Hemingways Kind - Russell Franklin - E-Book
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Hemingways Kind E-Book

Russell Franklin

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Beschreibung

Unter den beiden Söhnen Greg und Patrick ist der athletische, talentierte, kluge und hübsche Greg Ernest Hemingways Liebling, mit dem er gerne angibt. Patrick neckt seinen Bruder damit, doch der Druck des Vaters auf Greg und seine Ansprüche an ihn sind hoch, und Greg will alles tun, um ihm zu gefallen, seine eigenen Sehnsüchte sind aber ganz andere. Jahre später, 1951, Greg ist Anfang zwanzig, studiert Medizin, heiratet, wird Vater – und beginnt, gegen alle damaligen Konventionen, in der Öffentlichkeit Frauenkleidung zu tragen. Im bewegten Leben zwischen Havanna, Los Angeles, New York und Miami entsteht eine unaufhaltsame Spirale aus unglücklichen Beziehungen, Abstürzen, enttäuschten Erwartungen der Familie und unterdrückten Gefühlen, in der es Greg kaum gelingt, die persönlichste Frage überhaupt zu beantworten: Wer bin ich? Greg, Gigi oder Gloria?

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INHALT

» Über den Autor

» Über das Buch

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ÜBER DEN AUTOR

Russell Franklin wurde in Solihull, England, geboren und arbeitet in einer Literaturagentur. 2020 wurde er für das angesehene London Library Emerging Writers Programme ausgewählt. Russell Franklin lebt in London, Hemingways Kind ist sein erster Roman.

ÜBER DAS BUCH

Unter den beiden Söhnen Greg und Patrick ist der athletische, talentierte, kluge und hübsche Greg Ernest Hemingways Liebling, mit dem er gerne angibt. Patrick neckt seinen Bruder damit, doch der Druck des Vaters auf Greg und seine Ansprüche an ihn sind hoch. Greg will alles tun, um ihm zu gefallen, auch wenn seine eigenen Sehnsüchte ganz andere sind.

Jahre später, 1951 – Greg ist Anfang zwanzig, studiert Medizin, heiratet, wird Vater –, beginnt er, gegen alle damaligen Konventionen, in der Öffentlichkeit Frauenkleidung zu tragen, sehr zum Missfallen seines Vaters, der mit ihm bricht.

In Greg Hemingways bewegtem Leben zwischen Havanna, Los Angeles, New York und Miami entsteht eine unaufhaltsame Spirale aus unglücklichen Beziehungen, Abstürzen, enttäuschten Erwartungen der Familie und unterdrückten Gefühlen, aus der er sich nur mühevoll befreien kann. Um am Ende die persönlichste Frage überhaupt für sich zu beantworten: Wer bin ich? Greg oder Gloria?

 

 

Die Welt bricht jeden, und danach sindviele an den gebrochenen Stellen stark.

Ernest Hemingway

 

 

Seht euch den Jungen an.

Wie fest seine Füße in den zu großen Stiefeln auf dem Boden stehen, und wie sein Gewicht auf dem vorderen Bein liegt. Der Körper leicht geneigt, das Gewehr locker in beiden Händen. Wie er es gelernt hat.

Sein Blick ist auf den Korb gerichtet, der vor ihm steht. Der Vogel darin muss nervös sein. Er hat bestimmt den ganzen Tag das Stimmengewirr gehört. Und die Schüsse.

Der Junge atmet. Atmet durch die Nase ein. Atmet durch den Mund aus.

Hinter dem Menschengewühl erstreckt sich unter einem schimmernden Hitzeschleier die Bucht. Doch für den Jungen gibt es kein Menschengewühl, keine Bucht, keine Außenwelt. Für ihn gibt es nur seinen Körper und das Gewehr, den Vogel und den wartenden Himmel.

Die Zeit dehnt sich. Ein letzter Herzschlag für jeden von ihnen beiden.

Kaum ist der Korb geöffnet, stürzt der Vogel flatternd hervor, erhebt sich mit torkeligen Schlägen schneeweißer Flügel in die Luft, wird schneller, ist frei.

Der Junge dreht sich, folgt der Flugbahn des Vogels. Seine Haltung ist perfekt, unbewusst wie jede Anmut. Mit quälender Geduld wartet er, bis der Vogel seinen Rhythmus gefunden hat, und richtet das Gewehr ein Stück nach vorn aus, vor das Tier. Einmal noch atmen, dann drückt er ab.

Das Gewehr stößt mit einem Knall zurück, glänzendes Holz schleudert gegen das schön geschwungene schmale Schlüsselbein, und ein Schwarm Blei faucht in die Luft, während der Vogel höher hinauffliegt, getrieben von dem Wunsch nach Leben, doch geradewegs hin zum Tod, der ihm entgegeneilt.

Der Junge entspannt sich, und Gewehr und Vogel sinken gleichzeitig. Erst jetzt spürt er den Schweiß an seinem schmächtigen Rücken hinunterrinnen und den Durst in der Kehle brennen.

Die Welt dringt ein. Stimmengebraus, ein Durcheinander von Armen und Beinen, Menschen, die sich um ihn scharen und ihn hochheben, während Fäuste den Himmel in Stücke brechen und eine durch die Luft geworfene Bierflasche einen sepiabraunen Regenbogen über der Menge spannt.

Wieder dreht sich der Junge um, doch diesmal ungelenk, plötzlich ohne die Lockerheit von vorhin, und sucht das eine Gesicht, das einzige, das ihm in diesem Meer von Gesichtern wichtig ist. Zuerst sieht er nur Menschenschaum, blitzende Augen und aufgerissene Münder und Hände, die sich ihm entgegenstrecken, als wollten sie von ihm gesegnet werden. Dann sieht er ihn, seine bulligen Schultern, die sich mühelos einen Weg durch das Chaos bahnen.

Sein Vater greift nach ihm, entreißt ihn der Menge und hält ihn mit glänzenden Augen wie einen fleischgewordenen Sieg in die Höhe.

TEIL 1

KEY WEST

1939

»Nicht jetzt, Gregory.«

Seine Mutter rührte sich nicht, als Greg das Zimmer betrat, sondern starrte weiter in den Vorgarten hinunter. An dem Martini in ihrer Hand hatte sie noch nicht einmal genippt.

Sie wirkte ruhig, doch gleich unterhalb ihres kurz geschnittenen dunklen Haars pulsierte eine Ader, ein Zeichen dafür, dass ihr Herz heftig schlug, was verständlich war. Unverständlich war ihre Starre. Warum machte sie nichts?

»Mom …«

Sie schenkte ihm erst Beachtung, als er sie am Ärmel zupfte. Da zuckte sie zusammen und sah sich die Stelle an, die er berührt hatte. Als könnte er auf dem Kaschmir einen Fleck hinterlassen haben.

»Mom …« Er versuchte es noch einmal, inständig, obwohl er wusste, dass sie nicht hinhören würde, wenn er quengelte. »Bitte rede mit ihm! Sag ihm, dass er –«

»Hergott noch mal, es reicht, Greg!« Ihre Stimme klang schrill und hatte einen scharfen Unterton. »Lass mich gefälligst in Ruhe.«

Er wich gekränkt zurück, und sie starrte wieder aus dem Fenster.

Alles ging kaputt. Und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er es reparieren könnte.

Er stürzte aus dem Schlafzimmer, übersprang jede zweite Stufe, lief so schnell die Treppe hinunter, dass er zu fallen glaubte, und kam in dem Moment im Vorgarten an, in dem sein Vater den nächsten schweren Koffer hinten in sein Auto hievte.

»Papa …«, sagte er flüsternd.

Sein großer Bruder Patrick war schon draußen, doch auch er unternahm nichts, außer am Verandageländer zu lehnen und ein Gesicht zu ziehen, als würde seiner Erwartung nach gleich jemand aus dem Gebüsch springen und Überraschung! rufen.

Papa drehte sich zu ihnen um. Sie starrten ihn an. Er senkte den Blick, räusperte sich, rang nach Fassung.

»Was zieht ihr so muffelige Gesichter? Kommt runter zu mir, damit ich euch richtig sehen kann.«

Sie gehorchten. Greg überlegte noch immer, was er ihm sagen könnte. Wie ging der perfekte Satz, der seinen Vater zur Besinnung bringen und ihm klarmachen würde, dass das alles vollkommen falsch war?

»Kopf hoch, ihr zwei. Nächsten Sommer besucht ihr mich in Kuba, ist ja nicht so weit weg. Martha freut sich schon auf euch – ihr werdet sie mögen. Und ihr kriegt ein Zimmer in einem hohen Turm, wie im Märchen. Als würdet ihr ganz oben in einem Leuchtturm wohnen. Na, hört sich das gut an?«

Sie nickten pflichtschuldig. Patrick hatte Gregs Hand genommen und drückte sie so fest, dass es wehtat, aber das machte Greg nichts aus.

