Herausgefordert - Andreas C. Jansson - E-Book

Herausgefordert E-Book

Andreas C. Jansson

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Beschreibung

Flucht und Flüchtlinge stellen nicht erst seit der sog. Flüchtlingskrise ab dem Jahr 2015 eine Herausforderung für Kirchen und Gemeinden in Deutschland dar. Gleichwohl werden diesem Phänomen und den von ihm betroffenen Menschen seither besondere Aufmerksamkeit zuteil. Gemeinden landauf und landab haben seit Jahren Kontakt zu Menschen, die ihre Flucht nach Deutschland geführt hat, engagieren sich in den unterschiedlichsten Formen der Flüchtlingshilfe und integrieren von Flucht betroffene und in Teilen gezeichnete Menschen in ihre Gemeinschaft. Das macht Flucht und Flüchtlinge auch zu einem Thema der missionarischen Gemeindeentwicklung. In der vorliegenden Arbeit werden die Phänomene Migration und Flucht in ihrer gegenwärtigen Gestalt grundlegend dargestellt, die sog. Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 bis 2017 nachgezeichnet und auf ihre Bedeutung für evangelische Kirchen und Gemeinden hin untersucht. Dabei zeigt sich, dass für die missionarische Gemeindeentwicklung Flucht und Flüchtlinge eine Herausforderung in einem doppelten Sinne darstellen: Sie fordern Gemeinden dazu auf, aktiv und tätig zu werden, und stellen sie dabei vor komplexe Problematiken und Aufgaben.

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Seitenzahl: 283

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Danksagung

Den WERTESTARTERN,

Stiftung für Christliche Wertebildung,

für die Ermöglichung von fünf Jahren Forschung und Lehre

am Institut zur Erforschung von Evangelisation und

Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald

zu dem Themenfeld Migration, Integration, Flüchtlingsarbeit und Kirche

sowie Themen der Mission, Evangelisation und Diakonie

und der kontextuellen Gemeindeentwicklung

am Beispiel von Fresh Expressions of Church (Fresh X).

Geleitwort von Prof. Dr. Michael Herbst

Während ich dieses Geleitwort zu Andreas C. Janssons neuem Buch über Flucht und Migration im Juni 2023 schreibe, wird mir mehr als deutlich, dass unter den vielen weltbewegenden Themen unserer Tage die hier verhandelte Frage einen besonders prominenten Platz einnimmt – ob es uns gefällt oder nicht. Das Thema beschäftigt uns politisch und bewegt uns, wird kritisch diskutiert und emotional kommentiert. Allein in diesen letzten Tagen zeigte sich diese Brisanz der Fragen nach Flucht und Migration in meinem kleinen und unserem großen Umfeld:

Nachrichten aus der Nachbarschaft, genau genommen: Anruf der Pfarrerin unserer Gemeinde bei meiner Frau. Wieder einmal hat die Pfarrfamilie einen Geflüchteten ins Kirchenasyl aufgenommen. Ob sie sich vorstellen könne, dem aus Syrien Geflohenen Deutschunterricht zu geben?

Nachrichten aus

Greifswald,

also der Stadt, in der Andreas C. Jansson und ich einige Jahre gemeinsam am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) geforscht, gelehrt und auch in einer Gemeinde („GreifBar") zusammengearbeitet haben. Genau da, in einem Plattenbaugebiet, ist Streit ausgebrochen. Soll die Stadt städtische Flächen für eine Containersiedlung für Geflüchtete zur Verfügung stellen? Wer diese Frage mit „nein" beantwortet, kann dafür völlig gegensätzliche Motive haben: Er oder sie kann die Unterbringung in Containern als unwürdig abweisen. Er oder sie kann aber auch grundsätzlich dem Zuzug von „noch mehr" Geflüchteten widersprechen. Nun werden die Bürgerinnen und Bürger in Greifswald in einem Bürgerentscheid darüber abstimmen.

Nachrichten aus

Deutschland:

Die Kommunen ächzen unter der Last, eine weitere Welle von Flüchtenden aufzunehmen, menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen. Zu den Fluchtbewegungen aus dem „Süden" also vorwiegend aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika kam seit 2022 die Flucht von fast sechs Millionen Menschen aus dem ukrainischen Kriegsgebiet in den Raum der Europäischen Union. Wie kann man das finanziell bewältigen? Aber auch: Wie kann man insgesamt die Fluchtbewegungen begrenzen, nun wieder vor allem aus dem „Süden" damit die Kommunen unter der Last nicht zusammenbrechen? Kann man das? Darf man das? Darf man zwar die fleißigen Hände und klugen Köpfe im Land willkommen heißen, weil unser Arbeitsmarkt sie braucht, aber andererseits ab einer gewissen Größenordnung den Bedürftigen, unter Lebensgefahr Geflüchteten sagen, dass bei uns kein Platz für sie ist? Darf man das? Oder muss man das?

Nachrichten aus

Europa:

Mühsam ist im Juni 2023 eine Einigung in der Europäischen Union zustande gekommen. Die Interessen und Haltungen der Mitgliedsstaaten könnten unterschiedlicher kaum sein. Jetzt aber soll es eine Vorklärung der Chancen von Asylanträgen bereits an der EU-Außengrenze geben. Eine Schnellprüfung soll dann die identifizieren, die geringe Aussichten auf Anerkennung ihres Asylantrags haben (weil sie z.B. aus sogenannten „sicheren Drittstaaten" stammen). Sie sollen gar nicht erst in die EU einreisen. Während der Klärung ihrer Lage sollen sie in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen verbleiben. Ihr Verfahren soll – nach rechtsstaatlichen Kriterien – schon vor Ort und möglichst rasch – durchgeführt werden; bei negativem Bescheid sollen sie „zurückgeführt" werden. Die einen sprechen von einem wichtigen Erfolg, weil gleichzeitig erstmals die Mitgliedsstaaten der EU zur Aufnahme eines entsprechenden Anteils der Geflüchteten verpflichtet werden (oder für die Weigerung aufzunehmen zur Kasse gebeten werden). Die anderen finden die Vorstellung, möglicherweise durch die Flucht traumatisierte Menschen in „gefängnisähnlichen Lagern" festzuhalten, unerträglich.

