die Villa von Steig verlassen hatte, sollte Johann Gottlieb von Steig eines Besseren belehrt werden.

«Rechtswissenschaften», sagte Hélène ruhig. «Als Hörerin. Du weißt ja, dass die Universitäten keine Frauen zum Studium zulassen.1 Aber dasitzen und zuhören dürfen wir. Und es nützt mir doch, wenn ich verstehe, wie unser Bundesstaat aufgebaut ist, was in unserer Verfassung steht und wie unsere Gesetze funktionieren. Damit kann man etwas anfangen, Vater.» Noch ehe dieser etwas sagen konnte, fügte sie an: «Und Servietten hat Maman so viele bestickt, dass es für die nächsten zwei Generationen reicht. Bevor sie gestorben ist, hat sie mir alles gezeigt, was eine Haushälterin können muss.»

Hélène, die alle nur Héli nannten, gab sich Mühe, das Wort «Haushälterin» so neutral wie möglich auszusprechen. Natürlich würde sie nie eine Haushälterin werden – wenn schon, würde sie eine anstellen. Sie war eine von Steig, sie würde gut heiraten. Aber auch in reichen Familien war Bildung bei Frauen nur so weit erwünscht, wie sie der Unterhaltung des Gatten und der feinen Gesellschaft diente. Kaum einer wollte eine Frau mit einer Meinung.

Aber Hélène hätte sich die Vorsicht sparen können. Der Vater sah sie traurig an.

«Mamans Tod setzt dir noch immer zu», sagte Johann Gottlieb und Hélène war erstaunt ob der Wärme in der Stimme ihres Vaters. «Ich verstehe, dass du Ablenkung suchst und nicht den ganzen Tag hier sein willst, wo alles an sie erinnert.» Einen Augenblick lang schaute der alte Mann sie nachdenklich an. Dann nickte er und murmelte, mehr zu sich selbst: «Ja, es ist an der Zeit.» Und lauter: «Ich werde mit einigen Leuten sprechen.»

Mit diesen Worten war Hélène entlassen. Sie knickste vor dem Schreibtisch ihres Vaters und ging. Nachdem die Tür zum Studierzimmer hinter ihr ins Schloss gefallen war, jubelte sie. Einen Abschluss würde sie nicht machen können, das war Hélène klar. Ihr Studium wäre nichts wert, im Gegensatz zu jenem ihres Bruders Alfred, der sich vor einem halben Jahr an der Juristischen Fakultät eingeschrieben hatte. Alfred selbst wollte weder Rechtsgelehrter noch Anwalt werden. Der Vater sah das allerdings anders.

«Das alles gehört irgendwann dir», sagte er manchmal und meinte damit die Lagerhalle in Genua voll wertvoller Ware. Die Schiffe, die von Europa in die Neue Welt fuhren, und die ledergebundenen Wälzer, in denen der Vater Buch führte über Ein- und Verkäufe. All das geschah, ohne dass die Ware jemals bis nach Zürich kam. Stattdessen reiste der Vater oft über den Gotthardpass bis Genua, um nach dem Rechten zu sehen. Alfred machte der Gedanke Angst, das alles einst zu besitzen. Die Verantwortung für all das zu übernehmen, was sein Vater aufgebaut hatte. Lieber mochte er reisen, die Länder sehen, aus denen die exotischen Waren kamen. Von dort berichten, schreiben, entdecken – frei sein von all den Erwartungen. Dem Vater sagte Alfred das nicht, der Schwester schon.

«Ach Héli, wie einfach alles wäre, wenn du und ich einfach tauschen könnten», sagte er einmal leise. Da lachte Hélène.

«Du würdest also lieber den ganzen Tag allein im Haus sitzen und darauf warten, dass dein Ehemann zu dir nach Hause kommt?»

«Ich würde tagein, tagaus Kaffeekränzchen halten.» Hélène schaute böse, doch Alfreds Grinsen war rasch wieder verschwunden und er sagte: «Wenn ich wüsste, dass ich damit nicht den Ruf der ganzen Familie aufs Spiel setze, dann würde ich verschwinden.»

Das war einfach so dahingesagt. Und doch fürchtete Hélène manchmal, der Bruder könnte genau das tun. Es wäre ihm zuzutrauen. Dann bliebe ihr nur noch Viktor. Lieb war er, aber etwas langsam im Kopf. Hélène hatte mit ihrem jüngsten Bruder oft Schule gespielt: Sie war der Professor, er ihr Schüler. Als strenger Professor ließ Hélène ihren Schüler Vokabeln pauken und rügte ihn, wenn er die Mathematik-Aufgaben falsch löste. Hier und da zeigten die strengen Stunden mit Professor Héli tatsächlich Erfolg – dann waren die Hauslehrer sehr zufrieden mit sich. Sie wussten ja nichts von den Extrastunden. Aber als Maman hinter die Schulspielchen kam, wurde sie wütend. Sie nahm ihre Tochter zur Seite und las ihr ausführlich die Leviten. Wie all die anderen Male auch schon. Als Hélène am Schreibtisch des Vaters Rechnungen für die Nachbarskinder geschrieben hatte, denen sie in beratender Funktion beim Bau von Indianerdörfern und Ritterburgen geholfen hatte, etwa. Oder als sie in Alfreds Kleidern zum Neujahrsempfang gekommen war.

«Es ziemt sich einfach nicht», hatte Maman dann immer gesagt und Hélène ein bisschen streng und ein bisschen enttäuscht angeschaut. Wieso nur bin ich mit einer Tochter gestraft, die das nicht einsieht, hatten ihre Augen gefragt und Hélène hatte sich schlecht gefühlt. Nicht weil sie nicht einsah, was sich ziemte und was nicht. Sondern weil diese Dinge für Jungen und Mädchen verschiedener Art waren. Hélènes treuer Partner in allen Unterfangen war Alfred. Ihn aber nahm Maman nie zur Seite. Wäre Maman noch da, hätte Hélène mit ihrem Wunsch, als Hörerin an die Universität zu gehen, die schlechtesten Karten gehabt. Denn natürlich ziemt es sich für eine junge, unverheiratete Frau nicht, mit lauter Männern in einer Vorlesung über Ökonomie zu sitzen.

Hélène freute sich schon, Alfreds Gesicht zu sehen, wenn sie ihm von Vaters möglichem Ja erzählte. Am Abend war es dann allerdings Alfred, der eine Überraschung für seine Schwester hatte.

«Ich treffe mich morgen mit dem Sohn von Großrat Furrer zum Abendessen. Papa hat das eingefädelt, ich glaube, er will irgendein Geschäft durchbringen. Jedenfalls meinte er, du sollst mich begleiten, das wäre gut für dich. Der Sohn, Eugen heißt er, glaube ich, studiert auch Rechtswissenschaften. Allerdings ist er ein paar Semester über mir. Er schließt schon bald ab.»

Hélène strahlte – ihr Vater hatte also ein Treffen mit einem Studenten eingefädelt, der ihr alles über ihr auserwähltes Studienfach würde erzählen können. Und dann erst noch in einem Restaurant. Was für ein wunderbarer Tag das doch war. Und der nächste Abend sollte noch besser werden.

In den goldenen Kronleuchtern des Restaurants brannten Kerzen, in den Augen der Gäste die Neugier, als Alfred und Hélène den getäfelten Speisesaal betraten. Der Maître de Service persönlich geleitete die beiden zu ihrem Tisch. Die Blicke der Männer, die heute hier speisten, folgten Hélène. Sie war die einzige Frau im Raum. Eugen, der bereits gewartet hatte, stand rasch auf, küsste Hélène die Hand und rückte ihr den Stuhl zurecht. Er war ein hübscher, etwas steifer junger Mann. Auf einige Fragen nach dem Befinden der jungen Dame und der lieben Familie folgte die Vorspeise. Zarte Gänseleber mit in Butter gebratenen Radieschen. Eugen und Alfred erzählten von ihren Vätern und deren Geschäften und Interessen. Eugen entspannte sich sichtlich. Nach dem Hauptgang aber schüttelte Hélène den Kopf.

«Wir sind doch eigenständige Menschen, die selbst etwas zu erzählen haben. Lasst die Väter mal in Frieden!»

Die beiden jungen Männer lachten und das Gespräch wandte sich in Richtung Politik. Man sprach über den vor etwas mehr als einem Jahrzehnt gegründeten Bundesstaat. Alfred und Hélène hatten Verwandte in Bern. Ihr Vater war ein Kind des Berner Patriziats und erst kurz vor der Gründung des Bundesstaates als Geschäftsmann nach Zürich gekommen. Einer seiner Cousins ersten Grades war in den Fünfzigerjahren beim Bau des Bundes-Rathauses2 maßgeblich beteiligt gewesen.