»Du machst weiter mit Baseball, Gig. Ich habe da eine Idee – warte, bis du mich besuchst! Und du, Patrick, du passt auf deinen kleinen Bruder auf, hast du gehört?«

»Ja, Sir.«

»Gut. Also dann …« Papa beugte sich zu ihnen, als wollte er sie umarmen, richtete sich aber gleich wieder auf und verstrubbelte ihnen die Haare. »Also.« Er warf einen Blick nach oben, vielleicht in der Hoffnung, die Mutter der beiden zu sehen.

Greg wusste nicht, was er noch sagen könnte. Er ließ Patricks Hand los und rannte davon.

Tief im Inneren glaubte er, Papa würde ihn rufen, ihn fragen, was denn los sei, doch als er am Ende der Straße angelangt war, hatte er nichts gehört, nur den Wind in den Orangenbäumen. Er hatte gar nicht bemerkt, wohin er lief, aber jetzt führten ihn seine Füße über das Gras und durch die Tür des Leuchtturms von Key West.

Er stieg auf den Turm, der für einen Leuchtturm niedrig war, und trat auf die Aussichtsplattform. Hier oben hatte er schon viele stille Stunden verbracht, Schiffe auf ihrem Weg über das schimmernde Meer betrachtet, Vögel, die in der Thermik glitten, oder seine Mutter, wenn sie im Pool ruhig ihre Bahnen zog. Jetzt zählte nur der unverstellte Blick in den Vorgarten, wo Papa die Kofferraumhaube zuknallte und einen letzten Blick auf das Haus warf.

Solange Greg nicht da war, konnte Papa nicht fahren. Papa konnte nicht weg, ohne von Greg Abschied genommen zu haben.

Doch genau das konnte er. Er stieg ein, und das Auto fuhr langsam rückwärts von der Einfahrt auf die leere Straße. Papa winkte Patrick zu, der auf dem Rasen saß. Dann lehnte er sich aus dem Fenster und sah nach oben, direkt dorthin, wo Greg auf dem Leuchtturm stand. Als hätte er genau gewusst, wohin Greg laufen würde. Als verstünde er Greg voll und ganz.

Er hob die Hand, und trotz allem winkte Greg zurück, als sein Vater davonfuhr.

HAVANNA

1940

Gregs Schuhe baumelten wie zwei Gewichte an den Schnürsenkeln und zogen den Gürtel nach unten. Bei jedem Schritt spritzte das Wasser an seine Beine. Der kleine Fluss wand sich funkelnd in der Mittagssonne. Beide Ufer waren dicht mit Schilf bewachsen, sodass der Blick auf die dahinterliegenden Felder verstellt war.

Patrick ging hinter ihm, vorsichtig mit den Zehen tastend, aus Angst, es könnte ihn etwas beißen oder zwicken. Mit seiner tief in die Stirn gezogenen Yankees-Kappe und dem klobigen Rucksack sah er aus, als wollte er in den Rocky Mountains wandern, nicht wie ein Junge, der sich nur die Zeit bis zum Abendessen vertrieb. Sie waren erst seit ein paar Tagen in Kuba, und er musste sich erst an die viele Wildnis gewöhnen, wie er es nannte, obwohl es hauptsächlich Ackerland war.

Greg achtete nicht auf seinen Bruder. Er konzentrierte sich auf das Wasser vor ihm, registrierte jede Veränderung von Licht und Schatten. Im Flugzeug hatte er in der Zeitschrift Hero Stories die Geschichte von einem ausgesetzten Seemann gelesen, der mit seinen bloßen Händen Fische gefangen und so überlebt hatte. Er stellte sich Papas Gesicht vor, wenn er mit einem Fisch fürs Abendessen zurückkäme, für den er nicht mal eine Angel gebraucht hätte.

»Wenn du so rumspritzt, verjagst du jeden Fisch weit und breit«, murmelte Patrick und zog sich den Rucksack ein Stück höher auf die Schultern.

Greg ließ sich nicht beirren. »Und wenn ich so langsam gehen würde wie du, wären wir jetzt noch im Haus.«

»Ich bin nur zwei Schritte hinter dir! Ich bin nicht langsamer als du, nur leiser. Du hast keine Ahnung vom Jagen.«

»Das werden wir ja sehen …« Greg bemerkte neben einem alten, halb im Wasser liegenden Ast einen Schatten, der unter der hellen Oberfläche kaum zu sehen war.

Jetzt ging er doch leiser und hoffte, Patrick würde nicht bemerken, dass er den Fuß vor jedem Schritt ganz aus dem Wasser heraushob. Er sah schon Papas bewundernden Blick, schmeckte das von den Gräten genagte Fleisch.

Langsam, behutsam näherte er sich dem Ast in einem Bogen, denn sobald er den Fisch sehen würde, könnte der ihn sehen. Dann bückte er sich, tauchte in einer einzigen gleitenden Bewegung die Hände ins Wasser und zog eine leuchtende, schlabbrige, völlig durchweichte Zeitung heraus, ein Exemplar der Morgenausgabe vom selben Tag. Auf der Titelseite prangte ein fleckiges Foto von Präsident Machado, der ihn so finster ansah, als hätte Greg ihn aus dem Mittagsschlaf gerissen.

Er starrte die Zeitung an und zerknüllte sie schließlich wütend zu einem Ball. Patrick hinter ihm lachte schon.

»Genial. Jetzt können wir deinen Fisch einwickeln.«

Greg schleuderte ihm den triefenden Klumpen entgegen. In seiner Baseballmannschaft in Key West galt sein Wurfarm als legendär, und prompt traf er Patrick mit einem satten Klatsch direkt ins Gesicht.

Sein Bruder taumelte kurz, wischte sich über die Wange und sagte achselzuckend: »Na gut, das war verdient.«

In der Flussbiegung musterte sie ein großer, krummbeiniger Vogel, bevor er sich mit wenigen kraftvollen Flügelschlägen in die Luft hob und ruckartig davonflog. Greg beschattete seine Augen und sah ihm nach.

»Nicht schlecht.« Patrick stieg die Uferböschung hinauf, um den Vogel noch ein paar Sekunden sehen zu können, bevor er aus seinem Blickfeld verschwand. »Gut, dass Papa nicht da ist.« Er spannte ein imaginäres Gewehr und tat so, als würde er schießen.

Greg überlegte, ob Patrick Papa damit nicht unrecht tat. Die Vorstellung, sein Vater könnte einen so komischen dummen Vogel abschießen, war nicht schön. Allerdings hatte er ihn schon alles Mögliche abschießen sehen.

Er kletterte zu seinem Bruder hinauf, band die Schuhe ab und streckte seine Beine in die Sonne. »Fühlt sich an, als würde ich hier braten.«

»Tust du auch, oder jedenfalls siehst du so aus.« Patrick begann in seinem Rucksack zu kramen.

»Muss der eigentlich überall mit?«

»Man nennt das vorbereitet sein, du Schwachkopf.« Wie zum Beweis zog Patrick zwei Flaschen Cola und ein Schweizer Messer hervor. »Aber wenn du keine willst …«

»Okay, ich nehms zurück.«

Patrick grinste und hebelte die Kronkorken von den Flaschen.

Erst als Greg die noch immer leicht kühle Flasche in der Hand hielt, bemerkte er, wie durstig er war, und trank die Hälfte in einem Zug. Dann rülpste er, wegen der Kohlensäure.

»Eklig«, sagte Patrick und nahm einen Schluck.

Greg rülpste noch einmal, griff in die Tasche seiner Shorts und zog eine zerknitterte Packung Zigaretten heraus. »Ich bin auch vorbereitet.«

»Sind die von Martha? Hast du sie geklaut?«

»Nein, die hat Papa am Pool vergessen. Willst du jetzt eine oder nicht?«

»Ja. Hast du Streichhölzer?«

»Ich hab gewusst, dass du welche hast.«

Patrick seufzte, weil Greg ihm seinen kleinen Sieg gestohlen hatte, zog dann aber bereitwillig eine Schachtel Streichhölzer hervor und zündete die beiden Zigaretten an. »Hoffentlich erstickst du dran, Schlauberger.«

»Gerade eben war ich noch ein Schwachkopf.«

»Dann bist du eben beides. Und ein Dieb.«

»Ein Meisterdieb.« Greg inhalierte tief und ließ den warmen Rauch in seine Lunge strömen. Ihm wurde etwas schwindelig; es war eine Weile her, dass er das letzte Mal geraucht hatte. Seit Papa gegangen war und mit Martha in der Finca wohnte, lagen im Haus in Key West keine halb vollen Packungen Filterlose mehr herum, die sich ihm praktisch aufdrängten, und seiner Mutter eine ihrer schlanken Silk Cuts aus der Handtasche zu stehlen, wäre ein schweres Verbrechen gewesen.

Alles fühlte sich gut an. Das kühle, klare Wasser, das ihm über die Zehen rann. Der Himmel, strahlend blau, wie frisch gestrichen. Der Geschmack von Zucker und Rauch auf der Zunge.

