Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder - Danise Juno - E-Book

Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder E-Book

Danise Juno

0,0

Beschreibung

Es ist Liebe auf den ersten Blick, als Julia Meinert auf dem alten Bauernhof nahe Dülmen eintrifft. Fasziniert von der Geschichte des alten Guts in Limbergen stöbert Julia immer tiefer in der düsteren Vergangenheit. Seit dem 18. Jahrhundert häufen sich hier mysteriöse Todesfälle. Bei ihren Nachforschungen stößt Julia auf eine uralte Legende: 1690 soll ein todbringendes Wesen ein Kind nach dem anderen zu sich geholt haben. Gibt es etwa einen Zusammenhang zwischen den tragischen Ereignissen und der Sage? Als sich im Leben der Meinerts plötzlich ungewöhnliche Vorfälle häufen, scheinen die Grenzen zwischen Legende und Realität zu verblassen … Legende wird zu Bedrohung; Aberglaube wird zu Angst. Ein fesselnder Thriller, der den Leser mit der Mystik historischer Sagen rund um das Münsterland in seinen Bann zieht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 454

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Danise Juno

HERBSTLILIE

Limbergens vergessene Kinder

Juno, Danise: Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder, Hamburg, acabus Verlag 2015

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-350-5

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-351-2

Print: ISBN 978-3-86282-349-9

Lektorat: Lea Intelmann, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Marta Czerwinski, acabus Verlag

Umschlagmotiv: © dflohr - Fotolia.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2015

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

An dieser Stelle wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses Buch ein Roman und damit ein fiktives Werk ist. Auch wenn manchen Ereignissen wahre Begebenheiten und Legenden aus dem Münsterland zugrunde liegen, so sind die Handlungen in diesem Roman lediglich durch diese inspiriert. Handlungen und Äußerungen der hierin auftretenden Personen, auch solcher, die nicht gänzlich der Phantasie der Autorin entsprungen sind, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind dem reinen Zufall geschuldet.

Prolog

Linthberghe, 1690

Wolkenfetzen jagten über den Horizont und das entfernte Grollen eines Gewitters erfüllte die Nacht. Der kalte Septemberwind toste über das Münsterland und brandete gegen das Gutshaus, welches ihm starrköpfig trotzte.

Katharina stand in der Küche und erwartete die Rückkehr ihres Gatten, der sich die Zeit im Wirtshaus vertrieb. Alles was sie hörte, waren unruhige Laute, die aus dem Stall drangen, als könnten die Tiere darin spüren, welche Boshaftigkeit sich in der undurchdringlichen Dunkelheit verbarg. Das Feuer in der Esse war beinahe gänzlich niedergebrannt und tauchte den Raum in einen rötlichen Schimmer. Das Küchenmädchen trat herein. Das magere Ding trug einen Stapel Holz in den Armen und ächzte unter der Last. Katharina trat ihr in den Weg. „Du sollst doch nicht so viel auf einmal tragen“, schalt sie.

Scheu lächelnd sah sie zu ihr auf.

„Nicht“, sagte Katharina und hinderte sie daran einen der Scheite auf die Glut zu legen.

„Aber das Feuer“, stammelte das Mädchen und sah sie aus großen Augen an.

Katharina schüttelte den Kopf und rieb sich die kalten Arme. Sie dachte an Heinrich. Der kleinste Funke von Verschwendung könnte ihn erzürnen. „Mich friert nicht“, sagte sie schließlich, nahm ihr einige Stücke aus den Armen und trat zur Seite.

Das Mädchen warf ihr einen letzten ungläubigen Blick zu, dann sank sie auf die Knie und schichtete die Scheite sorgfältig übereinander.

Katharina reichte ihr die Übrigen. Als sie die Hände frei hatte, trat sie an den Spülstein, nässte ein Tuch und entfernte den Schmutz. Eine Hand legte sich auf die ihre. Sie sah auf, geradewegs in die Augen des Mädchens, das neben ihr hockte.

Es wirkte verlegen, zog die Hand zurück und blickte zu Boden. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und ein Hauch von Unsicherheit begleitete ihre Worte. „Es ist alles Recht. Mehr kann er unmöglich verlangen.“

Katharina schwieg. Er konnte. Und wenn es ihm danach gelüstete, dann würde er.

Das Mädchen nahm ihr ohne ein weiteres Wort das Tuch aus der Hand und wischte die restlichen Späne auf.

Katharina erhob sich und ließ ihren Blick durch die Küche schweifen. Sie durfte nichts übersehen.

Als das Geäst der jungen Eiche bedrohlich gegen die Sprossenfenster der Deele schlug, als begehre es beharrlich Einlass, rieselte ihr ein Schauer den Rücken hinunter.

Aus ihrer Kammer drang ein leises Wimmern. Sie schlich die Stufen hinauf und spähte vorsichtig hinein. Ihr Kind regte sich. Sie trat an das Bettchen heran und prüfte, ob es sorgfältig in die Decke eingeschlagen war, dann schaukelte sie sanft die Wiege und summte eine Melodie.

Plötzlich krachte es im Stall. Katharina fuhr zusammen und lauschte. Es hatte sich angehört, als sei das Tennentor mit roher Gewalt zugeschlagen worden. Sie hastete auf leisen Sohlen aus der Kammer und eilte die sechs Stufen hinab in die Küche. Sie sah das völlig erstarrte Mädchen mitten im Raum stehen, mit dem Lappen in der Hand. „Rasch“, zischte sie. „Verschwinde!“ Sie hastete zu ihr und stieß sie in die Deele, als die Tür zur Tenne auch schon geöffnet wurde.

Heinrich trat lautstark fluchend ein. „Weib, komm her!“ Mit einem Schlag erfüllte seine üble Laune das ganze Haus. Seine Hand schoss vor wie eine zubeißende Natter und umschloss ihren Arm. „Warum ist das Feuer aus?“, fuhr er sie an.

Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie besser daran getan hätte, es ihm gemütlich zu machen, statt auf verschwendetes Holz zu achten. Was sie auch tat, nichts tat sie ihm Recht. Um ihre Lage nicht zu verschlimmern, achtete sie darauf, dass kein Laut über ihre Lippen drang.

Sein nach Bier stinkender Atem schlug ihr ins Gesicht. „Leg Holz auf! Sofort!“, befahl er. Er lockerte seinen Griff, ohne sie jedoch gänzlich loszulassen. Sein eisiger Blick traf sie bis ins Mark und sie glaubte Argwohn darin zu lesen. Dann wandte er sich ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der unter seiner kräftigen Statur ächzte.

Sie hastete zur Esse, um seinem Befehl Folge zu leisten. Liebend gern hätte sie ihren schmerzenden Arm gerieben, doch wagte sie es nicht. Sie spürte deutlich die Bedrohung, die von ihm ausging. Wie ein lähmendes Gift kroch sie in jeden Winkel ihres Bewusstseins.

Seine schwere Hand krachte auf den Tisch.

Katharina fuhr erschrocken herum.

„Bring mir dein Kind.“

Ihre Augen weiteten sich. Sie starrte ihn an, forschte in seinen Zügen nach dem Grund. Nie zuvor hatte er so gesprochen. Eine entsetzliche Ahnung keimte in ihr auf.

Er lehnte sich vor und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er formte seine Lippen, als spräche er zu einer geistig Umnachteten. „Hörst du die Worte, die meinen Mund verlassen, Weib?“, fragte er boshaft. „Bring mir dein Kind, sonst hole ich es selbst.“

Sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte vorsichtig: „Der Junge schläft, Heinrich. Morgen in der Früh bringe ich ihn dir.“ Im selben Augenblick wurde ihr bewusst, dass nichts, was sie auch entgegnen mochte, ihn von seinem Verlangen abhalten konnte.

Er sprang so heftig auf, dass der Stuhl klappernd zu Boden fiel.

Katharina löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie musste ihr Kind schützen, koste es was es wolle. Sie trat an Heinrich heran und ihr wurde übel, als sie ihre Hand beschwichtigend auf seinen Arm legte. „Ich werde ihn holen. Bitte, nimm wieder Platz.“ Sie trat um ihn herum und spürte seinen Blick im Nacken. Sie stellte den Stuhl auf, schob ihn zurecht und trat wachsam wenige Schritte zur Seite. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als er sich niederließ, doch sein kaltes Grinsen entging ihr nicht.