Nachrichten

aus der ganzen Welt:

Das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) meldet am 14. Juni 2023 einen neuen Höchststand: Fast 110 Millionen Menschen befinden sich demnach zurzeit auf der Flucht vor Verfolgung, Konflikten, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Das sind rund 19 Millionen mehr als vor einem Jahr. Menschen fliehen u. a. aus den Kriegsgebieten in der Ukraine, wollen dem sudanesischen Bürgerkrieg entkommen oder werden von den Taliban aus Afghanistan vertrieben. Und: Auch aus Syrien lässt der Strom der Flüchtenden nicht nach.

Wie ist es zu dieser dramatisch zugespitzten Lage gekommen? Warum fliehen Menschen aus ihrer Heimat? Was unterscheidet Flucht und Migration? Andreas C. Jansson hat mit seinem Buch auf viele dieser Fragen Antworten und leistet damit einen wichtigen Beitrag für alle, die besser verstehen und einordnen wollen, was sie nahezu täglich in den Nachrichten hören. Das ist das erste Verdienst des Autors: Auf relativ knappem Raum, aber ohne Verkürzung der komplexen Lage, liefert er Informationen über die weltweite Lage, die Ursachen und Formen von Flucht und Migration und die politischen Debatten, die hierzu bereits geführt wurden. Er kann nicht alle (z. B. oben gestellten) Fragen beantworten, aber er liefert Grundlagenwissen zu Flucht und Migration, das die komplexen Sachverhalte besser verstehen lässt.

Freilich ist das erst die eine Seite dieses neuen Buches: die historische und politische Dimension der Thematik. Ebenso spannend ist der Blick, den Andreas C. Jansson als Theologe auf die angesprochenen Fragen wirft. In seiner (unbedingt empfehlenswerten!) Dissertation Der eine Sendungsdienst der Kirche (Leipzig 2023, MuK, Bd. 2) hat er penibel und überzeugend den Zusammenhang von Wortverkündigung und helfender Tat, von Evangelisation und Diakonie geklärt. Die Fragen von Flucht und Migration sind dann gleichsam die Probe aufs Exempel. Neben den gesellschaftlichen Debatten gibt es ja auch intensive kirchliche Debatten.

In der Regel sind die kirchlichen Beiträge an einer entschiedenen Zuwendung und Hilfsbereitschaft zu Gunsten der Menschen interessiert, die auf ihrer Flucht zu uns kommen. Darum werden auch Seenotrettungsschiffe im Mittelmeer kirchlich finanziert, von Abschiebung bedrohte Geflüchtete ins Kirchenasyl aufgenommen oder Geflüchtete in Kirchengemeinden unter großem Einsatz von Ehrenamtlichen begrüßt und betreut. Das Votum der christlichen Kirche zum Thema scheint entschieden, der Einsatz beeindruckt und verbessert das ramponierte Ansehen der Kirche. Die Gemeinden erleben ihren Einsatz zugleich (sozusagen als willkommene Nebenwirkung) als Jungbrunnen, denn das gemeinsame Engagement belebt auch das gemeindliche Leben.

Das alles erfahren wir auch von Andreas C. Jansson, der auf den verschiedenen Handlungsebenen von Kirche und Theologie zu Hause ist und obendrein die historischen und politischen Fragen kundig bearbeitet. Sein erfreulich pointiert und knapp gehaltenes Buch nimmt niemandem die eigene Meinungs- und Willensbildung ab, aber hilft dazu, sich selbst gut informiert und auch theologisch orientiert ein eigenes Urteil zu bilden.

Viereth-Trunstadt, den 15. Juni 2023

Prof. Dr. Michael Herbst

Inhalt

Geleitwort von Prof. Dr. Michael Herbst

Einleitung

Migration in der globalisierten Weit der Gegenwart

2.1 Migration als vielfältiges Phänomen

2.1.1 Zum Begriff Migration

2.1.2 Eine Definition von Migration

2.1.3 Formen gegenwärtiger Migration

2.2 Migration als globales Phänomen der Gegenwart

2.2.1 Phasen der internationalen Migration in der Moderne

2.2.2 Internationale Migration der Gegenwart

2.2.3 Zum Zusammenhang von Migration und Globalisierung

2.3 Migration als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand

2.3.1 Migration in integrationszentrierter Perspektive.

2.3.2 Migration in kausaler Perspektive

2.3.3 Migration in konsekutiver Perspektive

Flucht als gegenwärtige globale europäische Herausforderung

3.1 Flucht als vielfältiges Phänomen

3.1.1 Die sog. Genfer Flüchtlingskonvention

3.1.2 Eine Definition von Flucht und Flüchtlingen

3.1.3 Flucht und Flüchtlinge seit dem 20. Jahrhundert.

3.2 Flucht als globales Phänomen der Gegenwart

3.2.1 Das gegenwärtige Ausmaß des globalen Phänomens Flucht

3.2.2 Globale Brennpunkte von gewaltbedingter Flucht und Vertreibung

3.2.3 Globale Brennpunkte katastrophenbedingter Vertreibung

3.3 Die sog. Flüchtlingskrise in Europa und Deutschland

3.3.1 Die Flüchtlingspoiitik der Europäischen Union

3.3.2 Die Europäische Union und die sog. Flüchtlingskrise

3.3.3 Deutschland und die sog. Flüchtlingskrise

Kirche und Theologie in Deutschland in der sog. Flüchtlingskrise

4.1 Die evangelische Kirche in Deutschland in der sog. Flüchtlingskrise

4.1.1 Die sog. Flüchtlingskrise als Herausforderung für die EKD

4.1.2 Die sog. Flüchtlingskrise als Herausforderung für die Diakonie Deutschland

4.1.3 Die sog. Flüchtlingskrise als Herausforderung für Gliedkirchen der EKD

4.2 Evangelische Theologie in Deutschland und die sog. Flüchtlingskrise

4.2.1 Ethisch-theologische Diskurse im Kontext der sog. Flüchtlingskrise

4.2.2 Die kirchliche Praxis reflektierende Diskurse zur sog. Flüchtlingskrise

4.2.3 Missionstheologische Diskurse im Kontext der sog. Flüchtlingskrise

4.3 Die Frage nach Diakonie und Mission im Kontext der sog. Flüchtlingskrise

4.3.1 Die diakonische Frage im Kontext der sog. Flüchtlingskrise

4.3.2 Die missionarische Frage im Kontext der sog. Flüchtlingskrise

4.3.3 Die Fragen nach Diakonie und Mission in der missionarischen Gemeindeentwicklung angesichts von Flucht und Flüchtlingen