»Da.« Patrick hielt ihm seine Baseballkappe hin. »Setz sie auf.«

»Brauch ich nicht.«

Patrick drückte sie ihm mit dem Schild nach hinten auf den Kopf. »Dein Nacken ist schon ganz rot, Gig. Du siehst aus wie ein Hummer.«

»Ich brauch sie nicht«, entgegnete Greg missmutig, nahm sie ab und versuchte sie Patrick wieder aufzusetzen.

Patrick wich zurück und wehrte sie mit erhobenen Händen ab. »Ich weiß. Aber tu mir trotzdem den Gefallen.«

Greg strich sich die Haare glatt, setzte die Kappe unwillig auf und zog den Schild fast bis zum Hemdkragen in den Nacken. Er gab es nicht gern zu, aber der Schatten kühlte die Haut tatsächlich ein bisschen.

Er trank einen Schluck Cola. »Danke, Pat.«

Sein Bruder erwiderte nichts, sondern schwenkte nur die Füße durchs Wasser und summte fröhlich vor sich hin.

Greg lehnte sich zurück, stützte sich auf die Ellbogen und betrachtete ihn verstohlen aus den Augenwinkeln. Seine Schultern waren inzwischen genauso breit wie die von Patrick, fand er. Er war zwar zwei Jahre jünger und wesentlich kleiner, doch während sein Bruder wie aus Kleiderbügeln und alten Fahrradteilen zusammengebaut zu sein schien, hatte Greg das, was sein Vater eine »Boxerstatur« nannte. Trotzdem sah man sofort, dass sie Brüder waren. Beide hatten den gleichen dunklen Haarschopf, die gleichen dunklen Augen und den gleichen ausgeprägten Unterkiefer, auch wenn Patrick mehr nach der Mutter kam und Greg mehr nach dem Vater.

Über ihnen flog ein Vogelschwarm vorbei, rabenschwarz vor dem hellen Himmel, gleich darauf schossen unten kleine Fische durch das martiniklare Wasser.

»Ganz schön verrückt hier«, sagte Greg.

»Und wie«, erwiderte Patrick, während sich der Fischschwarm in der glitzernden Oberfläche des rasch fließenden Wassers verlor. »Aber eigentlich ganz okay. Mom würde es allerdings nicht gefallen.«

»Wegen den Insekten? Oder weil Martha –«

»Lass es einfach, Gig.«

Nachdem sie eine Zeit lang geschwiegen hatten, sagte Patrick: »Tut mir leid.«

»Schon gut, Pat. Eigentlich ist sie ganz okay.«

»Stimmt … Ich will nur gerade nicht daran denken. Krieg ich noch eine?«

»Klar.«

Patrick zündete die Zigarette an und machte einen Lungenzug. Plötzlich raschelte es hinter ihnen, und mit einem Knacks zerbrach ein Ast.

Die Jungen erstarrten. Greg verschüttete etwas von seiner Cola über sein Kinn. Erst nach einer Weile traute er sich zu sprechen und flüsterte: »Was war das?«

»Keine Ahnung«, antwortete Patrick. »Irgendein Tier.«

»Ach nee! Und was für eins?«

»Keine Ahnung. Was für Tiere gibt es in Kuba?«

»Ein Löwe?«

»Gibts in Kuba nicht, du Schwachkopf.«

»Dann eben ein Gepard.«

Patrick schnaubte verächtlich, und wie als Reaktion darauf raschelte es heftig im Gestrüpp.

»Gibt es hier ganz bestimmt keine Löwen?«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Patrick, doch diesmal klang er weniger sicher. »Wahrscheinlich ein Affe oder so was.«

»Schleichen wir uns an.«

»Was?«

»Wir sehen nach, was es ist. Komm schon.«

»Warte, Gig!«

Doch Greg schlüpfte schon in seine Schuhe und kroch ins Unterholz – auf dem Bauch, wie er es gesehen hatte, wenn sich im Film Soldaten an ein feindliches Camp heranschlichen. Gras und Pflanzen, deren Namen er nicht kannte, schob er mit seinen bloßen Armen zur Seite.

Er hielt inne und wartete auf ein weiteres Rascheln, das ihm die Richtung weisen würde.

»Warum geht es nicht voran?«, flüsterte Patrick fast schon absurd laut hinter ihm.

»Ich will hören, ob da Schlangen sind.«

Bedeutsames Schweigen. »Glaubst du wirklich, dass es hier Schlangen gibt?«

»Ja, wahrscheinlich. Deshalb hat Papa gesagt, dass wir nicht in die Felder gehen sollen – alles voller Schlangen und Spinnen.«

Wie eine Schnecke in Menschengestalt kroch Patrick mit seinem Rucksack nach vorn. Als er dicht an Greg herangekommen war, flüsterte er ihm ins Ohr: »Du laberst nur Scheiße, Gig.«

Greg grinste in sich hinein, und nun folgte er seinem Bruder nach. Während er hinter ihm her robbte, entdeckte er einen Grashalm von passender Länge, riss ihn aus der weichen Erde, beugte sich vor und strich damit, leise aber vernehmlich fauchend, über Patricks Nacken.

Patrick schrie auf, drehte sich hastig um und packte den Halm mit beiden Händen, als wollte er den bedrohlichen Angreifer erwürgen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm klar wurde, was er da hielt und dass sich sein kleiner Bruder hinter ihm auf dem niedergedrückten Gras wälzte und vor Lachen nicht halten konnte.

»Greg.« Er spuckte aus und stemmte sich hoch. »Jetzt bist du dran!«

Immer noch lachend lief Greg los und brach durchs Unterholz. Sein Bruder war ihm dicht auf den Fersen. Plötzlich schoss ein riesiger Leguan aus dem Gras und lief mit weit gespreizten Beinen, die an die Kolben einer Dampflok erinnerten, auf der Suche nach besserer Deckung an ihnen vorbei.

Greg rannte, als ginge es um sein Leben. Sein Bruder war älter und größer und hatte längere Beine, doch Greg war leichtfüßiger und trug keinen idiotischen Rucksack mit sich herum. Immer wenn Patrick näher kam oder mit den Fingerspitzen Gregs T-Shirt streifte, schlug Greg einen Haken oder machte auf dem Absatz kehrt und ließ seinem Bruder nicht die geringste Chance, ihn einzuholen.

In der Hoffnung, Patrick in den engen Straßen und Gassen abschütteln zu können, lief Greg Richtung Barrio – zu dem kleinen Ort San Francisco de Paula, in dem das Haus seines Vaters stand –, hastete zwischen Bäumen hindurch und sprang auf eine staubige Vorstadtstraße hinunter. Patrick war noch immer dicht hinter ihm. Greg flitzte um ein Auto herum und hätte es fast in einen Hausdurchgang geschafft, wäre er nicht über herumliegende Steine gestolpert. Er fing sich zwar sofort wieder – er war viel zu trittsicher, um hinzufallen –, doch Patrick nutzte die gewonnene Zeit, packte die Hand, die sein Bruder ausgestreckt hatte, um die Balance zu halten, und nahm Greg in den Schwitzkasten.

»Jetzt hat dich eine Schlange erwischt, Gigi!«, rief Patrick triumphierend und drehte sich um sich selbst, sodass Greg die Füße nicht auf den Boden bekam. »Pass bloß auf, die beißt!« Er presste seine Fingerknöchel in Gregs Kopfhaut.

Es wäre kinderleicht gewesen, nach hinten auszuholen und Patrick in die Leber zu boxen – sein Vater hatte ihm einmal gezeigt, wie das ging –, doch Greg zerrte nur an dem Arm, der gegen seine Kehle drückte. Er war zwar kleiner, aber stärker, und der Griff seines Bruders ließ langsam nach, auch wenn Patrick Gregs Kopf noch immer mit den Knöcheln bearbeitete.

Er hielt es nicht länger aus, sein Kopf fühlte sich an wie ein durchstochener Football. »Okay, ich geb auf, ich geb auf.«

Patrick ließ ihn los und lehnte sich an eine Wand, um zu verschnaufen. Greg hockte sich in den Staub und rieb sich den Hals. »Mensch Patrick, willst du mich umbringen?«

»Du hast angefangen!«

»Warum willst du denn deinen armen kleinen Bruder verprügeln?«

Patrick prustete abschätzig und hob die heruntergefallene Kappe auf. »Da – damit dein armer kleiner Nacken nicht noch mehr leiden muss.«

Greg setzte die Kappe wieder auf und ließ sich von ihm hochziehen. Erst in diesem Moment sah er die Jungen, die auf der anderen Straßenseite im Schatten eines knorrigen Baums saßen. Er musste praktisch über sie hinweggesegelt sein, als er aus dem Gebüsch auf die Straße gesprungen war.

Reglos wie Katzen und mit undurchdringlichen Mienen beobachteten die sechs von ihrem düsteren Plätzchen aus das Geschehen. Gregs Sonnenbrand schien sich schlagartig bis zu den Wangen auszubreiten – er wurde rot. Warum willst du deinen armen kleinen Bruder verprügeln? Er konnte nur hoffen, dass sie kein Englisch verstanden.