Langsam, um Zeit zu gewinnen, wandte sie sich zur Schlafkammer. Er hegte einen Verdacht. Sie kannte den Ursprung nicht, aber irgendwie hatte er es erfahren. In Sekundenbruchteilen jagten ihr sämtliche Möglichkeiten durch den Kopf, die ihr blieben. Als sie an der Tür zur Deele vorbei ging, sah sie im Augenwinkel einen Schatten. War das Mädchen immer noch dort? Sie flehte inständig, dass es so war. Aber was nutzte sie ihr? Ihre Gedanken rasten, als sie die wenigen Stufen hinauf stieg. Sie musste fliehen. Wenn sie es schaffte mit dem Jungen ins Gesindehaus zu gelangen, waren sie vielleicht in Sicherheit. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Kammer. Doch wie sollte sie an Heinrich vorbei kommen? Der einzige Fluchtweg führte durch die Küche.

Sie trat an die Wiege, spähte hinein und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Vorsichtig hob sie ihr Kind heraus und schmiegte es liebevoll an sich. Es seufzte zufrieden an ihrer Brust. Tränen traten ihr in die Augen. War dies das Ende?

Ihr Blick glitt zu dem winzigen Butzenfenster. Verzweifelt klammerte sie sich an den einzigen Ausweg, der sich ihr bot. Sie wusste, was sie zu tun hatte. In großer Hast wickelte sie ihren Sohn fest in seine Decke, riss eine weitere von einem Stuhl und schlug auch diese um ihn, als hülle sie ihn in einen schützenden Kokon. Sie trat ans Fenster, öffnete es leise und prüfte die dichten Sträucher, die unter dem Fenster wuchsen. Alles war besser, als mit ihm zurück zu gehen. Sie küsste ihr Kind auf die Stirn. „Ich liebe dich“, flüsterte sie.

Die Kammertür schlug krachend gegen die Wand. Das Glas splitterte. Katharina schrie auf. Heinrich stand wutschnaubend auf der Schwelle.

„Ich wusste, sie haben Recht!“, dröhnte er. „Verschwinde vom Fenster und gib mir deinen Bastard!“

Sie zögerte keinen Augenblick länger. Während er mit schweren Schritten auf sie zukam, schlug sie die Decke über das Gesicht ihres Sohnes, suchte die beste Stelle und ließ ihn fallen.

Heinrich packte sie und schleuderte sie zu Boden. Katharina hörte ihr Kind schreien. ‚Er lebt‘, schoss es ihr durch den Kopf. Augenblicklich begann sie aus voller Kehle zu kreischen. All ihre Hoffnung ruhte auf dem Küchenmädchen. Vielleicht wurde auch die Magd aufmerksam. Irgendjemand, sonst war ihr Sohn verloren.

„Das wird dir nichts nützen! Glaubst du tatsächlich, ich könnte ihn in den Büschen nicht finden? Schrei nur! Du kannst deinen Bastard nicht retten!“, dröhnte Heinrich und ging zur Tür.

Katharina stürzte sich auf ihn und kämpfte um das Leben ihres Kindes. Mit fast übermenschlicher Kraft zwang sie ihren überraschten Mann zu Boden. Sie biss ihm in die Arme und zerkratzte sein Gesicht, doch vermochte sie ihm nicht lange standzuhalten. Schon nach Sekunden gewann er die Oberhand und prügelte sie, bis ihr die Sinne zu schwinden drohten. Reglos lag sie auf den Dielen, betete still um Erlösung. Sein übergroßer Schatten lag auf ihr, wie die Umrisse eines Dämons aus dem tiefsten Winkel der Hölle selbst.

Sie hörte ein verächtliches Schnauben. Etwas Nasses traf ihre Schläfe und sie war sich sicher, zu wissen, was es war. Voller Ekel fühlte sie, wie sein Speichel eine klebrige Bahn über ihre Stirn zog.

Heinrich zog sich zurück, verließ die Kammer und schloss sie ein.

Mit letzter Kraft kroch sie zum Fenster und zog sich hoch. Ihr Kind schrie aus Leibeskräften, doch sie konnte es nicht sehen. Silbernes Mondlicht stahl sich durch die Wolkenfetzen und für einen Moment konnte sie erkennen, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste und unter ihrem Fenster verschwand.

„Rette mein Kind“, krächzte sie. „Bitte.“ Ihre Stimme verklang zu einem Flüstern. „Bitte.“ Tränen rannen ihr über die Wangen und tropften auf ihre geschundenen Glieder. Ihr Sohn wimmerte leise, von fern rief ein Käuzchen, dann wurde es still und sie hörte, wie sich jemand eilig vom Haus entfernte.

Katharina sank erleichtert zu Boden. Wer war der namenlose Retter? Hatte das Küchenmädchen verstanden, was sie zu tun hatte? War die Magd gekommen? Ein Fremder? In wessen Obhut sich ihr Kind auch immer befand, sie faltete die Hände und sprach ein Gebet. Sie dankte dem allmächtigen Herrn aus dem tiefsten Winkel ihres Herzens dafür, dass er jemanden geschickt hatte, um ihren Sohn zu retten. Dieses Mal hatte sie Recht getan.

Es war ihr gleich, was mit ihr selbst geschah, wenn nur ihr Kind überlebte. Es war kein Argwohn, den sie in Heinrichs Augen hatte glimmen sehen. Es war der blanke Hass gewesen. Sie hegte keinen Zweifel mehr daran, dass Heinrich ihren Jungen hatte töten wollen.

Die Zeit verstrich. Katharina lauschte angespannt einem jeden Geräusch. Stille legte sich über die weiten Felder. Der Wind rauschte in den Bäumen.

Plötzlich zerriss ein gellender Schrei die Nacht.

„Nein.“ Das Entsetzen kehrte zurück, nistete sich tief in ihrer Seele ein. „Nein!“ Sie stemmte sich ein letztes Mal auf die Füße, angelte nach dem Fenstersims, zog sich hoch und starrte hinaus. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie glaubte, nie wieder in ihrem Leben atmen zu können. Ein lang gezogenes, nie enden wollendes Heulen drang aus ihr heraus: „Mein Kind!“ Ihre Stimme brach und die Beine gaben unter ihr nach. Sie sackte in sich zusammen und verlor das Bewusstsein.

1

Limbergen, 2010

Der Hof war das Schönste, das ich je gesehen hatte, abgesehen natürlich von meinem Mann und meinen beiden Kindern. Sagen wir, er war einfach der schönste Bauernhof aller Zeiten.

Wochenlang suchten wir nun schon nach einem Haus im Münsterland. Frank hatte keine Mühen gescheut und mich von einer Besichtigung zur nächsten geschleppt, aber es war nie das Richtige dabei. Doppelhaushälften gab es hier fast im Überfluss. Ich hatte nichts gegen die typischen Klinkerfassaden, aber sie waren mir zu neu und unpersönlich. Ich suchte nach Flair, einem Juwel, das man noch schleifen konnte.

Während wir durch die Räume des Wohntrakts geführt wurden, brach ich in wahre Begeisterungsstürme aus. Das schien den Makler zu amüsieren, denn er beobachtete mich bei jeder neuen Entdeckung und grinste fast schon unverschämt.

Auch Frank konnte mich nicht auf den Boden der Tatsachen zurückbringen, als er mir verschiedene marode Stellen des Gebäudes zeigte. Ich hatte kein Auge für die teilweise gerissenen Türen, für die verrosteten Wasserleitungen und die hoffnungslos veraltete Nachtspeicherheizung.

Mein Blick wurde von dem uralten, ausladenden Kamin in der Eingangshalle gefesselt. An dessen Rückwand hing eine rußgeschwärzte Eisenplatte mit einem kaum erkennbaren Motiv und man konnte ihn in geduckter Haltung sogar betreten.

„Du weißt aber schon, dass der keinen besonders hohen Brennwert hat? Die warme Luft zieht geradewegs nach oben raus“, versuchte Frank zu mir durchzudringen.

„Aber sieht er nicht toll aus?“, jubelte ich.

„Ja, sicher“, brummte er und schüttelte den Kopf.