«Das erzählt er zumindest gerne», sagte Hélène und Eugen lachte herzlich. Von Bern verlagerte sich das Gespräch nach Zürich, zu einem Anwalt namens Friedrich Locher.3 Eugen hatte schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht, als er einen Sommer lang bei ihm hospitierte.

«Der Mann hat eine solche Wut auf Zürich», sagte Eugen.

«Und auf Escher», fügte Alfred hinzu. «Meine Kommilitonen und ich haben uns auch schon über ihn unterhalten. Ich glaube, er gibt Alfred Escher und den Zürcher Liberalen ganz persönlich die Schuld daran, dass er selbst derart dilettantisch agiert. Wieso hast du denn ausgerechnet bei ihm hospitiert?» Alfred war fließend vom Sie zum Du übergegangen, Eugen schien sich daran nicht zu stören.

«Ich wollte einmal etwas anderes sehen. Die Gesellschaft aus den liberalen Kreisen meines Vaters kenne ich. Ich weiß, wie diese Männer politisch denken und handeln, und ich weiß, wie sie arbeiten. Locher ist politisch eher bei den Demokraten angesiedelt. Dieser erfolglose Haufen, der sich vor allem in Winterthur zusammengerottet hat. Aber ehrlich gesagt», Eugen senkte die Stimme, als würde er etwas Verbotenes sagen, «einige ihrer Ideen und Gedanken finde ich gut. Wir leben in einer Demokratie, die Allgemeinheit, das Volk – und damit meine ich eben auch die Bauern und Handwerker und all jene, die keinen Bekannten im Zürcher Kantonsrat sitzen haben – sollte mehr Mitsprache haben. Escher und seine Ideen tun unserem Land und unserer Stadt gut, die Kreditanstalt, die er gegründet hat, die Eidgenössische Technische Hochschule und sein Drängen auf bessere Eisenbahnverbindungen durch die Schweiz – er hat mit allem recht. Aber man kann den Leuten die Modernisierung doch nicht einfach aufzwingen. Man muss sie schon mitreden lassen.»

«Alle Leute muss man mitreden lassen?», fragte Hélène.

«Ja, selbstverständlich alle Leute», bestärkte Eugen.

Auf Alfreds Gesicht zeigte sich eine Mischung aus Mitleid für Eugen und Vorfreude auf die kommende Diskussion. Er wusste genau, worauf seine Schwester hinauswollte. Eugen hingegen lief mit stolz geschwellter Brust ins offene Messer.

«Also auch Tagelöhner und Arbeiter?», fragte Hélène weiter.

Eugen nickte und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

«Und außer den Christen auch die Juden?»

Eugen nickte erneut. «Alle Menschen sollen in der Schweiz mitbestimmen können. Alle sollen die Möglichkeit haben, ihre Heimat mitzuformen und etwas Großes aus unserem kleinen Land zu machen. Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter, ich sage: Es ist nicht nur ihr Recht, ihren Teil beizutragen, es ist auch ihre Pflicht. Unser Land kann nur prosperieren, wenn verschiedene Perspektiven gesehen und verschiedene Meinungen gehört werden. Wenn sich alle beteiligen. Ich bin auch für die Volksinitiative. Meiner Meinung nach war es 1848 ein großes Versäumnis, dass sie nicht Eingang in die Bundesverfassung gefunden hat. Denn nur so können alle Bevölkerungsschichten teilhaben an der Entwicklung der Schweiz und Einfluss nehmen auf die Welt, in der sie leben. Und nur so strengen sich doch alle an, das Beste daraus zu machen. Weil sie wissen, dass sie selbst etwas verändern können. Aber da finde ich bei meinem Vater und seinen Ratskollegen nur wenig Verständnis. Darum haben mich die Ideen der Demokraten immer wieder fasziniert. Die setzen sich genau dafür ein. Dafür, dass alle Menschen tatsächlich gleich werden.»

«Auch die Frauen?», fragte Hélène.

Eugen schaute sie einen Augenblick erstaunt an.

«Die Frauen?», fragte er dann zurück, das Lächeln in seinem Gesicht war verschwunden. Er maß Hélène mit seinem Blick, als wollte er herausfinden, ob sie das ernst meinte oder ihn nur testen wollte.

«Du sagst, alle Menschen sollen tatsächlich gleich sein, alle Menschen sollen mitbestimmen können. Da frage ich mich natürlich: Wenn wir davon ausgehen, dass wir Frauen auch Menschen sind – plädierst du etwa für die Anliegen der Suffragetten?»

Eugen blickte unsicher zu Alfred. Der zuckte nur die Schultern. Er wollte sehen, wie Eugen sich aus der Situation befreite, in die er so gönnerhaft lächelnd hineingestolpert war.

«Du meinst die Engländerinnen, die das Stimm- und Wahlrecht für sich beanspruchen? Das ist doch aber nur eine ganz kleine Gruppe von Frauen. Die Mehrheit will das auch in England nicht.»

«Lösen wir uns von England, wir sind hier ja schließlich mitten in Europa. Denkst du, wenn alle Menschen gleich sind, müssten Frauen die gleichen Rechte und Pflichten haben wie die Männer?», fragte Hélène.

«Auch die gleichen Pflichten», wiederholte Eugen aufgeschreckt. «Nein, die gleichen Pflichten auf keinen Fall! Sie müssten dann ja in die Armee eintreten. Nein, das möchte ich nicht. Das wäre unmenschlich. Aber vielleicht gäbe es eine andere Art der Wehrpflicht, die für Frauen besser geeignet wäre. Ich weiß es nicht, ich, also, ehrlich gesagt kenne ich die Beschaffenheit der Frauen nicht gut genug, um genau zu wissen, wie sie einsetzbar wären.» Ein Hauch von Rot stahl sich auf Eugens Wangen.

«Wir Frauen kennen unsere Beschaffenheit gut genug. Man müsste uns aber mitreden lassen, damit wir unser Wissen beisteuern könnten. Man müsste uns also als Menschen behandeln, genau wie die Juden und die Bauern. Findest du nicht, Eugen?»

«Nun, jede Frau hat ja irgendwann einen Mann. Und er kann ja entscheiden. Eine schöne Ehe stelle ich mir so vor, dass die Eheleute sich beraten und der Mann vielleicht in gewissen Fragen auch auf die Frau hört.» Aus Eugens Stimme war jegliche Überzeugung gewichen.

«Wäre es nicht eine schöne Ehe, wenn zwei gleichberechtigte Menschen sie eingingen? Wenn sie sich berieten, damit danach beide ihre eigene Entscheidung treffen könnten? Unabhängig voneinander? Statt dass der Mann sich einfach eine kostenlose Haushälterin4 ins traute Heim heiratet.»

Als Hélène von Ehe sprach, wurde Eugens Gesicht noch etwas röter. Hilfesuchend blickte er zu Alfred.

«Ich halte es in dieser Hinsicht ganz genau gleich wie der Herr Journalist Leuthy, der schrieb: Weiber sind Menschen und als solche stehen ihnen die genau gleichen Rechte zu wie allen anderen Menschen in der Schweiz»,5 sagte dieser, hob sein Glas und prostete der Schwester zu.

Eugen schien mit sich zu ringen. Dann aber hob auch er sein Glas: «Von Steigs, ihr seid fortschrittlicher als Escher und seine Liberalen und konsequenter als alle Demokraten, die ich bisher kennengelernt habe!»

Hélène und Alfred kehrten in aufgekratzter Stimmung und nach der ausgemachten Stunde heim. Der Vater war noch wach. Er zitierte die jungen Menschen in sein Studierzimmer und wollte wissen, ob die Herrschaften einen schönen Abend verbracht hatten und was der Sohn vom Furrer für einer sei.

«Ungefestigt, aber charmant», sagte Hélène leichthin.

«Hat er dir von seinem Studium erzählt? Davon, wie anstrengend das alles ist?», fragte ihr Vater.

«Das hat er, ja. Jetzt freue ich mich umso mehr, bald auf der Hörerbank zu sitzen.»

Mit dem, was daraufhin geschah, hätten weder Hélène noch Alfred gerechnet. Johann Gottlieb von Steig schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch. Einmal, zweimal, dreimal.