Auch Patrick schien die Sache peinlich zu sein. Er hustete in die Hand, warf Greg einen Blick zu und kickte einen Stein hierhin und dorthin.

Nach einer halben Ewigkeit erhob sich einer der Jungen wie ein erschöpfter alter Mann mühsam vom Boden.

»Eres de la casa grande?«, fragte er. Seid ihr aus dem großen Haus?

Er meinte die Finca Vigía, das Landhaus, in dem Papa mit Martha wohnte. Für Key-West-Verhältnisse war es nicht riesig, doch verglichen mit den dicht gedrängten Häusern im Barrio ein herrschaftlicher Bau.

Greg nickte. »Sí. Acabamos de llegar.« Wir sind noch nicht lang hier.

Der Junge nickte ebenfalls. Dann fragte er: »Englisch?«

»Amerikaner.«

»Aber ihr sprecht Englisch, ja?«

»Sí. Yeah.«

»Ihr seid Söhne von Papa?«

»Ihr kennt unseren Vater?«, fragte Patrick.

»Sí. Er spielt … er spielt Baseball mit uns. Er kauft uns Bälle.« Der Junge drehte sich um und sprach leise zu den anderen. Sie erwiderten etwas und nickten alle, außer einem, der in scharfem Ton und viel zu schnell antwortete, als dass Greg mit seinen kläglichen Spanischkenntnissen etwas verstehen konnte.

Der Junge, der stand, sah den anderen an, schüttelte den Kopf und drehte sich um. Er trat in die Sonne, schlenderte über die Straße zu Patrick und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich heiße Finco Ramos. Ramos.«

»Patrick.« Sie schüttelten sich die Hände wie zwei Diplomaten. »Und das ist Gigi. Greg.«

Ramon musterte Greg anerkennend. »Du siehst ja genauso aus wie er … Giggly?«

»Greg.« Gigi wurde er in der Familie genannt. Das harte Doppel-g kam von Greggy, dem Spitznamen, den er als Kind verwaschen ausgeprochen hatte. Aus dem Mund eines fremden Kindes hörte es sich peinlich an.

Die anderen Jungen waren inzwischen mit aufgesetzter Gleichgültigkeit ebenfalls herübergeschlendert und stellten sich schulterzuckend oder mit halbherzigem Händeschütteln vor. Nur der Junge, der mit Ramos gesprochen hatte, machte nicht mit.

Greg ignorierte ihn. Er versuchte die Stimmung der Gruppe zu deuten. Die meisten waren in seinem Alter und ein paar vermutlich zwölf oder dreizehn, also so alt wie Patrick, aber alle gaben sich viel reifer und taten so, als fänden sie ein Gespräch mit amerikanischen Kindern irgendwie langweilig.

Alle außer Ramos. Er nickte die ganze Zeit, während sich die anderen vorstellten, trat schließlich auf die beiden Jungen zu und klopfte ihnen auf den Rücken. »Kommt mit, wir zeigen euch de Paula.«

Patrick und Greg sahen sich an. Vielleicht war diesen Burschen nicht zu trauen, aber sie zu beleidigen schien auch keine gute Idee zu sein. Papa hatte ja wirklich erzählt, dass einige Jungs aus dem Ort immer bereitstünden, um mit ihm Baseball zu spielen. Sich jetzt davonzumachen und ihnen abends vor dem Haus wiederzubegegnen, wäre peinlich.

Patrick nickte, und die Gruppe bewegte sich durch die gewundene Straße. Die kubanischen Jungen brachten sie zum Hauptplatz des Orts, einer kleinen, mit drängelnden und schiebenden Menschen vollgestopften Fläche. Den Geräuschen nach zu urteilen, fand gerade ein Hahnenkampf statt. Sie führten sie über den Markt, auf dem alte Männer mit staubiger Haut neben Verkaufsständen dösten, die vor farbenprächtigen Früchten überquollen. Sie zeigten ihnen die Kirche in der Mitte des Orts, eine großartige lebende Ruine, die alle umliegenden Häuser überragte und ihren Schatten auf die rechtschaffenen alten Damen warf, die dort ein- und aus gingen.

Gregs Bedenken waren bald zerstreut. Nachdem sich ihre natürliche Scheu gelegt hatte, erwiesen sich die Jungen als begeisterte Fremdenführer. Weil der kleine Ort San Francisco de Paula außer seiner Nähe zu Havanna kaum etwas zu bieten hatte, waren sie persönlich stolz darauf, dass sich ein berühmter Mann bei ihnen niedergelassen hatte.

Der bockige Junge trottete der Gruppe hinterher und weigerte sich, mit Patrick und Greg zu sprechen oder sie auch nur anzusehen. Er hieß Cordaro und verbarg nicht im Geringsten, dass er die bleichen, halb stummen Eindringlinge mit den schicken Kleidern und dem reichen Vater verachtete.

Greg spürte, dass ein Streit unvermeidbar war, dennoch blieb er auf Distanz. Er hatte noch genug Key West in sich, genug von den gestärkten Hemden und schicken Möbeln seiner Mutter, um sich zurückzuhalten. Das würde sich in den kommenden Monaten und Jahren ändern. Sein Vater würde ihn in die kubanischen Boxringe führen und ihm beibringen, dass man immer zuerst und am härtesten zuschlagen musste und beides tun sollte, wenn man ein Mann war.

Der Streit brach aus, als sie im Westen von San Francisco de Paula, wo die schönen Häuser des Zentrums eng beieinanderstehenden Hütten wichen, auf einer ungepflasterten Straße Stierkampf spielten. Statt roter Tücher, die sie nicht hatten, rannten und sprangen sie mit ihren Hemden herum und wirbelten eine Menge Staub auf.

Das Spiel hatte keine Regeln, zumindest keine, die sie hätten in Worte fassen können. Fest stand nur, dass einer von ihnen der Stier, einer der Matador war und die restlichen Jungen die Picadores darstellten, die ganz nach Lust und Laune dem Matador dabei halfen, dem Stier zu entwischen, oder dem Stier, den Matador in die Enge zu treiben, und ansonsten vor vereinzelt vorbeifahrenden Autos warnten.

Greg war der Stier, Cordaro der Matador, und während die anderen auf ihren imaginären feurigen Rössern und mit ihren imaginären scharfen Lanzen um sie herumtänzelten, ließen sich die beiden nicht aus dem Blick. Cordaro war größer als Greg, hatte längere Beine und war dadurch schwer zu fassen. Immer wieder ließ er es zu, dass die von Gregs Fingern dargestellten Hörner den Stoff seines Hemds streiften, und sprang im letzten Moment zur Seite. Doch Greg war unermüdlich, und nach einiger Zeit hörte er Cordaro keuchen, wenn er an ihm vorbeikam und seinen Bauch mit der Schulter streifte. Als sie sich nach einer abrupten Drehung wieder einmal in einer Staubwolke gegenüberstanden, spürte Greg, dass er ihn diesmal drankriegen würde.

Und Cordaro spürte es auch, das sah Greg ihm an. Deshalb trat er vielleicht nicht aus reiner Bosheit, sondern ebenso sehr aus Angst nach Greg, als der erneut auf ihn losging. Greg erwischte es am Fuß, und er landete bäuchlings auf dem steinigen Boden. Nach und nach verstummten das Gejohle und Gelächter. Greg rappelte sich hoch, spuckte Erde aus und betrachtete die schmale Platzwunde am Unterarm, aus der schon Blut quoll.

Der gespielte Kampf war zu Ende. Worauf warten? Die Geschichten seines Vaters gingen ihm durch den Kopf, Geschichten über Whiskey und über Beleidigungen, die durch einen zügig ausgeführten letzten Punch bereinigt wurden. Über schwache Männer, die in sich zusammenfielen wie von der Leine genommene Laken, und über wahrhaft große, die unbesiegt stehen blieben. Doch etwas hielt ihn zurück.

Einer der Jungen, Rodolfo, ging zu ihm und gab ihm sein Hemd. Er arbeite gelegentlich im Haus, hatte er erzählt. Wenn Gäste da seien, halte er Türen auf und serviere Drinks und verdiene damit gutes Geld. Vielleicht sah er Cordaro aus Loyalität zu seinem Arbeitgeber so verächtlich an. Wie auch immer – Greg war ihm dankbar.

Cordaro grinste. »Un accidente. Giggly.«

Gespannt wie Seeleute, die darauf warten, dass die Gewitterwolken aufreißen, bildeten die Jungen einen Kreis um Greg und ihn.

Obwohl alle Augen auf ihn gerichtet waren, zögerte Greg noch immer. Er spürte förmlich den Blick seines Vaters. Angst hatte er nicht, er wollte nur einfach nicht kämpfen. War er feig?

Papa hätte auf jeden Fall Ja gesagt.