Ich glaubte, ein „typisch Frau“ gehört zu haben, beschloss aber, diese Bemerkung geflissentlich zu ignorieren.

Die überdimensionale Esse in der Wohnküche war für mich Romantik pur. Frank sagte nur, dass sie zu viel Platz wegnehmen würde, aber mir war das gleich.

Ich liebte das Knarren der Holzdielen unter meinen Füßen vom ersten Augenblick an, auch wenn das laut Frank bedeutete, dass es keine Bodenplatte gab, die die Feuchtigkeit daran hätte hindern können, die Wände hoch zu ziehen.

Dieser alte Bauernhof war in meinen Augen perfekt. Hier würden Leon und Kathi aufwachsen und echte Landkinder werden, mit allem was dazu gehörte. Verdreckte Klamotten, mit Tieren spielen und Spaß haben.

Ich glaube, Frank ergab sich einfach in sein Schicksal, denn es dauerte nicht lange und auch er musste lächeln. Kopfschüttelnd sagte er: „Da zeige ich dir die tollsten Häuser, modern und lichtdurchflutet; du findest den einzigen zum Verkauf stehenden Kotten der gesamten Gegend und bist hin und weg.“ Er schnaubte. „Du bist verrückt, weißt du das?“

Ich lachte und knuffte ihn spielerisch in die Seite. „Schau doch her. Ist das nicht wundervoll?“ Ich ging drei Stufen hinauf auf ein kleines Podest, dann folgten weitere drei, die zu einem oberhalb der Küche gelegenen Zimmer führten. Ich wies auf eine Holztür mit Porzellangriff. Der Lichtausschnitt war von Sprossen unterteilt, in jedem Abschnitt eine unebene, trübe Glasscheibe mit Gravuren. Es fehlte zwar ein Glas und ein anderes war gesprungen, aber dennoch war das Motiv noch deutlich zu erkennen. Es war ein feines Ornament, das Weizenähren andeutete und in seiner Gesamtheit einen Kranz aus Feldfrüchten darstellte.

„Das ist eine Upkammer“, meldete sich der Makler zu Wort, der uns gefolgt war. „Die sind typisch für die alten Höfe in dieser Region.“

Frank drückte die Tür nach innen auf und sie schrappte unbarmherzig über die Holzdielen. Dann wies er auf die notdürftig reparierte Zarge. „Noch eine Baustelle“, bemerkte er trocken und verdrehte die Augen. Sein verhaltenes Lachen klang wie das Schnaufen einer Lokomotive.

Ich kicherte. „Klar, aber sie ist wundervoll. Irgendjemand hat sie vor langer Zeit in Auftrag gegeben, vielleicht sogar selbst mit viel Liebe gebaut und seine Frau hat dann bestimmt genauso staunend davor gestanden wie ich.“ Ich schlang einen Arm um seine Hüfte, sah zu ihm auf und hauchte: „Ich liebe diesen Hof schon jetzt, genau so wie er ist. Was glaubst du, wie der erst aussieht, wenn wir mit ihm fertig sind. Es wäre doch nicht das erste Mal, dass wir ein Haus sanieren und ich finde er ist es wert gerettet zu werden. Meinst du nicht?“

Er schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. „Herr, bewahre mich vor dieser Frau. Du würdest doch jede abbruchreife Hütte vor dem endgültigen Verfall retten, wenn du könntest.“

Ich biss auf meiner Unterlippe herum und musste ihm insgeheim Recht geben. Mich interessierte von jeher alles was alt war. Ich liebte es mir vorzustellen, wie sich Generationen von Menschen an diesen Dingen erfreut hatten und welche Erlebnisse sie damit verbanden. Auch wenn sie längst nicht mehr lebten, hatte ich immer das Gefühl, als würden sie einen Teil von sich zurücklassen. Davon abgesehen, war dieser Hof etwas ganz Besonderes.

Meine Vorliebe schien auch der Makler bemerkt zu haben, denn er fragte mich unvermittelt: „Sie mögen alte Dinge?“

„Oh ja, sehr.“ Ich nickte eifrig.

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte für einen Sekundenbruchteil über seine Lippen. Dann sagte er: „Wenn das so ist, hat dieser Hof nur auf sie gewartet. Soweit ich weiß, ist er einer der Ältesten in dieser Gegend, wenn nicht sogar der Älteste.“

„Aber sie wollen mir jetzt nicht durch die Hintertür erzählen, dass er unter Denkmalschutz steht?“, fragte Frank misstrauisch.

Der Makler schüttelte den Kopf. „Nein. Dazu soll es hier schon zu viele Umbauten gegeben haben. Die Originalpläne sind auch nicht mehr vorhanden.“ Mit einem Zwinkern wandte er sich wieder an mich. „Aber es gibt einige Sagen in der Gegend und manche meinen, sie hätten mit diesem Hof zu tun.“

„Wow, hast du das gehört?“

„Nett“, sagte Frank nur.

Ich lachte. „Ach komm schon. Ich finde das einfach spannend. Der Hof ist klasse. Genau so was habe ich gesucht.“ Entschlossen packte ich Frank am Jackenärmel, zog ihn hinter mir her die Stufen hinunter, durch Küche und Kamindiele hinaus ins Freie.

Wir gingen durch den weitläufigen Vorgarten, an einem uralten Backsteinbrunnen vorbei und standen schließlich auf dem schmalen Wirtschaftsweg, der über die ganze Längsseite am Hof vorbei führte. Ich wies mit einer großzügigen Armbewegung über die Szenerie, als wäre ich eine Bühnenartistin, die kurz davor war sich zu verbeugen.

Frank ließ seinen Blick über das Gebäude gleiten und ich hoffte inständig, dass er dasselbe sah wie ich.

Vor uns lag der Wohntrakt in voller Länge, gespickt mit einer Reihe Fenster, die von grünen Blendläden flankiert waren. Die Haustür stammte schon aus den achtziger Jahren, aber es war sicherlich kein Problem eine Haustür aufzutreiben, die mehr Charme ausstrahlte. Der Schweinestall stand rechtwinklig zum Wohntrakt, uns zugewandt, so dass eine L-Form entstand. Auch in ihm befanden sich einige Fenster und in einigem Abstand eine altersschwache, grün gestrichene Pforte, die in das Holzlager führte. Der ganze Bau bestand aus echten Backsteinen. Zur Linken des Wohntraktes stand eine mächtige Eiche, die ihre schweren Äste über das Dach streckte, als wolle sie den Hof beschützen. Die hoch am Himmel stehende Sonne schickte ihre Strahlen durch das dichte Herbstlaub herab, so dass es aussah, als hätte ein Künstler die ganze Szene in Gold- und Rottöne getaucht.

„Da fehlen ein paar Dachziegel“, sagte Frank trocken.

Diesmal war es an mir, die Augen zu verdrehen und er lachte. Abwehrend hob er die Hände, als wollte er sich ergeben und sagte: „Ich weiß, was du meinst. Man kann tatsächlich was draus machen. Allerdings wird das auch nicht billig.“

Ich seufzte. Das war ein Argument, dem ich nicht viel entgegenzusetzen hatte. Es gab nur eine Möglichkeit. „Meinst du, wir können ihn vielleicht nach und nach herrichten?“

Er hob eine Braue und sah mich fragend an.

„Na, ich meine, wenn wir zuerst einziehen und dann einen Raum nach dem anderen renovieren. So könnten wir doch die Kosten ein wenig aufteilen.“

„Das würde schon gehen, aber …“

Es folgte eine Litanei von langweiligen Details über Arbeiten, die sofort anstanden, aber ich hörte schon gar nicht mehr hin. Es war genau so, wie wenn er beim Autokauf über Extras, PS und Zylinder sprach, von denen ich keine Ahnung hatte. Mich interessierte nur ein klares ja oder nein, der Rest war für mich belangloses Beiwerk, das er genauso gut der maroden Mauer hätte erzählen können.

Ich hing meinen ganz eigenen Gedanken nach und betrachtete die Fensterreihe. Ich sah die vagen Umrisse des Maklers, der an einem der Fenster in der Diele stand. Mir wurde unangenehm bewusst, dass ich ihn anstarrte und Frank rückte in meine Aufmerksamkeit zurück, als er schloss: „… meinetwegen können wir ja mal um den Preis verhandeln, wenn der Hof dir so gut gefällt.“

Im selben Moment quietschte die kleine Pforte in den Angeln und schwang auf. Ich wandte den Kopf und der Makler trat heraus. Irritiert sah ich zurück zum Fenster. Der Umriss war verschwunden.