«Hélène Sophie von Steig», der Vater klang wütend und ungeduldig, als hätte er diese Diskussion schon zu oft führen müssen, «du wirst nicht studieren. Du wirst keine weitere Bildung mehr bekommen. Du bist bereits bestens ausgebildet für das, was auf dich wartet. Nun wirst du tun, wozu du geboren wurdest: Du wirst heiraten und eine gute Ehefrau sein. Eine gute Mutter.»

Hélène starrte ihren Vater fassungslos an. Hatte er nicht gesagt, er verstehe, dass sie Abwechslung brauche? Hat er nicht auch verstanden, dass sie zu mehr fähig war als nur zur Haushaltsführung? Hatte er sie nicht genau deswegen zu dem Treffen mit Eugen Furrer mitgehen lassen, damit sie vorbereitet wäre auf die Universität? Was hatte zu diesem Sinneswandel geführt?

«Du bist viel zu jung, du weißt nicht, was gut für dich ist. Aber du wirst sehen, mit dem richtigen Mann an deiner Seite wirst du ein erfülltes Leben haben, glaub mir. Deine Mutter hätte es so für dich gewollt», fügte Johann Gottlieb mit ruhiger Stimme an und blickte seiner Tochter ins Gesicht. Doch Hélène war noch nicht bereit, aufzugeben.

«Heiraten, Kinder bekommen, sticken und die Haushaltung führen. Wenn du das als so erfüllend empfindest, warum machst du das alles nicht selbst? Du hast Kinder und ein Haus, warum kümmerst du dich nicht darum? Warum verbringst du den ganzen Tag mit deinen Geschäften und überlässt diese ach so erfüllende Arbeit deinen Angestellten? Bist du ein so großzügiger Mann? Oder bist du vielleicht einfach ein Lügner?»

«Raus», sagte ihr Vater, mehr müde als wütend. Bevor Hélène noch etwas erwidern konnte, hatte Alfred sie bereits am Arm gepackt und aus dem Zimmer gezogen. Hélène schüttelte ihn ab und verschwand ohne einen einzigen weiteren Blick für ihren Bruder in ihrem Zimmer. Sie fühlte sich verraten und hilflos und ohnmächtig bei dem Gedanken, dass die Zukunft, die ihr Vater für sie plante, einst tatsächlich Realität werden könnte. Denn wer entschied, was mit ihr passierte, war einzig und allein ihr Vater. Und irgendwann ihr Mann. Wenn keiner von beiden einwilligte, würde sie niemals studieren oder arbeiten können. So war das Gesetz. Drei Tage lang blieb Hélène in ihrem Zimmer. Weder das Poltern ihres Vaters noch das gute Zureden des Bruders holten sie aus dem abgrundtiefen Schacht, in den ihr Geist gefallen war.

Nur Hanni, dem Zimmermädchen, öffnete Hélène die Tür. Sprechen wollte sie nicht, aber sie nahm die warme Milch, die Hanni ihr brachte. Dann, am dritten Tag, traf sie eine Entscheidung. Sie schickte Hanni zu Alfred, der bald darauf mit besorgter Miene in ihrem Zimmer stand.

«Sprichst du wieder?», fragte er.

«Von jetzt an werde ich nicht mehr schweigen», sagte Hélène und erklärte ihm ihren Plan.

Er verstand sie. Aber es machte ihm Angst. Hélène wollte studieren, hinter dem Rücken des Vaters. Sie wollte eine Arbeit finden, so schnell wie möglich. Als Frau, als von Steig, in Zürich. Alfred wusste jetzt schon, dass schwere Zeiten auf die Schwester warteten. Und dann wollte sie verschwinden. In die Welschschweiz oder über die Grenze nach Deutschland, oder nach England – oder nach Amerika. Hauptsache, weg aus Zürich und außer Reichweite des Vaters.

«Du musst mir helfen, Alfred. Du musst! Vater ist imstande, mich mit dem nächstbesten Mann zu verheiraten. Dann bin ich verloren.»

Die Tür zum Büro des Dekans fiel ins Schloss. Hélènes Schritte hallten klar und hell durch den Gang, als sie neben Alfred zum Auditorium Maximum lief, ihrer ersten Vorlesung entgegen. Das Einschreiben war Hélène beinahe zu schnell gegangen. Ihr Reife- und Sittenzeugnis hatte der Dekan gar nicht sehen wollen. Wichtig war ihm Alfreds Unterschrift, die stellvertretend für den außer Landes weilenden Vater beglaubigte, dass dieser Hélène den Besuch der Universität erlaubte. Nun, nachdem ihr kleiner Bruder für sie unterschrieben hatte, war Hélène also Teil der Juristischen Fakultät. Als sie bemerkte, wie schnell das doch alles gegangen sei, erklärte der Dekan mit einer fahrigen Handbewegung: «Bei den richtigen Studenten ist das auch etwas umfassender. Aber Sie sind ja nur Hörerin, Fräulein. Da konnten wir einiges überspringen.»

Es hatte Hélène einen Stich versetzt, dieses «nur Hörerin», aber mit jedem Schritt Richtung Vorlesung spürte sie den Stich weniger. Der Saal war gefüllt mit adrett gekleideten jungen Männern. Sie redeten, sie blickten ernst, sie gestikulierten – und jeder Einzelne maß Hélène oben bis unten. Hélène war eine auffällige Erscheinung. Sie trug ihr dunkelrotes, hüftlanges Haar halb hochgesteckt, sodass die Locken ihr tief in den Rücken fielen. In Frankreich war das gerade die neueste Mode. Dazu ein lindgrünes Kleid, hochgeschlossen und in der Taille eng geschnürt. Eine Frau, wie sie die jungen Männer so oder so nicht alle Tage zu Gesicht bekamen. Geschweige denn an der Universität. Hélène schaute sich um. Keine einzige andere Frau saß auf den Holzbänken. Dafür erkannte sie ganz vorne ein bekanntes Gesicht: Eugen Furrer.

«Eugen assistiert dem Professor, der diese Vorlesung hält. Er ist also der zweitwichtigste Mann im Raum», sagte Alfred mit dem Anflug eines spöttischen Grinsens in den Augen. Als Eugen die Geschwister von Steig sah, nickte er und lächelte. Hélène hob die Hand zum Gruß. Dann setzte sie sich weit hinter Alfred auf eine der leeren Holzbänke, lauschte dem Professor und machte Notizen.

Aus einer Vorlesung wurden viele. Auf den Gängen traf Hélène hier und da andere Frauen, Gasthörerinnen wie sie. Allerdings ausnahmslos aus dem Ausland. Frauen aus der Zürcher Gesellschaft oder aus einer anderen Schweizer Stadt traf Hélène keine. Sie verbrachte viele Stunden in der Bibliothek. Sie las und las und mehrmals vergaß sie die Zeit und wäre um ein Haar zu spät nach Hause gekommen. Allzu schlimm wäre das allerdings nicht gewesen. Der Vater weilte noch immer im Ausland und Hélène hielt Hanni, das Hausmädchen, nicht für allzu scharfsinnig. Was Hélène tatsächlich fürchtete, war die Zürcher Gesellschaft. Immerhin kannte ihr Vater einige der Professoren – und viele Väter der jungen Männer, hinter denen sie nun täglich auf der Vorlesungsbank saß. Früher oder später würde sie in der Stadt zum Gesprächsthema werden. Was, wenn man ihren Vater direkt auf sie ansprach? Denn irgendwann würde Johann Gottlieb wieder nach Hause kommen.

Vorerst aber war der alte von Steig froh, sich in Genua um seine Geschäfte kümmern zu können. Auch wenn er das niemals zugegeben hätte, er war auch erleichtert, der verstockten Zürcher Gesellschaft den Rücken zukehren zu können. Und, wenn er ehrlich war mit sich selbst, erleichterte es ihn nicht zuletzt auch, ein Felsmassiv zwischen sich und seiner Tochter zu wissen. Wenn er an das dachte, was er im Herbst, allerspätestens im Winter, würde tun müssen, fühlte er sich schlecht. Bestimmt empfand er nicht gleich für seine Kinder, wie seine Frau das getan hatte. Und natürlich war das Mädchen ihm fremder als ihre beiden Brüder. Und doch: Sie war stur und wissbegierig, einen Tick zu hochnäsig und gleichzeitig erstaunlich unkompliziert. Sie erinnerte ihn an sich selbst. Und das tat weh. Weil er wusste, wie er sich gefühlt hätte, hätte sein Vater ihm Dinge wie das Studium verboten. Manchmal fragte er sich, ob er sich nicht noch viel stärker aufgelehnt hätte, als seine Tochter das tat. Oder ob – und das hoffte er inständig – sein Respekt gegenüber den eigenen Eltern groß genug gewesen wäre, um sich ihrem Willen zu beugen. Um darauf zu vertrauen, dass sie es gut meinten mit ihm. Denn genau das tat er jetzt auch: Er meinte es gut mit seiner Tochter. Er wollte ihr ein angenehmes Leben ermöglichen. Eine gute Stellung in der Gesellschaft, einige Freiheiten, die eine gute Ehe und Respekt mit sich brachten. Das Angebot, das er bekommen hatte, würde das alles garantieren. War es nicht seine Pflicht, seiner Tochter zu einer guten Zukunft zu verhelfen? Irgendwann würde sie ihm dafür danken. Oder? Das «oder» hielt sich hartnäckig in Johann von Steigs Kopf. Niemals hätte er geahnt, dass seine Tochter ihre Zukunft längst in die eigenen Hände genommen hatte.