Quälend lang geschah nichts. Dann trat Patrick plötzlich vor, stellte sich zwischen die beiden und sagte etwas zu dem älteren Jungen, was Greg nicht verstand, weil Patrick zu schnell Spanisch sprach. Cordaro schüttelte abschätzig den Kopf. Daraufhin spuckte Patrick aus, und als er sich abwandte, verpasste ihm Cordaro zum Abschied einen Stoß. Es war kein heftiger Stoß – Patrick taumelte kaum –, doch für Greg war er der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er stürzte sich auf den Jungen.

Der Kampf war kurz, aber brutal, ein Hagel von Schlägen, ein Gewirr aus Knien und Ellbogen in einem Handgemenge, das Greg mit brachialer Kraft für sich entschied, indem er Cordaro aus dem Gleichgewicht brachte, seine Faust so weit freibekam, dass er ihm einen Magenschwinger verpassen konnte und gleich darauf einen Schlag ins Gesicht. Cordaros Nase platzte auf wie eine reife Pflaume.

Dem Älteren sackten die Beine weg, und Greg ließ ihn ungelenk zu Boden fallen. Cordaro lag eine Weile benommen da, dann richtete er sich auf und blieb schwankend wie ein Betrunkener sitzen. Seine Nase blutete stark, und die linke Gesichtshälfte schwoll bereits an. Trotz des Adrenalins und obwohl es ihn immer noch in den Fingern juckte, bekam Greg Angst, dass er ihn ernsthaft verletzt haben könnte.

In einem blutroten Nebel schüttelte Cordaro den Kopf, und als sein Blick auf Greg fiel, waren seine Augen wieder klar. Greg ließ sich nicht anmerken, wie erleichtert er war.

Cordaro wischte sich das Blut von den Lippen, betastete fast geziert seine Nase und warf den Kopf zurück. »Du kämpfst wie ein Vieh«, sagte er leise auf Englisch. Es klang gequetscht, weinerlich.

»Und du wie ein Mädchen«, erwiderte Gigi verächtlich. Das Adrenalin schoss noch immer durch seine Adern, und seine Hände waren zu Fäusten geballt und kampfbereit. »Peleas como una niña.«

»Nur Kraft, kein Stil.«

»Und du hast weder noch. Soll ich es beweisen? Ich mach dich gleich noch mal fertig!«

Cordaro nahm die Hand versuchsweise von der Nase. Als kein frisches Blut herausschoss, zuckte er mit den Achseln.

Ramos lachte. »Cobarde. Er hat Angst vor dir, Gigi.«

»Ich hab vor keinem Angst. Ich kämpfe morgen wieder mit dir, hier«, fauchte Cordaro.

»Warum nicht jetzt gleich?«, sagte Greg und trat vor. »Lucke … luchemos ahora. Ahora!« In diesem Moment hätte er mit allem und jedem gekämpft. Er hatte sein eigenes Bild vor Augen, stark und furchtlos in der Mittagssonne, wie ein Held aus den Geschichten seines Vaters. Nicht einmal Patricks warnender Blick konnte seine Rauflust dämpfen. Dass er den Kampf ursprünglich für seinen Bruder geführt hatte, war vergessen. Er hatte gekämpft, weil er kein Feigling war, und er hatte gewonnen.

Cordaro wich seinem Blick aus und murmelte etwas.

Zufrieden ließen Greg und die anderen Jungen aus dem Barrio Cordaro auf der staubigen Straße zurück, damit er sich wieder besinnen konnte. Es würde am nächsten Tag keinen Kampf geben.

Wie berauscht von Gregs Sieg rannten sie ohne Grund in halsbrecherischem Tempo durch die engen Gassen und weiter auf den breiteren Straßen, vorbei an dem vom Blut kleiner Märtyrer schwarz befleckten Hahnenkampfring, umliefen Autos und Pferde, wie aus Leder gestanzte alte Männer und junge Damen mit seidiger Haut, Obsthändler in Schürzen und Polizisten, die trotz der drückenden Hitze Uniformen und gestärkte weiße Handschuhe trugen. Sogar Patrick ließ sich begeistern und lachte und jauchzte mit.

Sie bewegten sich, schwärmten aus, liefen mal hintereinander und mal in breitem Strom durch die Straßen, vorbei an farbenprächtig lackierten Türen, blank gescheuerten morschen kleinen Veranden, dicht zusammengedrängten Häusern, eine Welt aus tief schwarzem Schatten und gleißendem Licht. Dann atmete das Städtchen aus, und sie ließen sich weitertreiben, sprangen über Mauern und durchquerten Gärten, in denen gebleichte Wäsche an Leinen welkte, wichen dösenden Wachhunden aus und Hausfrauen mit scharfen Augen.

Nach einiger Zeit verlief sich das Barrio in Wiesen, und sie achteten nicht auf die Schlangen, nicht auf die Spinnen, nicht auf wütende Erntearbeiter, sondern rannten nur, rannten.

Atemlos und nass geschwitzt blieben sie am Feldrain stehen. Ramos strich sich das dichte schwarze Haar aus der Stirn und ging zu Greg. »Wir sind schon spät. Papa wartet auf das Spiel.«

Es ärgerte Greg, dass ihnen der Name so leicht von den Lippen ging. Papa. Als hätten sie einen Anspruch auf ihn. Doch er zeigte es nicht.

Durstig und müde setzte sich die Gruppe in Marsch Richtung Finca. Auf der kurvigen Straße zum Haus lag ein Hund wie hingegossen an einer Mauer; darüber promenierte eine schwarze Katze mit samtigen Pfoten auf den Ziegelsteinen, während ein alter Mann, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, mit präzisen, rhythmischen Schnitten seiner Gartenschere Sträucher stutzte.

Sie gingen durch das breite Eisentor, hinter dem das Haus niedrig und lang gestreckt zwischen den Bäumen stand. Der gedrungene Umriss wurde nur durch den kleinen eckigen Turm unterbrochen, in dem Greg und Patrick schliefen, der Ausguck, der dem Haus seinen Namen gegeben hatte, Finca Vigía.

Die Jungen aus dem Barrio klopften gar nicht erst an die Tür, sondern folgten dem schmalen Weg zwischen Haus und Turm. Die rechts und links des Pfads wuchernden üppigen Pflanzen brachten sie hin und wieder zum Stolpern. Hoch oben an den Wänden und unten im Gestrüpp schrillten Zikaden.

Papa wartete schon im Garten. Er fläzte auf den Verandastufen; in der einen Hand hielt er ein schweres Glas, in dem Eiswürfel klirrten, in der anderen einen Baseball.

Als er sie sah, stand er auf. Das Glas stellte er ab, den Ball warf er mit einer raschen Drehung des Handgelenks in die Höhe, fing ihn geschickt und schleuderte ihn ansatzlos mit Effet in die Gruppe der Jungen. Alle reagierten zu spät; der Ball traf Rodolfo an der Schulter und glitt Ramos, der danach griff, aus den Händen.

Rodolfo zuckte einen halben Schritt zurück, beherrschte sich aber und rieb sich nicht an der Schulter. Das hatte der Junge bereits gelernt. Schwäche wurde nicht akzeptiert – nicht im Barrio und noch viel weniger in der Finca.

Papa lachte sein tiefes, dröhnendes Lachen. Er war in fröhlicher Stimmung. Ein gutes Zeichen – offenbar kam er mit dem Schreiben voran, und keine neidischen Journalisten hatten in den Morgenzeitungen böse Dinge über ihn gesagt.

»Jungs, ihr müsst an eurem Fielding arbeiten. Ihr könnt nicht immer wissen, was auf euch zukommt. Beim Baseball geht es nicht nur um den Schläger.«

»Ja, Caballero.« Rodolfo tastete im schütteren Gras herum, hob den Ball auf und warf ihn von unten zurück.

Papa grinste die Jungen an, und sein Blick fiel auf Greg. Im nächsten Moment flog Greg der Ball entgegen, schneller als zuvor und obendrein angeschnitten, sodass Greg zur Seite springen musste, um das Leder gerade noch mit den Fingerspitzen streifen zu können. Sein Körper bewegte sich, ehe sein Geist begriff, und als er plötzlich mit trockenem Gras im Mund und dem schmutzigen Ball fest in der brennenden Hand auf dem Boden lag, war er selbst überrascht.

Sein Vater sah mit undurchdringlicher Miene zu, wie er sich hochstemmte. Dann brüllte er, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern, in einem Ton, der eine Katze auf zehn Schritt Entfernung umgebracht hätte: »PATRICK!«

Patrick zwängte sich an den anderen Jungen vorbei nach vorn. »Was ist?«

»Ich dachte, du wärst noch im Haus«, sagte Papa verwundert.

»Ich war den ganzen Tag draußen.«

»Das sehe ich. Tja, Pech für dich. Bring die Schläger und die Handschuhe raus. Ich bin an der Plate.«

Patrick seufzte und trottete ins Haus, während die anderen Papa folgten. Greg zögerte kurz und sah seinem Bruder nach. Dann lief er zur Gruppe.