Ich musste Frank völlig entgeistert angesehen haben, denn er legte den Kopf schief und sagte: „Erde an Julia – bist du noch da? Das war mein Ernst.“

Erst da begriff ich, dass er bereit war, meinen Traum wahr werden zu lassen. „Wirklich?“

Er lachte. „Ja, sonst hätte ich es nicht gesagt. Aber das wird ein schönes Stück Arbeit. Das ist dir klar?“

Ich jauchzte vor Freude und fiel ihm um den Hals. „Das macht gar nichts. Das wird absolut klasse“, rief ich begeistert aus. Dann wandte ich mich dem Makler zu und sagte: „Sie hatten es aber eilig. Haben sie einen Geheimgang benutzt, dass sie so schnell hier sein konnten?“

Er sah mich an, als wüsste er nicht was ich meinte, dann grinste er und sagte nur: „Es ist mein Job zu wissen, wann es an der Zeit ist, beim Kunden zu sein.“

2

Es dauerte zwei quälende Monate bis wir endlich in unseren Hof einziehen konnten. Zwischenzeitlich lenkte sich meine grüne Ente fast selbstständig in die Bauernschaft, voll gepackt mit beiden Kindern auf der Rückbank. Und das nur, damit ich einen sehnsuchtsvollen Blick auf unseren Hof werfen konnte. Voller Enthusiasmus schwärmte ich Leon und Kathi vor, wie toll es dort werden würde.

„Das ist unser Bauernhof. Ist der nicht klasse? Bald werden wir da einziehen.“

„Wann denn, Mama?“, fragte Leon und Kathi brabbelte: „Eizih, eizih.“

Meist zuckte ich dann nur mit den Schultern und sagte bedauernd: „Bald, mein Schatz, bald“, weil ich es schlichtweg noch nicht wusste. Der Notar ließ sich Zeit und ich erinnerte mich dunkel an noch durchzuführende Sanierungsarbeiten, die Frank erwähnt hatte.

Doch auch diese Zeit ging vorbei und es kam der Tag, an dem wir mit Sack und Pack, den Kindern, Hund und Kater im Schlepptau, unser neues Domizil eroberten.

Es regnete in Strömen, doch die geräumige Tenne verschluckte den gesamten LKW und wir konnten die Möbel trockenen Fußes durch die Küche in den Wohntrakt schleppen. Gottlob hatten wir genügend Hilfe, sodass wir am Abend dankbar auf unsere frisch aufgebauten Betten sinken konnten.

Die nächsten Tage verbrachten wir damit uns einzurichten. Es gab ein paar Möbelstücke bei denen wir noch nicht schlüssig waren, ob wir sie behalten sollten und ich schlug vor, sie vorerst in der Upkammer unterzubringen.

Frank schnappte sich ein Nachtschränkchen, lief die Stufen hinauf und öffnete die immer noch schleifende Tür. Er blieb wie angewurzelt stehen.

„Was ist los?“

Er drehte sich zu mir um und fragte: „Warst du eigentlich seit der Besichtigung noch mal hier drin?“

„Nein, wieso?“

Er schnaubte. „Weil uns der Ex-Eigentümer noch mehr Arbeit dagelassen hat“, stellte er fest und wirkte sauer. Dann trat er einen Schritt zur Seite, damit auch ich hinein spähen konnte.

Nur mühsam konnte ich ein Jauchzen unterdrücken und Frank sah mich warnend an. „Das kommt alles auf den Sperrmüll, ist das klar?“

Ich musste nicht in einen Spiegel sehen, um zu wissen, dass meine Augen vor Begeisterung leuchteten. Die komplette Kammer war vollgestopft mit alten Möbeln und Gerümpel. Es war wie Weihnachten.

„Nein“, mahnte er noch einmal deutlich.

Ich konnte mir das Grinsen nicht mehr verkneifen. „Sicher, Schatz – alles auf den Sperrmüll. Klar.“

Verzweifelt schlug er sich die Hand vor die Augen und brummte wehleidig.

„Was habt ihr?“, rief Leon aus der Küche und sprang zu uns die Treppe herauf.

„Nichts Schlimmes“, sagte ich. „Wir haben nur ein paar alte Möbel entdeckt.“

„Cool“, sagte er und drängte sich an uns vorbei.

Frank schnappte ihn am Kragen und zog ihn zurück. „Das ist überhaupt nicht cool und du musst da jetzt nicht drin rumklettern.“ Er sah mich an und verzog die Mundwinkel. „Das Meiste kommt auf den Sperrmüll, wenn deine Mutter fertig sortiert hat.“

„Danke“, flötete ich und an Leon gewandt fragte ich: „Was macht Kathi?“

„Die spielt in meinem Zimmer“, antwortete er prompt.

„Kümmerst du dich noch ein bisschen um sie?“

Leon murrte verhalten.

„Das wäre wirklich lieb von dir“, verlieh ich meiner Bitte Nachdruck.

Er zog eine Schnute. „Aber ich wollte doch fragen, ob ich Nintendo spielen darf“, jammerte er.

„Kannst du ja“, sagte Frank beschwichtigend. „Setz dich doch zu ihr auf den Boden, dann ist sie schon zufrieden.“

„Na gut“, sagte er schließlich und verschwand in die Küche, indem er die letzten drei Stufen auf einmal hinunter sprang.

Frank stellte das Nachtschränkchen ab und ließ mich mit dem Trödel allein.

„Aber bitte“, sagte er über die Schulter „Nur was unbedingt sein muss, ok?“

Damit war ich mehr als einverstanden. Voller Vorfreude ließ ich meinen Blick über den kaum zwei Meter hohen Raum schweifen, der bis zur Decke gefüllt war. Es hatte den Anschein, als habe jede Person, die einst hier gelebt hatte irgendwelche Dinge in dieser Kammer eingelagert, als wäre ein Berg an Möbeln und Gerümpel über die Jahre hinweg stetig bis zur Tür gewachsen.

Ich beschäftigte mich zuerst mit einem antiken Küchenschrank. Die Schubladen waren vollgestopft mit alten Zeitungen aus dem Jahr 2001. Der letzte Bewohner des Bauernhofes war wohl zu faul gewesen, sie zu entsorgen. Der Schrank selbst war ein schönes Stück Handwerkskunst. Er war aus Apfelholz gefertigt und die wenigen Schnitzereien sahen nett aus. Die Butzenscheiben der oberen Vitrinentüren waren zwar schon teilweise gesprungen und eine fehlte ganz, aber es würde nur wenig Mühe kosten, ihn herzurichten. Er war eindeutig rettungswürdig.

Ich nahm mir Franks Mahnung zu Herzen und sortierte ein paar klapprige Holzstühle aus, die nur noch mit gutem Willen zusammengehalten wurden. Danach widmete ich mich einigen Kisten mit gesprungenem Porzellan, einem fleckigen Sessel aus den siebziger Jahren und diversen anderen Stücken, die selbst ich nicht mehr retten wollte. Mein Blick fiel auf einen ebenholzfarbenen Stuhl. Die vorderen Beine endeten in einer Schnitzerei, die Löwenpfoten nachempfunden war. Die Armstützen mündeten in einer Art Schnecke und die geschwungene Lehne rundete den edlen Eindruck ab. Das Polster war arg zerschlissen und verlangte nach einer Überarbeitung, aber dies war ein Möbel nach meinem Geschmack. Ich hoffte noch mehr solcher Stühle zu finden und tatsächlich standen unweit vom ersten entfernt noch weitere drei. In Gedanken platzierte ich sie bereits in der Kamindiele. Es fehlte nur noch ein Tisch, den ich zu meinem Bedauern nirgendwo entdecken konnte, aber ich tröstete mich damit, dass ich mit der Kammer noch lange nicht durch war.