Von ihren Mitstudenten lernte Hélène nur wenige kennen. Einige versuchten angestrengt, nicht in ihre Richtung zu blicken, andere schauten unverhohlen vorwurfsvoll zu ihr. Die meisten aber gewöhnten sich ebenso rasch an Hélènes Anwesenheit, wie sie sich bereits an jene der übrigen Hörerinnen gewöhnt hatten. Zu reden gab einzig die Frequenz, mit welcher der Assistent des Institutsleiters, Eugen Furrer, die Gesellschaft der einzigen inländischen Hörerin suchte. Hélène genoss seine Aufmerksamkeit. Sie wusste nicht, ob es nur an ihm lag oder auch an der Position, die er an der Universität innehatte. Sie sah, wie viele der Erst- und Zweitsemester stolz erröteten, wenn Eugen Furrer sich mit ihnen unterhielt. Sie sah auch, wie selbstverständlich der Sohn des Großrats mit den Professoren diskutierte und zuweilen auch lachte. Ein durch und durch respektabler Mann, dachte sie bei sich. Und der Gedanke gefiel ihr. Wenn Alfred allerdings spöttisch grinste oder wissend dreinblickte, dann zog sie die linke Augenbraue hoch und erklärte, sie finde den Herrn Eugen noch immer genauso nett und anziehungslos wie bei ihrem allerersten Treffen. Immerhin riskiere sie den väterlichen Herzinfarkt nicht, um Männern schöne Augen zu machen, sondern um sich die Rechtswissenschaften zu erschließen. Und je mehr sie lernte, umso mehr wollte sie wissen. Und umso klarer wurde ihr, dass sich etwas ändern musste in ihrer Heimat.

«Gleiche Ausbildungschancen und dann natürlich gleicher Lohn für gleiche Arbeit,6 das wäre doch das Dringlichste!», sagte Hélène, während sie mit Alfred und Eugen Mittagspause machte.

«Nun ja, dass Männer mehr verdienen und auch mehr erben, hat einen praktischen Grund», setzte Eugen an, «sie müssen ihre Familie ernähren. Die Frauen bekommen zwar weniger, profitieren dann dafür vom Lohn oder Erbe ihres Mannes. So ist das doch gerecht aufgeteilt.»

«Gerecht? Gerecht ist in unserem Regelwerk gar nichts, werter Eugen. Hast du dir das Zürcher Familienrecht einmal genau angesehen? Oder das Kindsrecht? Heiratet eine Frau, geht ihr Besitz an den Gatten über. Wird sie Mutter, entscheidet allein der Mann über die Zukunft der Kinder. Lässt sie sich scheiden, bleibt ihr weder Geld noch das Recht, ihre Kinder zu versorgen.7 Und das in unserem liberalen, modernen Zürich»,8 stellte Hélène fest.

«Nun, es sollte natürlich gar nie dazu kommen. Zu einer Scheidung, meine ich», sagte Eugen. Nun schüttelte Alfred den Kopf.

«Aber wenn doch, nehmen sie den Frauen ihre Kinder weg, weil sie laut Gesetz nicht deren Vormund sein können. Die Kinder kommen dann zu einer Pflegefamilie. Oder ins Heim. Eine verwitwete Mutter hat sich kürzlich vor lauter Kummer erhängt, habe ich gehört», sagte er.

Hélène schauderte und Eugen wechselte das heikle Thema. Er wollte wissen, wie die von Steig’schen Geschäfte in Genua liefen, und Alfred gab freimütig zu, dass ihn das nur wenig interessierte. Bevor sie sich verabschiedeten, fragte Eugen leise: «Alfred, dürfte ich noch einen Augenblick mit Hélène sprechen?»

Alfred nickte und ging grinsend einige Meter vor den beiden anderen her. Hélène schaute Eugen fragend an. Er sagte einen Moment lang nichts, dann fragte er Hélène, ob sie und Alfred am Sonntag Lust auf ein Picknick am See hätten. Man könnte vielleicht ein wenig rudern und in der Sonne liegen und sich abseits der Universität kennenlernen. Hélène sagte zu, versprach, Alfred auf jeden Fall zu überreden, und Eugen strahlte. Dann verabschiedeten sich die beiden und Hélène lief so schnell es ging hinter Alfred her. Einige Meter vor ihrem Elternhaus hatte sie ihn wieder eingeholt und in die Sonntagspläne eingeweiht.

«Und das wollte er dich alleine fragen? Na, da trifft es sich ja gut, dass ich wahnsinnig viel zu lesen habe. Ich begleite euch gerne, bringe aber meine Bücher mit. Auf den See rudern müsst ihr also alleine. Aber ihr werdet wohl schon etwas mit der Zeit anzufangen wissen.»

Die Sonne schien von einem königsblauen Himmel, als Hélène und Eugen nach dem Sonntagspicknick in das frisch gestrichene Ruderboot stiegen. Alfred zog zum Abschied den Hut, dann widmete er sich im Schatten eines Baumes der Wissenschaft. Eugen ruderte und Hélène zog sich ihren Hut in die Stirn. So war sie etwas besser von der Sonne geschützt – und konnte Eugen unverhohlen betrachten. Sie mochte ihn, er war anständig und nicht aufdringlich. Nur ein klein wenig mehr Witz hätte sie sich von ihm gewünscht. Als er sie ein gutes Stück auf den See hinausgerudert hatte, hängte Eugen die Paddel in ihre Halterungen, legte die Hand über seine Augen und schaute zum Ufer. Hélène folgte seinem Blick. Die schattenspendenden Bäume waren ganz klein geworden.

«Ob man uns von dort noch sieht?», fragte sie.

Eugen lächelte halb verlegen, halb schelmisch. «Meine Hoffnung war: nicht mehr allzu gut», sagte er dann.

«So», fragte Hélène gespielt vorsichtig, «was hast du denn vor mit mir?»

«Ich wollte dich vor Gesellschaft nicht blamieren, aber: Hast du verstanden, was der Professor in der letzten Vorlesung erklärt hat?»

Hélène blickte ihn einen Moment verdutzt an. Dann realisierte sie, dass er versuchte, sie zu necken. «Ich schon, Herr Eugen, aber vielleicht muss ich Ihnen das Erbrecht ja nochmals genau erklären?»

«Die Dame ist aber keck», sagte Eugen, «ich weiß nicht, ob ich das tolerieren kann, vielleicht muss ich ihr zur Strafe den Hut entwenden.» Blitzschnell hatte er nach Hélènes Hut gegriffen und ihn sich selbst aufgesetzt. «Viel besser», seufzte er jetzt und zog sich die Krempe in die Stirn, die Augen nun geschützt vor der Sonne.

«Ach so, nicht das Erbrecht ist Ihr Problem, Herr Furrer. Sie haben es eher mit den Schenkungen. Dann will ich Ihnen doch mal zeigen, wie genau diese funktionieren.»

Finger für Finger zog Hélène ihre Handschuhe aus und legte sie vor Eugen auf die Bank. Dann beugte sie sich vor und öffnete ihre Schuhe. Heute trug sie ein einfaches hellblaues Kleid, das vorne mit einem dunkelblauen Band gebunden war. Langsam öffnete sie das Band. Das Kleid glitt über ihre Schultern und bauschte sich am Boden des Bootes zu einem Stoffberg auf. Hélène arrangierte ihre Kleidungsstücke zu einem Bündel und drückte es Alfred in die Hand.

«Hier, das ist eine Schenkung. Darüber können Sie nun frei verfügen. Und ich», sagte sie und stellte sich im Unterrock auf die Ruderbank, «ich kühle mich jetzt endlich mal ab.»