Papa hatte mit unzähligen kleinen Bestechungsgeschenken versucht, die Finca – in der er mit einer Frau lebte, die nicht die Mutter von Patrick und Greg war – für seine Söhne während der Ferien zu einem Zuhause zu machen. Dazu zählten das Zimmer ganz oben im Turm mit der Aussicht über die ganze Stadt, die Freiheit, weder zu einer bestimmten Zeit zurück sein noch morgens aufstehen zu müssen, die Erlaubnis, beliebig viel Alkohol zu konsumieren. Und jetzt offenbar auch ein Baseballfeld.

Es bestand allerdings nur aus ein paar alten, in Form einer Raute ausgelegten Kissen und Linien aus Gras, das man unter Einsatz von Salz hatte verdorren lassen, doch mit den vielen Körpern, die es jetzt füllten, fühlte sich Greg beinahe in die Little League in Key West zurückversetzt, und genau das war wohl Papas Absicht gewesen.

Nachdem die Jungen ihren Durst an einem Gartenschlauch gestillt hatten und Patrick mit Schlägern und Handschuhen zurückgekommen war, wärmte Papa jeden Spieler mit einigen weichen Unterarmwürfen auf. Erst wenn sie jeden Ball zuverlässig so trafen, dass er über das ganze Feld flog, begann er von oben, über die Schulter, zu werfen.

Dann wurde es ernst. Wie beim Stierkampfspiel zählte auch hier niemand mit. Wer am weitesten geschlagen oder die spektakulärsten Bälle gefangen hatte, wurde nach Gefühl entschieden.

Papa war ausschließlich Werfer. Hin und wieder gab er einen Tipp und sagte, was gut oder schlecht gemacht worden war. Die anderen lachten und schwätzten, doch Greg schwieg fast immer, konzentrierte sich auf die Flugbahn des Balls und darauf, wie er ihn fangen könnte, oder achtete, wenn er Schlagmann war, auf die Wurfhand seines Vaters und bemühte sich, seine Körperspannung zu halten und stets vorbereitet zu sein.

Das Spiel hatte sich ungefähr eine Stunde hingezogen, als Greg ein sensationeller Schlag gelang. Sein Vater musste sich ducken, damit er kein Auge verlor. Der Ball segelte wie im Traum über den Pool und ins Gebüsch auf der anderen Seite des Gartens. Durch die Reihen der Jungen ging ein anerkennendes Raunen, doch Greg sah nur seinen Vater an.

Als Papa seinen Blick erwiderte und lächelnd nickte, durchströmten Greg Freude und große Erleichterung.

Auf der Veranda ertönte Applaus, und alle drehten sich um. Martha lehnte in der Tür. Die eingerollte Zeitung unter dem Arm, um die Hände frei zu haben, zwinkerte sie den Jungen zu und sagte: »Du bist ein Naturtalent, Gigi.«

Greg spürte die Röte seinen Hals hinaufkriechen, und schon kam ein scharfer Luftzug, und der nächste Ball war wie eine kleine Kanonenkugel an seiner Wange vorbeigezischt.

»Aufgepasst, Gig!«, rief sein Vater und rollte mit den gewaltigen Schultern. »Wir sind noch nicht fertig.«

Rodolfo war als Nächster an der Reihe, doch weder er noch ein anderer machten Anstalten, Gregs Platz einzunehmen. Als Greg sich für den zweiten Versuch bereit machte, wurde es still.

Der nächste Wurf seines Vaters war der bisher schnellste. Greg zog den Schläger nicht rasch genug durch, um den Ball auch nur zu berühren. Keine Sekunde später folgte der nächste, ein fieser Foul Ball, dem er mit einem Rückwärtssprung ausweichen musste. Er landete auf dem Hintern.

»Na los, Gigi – du bist doch ein Naturtalent«, sagte sein Vater sanft, während Finco die Bälle in seine wartenden Hände zurückwarf.

Greg stand keuchend auf und brachte sich wieder in Position. Er war klug genug, um sich nicht zu beschweren. Er packte den Schläger noch fester, spannte den Unterkiefer an und sah zu, wie sein Vater ausholte und einen weiteren gewaltigen –

»Ernest!«

Wieder richteten sich alle Augen auf die Veranda, doch Martha war inzwischen zu der Bank unter den Bäumen gegangen und balancierte ein frisches Glas Whiskey auf ihrem Knie.

Obwohl es keine zwei Menschen gab, die sich weniger ähnelten als diese beiden, fühlte sich Greg einen Augenblick lang an seinen Vater erinnert, und zwar wegen der Körperhaltung, dieser schwankenden Grazie von Hochseilartisten ohne Netz.

»Wenn du damit fertig bist, bei Kindern Eindruck zu schinden, würde ich dich heute gern noch sprechen.«

Sein Vater ließ die Hand mit dem Ball sinken und starrte Martha über die Köpfe der Jungen hinweg an, die gespannt warteten, ohne zu ahnen, welche Bedeutung ein fehlendes den haben konnte.

Greg hielt den Schläger, so fest er konnte. Der Schweiß, der seinen Rücken bedeckte, wurde allmählich kalt. Er musste bereit sein. Diesmal würde er treffen.

Während die Sonne schwerelos auf die fernen Dächer des Barrio sank, ließ Papa die Bälle achselzuckend zu Boden fallen. »Ihr habt die Dame des Hauses gehört, Jungs – der Spaß ist vorbei. Geht heim, sonst sorgen sich eure Mütter.« Er trat in den Schatten der Bäume, zog die lächelnde Martha von der Bank hoch und ließ es zu, dass sie ihre Hand an seinen Rücken legte. Gemeinsam gingen sie hinein. Auf den Verandastufen drehte sie sich noch einmal um und sah Greg ausdruckslos an.

Wie aus dem Griff eines Magnets befreite Eisenspäne löste sich die Gruppe schlagartig auf. Die Jungen aus dem Barrio eilten lautlos auf flinken Füßen hinaus in den offenen Rachen des Abends. Greg und Patrick blickten ihnen hinterher und spürten dem sanften Schmerz in ihren zur Ruhe kommenden Körpern nach. Draußen im Zwielicht ertönte ein Schuss, aber nicht nah genug, als dass irgendwer reagierte.

Erst als der letzte Junge verschwunden war und der Gärtner das hohe Tor verschlossen hatte, sagte Patrick: »Ganz kurz habe ich gedacht, sie hätte es verbockt.«

Greg schüttelte den Kopf in Erinnerung an die vielen Stunden in Key West, in denen Patrick und er wie Soldaten im Schützenloch in ihren Zimmern ausgeharrt hatten, während von unten Geschrei und Gebrüll und das Klirren von zerschmetterndem Porzellan hinaufdrang. »Die streiten nicht.«

»Noch nicht«, erwiderte Patrick. »Alles in Ordnung mit dir?«

In Gregs Schulter pochte ein dumpfer Schmerz, und seine Hände zitterten, obwohl er sie in die Hüften stemmte. »Ja, alles in Ordnung.«

HAVANNA

1942

»Es wächst sich nicht aus. Ich dachte schon, es wäre so weit, aber er verbirgt es inzwischen nur besser.«

Greg blieb mit dem kalten, beschlagenen Wasserglas in der Hand auf der Treppe stehen. Sein Vater sprach laut – er hatte getrunken –, aber er lallte nicht.

»Bist du dir sicher?« Das war Marthas Stimme.

Greg wusste, dass die Unterhaltung nicht für seine Ohren bestimmt war. Nur hinterhältige Menschen lauschten. Trotzdem blieb er wie angewurzelt stehen.

»Und ob. Zerknüllt und in einem alten Federmäppchen versteckt. Wenn mir nicht die Stifte ausgegangen wären, hätte ich sie nie gefunden. Musste fast kotzen. Ein lustiges Federmäppchen für Kinder, und dann ist das drin. Wie eine Metapher für das Ganze –«

Sein Vater hatte die Unterhose im Federmäppchen entdeckt. Greg stellten sich vor Schuld und Angst die Nackenhärchen auf.

»Vielleicht sollten wir ihm Hilfe besorgen.«

»Kommt nicht in Frage.«

»Aber wenn er –«

»Da hängt ein verfaulter Apfel am Ast, und wohin wird geschaut? Auf den Baum. Nein!«

»Es muss ja nicht öffentlich werden. Wir suchen jemanden, der diskret ist. Auf jeden Fall schwärt da etwas in ihm. Greg ist ein wundervolles Kind, aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm, und es wird nicht besser.«

»Du weißt genau, was die Leute sagen würden, Martha.«

»Über dich?«

»Ja, natürlich! Hörst du mir eigentlich zu? Dass er das von Pauline hat, weil in ihrer Familie so gut wie alle krank sind, wird niemanden interessieren.«

»Brauchst du wirklich noch einen?«

»Ist das dein Ernst? Das bisschen Trost habe ich doch wohl verdient. Sie hat meinen Sohn verseucht!«

»Ist ja gut. Aber wenn er sich nirgendwo Hilfe holen darf, solltest zumindest du mit ihm reden. Es offen ansprechen –«

»Du kannst mich mal, Martha. Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wie es ist, Kinder zu haben und zusehen zu müssen, wie alles den Bach runtergeht?«

»Du kannst mich auch mal, mein Lieber.«

Kaltes Wasser platschte auf Gregs Zehen und versickerte im Treppenläufer. Er umklammerte das Glas fester und zwang sich, eine Stufe hinaufzugehen, dann noch eine, und plötzlich war er wieder in dem Zimmer, das er sich mit Patrick teilte, und lehnte an der Tür.

