Herausspaziert - Bettina Becker - E-Book

Herausspaziert E-Book

Bettina Becker

4,7

Beschreibung

"Stell dir vor, die Zukunft wird wunderbar und du bist schuld." Bettina Becker besuchte Prostituierte auf dem Straßenstrich, predigt von unterschiedlichen Kanzeln, spielt Theater mit geflüchteten Kindern und ist Präsidentin des 1. FC Knast 09. An all diesen unterschiedlichen Orten und in diesen unterschiedlichen Menschen ist sie Gott begegnet. Und sie hat angefangen, Fragen zu stellen, die nicht immer bequem sind. Die Theaterpädagogin, Theologin und Improschauspielerin gibt Einblick in ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Teilt ihre teilweise auf schmerzhafte Art gewonnenen Erkenntnisse. Und erzählt Geschichten, die verwirren und zum Schmunzeln bringen. Die berühren und herausfordern, aber vor allem Mut machen: selber herauszuspazieren, Menschen zu begegnen, Gott zu suchen und Hoffnung zu leben.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22866-3 (E-Book)ISBN 978-3-417-26795-2 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:CPI books GmbH, Leck

© 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58 452 WittenInternet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel Weiter wurden verwendet:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten. (NLB)

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten. (ELB)

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Porträt der Autorin: Dirk Mahler

Titelbild: istockphoto.com

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

INHALT

Über die Autorin

Vorwort von Andreas Malessa

Ein paar Worte vorweg von mir

Teil 1: Rausgehen ist wie Fenster aufmachen – nur krasser

Kapitel 1: Verwirrt

Kapitel 2: Ich verurteile dich nicht

Kapitel 3: Du bist ja nicht ganz dicht

Kapitel 4: Verzweifelt

Teil 2: Wer’s glaubt, wird selig?

Kapitel 5: Alles improvisiert!

Kapitel 6: Habt ihr auch Erfolg?

Kapitel 7: Von hochgekrempelten Ärmeln

Kapitel 8: Von Popcorn und Vertrauen in eine unsichtbare Welt

Teil 3: Eigentlich wollte ich die Welt retten – aber es regnet

Kapitel 9: Ein paar Gründe, drinnenzubleiben

Kapitel 10: Teelicht im Dunkeln oder Glühbirne im Kronleuchter?

Teil 4: Stell dir vor, die Zukunft wird wunderbar und du bist schuld

Kapitel 11: Was machen wir im Zoo?

Kapitel 12: Es geht auch ohne mich

Kapitel 13: Nass aber glücklich

Kapitel 14: Herausspaziert

Die kleine Fackel

Danke

Anmerkungen

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Über die Autorin

BETTINA BECKER (Jahrgang 78) lebt mit ihrem Mann Simon und ihren drei Kindern in Magdeburg. Die gebürtige Sauerländerin gründete mit Freunden den Verein Sunrise e.V., der kreativ, unkonventionell und nachhaltig diese Welt an den unterschiedlichsten Orten ein Stück heller und bunter machen möchte.

Für Liz.Ich danke dir. Du leuchtest.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

VORWORT VON ANDREAS MALESSA

Ich wage die Prognose: In 50 Jahren werden manche Sätze von Bettina Becker genauso zitiert werden wie heute die von Dietrich Bonhoeffer oder Mutter Teresa. Das klingt Ihnen jetzt zu großspurig, zu pathetisch?

Na ja, den Beweis oder die Widerlegung meiner Behauptung werde ich ja nicht mehr erleben. Aber Sie, heute, Sie können auf den folgenden Seiten doch mal nachschauen, ob es irgendwo sonst eine Theologin, Theaterpädagogin, Sozialaktivistin, Ehefrau und Mutter gibt, die ihrem Publikum so viel Umdenken zumutet und so viel Ermutigung zusagt, wie Bettina Becker das tut. Sie wird hoffentlich nicht von einem Unrechtsregime ermordet und vermutlich nicht vom Vatikan heiliggesprochen werden – aber das braucht sie auch nicht, um richtungsweisend zu sein. Autorität bekommen ihre Sätze durch die radikale Tatsache, dass Bettina Becker tatsächlich alles schon getan hat, worüber sie theologisch reflektiert. Die schlichte Faktizität, der Beweis des Feldversuchs – die verleihen diesem Buch Gewicht. Deshalb, so meine ich, wird man es als Kraftquelle, Ideenbrunnen und spirituelle Navigationshilfe wertschätzen und zitieren, wenn es um Glaube, Hoffnung und Liebe geht.

Und um Nutten, Neonazis, Asylanten und Asoziale.

Warum man denen vertrauen soll, für sie hoffen, beten, rackern und – sie lieben kann. Lieben?? Nee, oder? Echt jetzt? Ja, echt jetzt.

Ihre Schreibe ist Spreche, ihr Humor ist loriotartig lakonisch, ihre Auslegung biblischer Texte ist präzise. Ob sie vom Apostel Petrus, von den Jüngerinnen Maria und Marta, vom Zweifler Thomas oder vom Zöllner Zachäus erzählt; ob sie den jüdischen Philosophen Martin Buber, den dänischen Pädagogen Jasper Juul oder den russischen Schriftsteller Leo Tolstoi als Zeugen aufruft – immer geht es ihr um das Trompetensignal zum Aufbruch. Raus aus der geölten Mechanik sozialer Sachzwänge, bürgerlicher Sicherheiten und geistlicher Selbstbestätigung. Sie will „lieber ein Teelicht im Dunkeln sein als eine weitere Glühbirne im Kronleuchter“. Eben! Ich auch.