Mit diesen Worten klatschte Hélène, Hintern zuerst, ins Wasser. Eugen brauchte einen Augenblick, bis er sich gefasst hatte. Dann legte er seine Schenkung auf den Boden, legte die eigenen Kleider dazu und folgte Hélène mit einem Kopfsprung in den Zürichsee. Das kühle Wasser wusch Schweiß und Sommerhitze ab und die beiden tauchten und prusteten und spritzten einander Seewasser ins Gesicht.

Zurück im Boot ließen sie sich vom leichten Wind und von der Sonne trocknen. Eugen schaute Hélène an.

«Wenn ich mit dir Zeit verbringe, fühle ich mich leicht. So leicht wie sonst nie. Mit dir scheint alles erlaubt», sagte er dann.

«Nicht alles», sagte Hélène und hob den Zeigefinger.

«Zumindest das Glücklichsein – und das ist doch schon sehr viel», sagte Eugen. Er hatte leise gesprochen, mit weicher Stimme, aber klar und deutlich. Er schien sich tatsächlich alles andere als unwohl zu fühlen in dieser Situation. Hélène kannte keinen anderen jungen Mann, der sich getraute, das Herz derart auf die Zunge zu legen. Und auch keinen, der einfach so mit ihr in den See gesprungen wäre. Das hätte sich wohl nicht einmal Alfred getraut.

Dieser grinste breit, als die beiden mit feuchtem Haar und schlecht sitzender Garderobe zurück ans Ufer gerudert kamen. Eugen vertäute sein Boot am Steg und bald darauf befanden die drei sich auf dem Heimweg. In der Kutsche, die Eugen gerufen hatte, wurde gescherzt und gelacht. Keine Sekunde dieses wunderbaren Sonntags deutete auf das hin, was der Abend bringen sollte.

«Der Herr von Steig erwartet Sie zum Abendessen. Er ist heute Mittag aus Genua zurückgekehrt», sagte das Hausmädchen Hanni, als die Geschwister von Steig eintraten.

«Oh, das heißt, es gibt Lammschmorbraten mit Pflaumen», frohlockte Alfred.

Als Alfred und Hélène frisch umgezogen ins Esszimmer kamen, roch es tatsächlich nach Braten. Von Johann Gottlieb von Steig allerdings war keine Spur. Er kam erst, nachdem die Geschwister bereits Platz genommen hatten. Er begrüßte seine Kinder steif, ließ Alfred ein Tischgebet sprechen und aß die ersten Minuten schweigend. Dann begann er von Genua zu erzählen. Davon, dass er ein neues Schiff besichtigt habe und eine neue Lagerhalle im Begriff sei, fertig zu werden. Dann wollte er wissen, warum seine Kinder an einem Sonntag erst so spät nach Hause gekommen waren.

«Ein Picknick mit Eugen Furrer? Aber natürlich, er studiert ja mittlerweile mit euch beiden.» Johann von Steigs Tonfall hatte sich um keine Nuance verändert. Sein Blick aber ruhte direkt auf seiner Tochter, als er fortfuhr. «Ich habe vor einiger Zeit ein Angebot bekommen, eine Anfrage, eigentlich, von einem jungen Mann – für deine Hand, Hélène. Ich habe dem jungen Mann gesagt, ich müsse darüber nachdenken. Ich habe ihm auch gesagt, ich wolle das besprechen, als Familie. Aber ihr beide lasst mir keine Wahl. Meine Tochter hat mich hintergangen. Und mein Sohn», jetzt schaute er zu Alfred, «du hast zugelassen, ja sogar erlaubt, dass deine Schwester sich vor der gesamten Zürcher Gesellschaft lächerlich macht. Ist dir bewusst, welche Konsequenzen das für eine junge, ledige Frau haben kann? Dass davon ihre gesamte Zukunft abhängen kann, all ihre Chancen auf ein komfortables Leben? Ich bin sofort zurückgekommen, als ich von diesem Trauerspiel erfahren habe. Und zum Glück, zum großen Glück, steht das Angebot noch immer. Dein Verhalten hat mich dazu gezwungen, es so schnell wie möglich anzunehmen. Du wirst noch vor Weihnachten heiraten, Hélène Sophie. Mein Entscheid ist endgültig.»

Alfred wollte seine Schwester verteidigen. Aber Hélène sprach zuerst. Ihre Stimme war leer und tonlos.

«Wen?», fragte sie nur.

«Den Sohn von Großrat Furrer, Eugen. Du scheinst ihn ja mittlerweile ganz gut leiden zu können. Ob du weiterhin zur Universität gehen darfst, wird er entscheiden. Das ist dann nicht mehr mein Problem.»

«Du meinst, ich bin dann nicht mehr dein Problem?»

«Madame Furrer, dürfen wir Ihnen ein leichtes Mittagessen servieren?» Die Tür zu Hélènes großzügigem Erste-Klasse-Abteil war aufgegangen und einer der Zugangestellten stand mit einem Tablett in der Hand vor ihr. Hélène nickte. Seit einem Jahr war sie nun Madame Furrer, ganz an den neuen Namen gewöhnt hatte sie sich aber noch nicht. Woran sie sich allerdings augenblicklich gewöhnen wollte, war das Reisen mit der Eisenbahn. Komfortabel waren die Sitze und aufmerksam die Bedienung. Hélène reiste in einer ersten Etappe von Zürich nach Bern, damit der Weg nach Genf nicht allzu anstrengend wurde. In ihrem Zustand war es wichtig, dass sie achtgab auf sich. Das sagten jedenfalls alle – Hélène selbst fand das schrecklich. Sie war schwanger, nicht krank.

In Bern wurde Hélène von Richard, einem Cousin väterlicherseits, im Hotel Schweizerhof empfangen. Noch stand der alte Name des Hotels verblassend an der Fassade zu lesen: «Zähringerhof».

«Das gesamt-helvetische ‹Schweizerhof› passt einfach besser, jetzt, wo wir die Hauptstadt der Schweiz sind», sagte Richard, als Hélène auf den alten Schriftzug deutete.

«Bundessitz, meinen Sie, werter Cousin», korrigierte Hélène, «unser Bundesstaat verfügt de jure bekanntlich über keine Hauptstadt.» Hatte ihr Cousin nicht auch die Rechtswissenschaften studiert? Er müsste es doch besser wissen. Aber Richard ging gar nicht auf die Anmerkung seiner Cousine ein.

«Ob Ihr Eugen eines Tages als Ständerat nach Bern kommen wird?», fragte er stattdessen. Dünkte es Hélène nur, oder klang ein spöttischer Unterton in seiner Stimme mit?

«Wenn es nach seinem Vater geht, dann ganz bestimmt. Das ist der eigentliche Grund für unseren Umzug nach Genf. Eugen wird einem bekannten Advokaten und Genfer Ständerat zur Hand gehen», sagte Hélène. Damit waren zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Das Netzwerk, das es für eine nationale politische Laufbahn brauchte, war ausgelegt. Und die Anwaltskarriere bekam Aufwind; das Patent hatte Eugen eben erst erworben. Er hatte direkt nach der Hochzeit gemeinsam mit Hélène dafür gelernt. Schöne Abende waren das gewesen, sie beide mitten in einem Stoß Bücher. Sie hatten Begriffe nachgeschlagen, einander flammende Plädoyers gehalten und immer neue, noch kompliziertere Fälle mit umso komplizierteren juristischen Finten gelöst.

«Ich habe gehört», fuhr Richard fort, «auch Sie, liebe Cousine, haben einen längeren – wie soll ich sagen – Spaziergang durch die Zürcher Universität abgehalten. Hinter dem Rücken des Herrn Vater.»

«Ich war Hörerin an der Universität, ja. Einen Spaziergang würde ich das nicht nennen, mir ist allerdings nicht bekannt, wie Sie Ihre Studienzeit verbracht haben. Ich die meine meist in Vorlesungen. Für gewöhnlich sitzt man da.»

«Wo auch immer Sie an der Universität gesessen oder gestanden haben – mein Onkel hat dem rasch ein Ende bereitet, wie ich höre.»

«Das hätte er bestimmt gerne. Aber es konnte ihm ja nicht schnell genug gehen, mich zu verheiraten. Und mein Mann betrachtet mich als Partnerin auf Augenhöhe.»

Johann Gottliebs Verbot hatte auch Eugen verärgert. Nur schon aus Protest gegenüber dem Alten müsse er seiner Frau erlauben, ihn wieder an die Universität zu begleiten, hatte er gesagt und das Verbot von Hélènes Vater nach der Hochzeit aufgehoben. Zu reden hatte das gegeben, aber Hélène hatte es nicht gestört. Und Eugen nur ein klein wenig mehr, als er zugab.