HAVANNA

1940

Schon bald zog der Alltag in die Finca ein.

Greg lief fast jeden Vormittag mit den Jungs aus dem Ort über die Insel. Patrick kam manchmal mit, blieb manchmal aber auch in seinem Zimmer und hatte grundlos schlechte Laune.

Greg verliebte sich schnell in Kuba. In die vertrockneten Felder mit den mineralisch hell in der Sonne stehenden Pflanzen, und in die tiefen Regenwälder mit den Tieren, die man zwar hörte, aber nie sah. Und in die Menschen, die stolz und hitzig und großzügig waren.

Manchmal ging er nachts allein weg, stieg über die Mauer der Finca und erkundete die Insel, die unter der Sternendecke schlief, während die Generatoren träge tuckerten und aus fernen Grammofonen schmalzige Lieder erklangen. Kuba würde sich nie verändern, sagte er sich, und er auch nicht, solange er blieb.

Nach zwei Wochen Aufenthalt lagen Greg und Patrick vormittags am Pool und tranken den Rum ihres Vaters, nur leicht mit Limettensaft gestreckt.

Greg schwamm und plantschte in der Sonne, während Patrick im Schneidersitz still unter einem Schirm saß und in der düsteren Stimmung versank, in die er vor dem Frühstück geraten war, als Papa mit Gregs und Patricks Mutter brüllend telefonierte.

Greg störte es nicht, dass sein Bruder schwieg. Manchmal kam man besser miteinander aus, wenn keiner sprach; außerdem würde der Rum demnächst seine magische Wirkung entfalten. Beide waren bereits erfahrene Trinker. In Key West hatten sie sich immer bedienen dürfen, wenn ihre Mutter abends aus war, weil Papa es besser fand, wenn sie sich früh und in Maßen daran gewöhnten, anstatt an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag besinnungslos in der Gosse zu liegen. Und hier in Kuba, ein Meer von ihrer Mutter entfernt, hatte er seinen Barschrank geöffnet und erklärt, er wisse, dass sie sich nicht blamieren würden. Und aus Angst, sie könnten dieses heilige Vertrauen missbrauchen, hatten sie bisher nie mehr getrunken, als sie vertrugen.

Erwartungsgemäß tauchte Patrick nach etwa einer Stunde aus seiner Niedergeschlagenheit auf – allerdings nicht, wie von Greg erhofft, mit einer Arschbombe. Er setzte sich nur an den Beckenrand und tauchte die Füße ins kühle Wasser.

»Ich glaube, Papa mag Martha wirklich«, sagte er, als Greg zu ihm schwamm.

»Schon möglich.«

»Findest du sie auch ziemlich jung für ihn?«

»Ja, vielleicht.«

»Irgendwann wird ihr langweilig sein.«

»Wie viel Rum hast du getrunken, Patrick?«

»Nicht viel. Jedenfalls nicht so viel, dass ich betrunken bin, wenn wir spielen.«

»Bist du sicher?«

»Hörst du eigentlich zu?«

»Ja. Ich kapier nur nicht, warum du darüber redest.«

»Ich sage nur, dass sie zwar hübsch und jung und klug ist, aber sie wird nicht bleiben.«

»Warum? So alt ist Papa auch wieder nicht, und man hat Spaß mit ihm …«

»Papa könnte in ein Brötchen scheißen, und du würdest sagen: Das ist ein Hotdog.«

Greg lehnte sich beleidigt zurück. »Gar nicht wahr.«

Trotz der mauen Erwiderung nickte Patrick. »Tut mir leid, Gig. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«

Greg, der noch immer sauer war, tauchte ins Wasser, bis es ihm an die Augen reichte und er wie ein Krokodil auf seinen Bruder starrte.

»Ich sag ja, dass es mir leid tut. Vielleicht war es doch zu viel Rum.«

Greg richtete sich auf. »Dann machen wir dich jetzt mal nüchtern«, sagte er und verpasste ihm einen kräftigen Spritzer.

Seelenruhig wischte sich Patrick das klatschnasse Haar aus den Augen und stand auf. »Du siehst ehrlich gesagt selbst ziemlich betrunken aus, Gig.«

Danach hatten sie fast den gesamten Alkohol in ihrem Blut verbrannt, und Greg war sich ziemlich sicher, die Hälfte des Wassers im Pool geschluckt zu haben.

Sie verbrachten die Mittagszeit mit der Lektüre von Büchern aus Papas Bibliothek im Schatten der Sonnenschirme. Die meisten waren so makellos, als kämen sie frisch aus der Buchhandlung. Nicht der kleinste Tropfen Schweiß oder Wasser durfte auf diese Seiten fallen.

Als das Tor geöffnet wurde und sie die Jungs aus dem Barrio hörten, die auf der Zufahrt standen, konnten sie es längst kaum mehr erwarten. Sie zogen sich hastig an und liefen hin.

Die angenehme Entspannung der vergangenen Stunden fiel schon wieder von Gigi ab. Dass er dem täglichen Baseballspiel mit ebenso viel Angst wie Vorfreude entgegensah, kam ihm nicht merkwürdig vor.

Die Jungs drängten sich inzwischen vor der Haustür, weil sie nicht wussten, ob sie zu früh gekommen waren, und den großen Mann keinesfalls bei der Arbeit stören wollten. Als Ramos Patrick und Greg kommen sah, hob er die Hand und fragte: »Ist er so weit?«

»Jetzt bestimmt«, antwortete Patrick. »Wir haben euch sogar hinter dem Haus gehört.«

Ramos zuckte zusammen. »Und … feliz?«

Greg nickte. Seit dem Mittagessen war aus den Fenstern von Papas Arbeitszimmer Radiomusik gedrungen – immer ein Zeichen dafür, dass der Vormittag gut gelaufen war.

Ramos grinste, und Greg lächelte zurück, aber gezwungen. Er war mit den Gedanken schon beim Spiel.

»Jungs!« Papas Stimme dröhnte aus der offenen Tür, und gleich darauf schritt er die Stufen hinunter. »Schön, dass ihr ausnahmsweise alle pünktlich seid. Cordaro, was schaust du so finster, endlich verzieht sich dein blaues Auge. Hast dich wohl ganz schön hingelegt …«

Cordaro, der irgendwann nachgegeben hatte und jeden Abend mit den anderen mitging, murmelte etwas auf Spanisch und scharrte mit dem nackten Fuß über das Gras.

»Ja, ich weiß Bescheid.« Papa sah Rodolfo an. Dann schenkte er Greg ein verstohlenes, komplizenhaftes Lächeln, das Greg das bevorstehende Spiel fast vergessen ließ.

»Wie auch immer – ich habe da was für euch. Wir sind ein richtiges Team, und ein richtiges Team muss ordentlich ausstaffiert sein.« Er machte eine kurze Pause, als könnte einer der Jungs etwas einwenden. »Ihr geht jetzt alle rein. Martha hat eure Trikots und alles andere vorbereitet. Ihr könnt die Sachen hierlassen, wenn ihr sie nicht tragt, dann bleiben sie besser in Schuss.«

Die Jungs sahen ihn unverwandt an.

»Na, was ist? Rein mit euch!«

Sie stürmten los, sprangen die Stufen hinauf und hinein in den großen dunklen Eingangsbereich wie stiebende Funken in einem Kamin. Und wirklich standen beide Flügel der Esszimmertür weit offen, und Martha wartete in einem langen, cremefarbenen Kleid mit den Baseballsachen, die sie sorgsam auf dem glänzenden Tisch ausgelegt hatte – alles so weiß, dass die Jungs sich erst in die Hände spucken und die Finger am Hemd abwischen mussten, bevor sie es wagten, den Stoff anzufassen.

»Auf jedem Trikot steht der Name«, verkündete Martha mit ihrem samtweichen Lachen, als wäre sie schon seit Jahren mit den Jungs aus dem Ort befreundet. »Wer nicht lesen kann, sagt mir, wie er heißt, dann zeige ich ihm sein Trikot. Die Größen konnten wir natürlich nur schätzen …«

Alle schrien gleichzeitig los, jeder wollte der Erste sein. Nur Greg und Patrick blieben im Hintergrund. Ihnen waren weder helle neue Kleidungsstücke noch Marthas Charme fremd. Sie sahen zu, wie die anderen ihre blütenweißen neuen Trikots und Hosen anzogen, betrachteten Martha, deren Lächeln und Lachen wie immer von dem scharfen, unsteten Blick begleitet waren, der Greg an ein Kameraobjektiv erinnerte. Und dann stolzierte Ramos wie ein Gockel zu ihnen und deutete auf das Signet über seinem Herzen.