Andreas Malessa

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EIN PAAR WORTE VORWEG VON MIR

Hallo!

Ich habe den Gedanken, ein Buch zu schreiben, schon lange mit mir herumgetragen. War motiviert, habe gezögert, war begeistert. Jetzt ist es fertig und ich stelle fest:

Dieses Buch ist kein Buch, das viele schlaue Antworten gibt, sondern eher ein Buch mit vielen Fragen.

Fragen, die aufkamen, als ich herausspaziert bin. Raus aus meinem alltäglichen Umfeld, hin zu den unterschiedlichsten Menschen. Fragen, die aufkamen, als ich gemerkt habe, dass vieles einfach nicht mehr zusammenpasst. Fragen, die ich immer noch habe und denen ich mich in diesem Buch aus unterschiedlichen Richtungen nähere.

Fragen, die vielleicht auch bei Ihnen aufkommen. Manche werden Sie vielleicht provozieren, manche ärgern, manche erschrecken und vielleicht werden Sie manche Fragen auch freuen. Und vielleicht haben Sie nach diesem Buch auch ein paar mehr Fragen als vorher … das wäre schon mal gut.

Aber es geht mir natürlich um noch mehr als um die Fragen. Ich habe mich entschieden, all diese Geschichten, Gedanken, Fragen und vielleicht sogar ein paar Einsichten in ein Buch zu packen, damit es hinterher mehr Menschen gibt, die herausspazieren. Die aufstehen und losgehen, hin zu den Menschen in ihrer Stadt. Menschen, die dieser Welt guttun, die Hoffnung verbreiten, die mit schuld daran sein wollen, dass wir eine wunderbare Zukunft haben. Die herausspazieren, auch wenn noch viele Fragen offen sind.

Die Geschichten sind nicht meine Geschichten. Es sind zwar Geschichten, die ich erlebt habe, und Menschen, denen ich begegnet bin, aber eben diese Menschen sind es, die die Geschichten lebendig gemacht haben. Die Geschichten sind alle wahr, auch wenn ich die Namen und manche Kleinigkeiten zum Schutz der betreffenden Personen geändert habe.

Während ich an diesem Buch schrieb, bekam ich eine Postkarte mit dem Spruch: Rausgehen ist wie Fenster aufmachen, nur krasser.

Nun, dieses Buch, könnte für Sie vielleicht so etwas sein wie ein offenes Fenster. Da weht ein bisschen frische Luft, ein bisschen Gestank, und etwas Stimmengemurmel rein. Und dann können Sie entscheiden, ob Sie das Fenster wieder zumachen und die Eindrücke nachwirken lassen, oder ob Sie neugierig geworden sind und selber rausgehen. Rausgehen, um den Menschen in Ihrer Stadt auf Augenhöhe zu begegnen, um dann zu schauen, was passiert. Das wäre toll! Dann ist das Ziel des Buches erreicht. Denn das braucht diese Welt, die an vielen Punkten so aus dem Gleichgewicht geraten ist: Menschen, die herausspazieren und Hoffnung leben.

Noch ein paar Worte zu mir: Ich schreibe dieses Buch aus meinem Alltag, meinem Leben und meinem Glauben heraus. Dem Glauben, den ich von klein auf gelernt habe. Es ist der jüdisch-christliche Glaube. Der Alltag und das Leben sind die einer Theaterpädagogin, Theologin, Improschauspielerin, Freundin, Frau und Mutter in Magdeburg. Das alles ist quasi meine Muttersprache. Wenn Sie einen anderen Alltag, ein anderes Leben oder einen anderen Glauben haben (ich vermute, es ist so), sind manche Dinge vielleicht neu, unverständlich oder irritierend für Sie. Wie eine Fremdsprache möglicherweise. Mir ist es wichtig zu sagen, dass es mir nicht um eine Ab- oder Aufwertung irgendeiner anderen Tradition, eines anderen Glaubens oder anderen Lebens geht. Es ist einfach nur die Sprache, in der ich mich am besten ausdrücken kann.

Ich habe dieses Buch geschrieben, um uns Mut zu machen: Egal, welches Leben wir leben, egal, ob wir Helden sind und egal, ob wir uns manchmal unsicher, feige, sprachlos, vorwitzig, spontan oder irritiert fühlen.

So, und nun wünsche ich ihnen viel Spaß beim Lesen!

Danke,

Bettina Becker

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TEIL 1

Rausgehen ist wie Fenster aufmachen – nur krasser.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

KAPITEL 1:VERWIRRT

Bitte, Gott, mach, dass niemand da ist

Voller Herzklopfen schlich ich durch den Wald und hatte nur ein Gebet: „Bitte, Gott, mach, dass niemand da ist.“ Ich näherte mich einem Wohnwagen – dem Arbeitsplatz einer Prostituierten. Eigentlich wollte ich ganz cool sein und entspannt „Hallo“ sagen, aber in Wirklichkeit wollte ich auch ganz schnell ganz weit weg von hier. Denn ich wusste überhaupt nicht, wie ich ihr begegnen sollte. Und dass ich jetzt hier war, gehörte nicht zum Plan. Und gehörte bestimmt nicht zu meiner Praktikumsbeschreibung! Was machte ich also hier – quasi auf dem Straßenstrich des Westerwaldes?