Ausblick

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

1 Einleitung Flucht und Flüchtlinge als Herausforderung missionarischer Gemeindeentwicklung

Missionarische Gemeindeentwicklung ist dem Anspruch nach sendungs- und dienst bewusste Gemeindeentwicklung,1 Sie weiß sich in die missio Dei gestellt,2 versteht sich also als Teil der Missionsbewegung Gottes, die aus den Tiefen seiner Liebe entspringt.3 Missionarische Gemeindeentwicklung ist dementsprechend weltzugewandte Gemeindeentwicklung; sie ist interessiert, engagiert und hingebungsvoll. In alledem ist missionarische Gemeindeentwicklung kontextuelle Gemeindeentwicklung. Sie nimmt ihren Kontext wahr, nimmt ihn ernst und lässt sich von ihm herausfordern.

Die Themen, die sich in Gemeinden, welche auf solch missionarischkontextuelle Weise ausgerichtet sind, stellen, ergeben sich zum einen aus dem Evangelium von Jesus Christus und dem Reich Gottes.4 Hieraus folgt ihr grundlegender Auftrag und ihre Zielperspektive.5 Zum anderen ergeben sich die Themen aus den jeweiligen Kontexten, in denen sich Gemeinden befinden und bewegen. Orte (Städte, Stadtteile oder Dörfer, Regionen und Gebiete) und Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenslagen (Lebensweisen und Lebenswirklichkeiten, Situationen und Probleme, Weltanschauungen und Perspektiven, Milieus und Mentalitäten, ...) stellen weltzugewandte, engagierte und hingebungsvolle Gemeinden vor immer wieder neue Fragen, Herausforderungen und Aufgaben.

Ein Thema, welches in den letzten Jahren Kirchen und Gemeinden landauf landab beschäftigt und im doppelten Sinne herausgefordert hat, ist die Begegnung mit und das Engagement für Flüchtlinge.6 Es ist eine Herausforderung im Sinne einer positiven Provokation, eines Anstoßes zum Tätigwerden, zum engagierten Dienst der Nächstenliebe. Und zugleich stellt es sich in aller Regel als Herausforderung im Sinne komplexer Problematiken und Aufgaben dar, die es zu bewältigen gilt. Dies galt insbesondere im Zuge der sog. Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 bis 2017; es gilt jüngst wieder angesichts der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge, die im Zuge des russischen Angriffskrieges ihr Land verlassen mussten.

Missionarische Gemeindeentwicklung bezieht nun die beiden Quellen, aus welchen sich ihre Themen ergeben, aufeinander. Sie schaut vom Evangelium auf den Kontext und vom Kontext auf das Evangelium. In diesem Sinne stellt sie sich der Aufgabe der Kommunikation des Evangeliums.7 Und das heißt in diesem konkreten Fall: Sie fragt nach der wechselseitigen Bedeutung von Jesus Christus und dem Reich Gottes auf der einen und dem Phänomen Flucht und Flüchtlinge auf der anderen Seite. Welche Bedeutung hat das Evangelium desjenigen, der gemäß matthäischem Bericht selbst in jüngsten Jahren zum Flüchtling wurde (Mt 2,13-23) und der vor dem Hintergrund des berühmten Philipperhymnus geradezu als göttlicher Migrant zu bezeichnen ist (Phil 5,6-11), für jene Flüchtlinge, die ihre Heimat zurücklassen mussten und nun in unseren Dörfern und Städten Aufnahme finden? Welche Gestalt nimmt das Reich Gottes, welches trotz allem „Noch nicht", trotz aller Uneindeutigkeit und allen noch unvollendeten, fragmentarischen Charakters, „doch schon" im Hier und Jetzt punktuell und zeichenhaft präsent ist, für jene Menschen und in unserem Umgang mit ihnen an? Und auch umgekehrt: Wie steht die konkrete Situation der Flüchtlinge in unseren Orten, vor unseren Türen und auch in unseren (Gemeinde-)Häusern in Bezug zum Evangelium des Gekreuzigten und Auferstandenen und zu seinem Reich? Laut Martin Hoffmann und Hans-Ulrich Pschierer geht es in der Gemeindeentwicklung darum,

nach dem Ursprung, dem Auftrag und Ziel der Kirche zu fragen und darüber die passende Gestalt von Gemeinde am jeweiligen Ort und der jeweiligen Situation unter den realen Herausforderungen und Lebensbedingungen zu finden.8

Für Gemeinden, in deren näherem Umfeld Flüchtlinge leben, durch die sie sich (in mindestens einem der beiden Wortsinne) herausgefordert wissen und die vielleicht schon seit Jahren in der Flüchtlingshilfe und Integrationsarbeit engagiert sind und/oder Menschen mit Fluchterfahrungen in ihre Gemeinschaft integriert haben, gehört das Phänomen Flucht und Flüchtlinge zu ihrem „jeweiligen Ort", zu ihrer „jeweiligen Situation" und zu ihren „realen Herausforderungen und Lebensbedingungen". Flucht und Flüchtlinge haben damit – Hoffmann/Pschierer folgend – einen Einfluss auf die konkrete Gestalt der Gemeinde. Die „passende Gestalt von Gemeinde am jeweiligen Ort" ergibt sich aus ihrem dem Evangelium entspringenden Auftrag einerseits und den konkreten Herausforderungen des jeweiligen Kontextes andererseits.