«Und da hatte mein Onkel nichts dazu zu sagen? Und Alfred? Er muss von der Situation ja ganz besonders betroffen gewesen sein, als Student an derselben Universität.»

Alfred hatte Hélène anvertraut, wie erleichtert er sei, zu sehen, dass Eugen sie zu schätzen wisse. Ihm habe gegraut vor dem Moment, in dem seine Schwester in die Rolle einer biederen Ehefrau gezwängt würde. Nun sah es ganz danach aus, als wäre sie diesem Schicksal ein für alle Mal entronnen. Aber darüber mochte Hélène nicht mit ihrem Cousin sprechen.

«Alfred ist Manns genug, sich nicht um das Geschwätz von anderen zu scheren», sagte sie darum nur. «Außerdem ist er mit einem Fuß längst aus der Universität heraus. Er wird, wie Sie ja wissen, dereinst Vaters Geschäfte übernehmen. Daran arbeitet er bereits.»

Die Waren, mit denen Johann Gottlieb von Steig handelte, kamen aus den verschiedensten Winkeln der Welt. Und jeder einzelne reizte Alfred mehr als die Schweiz. Warum in Genua sitzen oder in Zürich, wenn man das Ausschiffen der Kisten auch von Indien aus kontrollieren konnte, oder von Amerika? Doch auch darüber mochte Hélène mit ihrem Cousin nicht sprechen. Stattdessen fragte sie ihn, wie es denn bei ihm weitergehe, der Abschluss an der Universität liege ja doch bereits einige Monate zurück.

«Mal sehen», hatte Richard gesagt. Es gab in diesem Teil der Familie zwar viel Geld und Ämter zu erben, ein Geschäft allerdings war keines vorhanden. Aber Richard ließ sich nicht auf den eigenen Schwachstellen herumtanzen.

«Stört es Sie denn gar nicht, nun dem Herrn Gemahl zuzudienen, ohne eigene Meriten gewinnen zu können? Ihm nun gar in die Fremde hinterherzureisen?», fragte er.

«Nein», sagte Hélène bestimmt. Sie wusste, was die Berner von Steigs, altes Patriziat, vom arbeitenden Zürcher Zweig hielten, und sie hatte nicht vor, sich auf Richards Spielchen einzulassen. Aber noch während sie sprach, hatte Hélène erstaunt festgestellt, dass der Neid gegenüber ihrem Mann, der den Abschluss bekommen hatte, den sie selbst so gerne hätte, sich tatsächlich in Grenzen hielt. Im vergangenen Jahr hatte sie erkannt, wie lieb sie Eugen hatte. Wie sehr sie es genoss, Zeit mit ihm zu verbringen. Seit sie schwanger war, hatte dieses Gefühl noch zugenommen. Darum hatte sie auch nicht gezögert, als er sie gefragt hatte, ob sie sich das vorstellen könne: in Genf leben. Nicht für immer, aber für ein paar Jahre.

«Eugen und ich in der Fremde – für mich klingt das nach einem Abenteuer», sagte sie zu Richard. «Es wird mir guttun, mein Französisch zu pflegen. Zudem habe ich gehört, die Genfer seien um einiges weltoffener als die verstockten Zürcher – oder Berner.»

Hélène war froh, als sie am nächsten Tag den Zug nach Genf bestieg. Erst zischte und stampfte die Lokomotive mit ihrer Last an Hügeln und Wäldern vorbei. Das Dunkelgrün der Tannen mischte sich mit dem zarten Hellgrün der Laubbäume zu einem fröhlichen Gemisch. Dann zogen gepflegte Felder an den Fenstern vorbei, in Reih und Glied gepflügte Äcker, die Hélènes Augen müde machten. Gerade wünschte sie sich die wilden Wälder zurück, als der Zug mit einem saugenden Geräusch in einen Tunnel einfuhr. Schwärze umgab alles, bevor das strahlende Tageslicht zurückkam und Hélène blinzeln ließ: Die Aussicht war atemberaubend. Vor ihr lag funkelnd der Genfersee, gesäumt von hellgrünen Rebstöcken, deren kleine Blätter das dunkle, knorrige Holz ihrer Stämme noch nicht zu verbergen vermochten. Die Sonne stand hoch über der Bergkette und zeichnete eine Straße aus Licht über den See, wie eine Einladung. Aber die stampfende Lokomotive dachte gar nicht daran, von ihren teuren Schienen abzukommen. Im Gegenteil. Zischend und ratternd trug sie Hélène weg von Bern und Richard, weg von ihrem Zürcher Daheim, weg von Alfred und der Familie, hin zu Eugen nach Genf. Er hatte versprochen, sie am Bahnhof abzuholen und direkt in das neue Haus zu bringen, das er für sie beide angemietet hatte.

«Mit einem Studierzimmer, so groß, dass es für uns beide reicht», hatte er überschwänglich geschrieben und Hélène hatte sich gefreut. Als der Kontrolleur verkündete, man treffe nun bald an der Endstation ein, spürte Hélène ein wohliges Kribbeln. Eugen stand wie versprochen am Bahnhof und winkte wild, den Hut in der Hand, damit Hélène ihn ja nicht übersah. Als sie endlich vor ihm stand, hauchte Eugen seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange und führte sie zur Kutsche, auf der Hélènes Gepäck bereits mit dicken Hanfseilen festgezurrt war. Die Kutsche fuhr mit einem Ruck los und führte das Ehepaar Furrer erst mal durch das Stadtzentrum. Hélène lehnte sich an Eugen und schaute aus dem Fenster. Herrschaftliche Stadthäuser zogen an ihnen vorbei und es dünkte Hélène, sie könne den See riechen. Dann bog die Kutsche ab und fuhr langsam aus der Stadt hinaus. Eine Kurve noch, dann lag der See glitzernd vor ihnen. Die grünen Flächen zwischen den Häusern wurden größer. Schließlich hielt die Kutsche vor einem mächtigen, weißen Haus an. Ein breiter, geschwungener Kiesweg führte von der Hauptstraße bis vor die große, aus Holz geschnitzte Haustür. Efeu kletterte an der einen Ecke hoch, ein Rosenbusch versuchte sich an der anderen.

«Gefällt es dir?», flüsterte Eugen ihr ins Ohr.

«Und wie», flüsterte Hélène zurück.

Eugen führte seine Frau durch das ganze Haus. Der Salon war elegant, aber ein wenig karg eingerichtet.

«Der Raum braucht wohl noch deine weibliche Fürsorge, bevor wir hier Gäste empfangen können», sagte Eugen. Vom Salon kam man durch einen kleinen Bogen in der Wand direkt ins Wohnzimmer, in dem ein grün-weiß gekachelter Ofen stand. An der gegenüberliegenden Wand hatte Eugen Bilder ihrer beiden Familien anbringen lassen. Da lächelte nun die verstorbene Maya von Steig hinunter auf den gebohnerten Holzboden, daneben blickte ihr Mann nachdenklich in die Ferne. Der Vater von Eugen, Hélène hatte ihn vor und nach der Hochzeit nur je einmal gesehen, ließ seine Hand auf der Schulter von Eugens Mutter Beatrice ruhen. Ihr freundliches Gesicht war Hélène längst vertraut. Zurück im Salon sah Hélène, dass der Garten bis zum See hinunter reichte. Unten am Steg war ein Boot vertäut. Weiter ging es in die Küche mit einem offenen Kamin und sieben glänzenden Herdplatten. Die Tür zur bereits gut gefüllten Vorratskammer stand einen Spalt breit offen. Hier hinein warf Hélène nur einen kurzen Blick. Sie mochte, was aus der Küche kam, nicht aber den rauchigen, oft üppig duftenden Raum selbst. Die Regale der Bibliothek waren bereits gefüllt, aber da war auch noch etwas Platz für die Bücher von Hélène. Das Schlafzimmer verfügte über einen eigenen Kachelofen, der das Bett daneben sonderbar klein wirken ließ. Zwei deckenhohe Flügeltüren führten hinaus auf den kleinen Balkon, von dem aus man den See überblickte. Das Kinderzimmer war noch leer.