Ich hatte wenige Monate vorher mein Theologie-Studium beendet und war froh, endlich in die Praxis zu dürfen. Lange hatte ich mit den Hufen gescharrt und nun konnte ich rausgehen. Das wurde auch Zeit! Ich startete (natürlich) mit einem Praktikum. Einem Praktikum als Evangelistin. Ein sehr altes Wort, was so viel bedeutet wie „eine, die unterwegs ist, gute Nachrichten zu verkündigen“. Man könnte auch von einer Art modernen Wanderpredigerin reden. Ich wollte nicht fest in einer Gemeinde oder Kirche arbeiten und so schien dieses vielfältige, projektbezogene Herumreisen genau das Richtige für mich zu sein. Eine meiner ersten Aufgaben bestand in der Organisation und Durchführung einer evangelistischen Woche gemeinsam mit einer Gemeinde und einem erfahrenen Kollegen. Ziel war es, die Leute aus dem Ort auf fröhlich-natürliche Weise mit der christlichen Botschaft in Kontakt zu bringen.

So saßen wir eines Abends in geselliger Runde im Jugendraum der Gemeinde, überlegten, diskutierten und sammelten Ideen, wie man die Leute in diesem Ort am besten zu unseren Abendveranstaltungen einladen könnte. Welche Themen würden sie interessieren, was beschäftigt sie usw.? Ich war hoch motiviert und voller Vorfreude! Vor allem hatte ich Lust mit Menschen in Kontakt zu kommen, die nicht schon seit gefühlten hundert Jahren in die Kirche gingen. In der festen Überzeugung, dass das auch Gottes Wille war, wollten wir zum Schluss gemeinsam für diese Woche beten. Ich ermutigte die anderen: „Wenn wir jetzt die Augen schließen, dann bittet Gott doch darum, euch ganz konkret eine Person zu zeigen, der er begegnen möchte.“ Wie alle anderen auch schloss ich brav meine Augen und war gespannt, was Gott in dieser Gemeinde tun würde. Ich sah mich als Dienstleisterin für die Gemeinde. Damit Gott durch sie, an diesem Ort, …

Was ich nicht ahnte war, dass dieses Gebet auch für mich selber Auswirkungen haben sollte. Denn eigentlich hatte ich gar nicht vor, selbst bei diesem Gebet angesprochen zu werden – es ging ja um die anderen.

Ein Wohnwagen???

Wir beteten also still vor uns hin (oder dachten mit geschlossenen Augen an andere Dinge, wie das manchmal halt so ist) und plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge einen Wohnwagen. Das ist ja an sich nichts Besonderes – es hätte auch eine Aufforderung zum Campingurlaub werden können. Aber da ich zu diesem Zeitpunkt im Westerwald wohnte, war mir ziemlich schnell klar, was das zu bedeuten hatte: Im Westerwald an den Bundesstraßen arbeiten Frauen als Prostituierte in Wohnwagen – und das nicht unbedingt unauffällig. Ich hatte sie natürlich schon vorher wahrgenommen. Alle wussten, dass es sie gab, hin und wieder machte jemand beim Vorbeifahren einen Spruch, aber letztendlich lebten diese Frauen in einer anderen Welt.

Eine Welt, mit der „anständige Menschen“ (und natürlich insbesondere Christen) nichts zu tun hatten. Eine Welt, von der man besser (hoffentlich) Abstand hielt. Und bei der man einfach nur froh sein konnte, dass das alles weit weg war.

Und da saß ich nun mit diesem Bild im Kopf und diesem ganz deutlichen Eindruck: Geh da hin.

Das war nun wirklich nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Wenn ich schon persönlich aktiv werden sollte (neben dem ganzen Vorbereitungskram und der ein oder anderen Predigt), hätte ich eher an Leute wie meine Vermieterin gedacht. Ihr einen Flyer als Einladung zuzustecken oder so. Das hätte meiner Meinung nach schon genug Mut erfordert.

Aber zu einer Prostituierten im Wohnwagen? Sollte ich ihr etwa einen Flyer zu einer Gemeindeveranstaltung unter den Scheibenwischer klemmen? Was für ein Quatsch! Während unserer Abendveranstaltungen müsste sie ja bestimmt eh arbeiten.

Das Treffen mit der Gemeinde ging zu Ende und wieder zu Hause musste ich die ganze Nacht grübeln. Ich konnte nicht schlafen, also ging ich spazieren und legte Gott alle meine Argumente vor, warum ich nun wirklich nicht die geeignete Person für so etwas war: zu behütet aufgewachsen, zu jung, zu fromm, zu unsicher, zu …

Ich doch nicht!

Und: Was sollte ich ihr überhaupt sagen?

Wie sollte ich überhaupt ein Gespräch anfangen?

Wann wäre der beste Zeitpunkt?

Würde die mich nicht wegscheuchen?

Was, wenn gerade ein Mann in dem Wohnwagen …?

Was ist mit dem Zuhälter?

Meine Gedanken überschlugen sich und ich fand meine Argumente auch sehr überzeugend, aber in mir blieb dieses Bild von dem Wohnwagen fest haften. Meine Argumente schienen Gott nicht im Geringsten zu interessieren. In meiner Verzweiflung schrieb ich dann in der gleichen Nacht eine E-Mail an einen Mann, den ich vor einiger Zeit kennengelernt hatte: Er war selbst einmal Zuhälter gewesen, hatte dann eine Lebenswende erlebt und arbeitete nun bei der Heilsarmee. Ungeduldig wartete ich auf Antwort. Die kam aber nicht so schnell, wie ich es gerne gehabt hätte (am liebsten postwendend).