Mission und Kontext sind so betrachtet die beiden zentralen Begriffe der Gemeindeentwicklung.9 Dabei sind beide Begriffe unlöslich aufeinander bezogen: Das Sendungsbewusstsein drängt in den Kontext hinein – und sofern es sich um ein an der missio Dei und damit an der Liebe Gottes orientiertessendungsbewusstsein handelt,10 tut es dies nicht auf invasorischimperiaIistische, dienstvergessene Art und Weise, sondern dem jeweiligen Kontext gegenüber zugewandt und diakonisch-hingebungsvoll, interessiert und fragend, wertschätzend und (darum dann aber durchaus auch) evangelistisch-werbend. Umgekehrt wird das Interesse am Kontext sich nicht in bloßer Wissbegierde erschöpfen oder sich allein vom Kontext her erschließen, was es zu tun und zu lassen gilt. Vom Kontext her gilt es den Auftrag und die Mission der Kirche (missio ecclesiae) zu befragen, ja Gott selbst und seine Mission (missio Dei) und seine Freudenbotschaft von Jesus Christus und dem Reich Gottes zu betrachten und tiefer verstehen zu suchen. Die konkrete Gestalt der Gemeinde ist von beiden Bezugsgrößen her zu prägen und zu entwickeln: Mission und Kontext. Mit Blick auf das hier verhandelte Phänomen formuliert: Auf die Frage, wie Gemeinde vor Ort aussehen sollte, was sie zu tun und wie sie es zu tun hat, darauf hat auch die konkrete Situation von Flüchtlingen Einfluss, sofern sie Teil des gemeindlichen Kontextes sind. Und in unzähligen Gemeinden im deutschsprachigen Raum sind sie dies, bleiben sie dies auf absehbare Zeit bzw. werden sie es immer wieder neu werden.

Die letzten Jahre legen die Annahme nahe, dass das Phänomen Flucht und Flüchtlinge kein Ausnahmethema für Gemeinden ist, sondern ein wiederkehrendes, nicht selten beständiges Thema. Flucht und Flüchtlinge werden Gemeinden in unserem Land immer wieder – im doppelten Sinne – herausfordern: zu Engagement und Aktivität anstoßen und vor Anstrengungen und Probleme stellen. Vor diesem Hintergrund lohnt sich eine grundlegende Beschäftigung mit jenem Phänomen. Diesem Anliegen ist die vorliegende Arbeit verpflichtet. Bevor das Phänomen Flucht und Flüchtlinge näher betrachtet wird, kommt das umfassendere Thema Migration in den Blick. Da Flucht ein Spezialfall der Migration ist, lässt sich am Phänomen Migration bereits vieles wahrnehmen, das auch für die Situation von und mit Flüchtlingen charakteristisch und prägend ist. Außerdem zeigt der migrationssoziologische Überblick, dass die Unterscheidung von Flüchtlingen und Arbeitsmigrantinnen und-migranten keineswegs so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Daher werden nacheinander und aufeinander aufbauend die Phänomene Migration und Flucht in ihrer globalen Bedeutung und vielfältigen Erscheinungsform dargestellt. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem Themenkomplex Flucht und Migration im Zuge der sog. Flüchtlingskrise ab dem Jahr 2015 zuteil. Das gilt gleichermaßen gesellschaftlich und politisch wie kirchlich und theologisch. Daher werden die diesbezüglichen Entwicklungen und Diskurse in beiden Feldern - mit Blick auf die Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland einerseits und hinsichtlich der evangelischen Kirche und Theologie in Deutschland andererseits – untersucht und dargestellt. Dabei zeigt sich, dass insbesondere in diesen Jahren das Phänomen Flucht und Flüchtlinge als große Herausforderung wahrgenommen wurde. Die kirchlichen und theologischen Debatten und Diskurse werfen dabei eine doppelte Frage auf, die sich insbesondere im Rahmen der missionarischen Gemeindeentwicklung stellt: Es ist die Frage der diakonischen sowie der missionarischen Herausforderung im Kontext der sog. Flüchtlingskrise, welche die Frage nach dem Verhältnis von Diakonie und Mission impliziert. Abgeschlossen wird diese Darstellung, die vom allgemeinen Phänomen der Migration hin zur konkreten missionarisch-diakonischen Herausforderung für Gemeinden angesichts der sog. Flüchtlingskrise ab dem Jahr 2015 führt, mit einem Ausblick auf die Praxis missionarischer Gemeindeentwicklung. Er umfasst eine Reihe von Anregungen und Impulsen, die dabei helfen sollen, das Thema Flucht und Flüchtlinge auf das Evangelium von Jesus Christus und dem Reich Gottes bzw. den (in der missio Dei begründeten) missionarischen Auftrag der Gemeinde zu beziehen und sie miteinander ins Gespräch zu bringen.

Wenn eine solche Reflexion, welche die konkrete Situation von und mit Flüchtlingen vor Ort und den missionarischen Auftrag der Gemeinde aufeinander bezieht, in Gang kommt und dabei die vorliegende Arbeit diesem Prozess einige hilfreiche Anregungen zuzuführen vermag, ist diese an ihr Ziel gelangt. Denn die Frage der konkreten und passenden Gestalt von Gemeinden angesichts der Herausforderungen, die sich mit dem Phänomen Flucht und Flüchtlingen für Gemeinden stellen, wird nicht in Büchern, sondern immer nur vor Ort beantwortet werden können – und das nicht an einem Tag und für immer, sondern in fortwährenden Prozessen der Reflexion und Entscheidungsfindung, des Ausprobierens und Scheiterns, des Lernens und Bessermachens. Kurzum: Die konkrete und hoffentlich passende Gestalt erhalten Gemeinden in der Praxis missionarischer Gemeindeentwicklung. Die vorliegende Arbeit vermag nicht mehr, versucht aber auch nicht weniger zu sein als eine anregende und informative Zuarbeit zu einem für die missionarische Gemeindeentwicklung relevanten Thema.