»Schau, Gigi! Schau!«

In Gold waren dort eine Sternschnuppe und der Schriftzug Estrella De Gigi aufgestickt – Gigis Stars.

Die Brüder betrachteten das Trikot, dann ging Patrick ohne ein Wort zum Tisch, zog sich aus, streifte die Baseballsachen über und verließ den Raum mit den noch steifen grellen Buchstaben auf der Brust.

Greg blickte ihm hinterher. Er hätte ihn gern zurückgerufen, doch er wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich ging auch er zum Tisch, um den sich die anderen drängten, und berührte das Trikot und den goldenen Schriftzug.

»Dein Vater hat darauf bestanden«, sagte Martha.

»Estrella De Gigi!«, rief einer der Jungs, die anderen stimmten johlend ein und sprangen herum.

Greg zog seine Hand zurück. Seine Finger hatten einen Fleck auf dem weißen Stoff hinterlassen.

Alle stürmten in den Garten. Sein Vater und Patrick saßen auf den Stufen und steckten die Köpfe zusammen wie zwei Verschwörer. Sein Bruder machte eine Bemerkung, sein Vater lachte. Obwohl Gregs Name an der Brust aller anderen Jungen prangte, krampfte sich bei dem Anblick sein Magen zusammen.

Patrick spielte gut. Er drosch einen Ball nach dem anderen bis zum Rand des Finca-Grundstücks, zerfetzte die Sukkulenten und verwüstete die Blumenrabatten. Schon raunten sich einige der Jungs zu, dass er Gigi an diesem Tag vielleicht endlich schlagen werde.

Greg gab vor, sie nicht zu hören, und ignorierte auch, dass sein Vater bei jedem Ball, den Patrick hart schlug, in Triumphgeschrei ausbrach.

Das Spiel zog sich in den Abend hinein. Keiner wollte derjenige sein, der seine wartende Mutter erwähnte – schon gar nicht, solange Greg weiter verlor. Während der Tag langsam endete und der Himmel im Licht pulsierend bernsteingelb erglühte, ebbten das Gelächter und die Witzeleien ab. Greg spürte die Blicke der anderen, doch er erwiderte sie nicht, sondern sah nur den an, der gerade an der Plate stand.

Es war Patrick – irgendwie war es immer Patrick. Ein Auge halb geschlossen, damit kein Schweiß hineinfloss. Papa warf den Ball tief und schnell, und Patrick neigte sich genau richtig und traf mit der Spitze des Schlägers. Das Geräusch war so schön wie der Schlag selbst. Der Ball flog in die dichter werdende Düsternis und prallte an die Mauer hinten im Garten.

Es war mit Abstand der weiteste Ball an diesem Tag, vielleicht sogar der weiteste in allen bisherigen Spielen. Papa schützte seine Augen mit der erhobenen Hand vor der untergehenden Sonne, während Patrick eine gemächliche Ehrenrunde um die grob angedeutete Raute lief. »Verdammt gut, Patrick. Fast so weit, wie ich in deinem Alter geschlagen habe.«

Patrick zuckte mit den Achseln, als er den Schläger zurückgab, konnte aber nicht verhindern, dass seine Mundwinkel nach oben wanderten.

»Ich glaube, die Trikots müssen schon jetzt geändert werden. Jungs, wie findet ihr Estrella De Patrick?«

Für Greg war es wie ein Schlag ins Gesicht.

»Es ist zwar schon spät, und ich will eure Mütter nicht wütend machen, aber was meint ihr – sollen wir Gig noch eine Chance geben, sich den Titel zurückzuholen?«

Die Jungs hatten wahrscheinlich nicht jedes englische Wort verstanden, doch das Wesentliche war ihnen klar. Unschlüssig sahen sie einander an. Sie wollten nicht aufhören zu spielen, noch weniger aber ihre Mütter verärgern.

Greg trat vor. »Spielen wir weiter. Ich bin bald an der Reihe.«

Sein Vater sah sich lächelnd danach um, ob irgendeiner widersprach, doch alle schwiegen.

»Dachte ich mir schon, Greg.«

Die Nacht hatte den Ort fast verschluckt, als Greg den von Schweiß und geplatzten Blasen dunkel gewordenen Schläger aufhob. Seine Hände waren schon wund gescheuert, doch er achtete nicht auf den Schmerz, als er mit den Fingern über die Maserung strich und durch seine hauchdünn gewordene Haut jede Delle und jeden Knubbel spürte.

Papa beobachtete ihn. Ein Junge warf ihm einen Ball zu, den er fing, ohne hinzusehen. Seine Augen blieben auf seinen Sohn gerichtet.

»Bereit, Gig-man?«

Statt einer Antwort hob Greg den Schläger über die Schulter, spreizte die Beine, holte tief Luft und –

– etwas Schmutzigweißes flog am Rand seines Blickfelds vorbei. Sein Vater stand mit ausgestrecktem Arm da, und Greg brauchte kein Sonnenlicht, um das feine Lächeln in seinem Gesicht zu sehen.

»Ich dachte, du wärst bereit. Das ist Strike one.«

Greg sagte immer noch nichts. Hätte er jetzt den Mund aufgemacht, hätte er sich übergeben müssen. Er packte den Schläger noch fester, so fest, dass die Haut einriss.

Der Ball wurde geholt, und als Papa die lässige Haltung aufgab und ihm den Ball wie einen Peitschenhieb zuwarf, war Greg diesmal darauf gefasst. Oder, falls er doch nicht darauf gefasst war – falls er den Ball nicht mal kommen sah –, zumindest sein Körper, und als Nächstes wurde ihm bewusst, dass er den Schläger schon geschwungen hatte und das süße Gefühl des Kontakts mit dem Ball in seinen Armen kribbelte.

Ganz am Ende dieses Abends flog der Ball in hohem Bogen dem Himmel entgegen. Über das Gras, die niedrigen Sträucher, die Gartenmauer hinweg in die Straßen von San Francisco de Paula und in die Nacht.

Einige Jungs jubelten. Papa stützte die Hände auf die Knie und lachte. »Verflucht noch mal, dieser Kerl! Morgen früh rufe ich bei den Red Sox an.«

Gregs Erleichterung war so groß, dass ihm schon wieder übel wurde. Er atmete tief, um sich zu beruhigen, und blickte sich halb stolz, halb beschämt nach seinem Bruder um, ohne zu wissen, welche Reaktion er sehen wollte. Patricks Gesicht war so verkniffen, als versuchte er, etwas hinunterzuschlucken, was nicht durch seine Kehle passte. Doch dann lösten sich seine Züge, er zuckte mit den Schultern und stimmte in den Jubel der anderen ein. Es fiel ihm leicht – er war ganz locker, und sein Lächeln, als er den Daumen hob, echt.

Greg hätte den Neid, diesen Schmerz in seiner Brust, nicht erklären können.

Damit war das Spiel selbstverständlich zu Ende. Die Jungen rannten hinein und zogen sich eilig um. Greg setzte sich auf die Eingangsstufen und sah zu, wie sie einzeln oder zu zweit herauskamen, und ihre nackten Füße blitzten auf, als sie an ihm vorbei nach Hause liefen. Bestimmt dachten sie schon an die Schläge, die sie kassieren würden, weil sie zu spät zurückkehrten. Er hatte ein schlechtes Gewissen, doch Reue empfand er nicht.

Die Äste des riesigen Kapokbaums, der die Fassade des Hauses beschattete, schwangen sanft in einem Lüftchen über ihm, das zu hoch oben wehte, als dass er es spüren konnte. Patrick ging wie ein Gespenst auf dem Rasen herum und hob die Bälle und liegengebliebenen Handschuhe auf.

Papa schlenderte leise summend zum Haus hinauf. An der Tür blieb er stehen. »Wir müssen irgendwas finden, was du nicht gut kannst, Gig-man. Das stärkt den Charakter.«

Greg hob den Blick und versuchte zu erraten, welche Antwort Papa gefallen würde. »Ja, vielleicht. Aber wer will schon den Charakter von einem Verlierer?«

Sein Vater lachte. Nicht über ihn, sondern mit ihm.

Noch ein paar Jungs kamen heraus und verabschiedeten sich, während sie weiterliefen, doch Papa achtete nicht auf sie. Er beugte sich zu seinem Sohn hinunter und verstrubbelte ihm die Haare. »Stimmt. Weißt du, wie man ein guter Verlierer wird, Gig? Mit viel Übung. Bleib, wie du bist.« Grinsend legte er seine Hand an Gregs Hinterkopf. Das war alles, aber es war genug.