Als am nächsten Mittag immer noch keine E-Mail von ihm in Sicht war, wurde ich so kribbelig, dass ich beschloss, einfach loszufahren. Ich hatte keinen Plan, keine Idee, nur die Ahnung: Da sollst du hin. In meinen Rucksack packte ich eine Bibel (kann ja nie schaden) und schwang mich auf mein Mountainbike. Über ein Feld und durch einen kleinen Wald war ich in wenigen Minuten da. Für mein Gefühl ging das viel zu schnell. Ich weiß nicht, wann ich schon einmal solches Herzklopfen hatte! Da ich eine extrem ausschweifende Fantasie habe, versteckte ich mein Fahrrad im Wald, sodass ich – sollte eine Flucht nötig sein – wie Winnetou sofort davonjagen könnte. Vorsichtig schlich ich mich also von hinten an den Wohnwagen.

Mein einziges Gebet war: „Bitte, Gott, mach, dass niemand da ist.“ Denn dann hätte ich es ja wenigstens versucht und könnte mit ruhigem Gewissen wieder nach Hause fahren. Dieses Gebet wurde aber nicht erhört.

Als ich mich dem Fenster näherte, sah ich, dass dort eine ca. 40-jährige afrikanische Frau saß. Ich versuchte, ein möglichst entspannt wirkendes Lächeln aufzusetzen, ging zum Fenster, schaute sie direkt an, nickte und sagte: „Hallo.“ Sie nickte ebenfalls und sagte: „Hallo.“ Dummerweise fiel mir dann nichts mehr ein, sodass ich einfach stehen blieb und guckte.

Sie guckte auch. Schweigen.

Blöde Situation. Noch mehr Schweigen. Ich fühlte mich immer blöder.

Irgendwann kurbelte sie das Fenster runter und fing ein Gespräch an. Ich habe keine Ahnung mehr, was sie sagte, aber ich weiß noch, dass wir uns einige Zeit unterhielten. Und dass es entspannter war, als ich dachte. Sie sprach Englisch und erzählte ein wenig, aber erstaunlich offen, dass sie vier Kinder in Ghana habe und hier sei, um Geld zu verdienen. Dann verriet sie mir ihren richtigen Namen. Auf dem Nummernschild vorne im Fenster stand Babsi, doch eigentlich hieß sie Liz. So plauderten wir ein wenig, bis irgendwann ein Kunde kam und ich gehen musste (und auch wollte)! Ich streckte ihr noch die Bibel hin, aber da sie kein Deutsch lesen konnte, fragte sie mich, ob ich ihr eine englische bringen könnte, wenn ich wiederkommen würde.

Ich verabschiedete mich, nickte kurz diesem fremden Mann zu, Liz öffnete ihm die Tür und lächelte ihn freundlich an. Die beiden verschwanden im Wohnwagen und ich stolperte zu meinem Fahrrad. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, so schnell wie möglich Abstand zu bekommen!

Verwirrt

Ich radelte los. Aufgewühlt. Zu Hause wusste ich gar nicht, wohin mit mir. Es war irgendwie „so einfach“. Sie schien „so normal“ zu sein. Zunächst erzählte ich niemandem davon. Ich wollte das erst einmal selber unter die Füße kriegen. Am nächsten Tag fuhr ich – dieses Mal ausgestattet mit einer englischen Bibel – wieder zu ihr. Schon mit weniger Herzklopfen. Und wieder hatten wir eine wirklich gute Zeit. Als sie die Bibel in den Händen hielt, freute sie sich so sehr! Sie erzählte, dass sie sich an ihre Bibel geklammert hatte, als sie, von ihrer Familie geschickt, vor einigen Jahren in Amsterdam am Flughafen angekommen war. Sie hatte keine Ahnung, was sie in Deutschland erwarten würden, wusste nur, dass sie hier irgendwie Geld verdienen musste – für die Familie. Die Bibel hatte ihr in all ihrer Unsicherheit Halt gegeben. Da saß sie nun vor mir: eine Frau, die unglaublich sympathisch und humorvoll war. Von da an besuchte ich sie immer öfter. Ja, ich freute mich regelrecht auf die Besuche.

Irgendwann ließ sie mich nicht mehr nur am Fenster stehen, sondern bat mich hinein. Dort saßen wir dann lange auf dem Bett (etwas anderes gab es schließlich nicht), umgeben von all ihren verschiedenen Arbeitsutensilien, und redeten über Gott und die Welt. Ich muss sagen, dass es immer wieder irritierend war, dort zu sitzen, all diese Dinge und Poster zu sehen, zu wissen, was wenige Minuten vor und wenige Minuten nach meinem Besuch dort geschah, und dennoch einfach dort zu sein.

Manchmal beteten wir zusammen, einmal sangen wir „Welch ein Freund ist unser Jesus“ – sie auf Englisch, ich auf Deutsch. Im Wohnwagen. Zwischen all den Bildern, Kondomen, Dildos und Verkleidungen.

Die Beziehung intensivierte sich und wir redeten über alles Mögliche: über Männer, über einen möglichen Ausstieg, über die Gründe, in diesem Geschäft zu bleiben, über Alternativen, über die Bibel, über das Wetter, über mein Leben.

So ging es einige Monate lang. Und auch wenn ich die Besuche immer normaler empfand, berührten und verwirrten sie mich sehr.