1 Zu dem dieser Formulierung zugrundeliegenden Begriff des einen Sendungsdienstes der Kirche siehe Jansson, Andreas C.: Der eine Sendungsdienst der Kirche. Ein Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Evangelisation und Diakonie unter besonderer Berücksichtigung der Missionstheologie David J. Boschs, Leipzig 2023. Zum Ansatz missionarischer Gemeindeentwicklung siehe grundlegend Herbst, Michael: Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, Neukirchen-Vluyn 52010.

2 Zum zentralen Begriff der missio Dei siehe Kapitel 4.3.3 dieser Arbeit sowie einführend Jansson, Andreas C.: Zwischen kopernikanischer Wende und trojanischem Pferd. Zum Begriff der missio Dei, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft, 46(2), 2020, 401-419.

3 So wurde Mission auf der Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 beschrieben: Margull, Hans Jochen: Zur Sendung der Kirche, München 1963, 96.

4 Zu den Implikationen dieser Formulierung siehe Jansson: Der eine Sendungsdienst der Kirche, 313-329.

5 Vgl. hierzu auch Hoffmann, Martin / Pschierer, Hans-Ulrich: Reich Gottes im Werden. Modell einer auftragsorientierten Gemeindeentwicklung, Leipzig 22010.

6 Ich nutze in der vorliegenden Arbeit konsequent den Begriff „Flüchtling" – und nicht etwa den gegenwärtig häufig gebrauchten Alternativbegriff „Geflüchtete(r)" –, um die Verbindung zu zentralen historischen und gegenwärtigen Bezügen sichtbar zu halten. Dabei ist u. a. an die sog. Genfer Flüchtlingskonvention, die Erinnerung an Fluchterfahrungen im Zuge des Zweiten Weltkrieges und der Zeit der Teilung Deutschlands, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oder die UNO-FIüchtlingshilfe zu denken. Zudem wird auch im migrationssoziologischen Fachdiskurs, auf welchen im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird, in aller Regel von „Flüchtlingen" gesprochen.

7 Zum Begriff der Kommunikation des Evangeliums, der in der jüngeren deutschsprachigen Praktischen Theologie – vergleichbar dem Missionsbegriff in der gegenwärtigen globalen Missionstheologie – als umfassender Leit- und Oberbegriff verwendet wird, siehe einführend Jansson, Andreas C.: Die Kommunikation des Evangeliums als Leitbegriff der Praktischen Theologie. Kopernikanische Wende oder Trojanisches Pferd?, in: Biblisch erneuerte Theologie 2023 (in Druck) und vergleiche diesen Diskurs mit Jansson, Zwischen kopernikanischer Wende und trojanischem Pferd.

8 Hoffmann/Pschierer: Reich Gottes im Werden, 24.

9 „Mission und Kontext" lautete aus derlei Überlegungen heraus auch der Titel des sog. Greifswalder Studienprogramms, welches über viele Jahre am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald zum regelmäßigen Kernbestand des Lehrangebots zählte. Auch die jüngst begonnene, von Michael Herbst, Patrick Todjeras und Felix Eiffler herausgegebene Reihe bei der Evangelischen Verlagsanstalt (EVA) trägt ebenjenen Titel.

10 Die missio Dei wird recht verstanden als missio amoris Dei: Wrogemann, Henning: Mission als „Oikumenische Doxologie". Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis der missio amoris Dei, in: Vision Mission, (18), 2003, 3-26; Ders.: Wie kann ein christliches Glaubenszeugnis gegenüber Muslimen begründet werden? Missio amoris Dei und die Frage der Anerkennung, in: Theologische Beiträge, 47(5), 2016, 305-323. Vgl. hierzu auch Jansson: Zwischen kopernikanischer Wende und trojanischem Pferd, 414-418.

2 Migration in der globalisierten Welt der Gegenwart

Die deutsche Gesellschaft ist geprägt von zahllosen Migrationsbiografien und -geschichten. Im Jahr 2021 hatte mehr als jeder vierte Mensch in Deutschland einen Migrationshintergrund (27,2%).11 Für Kirchen und Gemeinden ist das Thema Migration sowohl „nach außen" als auch „nach innen" von enormer Bedeutung: In den heutigen gesellschaftlichen Zusammenhängen stellt sich unweigerlich die Frage des interkulturellen und interreligiösen Miteinanders.12 Doch nicht nur im Gegenüber zu Menschen anderen Glaubens und anderer Herkunft – oftmals unter der Überschrift des interreligiösen Dialogs verhandelt – auch innerhalb von Kirche und Gemeinde ist das Thema des interkulturellen Miteinanders virulent und wird zunehmend wahrgenommen und diskutiert.13 Auch für die missionarische Gemeindeentwicklung gilt es dieses Thema grundlegend zu reflektieren,14 Hinzu kommt das vielfältige Phänomen der sog. Migrationskirchen (oft auch Gemeinden anderer Sprache und Herkunft genannt).15 Unsere gesellschaftliche wie kirchliche Landschaft ist stark geprägt von Migration in ihren unterschiedlichsten Formen und Auswirkungen.

Einer missionarischen, an ihrem jeweiligen Kontext interessierten Gemeindeentwicklung ist es vor diesem Hintergrund geboten, sich intensiv mit dem bedeutsamen Phänomen der Migration auseinanderzusetzen. Für ein vertieftest Verständnis der mit Migrationen einhergehenden Dynamiken und Herausforderungen (für alle am Migrationsprozess beteiligten Seiten) ist es ratsam, sich die grundlegendsten Erkenntnisse der wissenschaftlichen Untersuchung jenes Phänomens vor Augen führen zu lassen. Diesen Versuch unternehmen die folgenden Ausführungen. Dabei zeigt sich, dass Migration in Geschichte und Gegenwart ein ebenso weites wie komplexes Themenfeld darstellt. Es ist vielen Wissenschaftsdisziplinen Forschungsgegenstand und wird zunehmend interdisziplinär untersucht. Die Migrationsforschung kann insofern als „multi- und interdisziplinäres Konglomerat an Forschungen"16 bezeichnet werden. Im Folgenden soll in der gebotenen Kürze einen groben Überblick über Migration als vielfältiges (2.1) und gegenwärtiges globales Phänomen (2.2), sowie als wissenschaftlichen Forschungsgegenstand (2.3) gegeben werden.