«Auch damit wollte ich auf dich warten», sagte Eugen und lächelte. «Kinderdinge sind ja Frauensache.» Die Gästezimmer dagegen sahen einladend aus. Das Studierzimmer allerdings fiel nicht so groß aus, wie Hélène sich das vorgestellt hatte. Und noch stand darin nur ein Schreibtisch, jener von Eugen. Ansonsten aber hatte ihr Mann ganze Arbeit geleistet. Zurück im Salon begrüßte Hélène die Köchin, das Hausmädchen und den Knecht, der eben noch einige Worte mit dem Kutscher gewechselt hatte. Hélène war etwas müde von der Reise, doch als Eugen sie fragte, ob sie Lust hätte, ihn am Abend zu einer kleinen Tischgesellschaft im Hause seines neuen Mentors zu begleiten, sagte sie begeistert zu. Das war die beste Gelegenheit, ihr Französisch auf die Probe zu stellen. Hélène liebte Gesellschaften, sie lernte Menschen einfach und schnell kennen und sprach mit fast allen gerne.

Dem einen folgten zahlreiche weitere Abende mit der Genfer Gesellschaft. Denker und Politiker, viele aus Frankreich, hier und da auch ein Gentleman aus London. Man aß, man trank, man sprach und diskutierte und nicht selten setzte sich irgendwann einer der Herren oder eine der Damen ans Klavier. Hélène, die mit einer rauchigen Stimme und einem guten Musikgehör gesegnet war, stellte sich oft daneben und sang. Es dauerte dann selten lange, bis die Gesellschaft zu tanzen begann. Eugen, der das Tanzen nicht allzu sehr mochte, stand lieber am Rand und diskutierte mit einem der gewichtigen Herren. Oder verzog sich mit einigen der älteren Gäste auf den Balkon oder die Terrasse oder in eine der anderen Fluchtmöglichkeiten, die die ausladenden Stadtpalais allesamt zuhauf boten. Dann rauchte er und sprach über die Pläne der Liberalen, die Revision der doch eigentlich noch ganz neuen Bundesverfassung, das Referendumsrecht für das gemeine Volk, das Stimmrecht für die Juden, den Ausbau des Eisenbahnnetzes, die Position der Schweiz im europaweiten Handel. Hier und da blickte er durch das Fenster oder den Türrahmen und erhaschte einen Blick auf seine Frau, das Zentrum des Trubels. Er liebte es, wenn sie sang und lachte, und war doch froh, damit nicht allzu viel zu tun haben zu müssen. Und er liebte es, zu sehen, wie ihr Bauch immer runder und runder wurde. Einige der Herren und älteren Damen hatten ihn ernst darauf angesprochen. Es zieme sich für eine schwangere Frau doch nicht mehr, an solchen Gesellschaften teilzunehmen. Dann zuckte Eugen jeweils die Schultern und befand, er könne seine Frau nicht in der Langeweile eines einsamen Zuhauses sitzen lassen. Und sollte das Kind einen der prunkvollen Salons dem Kreissaal vorziehen, nun denn, jede der Gesellschaften verfügte über mindestens zwei Ärzte. Meist sogar mehr, Hélène wäre also in guten Händen.

Man schüttelte in Genf den Kopf nicht gleichermaßen ob dem Ehepaar Furrer, wie das noch in Zürich der Fall gewesen war. Aber ein missbilligendes Verziehen der Mundwinkel, eine vage Bewegung des Kopfes, das gab es auch hier im mondänen Genf. Hélène war das egal und Eugen befand, solange seine Frau glücklich war und seine Karriere florierte, wollte er an der Situation nichts ändern. Bald würde sich das von ganz alleine fügen. Dann nämlich, wenn Hélène mit ihrem Neugeborenen im Arm zu Hause im Garten saß und an den lauten und ausschweifenden Gesellschaften gar keinen Gefallen mehr finden würde.

Es war eine dieser vertraut gewordenen Abendgesellschaften an einem besonders warmen Abend Ende September, an dem sich Hélène eine neue Welt auftat. Eine Welt, von der sie bald begriff, dass es immer schon ihre gewesen war. Eine Welt, die ihr fast alles nehmen würde, was ihr lieb und teuer war.

An diesem bedeutungsvollen Tag hatten sie und Eugen in ihr Haus am See geladen. Die Luft war schwül und schien mit jeder Bewegung der tanzenden Gäste schwerer zu werden. Eugen hatte sich mit Geheimrat von Kroning, seinem österreichischen Gast, in die Bibliothek zurückgezogen, um etwas Ruhe zum Diskutieren zu haben. Hélène dagegen hatte neben dem Klavier gestanden und gesungen. Sie spürte, wie sich Schweißtropfen ihren Weg über ihren immer dicker werdenden Bauch suchten. Das Kind war nun so schwer, dass ihr langes Stehen Mühe bereitete. Nach dem dritten Chanson verbeugte sie sich betont entenhaft, wofür sie lachenden Applaus erntete, und beschloss, sich für einige Augenblicke in den Garten zu setzen. Der Mond spiegelte sich im See, der Rosenbusch, der nur zögerlich die Hauswand hochgewachsen war, hatte die letzten dicken, gelben Blüten halb geschlossen. Hélène spürte eine leichte Brise vom Wasser her wehen und genoss das kühlende Gefühl auf ihrer warmen Haut.

«Schön haben Sie es hier, Hélène.»

Hélène erschrak. Sie war so versunken gewesen in den Anblick des Sees und ihre eigenen Gedanken, dass sie nicht bemerkt hatte, wie ihr jemand aus dem Haus in den Garten gefolgt war. Es war eine Frau mittleren Alters. Das dunkle Haar im Nacken zu einem aufwendigen Knoten gebunden, die Hände in Handschuhen aus Spitze.

«Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt», sagte sie und Hélène erkannte das Französisch einer Genferin und war erstaunt, sie bisher noch nicht getroffen zu haben. Eugen hatte sich zum Ziel gesetzt, alle wichtigen Leute in Genf so schnell wie möglich kennenzulernen.

«Ein wenig», gab sie zu. «Wie kommt es, dass ich Sie bisher noch nie gesehen habe?»

Die Frau trat wenige Schritte vor, bis sie Hélène die Hand reichen konnte.

«Marie Goegg-Pouchoulin,9 mein Mann Amand und ich wohnen im Badischen. Wir sind nur zu Besuch hier. Allerdings spielen wir mit dem Gedanken, ganz zurückzukommen. Mein Mann hat einige Projekte, die er in der Schweiz umzusetzen hofft. Wir haben eine Weile in England gelebt, London, natürlich. Eine Firma von dort sähe ihn gerne als Leiter ihrer Schweizer Dependance hier in Genf. Und mich zieht es ehrlich gesagt auch wieder in die Heimat. Darum haben wir uns über die Einladung Ihres Mannes sehr gefreut.»

Hélène wusste nun, wen sie vor sich hatte. Und sie war erstaunt. Eugen gab sich Mühe, modern und offen zu sein. Aber Marie Goegg-Pouchoulin und ihren zweiten Gatten einzuladen – das hätte sie ihm nun wirklich nicht zugetraut. Die Frau hatte zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern. Sie hatte sich scheiden lassen und erneut geheiratet. Selbst Hélène, die von allem, was gegen die Norm verstieß, angezogen wurde, wusste nicht recht, was sie von diesem Gast halten sollte. Marie Goegg-Pouchoulin hatte sich in der Friedensbewegung stark gemacht. Immerhin. Das war etwas, was man akzeptieren konnte. Sie sprach die Frau darauf an. Marie Goegg-Pouchoulin nickte.

«Die Friedensbewegung ist das eine. Das andere ist der Abolitionismus.»

Hélène wusste nicht, was das war, und ihr Gast erklärte es ihr: die Abschaffung der Sklaverei. Hélène verspürte augenblicklich das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen.

«Mein Vater kauft und verkauft regelmäßig Waren, die auch durch Sklavenarbeit entstanden sind. Er hat sich die Plantagen und Werkstätten allerdings angesehen. Die Sklaven bekommen dort alles, was sie brauchen. Und es ist davon auszugehen, dass sie gar nicht so einfach urplötzlich in Freiheit leben könnten. Es ist viel sinnvoller, sie langsam daran zu gewöhnen. Und darüber hinaus gilt: Arbeiten muss der freie Mensch meist auch.»

Die ältere Frau schaute Hélène lange an, ohne etwas zu sagen.

«Sie sind Schweizer Bürgerin», sagte sie dann. Es war keine Frage, aber Hélène nickte trotzdem. «Sind Sie stolz auf diesen jungen Schweizer Bundesstaat?», diesmal war es eine echte Frage und Hélène bejahte sie. «Nehmen Sie daran teil, an diesem Bundesstaat?»

«Ich bin ein Teil der Gesellschaft, ja, wie alle anderen Schweizer auch.»

Nun lachte die ältere Frau und Hélène ärgerte sich. Sie fühlte sich vorgeführt wie ein Schulkind und wusste dennoch nicht wirklich, worauf Madame Goegg-Pouchoulin hinauswollte. Bundesstaat und Sklaverei hatten ihrer Meinung nach reichlich wenig miteinander zu tun.