Stetig arbeitete ich mich voran, bis ich hinter einem Sack mit verschimmelten Federbetten eine gigantische Holztruhe mit gewölbtem Deckel und Eisenbeschlägen fand. Sie reichte mir bis zur Hüfte und wenn Leon wollte, würde er mit ausgestreckten Beinen darin liegen können. Ich fuhr mit der flachen Hand über das Holz und prompt haftete eine dicke, graue Staubschicht an meinen Fingern. Ganz undamenhaft wischte ich sie an meiner Jeans ab und versuchte den schweren Deckel anzuheben, doch er rührte sich keinen Millimeter. Entweder war er für mich zu schwer oder die Truhe war abgeschlossen.

„Frank! Schau mal, was ich gefunden habe!“

„Lass mich raten“, rief er aus der Küche. „Möbel?“, witzelte er und bahnte sich einen Weg zu mir.

„Wow, das ist wirklich ein schönes Stück.“

„Finde ich auch, aber sie geht nicht auf.“

„Lass mal sehen.“ Auch er scheiterte, ging in die Hocke und musterte das schmiedeeiserne Schloss. „Soll ich sie aufbrechen?“

Entsetzt schüttelte ich den Kopf. „Bloß nicht.“

„Dann wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben, als einen Spezialisten zu holen. Wir können sie in die Halle stellen, wenn der Boden fertig ist. Da sieht sie bestimmt ganz gut aus.“ Er rümpfte die Nase. „Aber erst musst du sie mal abwischen. Die Truhe müffelt.“

Ich schnalzte mit der Zunge. „Klar mach ich sie sauber. Wofür hältst du mich?“

Er sah auf meine Jeans und seine Mundwinkel zuckten amüsiert.

Abwehrend hob ich die Hände. „Sag nichts. Ich arbeite.“

„Schon klar, nur warum hast du dazu immer deine neuesten Klamotten an?“

Seufzend gestand ich, dass ich vergessen hatte mich umzuziehen. „Aber jetzt ist es eh zu spät. Ich bin schon dreckig.“

Er richtete sich auf und feixte. „Was du nicht sagst.“ Dann sah er sich in der Kammer um. „Da hast du noch einiges zu tun. Brauchst du mich noch?“

„Nein, schon gut. Ich mache gleich Schluss. Sollen wir zusammen etwas Schönes kochen?“

Frank nickte und verließ mich mit den Worten: „Ich sehe nach, was der Kühlschrank hergibt. Viel kann es nicht sein, aber ich finde schon was.“

Ich räumte noch ein wenig auf, stapelte Sperrmüllkandidaten nach vorne und stellte andere Dinge, inklusive unserer Nachtschränkchen, nach hinten, aber kaum eine halbe Stunde später folgte ich ihm. Es war spät geworden und nachdem wir gemeinsam gegessen hatten, brachte ich die Kinder ins Bett, während Frank den Hund ausführte.

Die Arbeit forderte ihren Tribut und die Müdigkeit trieb auch uns bald in die Kissen.

Ich schlief unruhig. Der Wind heulte um den Hof und rüttelte an den Fensterläden. Im Babyfon rauschte es und als Kathi anfing zu wimmern war ich wach. Leise schlüpfte ich in meine Hausschuhe und angelte nach meiner Strickjacke. Während ich das Schlafzimmer verließ, zog ich sie über die Schultern.

Das alte Gemäuer ächzte wie ein großes Tier. Überall knackte es im Gebälk und der Dielenboden knarrte unter meinen Füßen. Draußen schlug etwas rhythmisch gegen die Mauer und ich vermutete, dass sich die Pforte aus ihrem Schloss gelöst hatte.

Ich wanderte durch die Kamindiele, an deren Ende Kathis Zimmer angrenzte. Der Vollmond schien durch die zahlreichen Fenster herein und fast hätte man glauben können, es sei helllichter Tag.

Unter all die Geräusche mischte sich etwas Unbekanntes. Sicher war mir der Hof noch nicht so vertraut, doch dieses Geräusch bescherte mir augenblicklich eine Gänsehaut. Es war eine Art ruckartiges Schleifen, so als würde jemand etwas Schweres hinter sich herziehen.

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich lauschte an Kathis Zimmertür, doch darin regte sich nichts. Ich durchquerte die Halle, schlich auf leisen Sohlen in die Küche und spitzte die Ohren.

Der Kühlschrank brummte leise, darüber tickte die Uhr, sonst hörte ich nichts. Hatte ich es mir im Halbschlaf eingebildet? Träumte ich womöglich noch?

Ich öffnete den Kühlschrank, nahm eine Tüte Milch heraus und drehte den Verschluss auf. Ich wollte sie gerade auf die Ablage stellen, als ich wieder dieses Wimmern hörte. Es schwoll an zu einem lauten Weinen, als ob ein Baby schreien würde.

Plötzlich zerschellte ein Blumentopf auf dem Küchenboden. Ich stieß einen erschreckten Schrei aus und ließ die Milch fallen. Ihr Inhalt ergoss sich auf die Fliesen. Ich wollte fluchtartig die Küche verlassen, als ein Schatten vom Sims sprang und wie ein geölter Blitz in die Halle raste.

Ich legte meine Hand aufs Dekolletee und schloss für einen Augenblick die Augen, um mich zu sammeln. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich fuhr herum.

„Julia? Was machst du? Ist alles in Ordnung?“ Frank stand neben mir. Er sah besorgt aus.

Ich atmete tief ein, bevor ich antwortete. „Ich dachte Kathi wäre wach und dann war da ein Geräusch“, stammelte ich.

„Was für ein Geräusch?“, hakte er nach.

„Ich weiß nicht.“

„Und warum hast du geschrien? Ist wirklich alles ok mit dir?“

Mein Blick fiel auf den zerschellten Blumentopf, der vom Mondlicht angestrahlt wurde, als habe man einen Spot auf ihn gerichtet. „Ja“, sagte ich und verzog den Mund zu einem Lächeln, obwohl mir nicht danach war. Zu stark waren die Eindrücke der letzten Minuten gewesen. „Vertigo hat mich erschreckt. Er hat bestimmt einen Artgenossen angekeift. Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als er den Topf runtergeschmissen hat. So schnell wie er aus der Küche geschossen ist, ging es ihm wahrscheinlich ähnlich.“

Frank sah mich forschend an.

„Schon gut, ich bin ok.“

Er rieb mir liebevoll den Arm. „Na komm, trink einen Schluck und dann gehen wir wieder schlafen.“ Er hob die halbvolle Tüte Milch auf, schenkte mir ein Glas ein und gab es mir. Während ich trank, holte er einen Lappen aus dem Spülbecken, wischte die Milchlache auf und legte ihn unausgewaschen ins Becken. Normalerweise ärgerte mich so etwas immer, weil der Lappen am nächsten Tag stinken würde, doch ich war zu aufgewühlt, als dass es mich kümmerte. Ich trank mit einem letzten Schluck das Glas leer und stellte es einfach daneben.

Er reichte mir die Hand und wir gingen zurück ins Schlafzimmer. Ich sehnte mich nach unserem warmen Bett mit ihm an meiner Seite. Als ich mich zugedeckt hatte, schloss ich meine Augen und lauschte in die Dunkelheit hinein. Das schleifende Geräusch kam nicht wieder, dennoch brauchte ich lange, bis ich an Frank gekuschelt endlich zurück in den Schlaf fand.

3

Vor uns lag eine Zeit, in der die Arbeiten an unserem Hof nur noch langsam voranschreiten würden. Der Urlaub neigte sich dem Ende. Leon musste wieder zur Schule und auch Frank wurde in der Firma schon schmerzlich vermisst. Kathi war noch zu klein für den Kindergarten und daher erwarteten sie keine lästigen Pflichten.

Nichtsdestotrotz begingen wir unser vorerst letztes freies Wochenende mit Müßiggang. Wir schliefen aus, frühstückten ausgiebig und da das Wetter es zuließ, unternahmen wir ausgedehnte Spaziergänge durch die weiten Felder. Die Kinder entdeckten immer wieder neues Getier, spielten im Herbstlaub und Boomer sprang aufgeregt kläffend um sie herum.

Ich hörte keine merkwürdigen Geräusche mehr und Frank hatte mich inzwischen davon überzeugt, dass es sich wahrscheinlich um einen Siebenschläfer gehandelt haben musste. Er richtete sich womöglich sein Winterquartier auf unserem Dachboden über der Küche ein.