2.1 Migration als vielfältiges Phänomen

Für ein erstes grundlegendes Verständnis des vielfältigen Phänomens der Migration sollen zunächst die Begrifflichkeit (2.1.1) und eine mögliche Definition (2.1.2) in den Blick genommen werden, sodann ein Überblick über wesentliche Formen gegenwärtiger Migration gegeben werden (2.1.3).

2.1.1 Zum Begriff Migration

Das Wort Migration leitet sich vom lateinischen migrare (wörtl. „wandern") ab. Sein Verständnis wird gegenwärtig durch den weltweiten Gebrauch des englischen migration mitgeprägt. In den Sozialwissenschaften werden unter diesem Begriff diejenigen Wanderbewegungen verstanden, mit weichen ein Wohnortwechsel und/oder die räumliche Versetzung des Lebensmittelpunktes für einen längeren Zeitraum verbunden sind. Mit dem vagen Kriterium eines längeren Zeitraumes wird eine Abgrenzung von Besuchen, Urlauben sowie (Tourismus- oder Geschäfts-)Reisen vorgenommen. Migration als Wohnortswechsel wird differenziert in „internationale Migration" (engl. international migration; die Wohnorte sind durch mindestens eine Staatsgrenze getrennt) und „Binnenmigration" (engl. internal migration; die Wohnorte gehören zu unterschiedlichen Verwaltungseinheiten desselben Landes), eine v. a. für statistische und politische Zwecke relevante Unterscheidung. Wird Migration hingegen als Versetzung des Lebensmittelpunktes definiert, werden die unterschiedlichen Sozialräume des Herkunfts- und Ankunftskontextes wahrgenommen. Dabei kommt ein größerer Teil menschlicher Lebens- und Erfahrungswelt in den Blick, was einer differenzierteren soziologischen Betrachtung des Phänomens Migration dient.

Migration als solche ist offensichtlich nicht allein ein Phänomen der Moderne. „Migration ist zu jeder Zeit und in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte vorgekommen"17, der Mensch kann als Homo migrans gelten18. Gleichzeitig wird Migration zu Recht als spezifisches Phänomen der gegenwärtigen globalen Situation betrachtet. Stephen Castles et al. sprechen vom „age of migration“ und argumentieren:

[I]nternational migration is a constant, not an aberration, in human history. [...] Over the last five centuries, migration has played a major role in colonialism, industrialization, nation-state formation and the development of the capitalist world market. However, international migration has never been as pervasive, or as socio-economically and politically significant, as it is today. [...] The hallmark of the age of migration is the global character of international migration: the way it affects more and more countries and regions, and its linkage with complex processes affecting the entire world.19

Damit wird internationale Migration als konstitutives Element der mit dem Stichwort Globalisierung charakterisierbaren Gegenwart beschrieben.

2.1.2 Eine Definition von Migration

Da Migration in komplexe globale Zusammenhänge eingebettet ist, bedarf es einer soziologischen Definition, welche die wesentlichen Aspekte und Dynamiken dieses Themenkomplexes aufgreift. Als hilfreich erweist sich hierbei die Definition Ingrid Oswalds:

Migration wird [...] verstanden als ein Prozess der räumlichen Versetzung des Lebensmittelpunkts, also einiger bis aller relevanten Lebensbereiche, an einen anderen Ort, der mit der Erfahrung sozialer, politischer und/oder kultureller Grenzziehung einhergeht.20

Ihre Definition beinhaltet vier Elemente: Sie beschreibt Migration als

(1.) einen prozesshaften Vorgang,

(2.) welcher mit einem Ortswechsel verbunden ist,

(3.) in dessen Zuge der Lebensmittelpunkt versetzt wird

(4.) und es zu Erfahrungen von Grenzen kommt.

Vorzüge wie Nachteile dieser viergliedrigen Definition zeigen sich im Vergleich mit klassischen Definitionen, welche den geographischen Aspekt fokussieren. So beschreibt beispielsweise Bernhard Nauck Migration als einen „Wohnortwechsel von relativer Dauer"21. Der Vorteil von Oswalds Definition wird durch eine Überlegung Petrus Hans veranschaulicht:

Der vollzogene Wohnortwechsel ist zwar ein sichtbares Zeichen, aber keineswegs der Endpunkt der Migration. Es kann gesagt werden, dass der wesentlich zeitintensivere und schwierigere Teil der „inneren psychosozialen Migration" erst nach der „äußeren physischen Migration" beginnt.22

Vor diesem Hintergrund ist Migration als ein Prozessgeschehen aufzufassen (1. Element der Definition Oswalds). Dieser Prozess beinhaltet freilich einen Wohnortswechsel (2. Element), betrifft aber darüber hinaus die meisten sozialen Bezüge der Person, d. h. den Lebensmittelpunkt, an dem jene sozialen Bezüge zusammenlaufen (3. Element).23 Hierauf bezieht sich die „innere psychosoziale Migration", von der Han spricht. Sie ist u. a. darum zeitintensiv und schwierig, da im Zuge der Migration Grenzen begegnen (4. Element), die überwunden oder nicht überwunden werden. Sie können geografischer, nationalstaatlicher und migrationspolitischer Art sein und damit Migration als Wohnortwechsel erschweren. Als sprachliche, soziale, kulturelle, religiöse oder integrationspolitische Grenzen betreffen sie das Versetzen des Lebensmittelpunkts, wobei sich Migration als „eine außerordentliche psycho-soziale Leistung"24 zeigt. Solche Grenz-Erfahrungen werden nicht bloß von den Migrierenden gemacht, sondern ebenfalls von Menschen, die bereits (etablierter) Teil der aufnehmenden Gesellschaft sind. Dabei entsteht ein nicht unerhebliches Konfliktpotenzial, welches nicht zuletzt darin begründet liegt, dass Migration nicht bloß die Lebensumstände der Migrierenden umgestaltet, sondern auch die Aufnahmegesellschaft verändert. Daher können Migrationen mit Jochen Oltmer als „räumliche Bewegungen von Menschen" bezeichnet werden, welche „weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert"25.