Ich bin in einem christlich-evangelikalen Kontext aufgewachsen und die Geschichten, die ich immer wieder gehört hatte, klangen ungefähr folgendermaßen: Ein Mensch, der ein dunkles (sündiges) Leben irgendwo am Abgrund lebt (Kriminalität, Prostitution, Drogen …), erfährt auf irgendeine Art und Weise von Jesus, liest die Bibel, ringt mit sich, spricht dann ein Gebet und kappt alle Fäden, die ihn oder sie mit dieser Vergangenheit verbinden, um ein neues Leben anzufangen. Gerne mithilfe einer Gemeinde oder auch einer Therapie, gerne auch mit Kämpfen. Aber der Ablauf solch einer Geschichte war eigentlich immer klar: sündiges Leben, Begegnung mit Jesus, Befreiung, Neuanfang!

Das waren die Geschichten, mit denen ich groß geworden war, die als Zeugnisse in Gottesdiensten erzählt wurden oder in Büchern standen. Und die mich fasziniert hatten. Schöne Geschichten mit Happy End! Bewegende Geschichten, die Hoffnung und Vertrauen in Gottes Größe vermittelten.

Jetzt saß ich bei Liz. Die eine tiefe Beziehung zu Gott lebte, ganz viel wusste über Jesus, über Vergebung, Sünde und Moral und die vor allem das Leben auf eine Art und Weise kennengelernt hatte, wie ich es nie würde verstehen können.

Ich wünschte mir so sehr, dass sie ausstieg, ein „normales“ Leben mit ihren Kindern leben könnte. Aber gleichzeitig: Wer war ich, dass ich mit meinen damals paarundzwanzig Jahren behaupten konnte, zu wissen, was für sie dran ist? Konnte ich erfassen, welchen Zwängen sie ausgesetzt war? Nicht nur vom Zuhälter hier in Deutschland, nicht nur von einem Staat, in dem sie keine Aufenthaltsgenehmigung hatte, sondern auch von ihrer Familie in Ghana. Einer Familie, die erwartete, dass sie das so dringend benötigte Geld verdiente. Und die natürlich nicht wussten (oder nicht wissen wollten), auf welche Art sie das tat …

Wie konnte ich mir anmaßen, über ihr Leben und ihre Entscheidungen zur urteilen? Nur weil ich im sicheren Unterrichtsraum eines theologischen Seminars ein paar Weisheiten gelernt hatte?

Dass ihr das Ganze nicht guttat, wusste sie selber.

Dass sie lieber etwas anderes machen sollte, wusste sie selber.

Dass das Leben nicht immer wie in einer Unterrichtseinheit funktionierte, musste ich lernen.

Fragen brachen über mich herein, die mich irritierten. Die mein bisheriges Weltbild sprengten. Ich war verwirrt.

Einmal sagte sie: „Ich weiß, dass es der Satan ist, der mich hier hält. Und ich weiß, dass ich die Waffen habe, um gegen ihn zu kämpfen. Aber ich verstecke diese Waffen tief unter meinem Bett, weil ich für meine Kinder sorgen will.“

Ich lud sie ein, Weihnachten bei uns zu feiern. Sie lehnte ab. Sie hatte eine recht enge Bindung an ihren Zuhälter (den ich später auch noch kennenlernen sollte) und wollte ihn nicht alleine lassen. Er würde ihr sonst so leidtun. Leidtun … schon klar …

Einmal kam ich zu ihr und sie wedelte mir mit einer Fliegenklatsche vor der Nase rum und strahlte. „Ich habe gerade eine gute Tat getan“, grinste sie. Ein noch sehr junger Mann hatte an ihre Tür geklopft, um ihre Dienste in Anspruch zu nehmen.

Liz fragte den jungen Mann, wie alt er sei und ob er schon einmal bei einer Prostituierten gewesen sei. Als er verneinte (sie erzählte mir das Ganze, indem sie es lebhaft nachspielte), erklärte sie ihm, dass er nie damit anfangen sollte, denn, wenn er es einmal machen würde, würde er immer weitermachen und jagte ihn mit ihrer Fliegenklatsche fort. Jagte ihn fort, obwohl sie sein Geld so dringend brauchte. (Das Finanzierungsmodell bei den Wohnwagen lief so, dass die Frauen pro Tag eine Miete an den Vermieter – sie nannten sich nicht Zuhälter – zahlen mussten. Diese Miete mussten die Frauen erst einmal reinarbeiten, den Rest konnten sie behalten. Oft blieb dabei nicht viel übrig.)

„Leichte Mädchen“ werden Frauen, die sich prostituieren, ja manchmal genannt. Frauen ohne Moral. Liz war bestimmt kein leichtes Mädchen. Sondern eine Frau, mit Prinzipien, eine Frau, die ihre Familie liebte, eine Frau die sich selbst aufgab. Sie war eine Frau mit Humor, mit Lebensfreude und eine Frau, die gefangen war in einem System, das Frauen wie sie ausnutzt, anstatt ihnen zu helfen.

Da ist ein Staat, an den sie sich nicht wenden kann, weil sie sonst abgeschoben wird.

Da sind Männer aller Altersklassen und gesellschaftlichen Schichten, die sie ausnutzen, und das irgendwie vor sich selber rechtfertigen. Da sind die sogenannten „anständigen Menschen“, die die Augen zumachen und einfach weiterfahren oder dumme Sprüche klopfen. Da sind Christen und Christinnen, die in ihren Kirchen sitzen und für die verlorenen Seelen beten, aber ansonsten lieber auf Abstand bleiben.

Und Liz war alleine. Alleine mit ihrer Verantwortung, mit ihrer Art zu leben.