Ich war nahe dran nach diesem Viech zu suchen, gab es aber auf, als ich feststellte, dass man nur über eine wackelige Leiter im Holzschuppen auf den Dachboden hinaufklettern konnte. Der bloße Gedanke an eine solche Kraxelei jagte mir schon einen Schauer über den Rücken. Also ließ ich es bleiben.

Am Abend des letzten freien Tages brachten wir die völlig verausgabten Kinder ins Bett und machten es uns vor dem Kamin gemütlich. Das Feuer prasselte leise vor sich hin und manchmal knackte einer der Scheite. Wohlige Wärme breitete sich im näheren Umkreis aus. Frank holte sich ein Buch, um zu lesen. Ich legte mir meine Wolldecke über die Knie und klappte den Laptop auf.

„Hast du gesehen wie schön sauber die Kaminplatte ist?“, fragte ich, als er sich auf den Sessel zu meiner Rechten fallen lies.

„Ja, habe ich. Sieht gut aus. Womit hast du den Ruß denn weg bekommen?“

„Mit scharfem Scheuermittel und einer Zahnbürste.“

„Hoffentlich nicht mit meiner“, sagte er und grinste.

„Deine Zähne sehen auch gut aus …“ Um meine Mundwinkel zuckte es amüsiert.

Er stutzte, dann lachte er.

„Quatsch, natürlich mit einer alten“, sagte ich immer noch lächelnd. „Ich war überrascht von dem schönen Motiv. Da hat sich jemand viel Mühe gegeben. Es stehen auch zwei Namen drauf und eine Jahreszahl.“

„Habe ich gesehen. Meinst du das waren die Leute, die den Hof gebaut haben?“

„Laut dem Makler soll der Hof noch viel älter sein. Das passt nicht zur Jahreszahl. Angeblich soll er schon im dreißigjährigen Krieg existiert haben. Natürlich nicht in der Form wie heute. Fest steht nur, dass diese Menschen hier gelebt haben. Ich wollte jetzt ins Internet, um nach ihnen zu suchen. Vielleicht finde ich noch mehr über sie heraus.“

„Viel Erfolg“, sagte er zweifelnd und schlug sein Buch auf.

Ich runzelte die Stirn. „Das geht“, sagte ich entrüstet. „Die Mormonen haben eine unglaubliche Datenbank online. Da findet man Abschriften von Millionen Kirchenbüchern.“

„Na dann mach mal.“

Er nahm mich nicht ernst und das war etwas, das ich leiden konnte, wie kalte Füße im Bett. Leicht verärgert öffnete ich die Datenbank und schickte meine Suchanfrage ab.

Es war ein Leichtes, herauszufinden, zu welchem Kirchspiel die Bauernschaft Limbergen gehörte. Auch dass es verschiedene Schreibweisen des Landstrichs gab. In manchen Verzeichnissen hieß er Lymbergen in den älteren Linthberghe.

Die zugehörigen Kirchenbücher standen fein säuberlich aufgelistet untereinander, aber leider ließ die Datenbank eine direkte Suche in den einzelnen Büchern nicht zu.

Der Ergeiz packte mich. Ich surfte in weiteren Datenbanken um die passenden Batchnummern zu finden und musste mich dann entscheiden, welches Kirchenbuch am ehesten in Frage kam. Heirats-, Tauf- oder Sterberegister.

Mir kam eine Heirat am wahrscheinlichsten vor. Der Hof sollte ja angeblich älter sein und da zwei Namen auf der Tafel standen, konnte das für die Gründung eines gemeinsamen Hausstandes stehen.

Ich rief das Heiratsregister der Jahre 1718-1751 auf und tippte den Namen des Mannes in die Suchmaske ein. Unter Lüttke-Herzog fand die Datenbank keinen Eintrag.

„Mist“, sagte ich laut und Frank sah auf.

„Klappt es nicht?“

„Doch“, brummte ich und dachte darüber nach, was ich sonst versuchen könnte. Den Triumph gönnte ich ihm nicht.

Ich schloss die Augen und versuchte, mich in die Lage des Pfarrers zu versetzen.

Der Pfarrer traut das Paar und fragt: „Wie heißt du mein Sohn?“

„Lüttke-Herzog“, antwortet der Mann.

Der Geistliche setzt zum Schreiben an, zögert einen Augenblick und kritzelt dann in einer Mischung aus altdeutsch und Latein …

Ich lächelte. Das war die Lösung. Es gab gleich zwei mögliche Ursachen, warum ich den Namen nicht finden konnte. Was, wenn der Pfarrer nicht wusste, wie man den Namen schrieb? Würde er, der gelehrte Mann, im Jahre 1734 den Bauern fragen, ob er es wusste?

Ich gab mir selbst die Antwort. Natürlich nicht. Der Pfarrer schrieb den Namen willkürlich und veramtlichte ihn damit.

Obendrein verwendete er in dieser Zeit eine Mischung aus altdeutsch und Pseudolatein. Latein so weit er es konnte und an der Stelle, an der ihn seine Bildung verließ oder es keinen lateinischen Begriff gab, setzte er ein -us hinten an. Ein anderer zog sich aus der Affäre, indem er unleserlich schrieb. Wie viele Menschen waren denn damals in der Lage zu prüfen, ob sein Latein auch korrekt war. Und selbst wenn es jemanden gegeben hätte, wer wagte das schon?

Die zweite Ursache folgte auf dem Fuße. Die Mormonen schrieben die Kirchenbücher ab und übernahmen die Fehler des Pfarrers, oder konnten die Schrift nicht entziffern und waren gezwungen zu raten.

Es brauchte noch eine ganze Weile, bis ich mich durch verschiedene Schreibvarianten gekämpft hatte. Doch dann fand ich den Eintrag, den ich erhofft hatte.

„Ich habe sie gefunden“, flötete ich.

„Echt?“ Frank klang erstaunt, was ich mit einer gewissen Genugtuung registrierte.

„Hier steht, dass sie am 29. April 1733 geheiratet haben.“

„1733? Steht auf der Platte nicht 34?

„Schon, aber das kann trotzdem passen. Sie haben definitiv 1733 geheiratet. Ich denke sie sind entweder erst ein Jahr später hier eingezogen oder die Platte wurde erst 34 fertig. Ich tippe auf Ersteres.“

„Kannst du das auch rausfinden?“

„Erst nicht glauben, dass ich überhaupt was finde und jetzt soll ich schon Wunder vollbringen. Solche Informationen findet man nur durch wahnsinnig viel Glück, wenn überhaupt.“

„Ich hab ja nur gefragt“, sagte er grinsend. „Ich hätte nicht gedacht, dass du bei deinen Mormonen überhaupt was findest.“

Ich verdrehte die Augen. „Das sind nicht meine Mormonen, ich bin evangelisch, falls du es vergessen hast. Sie führen die Datenbank aus Glaubensgründen und sind so freundlich, sie allen Menschen kostenlos zur Verfügung zu stellen.“

„Nette Menschen, diese Mormonen.“

Ich lachte. „Ja, das sind sie.“

Ich war inzwischen zu müde, um noch nach den Geburtsdaten der beiden zu suchen, aber ich nahm mir fest vor, die in Frage kommenden Mikrofilme zu bestellen. Es war sicher viel aufregender in den Originalen zu stöbern und die Schrift des Pfarrers zu sehen.

Bei der Vorstellung musste ich lächeln. Es wäre interessant herauszufinden, ob es an der Schrift des Pfarrers, oder an seiner Willkür lag, dass sich der Name in Lüthke-Herting gewandelt hatte.

Ein Gedanke trieb mich, noch einmal die Suchmaske zu öffnen. Ich tippte den Namen ein und sah die Ergebnisse durch, versuchte die verschiedenen Schreibweisen, dann runzelte ich die Stirn. „Das ist ja merkwürdig.“

„Was?“

„Ich finde überhaupt keine Kinder.“

„Vielleicht hatten sie keine. Was ist daran ungewöhnlich?“

„Im 18.Jahrhundert auf einem Bauernhof? Die einzige Altersvorsorge waren die Kinder. Das ist sogar mehr als ungewöhnlich.“

4

Lymbergen, 1734

Johann scherte sich nicht um die Geschichten, welche über die Vorbesitzer des Guts erzählt wurden. Was kümmerten ihn diese Leute. Hier würde er mit seiner Frau leben, ein paar Tagelöhner einstellen und einen Hof leiten, so wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Er hätte lieber dessen Hof übernommen, doch gebot die Tradition, dass dieser seinem Bruder Karl zufallen würde. Dennoch hatte sein Vater großen Wert darauf gelegt, dass sie beide gleichermaßen dazu in der Lage sein würden einen Hof zu führen und die entsprechende Bildung erhielten.