Der Vorteil der Definition Oswalds liegt darin, dass sie über den Wohnortswechsel hinaus zentrale Elemente benennt, die Migration ausmachen: den Prozesscharakter, den Aspekt des versetzten Lebensmittelpunktes, sowie die (beidseitigen) Grenz-Erfahrungen. Hierin zeigt sich allerdings auch die Schwäche ihrer Definition: Sofern die Beschreibung als Prozess (1. Element) suggeriert, dass Migration immer einen Anfang und ein Ende habe, geraten sämtliche Formen des Nomadismus oder allgemeiner alle Fälle, bei denen Migration permanenter Teil der Kultur oder des Lebensstils ist, aus dem Blick. Ein (fast) vollständige Versetzung des Lebensmittelpunktes (3. Element) muss bspw. bei der Saisonarbeit nicht vorliegen, wenn der Lebensmittelpunkt größtenteils im Heimatkontext verbleibt und lediglich der Arbeitsplatz temporär begrenzt versetzt wird. Durch Grenz-Erfahrungen (4. Element) sind viele Formen der Binnenmigration (und auch einige Formen der internationalen Migration) kaum gekennzeichnet. All diese Fälle geraten bei einer allgemeineren, auf den Wohnortwechsel (2. Element) begrenzten Definition besser in den Blick, wobei selbst hier noch die seltenen Fälle permanenter Migration herausfallen, bei denen von einem Wohnort nicht gesprochen werden kann.

Sich diese Einschränkung bewusstgemacht, bleibt Oswalds Definition hilfreich, da sie auf zentrale (mit wenigen Ausnahmen vorfindliche) Aspekte der Migration hinweist. Sie verdeutlicht, dass Migration für Migrierende wie Aufnahmegesellschaften ein komplexes, oftmals langandauerndes und dabei herausforderndes Geschehen ist.

2.1.3 Formen gegenwärtiger Migration

Migrationsformen werden häufig anhand geographischer, temporaler, motivationaler und quantitativer Kriterien unterschieden. Doch erweisen sich polare Unterscheidungen zwischen (a) internationaler und Binnenmigration, (b) zeitlich begrenzter und permanenter Migration, (c) freiwilliger und erzwungener Migration, sowie (d) Migration eines Individuums oder einer Gruppe als unscharf.26 So wichtig es für statistische und staatspolitische Interessen ist, so wenig darf in der soziologischen Betrachtung dichotom gedacht werden. Hilfreicher als eine Typologie anhand solcher Kriterien ist für einen ersten Überblick eine Zusammenstellung verbreiteter Migrationsformen der Gegenwart:27

(1.) Es lassen sich diverse Formen der selbstgewählten Arbeitsmigration feststellen, denen das Ziel zugrunde liegt, durch Arbeit im Ankunftsgebiet die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern: Das trifft für (i.) die meisten Fälle der klassischen Immigration, (ii.) die sog. Gastarbeit und (iii.) die Saisonarbeit zu, wobei durch die Saisonarbeit das Leben im Herkunftsgebiet verbessert werden soll, in das regelmäßig zurückgekehrt wird. Zudem müssen hier (iv.) Siedlungswanderungen mit dem Ziel des Bodenerwerbs zur landwirtschaftlichen Nutzung und (v.) Entsendungen (z. B. von Expatriaten, Diplomaten oder Soldaten) in den Blick genommen werden.

(2.) Daneben gibt es nicht unmittelbar ökonomisch motivierte Wanderungen, deren Motive in den Bereichen der Erfahrungssuche, Ausbildung, des Lebensstiles oder der Liebe/Familie begründet liegen: (i.) Auslandsaufenthalte nach dem Schulabschluss (z. B. als Au-pair oder in Form von Work and Travel) sind der Erfahrungssuche zuzuordnen, (ii.) (Aus-) Bildungsmigrationen (bspw. während eines Studiums oder auch Gesellenwanderungen) darüber hinaus auch der Ausbildung, womit sie als mittelbar ökonomisch motiviert gelten können. Als (iii.) Lebensstil migration lässt sich der Staatsgrenzen überschreitende Umzug (oftmals) privilegierter Personen beschreiben, der kulturelle, gesundheitliche oder klimatische Gründe haben kann, (iv.) Heirats- oder Liebeswanderung ist eine weitere Form, die hier zu nennen ist, wenngleich Heirat nicht ausschließlich romantisch begründet sein muss, sondern auch ökonomischen Zwecken dienen kann. Ebenso ist (v.) die Familienzusammenführung als Folgemigration zu bedenken.

(3.) Eine ganz andere Gruppe der Migrationsformen fasst diejenigen Wanderungen zusammen, die (nicht ihrem Ergebnis, sondern ihrem Wesen nach) dauerhafter Natur sind und einen Aspekt der Kultur oder des individuell gewählten Lebensstiles darstellen: Das beschreibt (i.) alle Formen des Nomadismus, außerdem (ii.) ein Leben der Wanderarbeit oder des Wanderhandels. Ein junges Phänomen, welches privilegierten Menschen vorbehalten ist, wird (iii.) als Transnationalismus bezeichnet und beschreibt ein Leben, welches sich dauerhaft an mehreren durch Landesgrenzen getrennten Orten abspielt.

(4.) Schließlich sind diejenigen Migrationen zu nennen, welche erzwungen werden und als Gewaltmigrationen bezeichnet werden können: In einer aktiven Entscheidungsrolle befinden sich Migrierende im Falle der (i.) Flucht, wenn sie lebens- oder existenzbedrohenden Gefahren weichen. Oftmals wird die Entscheidung zur Migration allerdings nicht von ihnen selbst getroffen. Das gilt für (ii.) Evakuierungen, bei denen die entscheidende Instanz den Betroffenen gegenüber wohlgesonnen ist, aber auch für (iii.) zwangsverordnete Umsiedlungen (z. B. ethnischer Minderheiten), (iv.) gewaltsame Vertreibungen und (v.) Deportationen (oftmals von Zwangsarbeitskräften). Besonders am letztgenannten Fall sieht man eine enge Verbindung zum (vi.) Sklaven- und Menschenhandel.