Man müsste mal …

Einmal sprach ich mit einem Theologie-Dozenten über diese ganze Thematik und er meinte: „Ja, da müssten die Gemeinden mehr helfen.“ Man müsste mal. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Phrase selber gesagt oder schon gehört habe. Aber mit „man müsste mal“ ist niemandem geholfen. Leider fehlen zu oft die konkreten Schritte, ist die Hemmschwelle zu hoch. Und ich selber fühlte mich so klein!

Das ganze Thema Prostitution, Menschenhandel, organisiertes Verbrechen ist ein riesiges Feld! Ein Feld, über das sich Tausende von Menschen den Kopf zerbrechen. Es wurden sehr gute Organisationen gegründet, die gerade solchen Frauen helfen, zum Beispiel Solwodi von Lea Ackermann oder Alabaster Jar von Patricia Green. Wer sich weiter mit dieser Thematik beschäftigen und noch besser helfen möchte, kann auf den Homepages1 einiges an Material finden.

Mir wurde durch die Besuche bei Liz ziemlich schnell klar, wie sehr ich an meine Grenzen komme. Im Umgang mit Liz, im Blick auf die anderen Wohnwagen, in denen auch wieder Frauen mit eigenen Geschichten saßen, im Blick auf das System, in dem wir leben.

Wie hilflos ich eigentlich bin.

Und wie absurd mir die Geschichten meiner Kindheit (ein kaputtes Leben – Begegnung mit Jesus – alles ist gut) plötzlich vorkamen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass bei diesen Geschichten ein großer Teil einfach weggelassen worden war.

Oder etwa nicht?

Machte ich etwas falsch?

Jedenfalls war ich sehr erleichtert, als mich eines Tages eine Bekannte anrief und fragte, ob sie mich zu den Frauen begleiten dürfte (mittlerweile hatte sich das Ganze ein wenig rumgesprochen). Und so beschlossen wir, gemeinsam auch zu den anderen Wohnwagen zu fahren und auch die Frauen dort zu besuchen. Denn auch wenn wir viel mehr Fragen als Antworten hatten, war uns klar, dass uns diese Fragen und unsere Unsicherheiten nicht davon abhalten durften, die Frauen zu besuchen. Denn die Besuche waren etwas Gutes.

Sie waren bestimmt nicht alles und eigentlich wäre viel mehr nötig gewesen. Aber sie waren das Gute, das wir jetzt gerade tun konnten.

Und so entwickelte sich mit der Zeit ein kleiner Arbeitszweig von Frauen, die die Frauen in den Wohnwagen besuchten. Wir waren meist zu zweit unterwegs und möglichst immer mit dem Blick für die einzelne Frau. Manchmal brachten wir ihnen kleine Geschenke mit, um den Gesprächseinstieg zu erleichtern. Mal erlebten wir ein freundliches Willkommen, mal Ablehnung, mal waren die Frauen einfach nicht da oder arbeiteten gerade. Mal wurden wir in unseren Gesprächen von Kunden unterbrochen, mal mussten wir wegen eines Zuhälters verschwinden, mal wurden wir gefragt, ob wir auch zu haben seien.

Spannende und ganz unterschiedliche Begegnungen ergaben sich. Und es stellte sich heraus (eigentlich nicht überraschend): Auch hier ist jede Frau anders. Jede einzigartig. Jede hat ihre eigene Geschichte. Zwangsprostituierte aus Osteuropa, Hausfrauen aus dem Ruhrgebiet, abgeklärte Frauen, weinende Frauen. Frauen, die verzweifelt aussteigen wollten, Frauen, die das Ganze mit Humor nahmen, Frauen, die bitter und Frauen, die gleichgültig geworden waren. Gebrochene Frauen und Frauen, die die Hoffnung nicht aufgegeben hatten.

Da wir auch als Team immer wieder an unsere Grenzen kamen, beschlossen wir, mehr Menschen über die Arbeit zu informieren und um Gebet für die Frauen zu bitten.

Das war eine große Hilfe für uns und machte uns sehr viel Mut.

Fragen über Fragen

Aber egal, wie viele Frauen wir besuchten, ob ich alleine bei Liz saß und Tee trank oder ob wir eine neue Frau kennenlernten. Immer wieder kamen ähnliche Fragen auf:

Was ist das Ziel dieser Besuche? Wofür mache ich das?

Ich hatte gelernt, dass ein Ziel klar definiert und messbar sein sollte. Schöne Idee, aber kann ich den Erfolg meiner Arbeit davon abhängig machen, dass die andere sich verändert? Dass sie Schritte geht, die ich für sinnvoll halte?

Wenn ich an die geplante Evangelisation dachte, war das Ziel und auch der Erfolg klar: Menschen sollten kommen, hören, Entscheidungen treffen und ihr Leben verändern.

Gedacht an Liz: Ist meine Arbeit dann erfolgreich, wenn sie aussteigt – auch wenn ihre Kinder dann vielleicht auf der Straße landen?

Was ist Erfolg in solch einer Arbeit?

Und das betrifft nicht nur Arbeit mit Prostituierten, sondern hat mich überhaupt in meinem Denken über mein Leben, meine Arbeit und meinen Glauben stark herausgefordert. Kann ich meinen Erfolg davon abhängig machen, dass ein anderer Mensch sich verändert?

Wie schnell greife ich dann zu manipulativen Mitteln?