Wenn er recht darüber nachdachte, konnte es sein Schaden nicht sein. Er musste sich nicht um den Altenteil der Eltern sorgen und bekam eine großzügige Abfindung, die ihn in die glückliche Lage versetzte, sein eigener Herr zu sein.

Die alte Hofstelle Lymbergen stand lange Jahre wüst. Niemand wusste genau, wie alt der Hof tatsächlich war. Manche Nachbarn sagten, er habe schon viele Jahre vor dem Krieg gestanden, doch niemand würde je erfahren wann er tatsächlich gebaut worden war. Johann war das einerlei. Der Hof versprach immer noch einen hübschen Betrag abzuwerfen, wenn die erste Pacht gezahlt sein würde. Nur das war wichtig.

Er hörte wie ein Wagen vorfuhr und jemand seinen Namen rief. Das konnte nur Jakob sein, dachte er und öffnete die Tür.

Er hatte bei seinem Freund eine Kaminplatte in Auftrag gegeben, die eine weitere und vermutlich auch die krönende Überraschung für Anna sein sollte. Ein Prunkstück für den Hof, das obendrein jedermann daran erinnern sollte, wem er gehörte.

Jakob löste schon die beiden Seile mit denen er seine kostbare Fracht gesichert hatte, als Johann in den strahlenden Sonnenschein trat und die Augen mit der Hand beschattete. „Gott zum Gruß, Jakob“, rief er, als er an den Wagen trat. „Ist sie gut geworden?“

„Natürlich“, antwortete dieser freundlich. „Ein schönes Stück Arbeit, aber ich glaube, sie ist prachtvoll genug für deine Anna.“ Er zog das weiße Leinen langsam von der Platte, als enthülle er den Kronschatz Kaiser Karls.

Johann war verblüfft. Er wusste zwar, dass Jakob viel von seinem Handwerk verstand, doch mit einer solchen Kunstfertigkeit hatte er nicht gerechnet.

„Was meinst du?“

Johann sah in die vor Stolz funkelnden Augen seines Freundes. Er pfiff anerkennend durch die Zähne und strich mit den Fingern die Buchstaben nach, die auf der Tafel standen. Seine Augen betrachteten wohlwollend das Motiv rechts und links neben dem Text. Zwei der Schrift und einander zugewandte Männer verrichteten ihr Tagwerk. Die Tafel übertraf seine Erwartungen bei weitem. Anna würde staunen, da war er sich sicher. „Danke, Jakob. Wenn sich herumspricht, welche Wunder du mit Eisen vollbringen kannst, hast du für den Rest deines Lebens ausgesorgt“, sagte er anerkennend.

„Jetzt pack schon an“, wies sein Freund ihn freudestrahlend zurecht. „Das Ding wiegt soviel wie der Kirchturm und du willst sie doch an Ort und Stelle haben, bevor deine Frau hier auftaucht.“

Die beiden Männer trugen das wuchtige Schmuckstück in die Deele und brachten es an der rückwärtigen Wand im Inneren des Kamins an.

Jakob ging noch einmal zu seinem Wagen zurück, brachte zwei Feuerböcke, die er vorsichtig auf den Bodenplatten abstellte und verabschiedete sich dann, nicht ohne Johann eine schöne erste Nacht im neuen Heim zu wünschen und dabei verschmitzt zu zwinkern.

Nachdem er Jakob verabschiedet hatte, hockte Johann sich vor den Kamin, betrachtete noch einmal die Platte und bedeckte sie wieder mit dem weißen Leinentuch, welches sein Freund ihm dagelassen hatte. Die Überraschung für Anna würde perfekt sein. Er stand auf, raufte sein mittelblondes Haar und beschloss, noch einmal nach dem Rechten zu sehen.

Die letzten Monate hatte er damit verbracht, neben seiner Arbeit auf des Vaters Gut, den Lymberger Hof herzurichten, um endlich seiner im April des Vorjahres angetrauten Gemahlin ein Heim bieten zu können. Heute würde er Anna von ihrem Vater in Empfang nehmen, der sie gegen Mittag mit dem Wagen bringen wollte.

Voller Vorfreude wanderte er durch die frisch bereiteten Ställe, die schon morgen Nachmittag drei fette Schweine beherbergen würden, denn er beabsichtigte, sie in der Früh bei einem Nachbarhof abzuholen. Der Handel stand, die Säue warteten schon und um die zukünftige Zucht zu komplettieren, hatte er noch einen gut gebauten, viel versprechenden Eber dazu erstanden.

Er durchquerte die Tenne und inspizierte den künftigen Kuhstall. Die Raufen waren noch leer, doch auch dieser Stall würde nach dem nächsten Markt in Buldern mit einem Grundstock an Milchvieh gefüllt sein.

In der hinteren Ecke standen Egge und Pflug bereit, um das weite Land zu bestellen, dessen sandiger Boden es ihm nicht sonderlich schwer machen würde. Mit stolzgeschwellter Brust und schmalem Geldbeutel sah Johann dennoch hoffnungsvoll in die Zukunft.

Es gab viel zu erledigen; Tagelöhner mussten noch herangeschafft werden, eine Magd, die seiner Frau zur Hand gehen sollte und es fehlte ein Hofhund. Katzen stellten sich für gewöhnlich von selbst ein, sobald sie Wind davon bekamen, dass es etwas zu holen gab.

Er setzte seinen Rundgang fort, verließ den Kuhstall durch eine kleine Seitenpforte und überquerte den unbefestigten Hof zum Pferdestall.

Zwei sanfte Kaltblüter begrüßten ihn schnaubend. Mit einer Hand strich er ihnen nacheinander über die samtenen Nüstern und gab jedem einen Apfel.

Der Wagen seines Schwiegervaters, gezogen von zwei Braunen, holperte langsam den Weg entlang und bog zwischen den beiden Eiben zum Hof ein. Neben ihm auf dem Kutschbock saß Anna und winkte ihm freudig zu.

Er wusste, dass sie es kaum erwarten konnte bei ihm zu leben. Ihm selbst ging es nicht anders und nun waren die endlosen Gespräche und Träumereien über ein perfektes Eheleben vorbei. Sie schritten endlich zur Tat.

Anna wirkte aufgeregt. Es fehlte nicht viel und sie würde vom Bock fallen. Er beobachtete wie ihr Vater etwas zu ihr sagte und konnte sich lebhaft vorstellen was es war. Es konnte nur eine Zurechtweisung sein. Sie möge doch um des Himmels willen Haltung an den Tag legen. Was mochten denn die Leute denken.

Als der Wagen hielt, flötete sie: „Aber Vater“, und lachte. „Es ist doch natürlich, dass eine glückliche Frau fröhlich zu ihrem Mann heimkehrt.“

Johann musste an sich halten, um nicht laut loszulachen. Glücklicherweise wurde sein amüsiertes Schnauben durch das Gackern von gut einem halben Dutzend Hühnern übertönt, die auf dem voll bepackten Wagen untergebracht waren.

Anna sprang leichtfüßig herab und flog ihm überschwänglich in die Arme, dass ihr Rock nur so wirbelte.

Ihr Vater zog die Brauen drohend zusammen und räusperte sich aufmerksamkeitsheischend.

Johann schob seine Frau liebevoll zur Seite, zwinkerte ihr zu und richtete sein Augenmerk auf den Älteren, den er höflich grüßte.

Dieser nickte knapp und deutete nach hinten. „Die sind für euch“, brummte er, womit er eindeutig das aufgeregte Federvieh und die anderen Dinge meinte, die auf dem Wagen fest verzurrt waren.