Diese Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder vollkommene Trennschärfe und die Gruppierung anhand von Ursachen und Motiven kann nur eine vorsichtige sein. Denn die Motivlage ist meist vielschichtig und zwischen gänzlich freier und eindeutig erzwungener Migration liegt ein weites Spektrum an Wanderbewegungen, die sich einer bipolaren Zuweisung entziehen. Der Wert einer solchen Auflistung liegt in dem Überblick hinsichtlich der Vielfalt und Komplexität globaler Migrationsformen. Bei einer vertieften Betrachtung spezifischer Migrationsformen kommen dann die angesprochenen geographischen, temporalen, motivationalen, quantitativen und (wie zu ergänzen ist) juristischen Aspekte zum Tragen.

2.2 Migration als globales Phänomen der Gegenwart

Im Folgenden soll Migration als gegenwärtiges globales Phänomen näher in den Blick genommen werden. Dabei gestaltet sich die statistische Erfassung aufgrund von unterschiedlichen Methoden und Definitionen in den verschiedenen Ländern, sowie der mitunter schlicht unvollständigen Existenz entsprechender Daten schwierig. Besonders für die quantitativ gewichtigere Binnenmigration gilt, dass ihr weltweiter Umfang nur sehr grob geschätzt werden kann.28 Die Angaben zur internationalen Migration hingegen stützen sich auf verlässlichere Daten und können zumindest im Groben als valide gelten. Die Vereinten Nationen (engl. United Nations, UN) geben für das Jahr 2005 763 Millionen Binnen-29 und 191 Millionen internationale Migrantinnen und Migranten30 an. Bei einer damaligen Weltbevölkerung von 6.542 Millionen Menschen31 entspräche das 11,7% bzw. 2,9%. Auch wenn die Binnenmigration einen viermal so großen Umfang hat wie die internationale Migration, so ist letztere für die globalen Zusammenhänge und die gesellschaftlichen und (internationalen wie nationalen) politischen Diskussionen bedeutender. Die folgenden Ausführungen zur Migration als gegenwärtigem globalem Phänomen werden sich daher auf die qualitativ gewichtigere internationale Migration beschränken. Dabei ist festzustellen, dass internationale Migration in der Moderne im Wandel begriffen ist und in unterschiedliche Phasen unterteilt werden kann (2.2.1). Sie hebt sich gegenwärtig sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht von ihren einstigen Gestalten ab (2.2.2) und ist als globales Phänomen im Rahmen der Globalisierungsprozesse zu verstehen (2.2.3).

2.2.1 Phasen der internationalen Migration in der Moderne

Das Phänomen Migration, weiches an sich so alt wie die Menschheit ist, erhält in der Moderne zunehmend globale Züge. Dabei lässt sich die moderne Geschichte der internationalen Migration nach Douglas S. Massey et al. grob in vier Phasen unterteilen:32

(1.) „Mercantile period": Migration im Rahmen von ökonomischer Ausbreitung, Kolonialisierung und Sklavenhandel zwischen 1500 und 1800.

(2.) „Industrial period": Die Auswanderung vieler Europäer in die früheren Kolonien in Übersee (allen voran in die USA) als Folge der Industrialisierung in ihren Heimatländern bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

(3.) „Period of limited migration": Eine Phase der Unterbrechung und Beschränkung ökonomisch motivierter internationaler Migrationen durch den Ersten Weltkrieg und restriktive Einwanderungsgesetze zwischen den Kriegen, sowie der durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Masse von Flüchtlingen und Vertrieben.

(4.) „Period of post-industrial migration": Migration als ein Phänomen, welches sich seit den 1960er Jahren in einer postindustriellen Zeit grundsätzlich neu darstellt.

Dabei ist anzumerken, dass zwischen 1850 und 1914 (in der „industrial period") schätzungsweise 55 Millionen Migrationen erfolgten, sodass mitunter vom „age of mass migration" gesprochen wird.33 Im Kontrast zu diesen starken Migrationsflüssen aus Europa nach Übersee sprechen Massey et al. (aus nordamerikanischer Perspektive) von einer „period of limited migration" ab 1914. Angesichts der Schätzungen von bis zu 60 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges in Europa34 sowie von zusätzlichen etwa 95 Millionen im japanisch-chinesischen Krieg ab 193 735 erscheint diese Bezeichnung allerdings im besten Falle unangemessen. Das 20. Jahrhundert gilt vor diesem Hintergrund als das „Jahrhundert der Flüchtlinge"36. In jedem Fall stellt sich internationale Migration gegenwärtig deutlich anders dar. Massey et al. charakterisieren sie als mittlerweile wirklich globales Phänomen mit zunehmender Quantität, Diversität und Komplexität:

The period of post-industrial migration emerged during the 1960s and constituted a sharp break with the past. Rather than being dominated by outflows from Europe to a handful of former colonies, immigration became a truly global phenomenon, as the number and variety of both sending and receiving countries steadily increased [...].37

Dabei unterscheidet sich die internationale Migration der Gegenwart in quantitativer, viel mehr aber noch in qualitativer Hinsicht deutlich von ihrer einstigen Gestalt.

2.2.2 Internationale Migration der Gegenwart

Internationale Migration ist ein in absoluten Zahlen deutlich wachsendes, gemessen an der Weltbevölkerung mäßig wachsendes Phänomen, welches sich in den unterschiedlichen Teilen der Welt verschieden darstellt.

Die UN beziffern die Anzahl internationaler Migrantinnen und Migranten auf 280,6 Millionen. Für das Jahr 2010 wird diese Zahl mit 221,0 Millionen angegeben, 2000 mit 173,2 Millionen und 1990 mit 153,0 Millionen (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1 Internationale Migrantinnen und Migranten zwischen 1990 und 2020 weltweit sowie in den „more developed" und „less developed regions" in Millionen38