Wir sagen immer, dass es uns um den Menschen geht. Aber wie sehr legen wir unsere Maßstäbe an? Wie sehr hoffen wir auf Veränderung bei ihnen, um es als Erfolg verbuchen zu können?

Und natürlich kam die Frage auf: Welche Hoffnung habe ich? Welche Hoffnung für eine Frau wie Liz? Was bedeutet Hoffnung in dieser verwirrenden Welt?

Meine Welt war bis dahin eingeteilt in drinnen und draußen. Licht und Finsternis, hell und dunkel. Es gab Christen (die waren drinnen) und Nicht-Christen (die waren draußen). Und Mission oder Evangelisation sah folgendermaßen aus: Ein ganz besonders mutiger Christ oder eine tapfere Christin begeben sich nach draußen (während die Leute drinnen ganz viel für sie beten), schnappen sich eine Person, die nicht so glaubt wie sie, machen diese Person dann neugierig und schleppen sie dann wieder mit nach drinnen. Das „Drinnen“ war dann meist die Gemeinde, oder um es noch konkreter zu sagen: das Gemeindegebäude und damit ein Gottesdienstbesuch. Dort wird er oder sie dann christlich kompatibel gemacht und alle Leute, die drinnen sind, freuen sich tierisch darüber, dass jemand von draußen geworden ist wie sie.

Und dann hatte man es irgendwie geschafft. Das würde natürlich keiner so formulieren, aber gelebt wurde es durchaus so.

Und schon beim Schreiben finde ich es ziemlich gruselig.

Ein Besuch im Gottesdienst

Aber ist das bitte schön Erfolg???

Da war Anne. Ein unglaublich liebenswerte Frau Mitte 30. Eine Frau, die bei unserem ersten Besuch am Wohnwagen kurz vor Weihnachten so sehr weinte, dass sie uns wieder wegschickte. „Ihr macht es noch schwerer, weil ihr mir zeigt, dass es noch ein anderes Leben gibt. Aber bitte kommt wieder.“ Eine Frau aus Osteuropa, Mutter eines kleinen Jungen, verheiratet mit dem Mann, der sie auf den Strich schickte. Eine Frau, die mit ihrer Familie im Ruhrgebiet lebte und von der alle dachten: Die arbeitet während der Woche in einem Hotel weiter weg.

Nun, wir hatten ein sehr gutes Verhältnis zu Anne und so luden wir sie ein, mit uns zusammen einen Gottesdienst in ihrem Wohnort zu besuchen. Wir machten eine Gemeinde ausfindig, deren Pastor einen guten Ruf hatte, fuhren in aller Frühe los und gingen zusammen in den Gottesdienst.

Ich war aufgeregt: Das war ja schon etwas ganz Besonderes! Eine besondere Möglichkeit, dass Gott ihr begegnen könnte. Andere Leute und Beter waren mit uns aufgeregt: als würde dort etwas Magisches passieren, alleine indem sie dieses Gebäude betreten und an einer Veranstaltung teilnehmen würde!

Wir betraten das sehr moderne und funktionale Gebäude und vor uns lagen zwei Stunden Qual und Langeweile.

Am Ende war ich so genervt und auch enttäuscht, dass ich aus Frust nichts in die Kollekte tat. Im Gegensatz zu Anne, was mir wiederum neben meiner Enttäuschung auch noch ein schlechtes Gewissen bescherte!

Jetzt wäre es einfach, über die Gemeinde zu schimpfen: Hätten die nicht ahnen können, dass wir genau an diesem Morgen mit so einer wichtigen Person da sind und hätten sie ihre Ältestensegnung nicht irgendwann anders machen können?

Aber das wäre unfair. Natürlich ist es immer einfach, über eine Gemeinde zu schimpfen – noch dazu über eine fremde! Aber was können die denn dafür?

Vielmehr musste ich meine Erwartungen, meine Einstellung diesem scheinbar magischen Moment gegenüber überprüfen. Ich hatte mir das Ganze vielleicht ein bisschen zu einfach vorgestellt. Natürlich gibt es Geschichten und Erlebnisse, in denen Gott tatsächlich in einem Gottesdienst einem Menschen begegnet. Das soll vorkommen! Ihm ist ja nichts unmöglich. Aber nur, weil jemand ein bestimmtes Gebäude zu einer bestimmten Uhrzeit betritt, ändert er oder sie nicht sein ganzes Leben. Manchmal passiert auch einfach nichts!

Wir können unsere Verantwortung nicht delegieren.

Jemanden in einen Gottesdienst zu lotsen und dann ist alles gut, funktioniert nicht.

Und wieder kamen die Fragen über drinnen und draußen.

Mit den Besuchen bei Liz im Wohnwagen war ich ja nun definitiv „draußen“, aber Liz war eine Frau, die mit ihrem Herzen und ihrer Einstellung absolut „drinnen“ war.

Auf der anderen Seite kannte ich Menschen, die offiziell „drinnen“ waren, aber so eine Hartherzigkeit an den Tag legten, dass sie eigentlich in die Kategorie „draußen“ gehörten …

Was also?

Was heißt Hoffnung für Liz? Muss sie nicht da raus aus ihrem Umfeld? Was ist meine Aufgabe? Wie weit geht meine Verantwortung?

Argumentierte ich nicht deutlich genug? War ich zu weichgespült? Zu nett? Habe ich ihr die Konsequenzen nicht deutlich genug aufgezeigt? Zu wenig gebetet?

Fehlten mir vielleicht ein paar Geistesgaben oder andere Dinge? Das richtige Traktat?