«Ihnen ist also das große Kunststück gelungen, ein Teil der Gesellschaft zu sein, wie alle anderen Schweizer auch. Darum beneiden Sie bestimmt viele Schweizerinnen, die nicht Teil dieser Gesellschaft sind.»

«Ich meinte damit nicht die politischen Rechte, wenn Sie darauf anspielen, ich meinte», sagte Hélène, aber die fremde Frau warf allen Anstand in den Wind und unterbrach sie mitten im Satz.

«Aber natürlich spiele ich darauf an. Oder finden Sie es etwa richtig, in einer Gesellschaft zu leben, die von Ihnen verlangt, sich allen Regeln zu beugen, denen sich auch die Herren zu beugen haben – und noch einigen mehr! –, aber keinen Einfluss auf die Schaffung dieser Regeln nehmen zu dürfen?»

Hélène schaute die Frau schweigend an. Sie wollte ihr nicht die Genugtuung verschaffen, wie eine gelehrige Schülerin die erwartete Antwort zu geben.

«Ich habe mich zwar nicht wie Sie mit den britischen Suffragetten verbündet», sagte sie dann. Sie hatte gehört, dass Goegg-Pouchoulins zweiter Mann nicht freiwillig mit seiner Frau nach London gegangen, sondern aus seiner Heimat Baden verstoßen worden war. London war ein Exil gewesen. Aber es hatte seiner Frau die Möglichkeit geboten, sich mit den krawallmachenden Kämpferinnen für das Frauenstimmrecht auseinanderzusetzen. Sie wollten, dass alle Frauen abstimmen, ihr eigenes Geld besitzen und frei über sich entscheiden konnten. In Hélènes Kreisen hatte man darüber lediglich pikiert gesprochen. Scheiben schlugen diese Weiber ein und beschmierten Fassaden. Hélène hingegen war davon fasziniert gewesen. «Aber wenn Sie mich gegen die Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern aufbringen wollen: Daran habe ich mich bereits als Kind gestört.»

Stolz hatte Johann Gottlieb seiner kleinen Hélène vor vielen Jahren erklärt, dass das Volk in keinem anderen Land so viel mitzubestimmen habe wie in der Schweiz. «Eine Nation von Brüdern» hatte er die Heimat genannt. Hélène hatte nach den Schwestern gefragt. Darauf hatte der Vater keine Antwort. Hélène erinnerte sich, wie sehr sie das erstaunt hatte. Immerhin war es doch zu Hause stets die Mutter, die entschied. Nur einmal hörte Hélène aus dem Nebenzimmer mit, dass Johann Gottlieb ein Machtwort gegenüber seiner Frau sprach. Um sie, Hélène, war es gegangen. Und darum, ob sie weiterhin gemeinsam mit Alfred unterrichtet werden sollte. Einen «unnötigen Luxus» hatte die Mutter das genannt.

«Den gönne ich ihr», hatte der Vater gekontert.

«Und wie erklärst du ihr dann nach all den Jahren des Gleichseins, dass ihr Leben niemals aussehen wird wie das ihrer Brüder», hatte Maya leise gefragt, «wie ziehst du einen Schlussstrich, ohne sie für immer zu verletzen?»

Erst viel später hatte Hélène verstanden, was die Mutter damit gemeint hatte. Dass Maya von Steig aus der eigenen Erfahrungswelt geschöpft und ihre Tochter nicht mit einem Lebensstil und Privilegien hatte locken wollen, die sie nur allzu bald wieder würde abtreten müssen. Maya von Steig war gestorben, kurz bevor der gefürchtete Schlussstrich hatte gezogen werden müssen. Ihr Mann hatte es darum alleine, hart und diskussionslos getan.

«Sie finden also, als Mensch stehen Ihnen die gleichen Rechte zu wie den Männern?» Die Stimme von Marie Goegg-Pouchoulin brachte Hélènes Gedanken abrupt zum Stehen.

«Ich finde, das Geschlecht sollte nicht alleine den Weg vorgeben, den wir im Leben gehen. Damit werden wir geboren, das suchen wir uns nicht aus», sagte Hélène.

«Denken Sie, wenn man Ihnen etwa das Recht, einen Studienabschluss zu erlangen oder zu wählen, von heute auf morgen gewähren würde, bräuchten Sie dennoch eine Generation oder gar mehr, um sich daran zu gewöhnen und Ihr Recht wahrzunehmen?», fragte Goegg-Pouchoulin.

«Natürlich nicht», antwortete Hélène vehement.

«Und, um den Kreis zur Sklaverei nun also zu schließen: Warum verhält es sich Ihrer Meinung nach mit Menschen schwarzer Hautfarbe anders? Warum sollten sie sich so viel langsamer umgewöhnen als die weißen Frauen?»

Hélène sagte nichts. Marie Goegg-Pouchoulin hatte sie zutiefst beschämt.

«Solange wir uns nicht alle wie echte Schwestern zusammenraufen und gemeinsam dafür kämpfen, dass tatsächlich alle Menschen vor dem Gesetze gleich sind, wird in dieser Gesellschaft mit zweierlei Ellen gemessen», sagte die Frau. «Auch ich habe von Ihnen gehört, Hélène. Sie haben sich gegen den ausdrücklichen Willen Ihres Vaters in die Universität gesetzt. Rechtswissenschaften, wenn mich nicht alles täuscht? Davon zu hören hat mich sehr gefreut. Und es hat mich träumen gemacht. Was könnten wir Frauen nicht alles erreichen, wenn wir aus einer Universität dereinst nicht nur als Hörerin hinauslaufen, sondern mit einem Abschluss in der Tasche, bereit, in die Berufswelt einzusteigen?»

Hélène deutete in Richtung Pavillon: «Sollen wir uns dort auf die Bank setzen? Mein Rücken macht das lange Stehen kaum noch mit. Und bitte, nennen Sie mich Héli.»

Marie lächelte, bestand aber darauf, «Hélène» zu sagen.

«Immerhin spreche ich gerade mit einer intelligenten erwachsenen Frau, nicht mit einem Mädchen. Wie man sich bezeichnet, macht einen Unterschied.» Sie sagte das nicht tadelnd, sondern freundlich. Dann deutete sie auf Hélènes kugelrunden Bauch. «Ich erinnere mich noch zu gut an meine eigenen Schwangerschaften. Mutter werden ist anstrengend», sagte sie. «Aber Mutter sein noch mehr», fügte sie dann nachdenklich hinzu.

«Ich habe Angst, dass es mich noch mehr einschränkt», sagte Hélène.

«Noch mehr als die Schwangerschaft jetzt?»

«Nein, noch mehr als die Ehe», sagte Hélène.

«Ihr Mann scheint ein aufgeschlossener Mensch zu sein. Ich nehme an, Sie kennen die Geschichte von Amand? Und jene von mir? Nicht jeder hätte uns zu einer solchen Runde eingeladen. Aber er tat es, mit Nachdruck.»

«Mein Vater hat Eugen für mich ausgesucht. Sie haben das gemeinsam ausgemacht, ohne mich.»

Marie Goegg-Pouchoulin schaute Hélène einen Augenblick unschlüssig an. «Dann scheint der Herr Vater eine gute Wahl getroffen zu haben», sagte sie dann. Ein Zögern klang in ihrer Stimme mit. Als hätte sie etwas anderes sagen wollen, sich dann aber an ihren Status als Gast hier im Hause Eugen Furrers erinnert.

«Ich habe Eugen sehr lieb. Er ist ein guter Mann», Hélène strich langsam über ihren runden Bauch. Der zarte Stoff ihres Kleides fühlte sich gut an unter ihren Händen. Aus dem Haus klang Gelächter. Jemand hatte die Tür hinaus zum Garten geöffnet, um die Seebrise hineinzulocken. Die Grashalme glänzten unter dem Licht, das durch die unteren Fenster auf sie fiel. «Es ist nur so, dass es die Dinge verändert, wenn man sich nicht selbst dafür entscheiden darf. Der Wille von jemand anderem kann ein sehr grelles Licht auf sie werfen.» Hélène erschrak ob ihrer eigenen Worte. Erst in dem Moment, in dem sie sie aus ihrem Mund hörte, wurde ihr klar, wie wahr sie waren. Wind raschelte nun in den Bäumen und das Gelächter aus dem Haus war verstummt. Jemand hatte die Tür wieder zugemacht.

Madame Goegg blickte Hélène nicht schockiert, sondern verständnisvoll an.