Sätze flogen durch mein Hirn vom Propheten Hesekiel, dem sogenannten Wächter, der die Verantwortung trägt für das Geschick des Gottlosen.

Aber was ist denn meine Verantwortung?

Und Liz war ja gar nicht gottlos! Im Gegenteil: Gott war da. Bei ihr. Im Wohnwagen. Sie suchte nach Gott. Sehnte sich nach Jesus. War Jesus denn im Rotlichtmilieu?

Ich war verwirrt.

Jesus im Rotlichtmilieu

Ein Blick ins Neue Testament zeigte mir deutlich: Ja, Jesus hat sich genau für solche Frauen Zeit genommen. Er hat sie sehr wertschätzend behandelt und von den Pharisäern dafür kräftig eins auf den Deckel bekommen. Das hörte sich schon mal gut an. Gedanken schossen kreuz und quer durch meinen Kopf und besonders über einen Bibeltext bin ich gestolpert:

Jesus spricht zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, dass die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes.(Matthäus 21,31; ELB)

Sie gehen euch voran, sagt Jesus zu den Menschen im Tempel. Zu den Hohepriestern, die ihn in eine Diskussion verwickelt haben. Zu denen, die „drinnen“ sind, und sich bemühen, alles richtig zu machen.

Sie gehen euch voran?

So richtig vorneweg? Nicht etwa durch den Dienstboteneingang hinten reinschleichen, wenn überhaupt?

Jesus malt da ein beeindruckendes Bild. Das muss man sich mal vorstellen: Die züchtigen, sittsamen, akkurat gekleideten Frommen gehen hinter den Prostituierten her. Normalerweise gehen doch immer die vorneweg, die am bravsten aussehen. Der Pastor in der Gemeinde oder die Stars oder die hochrangigen Politiker … und dann ganz lange nix und dann irgendwann mal die anderen. Und der Pöbel, der bleibt mal schön im Hintergrund.

Diese Leute gehen euch voran in das Reich Gottes. In das Reich, also mitten rein …

Ein schöner Text, den ich gerne las. Ein Text, der mir Hoffnung machte, aber der auch direkt wieder neuen Fragen aufwarf:

Was ist denn hier mit dem Reich Gottes gemeint?

Geht es um eine Ewigkeitsperspektive? Irgendwann einmal? Im Himmel? Dürfen die einen zuerst rein und dann die anderen hinterher? Muss man sich da in Zweierreihen anstellen? Wo würde ich denn da eigentlich stehen – da ich ja zu keiner der beiden Gruppen gehöre? Aber nein, hier steht ja gar nichts von irgendwann einmal!

Marschieren die etwa jetzt schon voran?

Wohin denn eigentlich?

Was bedeutet das, um Himmels willen!?

Genau genommen steht hier ja gar nichts vom Himmel, sondern vom Reich Gottes.

Wir sind da nur so ein bisschen falsch gepolt, dass wir bei Reich Gottes immer „Himmel“ denken. Schauen wir also genauer hin.

Wie üblich hat so eine Aussage von Jesus ja auch einen Hintergrund. Vorher erzählt er eine etwas verwirrende Geschichte, über die es erstaunlich wenige Predigten gibt:

Was meint ihr aber hierzu? Ein Mensch hatte zwei Söhne, und er trat hin zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh heute hin, arbeite im Weinberg! Der aber antwortete und sprach: Ich will nicht. Danach aber gereute es ihn, und er ging hin. Und er trat hin zu dem zweiten und sprach ebenso. Der aber antwortete und sprach: Ich gehe, Herr; und er ging nicht.

Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan? Sie sagen: der erste. Jesus spricht zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, dass die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes.(Matthäus 21,28ff; ELB)

Sie gehen euch also voran, die Zöllner und Huren. Hier steht nicht: die ehemaligen Prostituierten, die sich bekehrt und ein neues Leben angefangen haben. Hier steht nichts von einer scheinbaren Umkehr, einer Erfolgsgeschichte oder Lebenswende …

Hier ist die Rede von Menschen, die „Nein“ sagen und „Ja“ leben. Die erst mal so tun, als hätten sie mit dem allen nichts zu tun und dann doch richtig handeln … Aus welchen Gründen auch immer. Ich meine, es geht hier um Menschen, die in ihren Möglichkeiten das Gute tun. Vielleicht nicht nach außen sichtbar für die ganze Welt, so mit großer Ankündigung, mit Homepage und Buch drüber schreiben und so. Aber sie sind im kleinen, kaum sichtbaren Bereich treu. Vielleicht ist das ja manchmal viel bedeutsamer und ehrlicher.

Und vielleicht ist ja genau das das „Reich Gottes“?

Das Wort „Reich“ ist ja nun gerade in Deutschland sehr negativ belegt, deswegen fällt es mir immer schwer, es zu verwenden, weil es so viele schlimme Assoziationen weckt. Weil es so nach Macht und Herrschaft und Unterwerfung klingt, gegen die sich keiner wehren kann.

Und während die einen an das Dritte Reich denken, denken die anderen an einen entfernten Ort im Jenseits – den Himmel, so wie in all den Witzen, die man sich erzählt (und von denen manche tatsächlich richtig lustig sind). Wie gesagt, ein Ausdruck, der zu vielen Missverständnissen führt. Nun, ich glaube, keins von beidem ist hier gemeint.

Dieses Reich Gottes ist nicht bloß ein entfernter Ort zu einer entfernten Zeit. Und es ist vor allem kein Reich, in dem es um Macht und Unterwerfung geht.