Üblicherweise brachte die Braut beim Einzug in den Hof ihres Mannes die Mitgift mit. Sie war gewöhnlich so groß, wie ein Wagen fassen konnte. Darunter ihre Kleidung, einige Möbelstücke und ganz obenauf das Ehebett. Sie wurden dann am Hof von ihrem Gatten und einem Haufen grölender Junggesellen empfangen, die beim Abladen halfen und ihren Schabernack trieben. Durch die besonderen Umstände hatten sie diese Tradition jedoch ein wenig abgewandelt, sodass sie die Scherze bereits hinter sich hatten und auch das Ehebett an Ort und Stelle stand. Leider hieß das auch, dass er den Wagen ohne Hilfe abladen musste. Dabei brannte er darauf mit Anna allein zu sein.

Ohne zu murren machte er sich an die Arbeit. Anna lud ihre Kleiderbündel ab und Johann trug einen Schaukelstuhl und ein Spinnrad in die Tenne. Das letzte Möbelstück stellte ihn jedoch vor ein Problem. Zweifelnd maß er abwechselnd die Küchenvitrine und die zierliche Gestalt seiner Frau und schüttelte den Kopf. Er sah zu Josef auf, der immer noch auf dem Bock saß und ihn augenscheinlich beobachtete.

Dieser brummte einige unverständliche Worte in seinen Bart und stieg dann herunter. Er musterte Anna, drückte ihr den Käfig mit dem Federvieh in die Hände, der neben dem Wagen auf dem Boden stand und sagte: „Los, mach dich nützlich, Mädchen.“

Das missfiel Johann. Dieses Mal war es an ihm, die Brauen drohend zusammenzuziehen. Er nahm Anna den schweren Käfig aus den Händen. „Das muss sie nicht“, sagte er und in seiner Stimme lag ein warnender Unterton. Als Josef ihn unverwandt anstarrte, hielt er seinem Blick stand.

Anna stand zwischen den beiden Männern und Johann merkte, wie sie den Atem anhielt.

Sein Schwiegervater schien zu der Entscheidung zu gelangen, dass Johann ihm ebenbürtig war, denn er sah zu seiner Tochter und sagte: „Gut. Sie weiß wahrscheinlich sowieso nicht wo sie hingehören.“ Er zuckte mit den Schultern, wandte sich der Ladefläche zu und wartete.

Johann verstand sofort, stellte den Käfig zur Seite und sprang hinauf. Insgeheim war er erleichtert, dass Josef es nicht auf eine Auseinandersetzung anlegte. Eine Familienfehde zu entfachen lag ihm fern, zumal er wusste, dass Anna ihren sturköpfigen alten Herrn liebte, auch wenn Josef diese Liebe nicht zu erwidern verstand. Das Einzige was er erwartete war, dass der Alte ihm den nötigen Respekt erwies.

Er packte den massiven Schrank am Vitrinenaufbau und sah zu, wie Josef das untere Ende anhob. Gemeinsam hievten sie das gute Stück vom Wagen und trugen es durch die Tenne in die geräumige Küche. Sie stellten die Vitrine an die Wand neben der Tür zum Hinterzimmer und den Stufen, die zur Upkammer führten. Sie traten wenige Schritte zurück und betrachteten ihr Werk. Johann beobachtete, wie Josef sich umsah und zufrieden nickte, dann gingen sie zurück in den Hof, wo Anna auf sie wartete.

Nachdem sich Josef verabschiedet hatte und davon gerumpelt war, verstaute Johann die Hühner in einem Verschlag neben dem Gemüsegarten. Anschließend zeigte er seiner Angetrauten den Hof.

Sie hing ihm förmlich an den Lippen während seiner phantastischen Ausführungen über das Potenzial des Guts. Feierlich schloss er mit den Worten: „Der Lymberger Hof wird eine feste Größe im Münsterland.“

Zum krönenden Abschluss nahm er ihre Hand in die seine und führte sie vor den Kamin. Ihr Blick blieb an dem Gemälde hängen, das darüber hing. Sie musterte es interessiert. „Glaubst du, dass sie immer noch hier ist?“

Er schüttelte entschieden den Kopf und schnaubte. „Du wirst doch diesen dummen Spukgeschichten keinen Glauben schenken?“

Sie zögerte.

„Soll ich es abnehmen?“

Anna schien jeden einzelnen Pinselstrich zu studieren und ließ das Bild auf sich wirken. Schließlich sah sie ihm in die Augen und sagte: „Nein. Ich habe keine Angst, solange du bei mir bist.“

„Wovor solltest du auch Angst haben. Es ist nur ein Bild. Nichts weiter.“ Als er sicher war, dass er ihre ganze Aufmerksamkeit zurückgewonnen hatte, wies er auf die Brennkammer. „Eigentlich wollte ich dir das hier zeigen.“

Ihr Blick folgte seiner Geste. „Oh“, rief sie aus. „Was ist das? Noch eine Überraschung?“

Wie Jakob zuvor, zog er nun an dem Leinentuch und enthüllte den Beweis, dass sie zusammengehörten.

Anna atmete hörbar ein. „Du meine Güte, Johann, das muss dich doch ein Vermögen gekostet haben“, hauchte sie und sank auf die Knie um die Aufschrift der gusseisernen Platte genauer zu betrachten.

Johann strich ihr sanft über den Rücken. Um seine Frau zu überraschen, hätte er Jakob auch zwei Kälber versprochen. Er grinste.

Anna sah auf und bat ihn vorzulesen. Er hatte sie das Lesen gelehrt, da ihr Vater solcherlei Unfug für ein Weib nicht duldete, doch tat sie sich mit den geschriebenen Worten immer noch schwer. So ließ er sich nicht zweimal bitten und las mit feierlicher Stimme:

Johann Anton Lüttke-Herzog

Anna Theresia Lüttke-Lehfeld

1734

„Das klingt wunderbar“, sagte sie, erhob sich und umarmte ihn stürmisch. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

Er strich ihr eine blonde Strähne aus der Stirn, die sich aus ihrem Nackenknoten gelöst hatte. Er versank in ihren blauen Augen, senkte seine Lippen und fand ihre, die sich zu einem innigen Kuss öffneten.

Es vergingen einige Minuten, bis sie sich voneinander lösten. Er strich ihr sanft über die erröteten Wangen und sah sie lächeln.

Sie gehörten zusammen und Anna gehörte hierher. Dies war ihr gemeinsames Heim und er konnte in ihren Augen sehen, dass sie ihn liebte.

5

Limbergen, 2010

Die Arbeiten in der Diele schritten schneller voran als gedacht. Während Frank die Wand zum Nebenzimmer einriss, kratzte ich in mühevoller Kleinarbeit ganze drei Schichten Tapete von den Mauern. An der Wand zu Kathis Kinderzimmer förderte ich Erstaunliches zu Tage. Unter der dritten Schicht verbargen sich leicht verblasste grüne Ranken, die mit feinen Pinselstrichen auf weißen Kalkputz aufgetragen worden waren. Sie wanden sich über die ganze Wand, verzweigten sich schwungvoll und mündeten in winzige, lindgrüne Blätter. Unzählige blassblaue Blüten füllten die Zwischenräume.

„Frank!“ Ein weiterer Mauerstein krachte auf das Vlies, das den Boden schützte.

„Frank!“

„Ja?“

„Sieh dir das an.“

Er trat neben mich, immer noch den schweren Abrisshammer in der Hand.

Ich wies auf die Schmuckwand und lächelte ihn an.

„Schön.“

„Schön? Mehr fällt dir dazu nicht ein?“ Ich verdrehte die Augen.

„Doch, sieht gut aus. Da hatte wohl jemand kein Geld für eine Tapete.“ Er grinste und ich sah den Schalk in seinen Augen blitzen.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder der Wand zu und fuhr eine Ranke mit dem Finger nach. „Erinnerst du dich noch an Kreta? Da gab es doch diese Wandfresken. Im Prinzip ist das hier nichts anderes. Nicht so aufwendig, aber ähnlich. Die Farbe zieht in den Kalk und färbt ihn an der Stelle durch. Es fehlt nur eine Versiegelung. Das muss jedenfalls eine Heidenarbeit gewesen sein.“ Er drehte sich um und ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. „Vielleicht können wir den Rest der Diele farblich ein wenig darauf abstimmen?“

Ich nickte zufrieden. Auch ich wollte diese feine Arbeit erhalten, selbst wenn sie an manchen Stellen schadhaft war, aber das unterstrich die alte Seite dieses Hofs, die es nun mit der Neuen zu kombinieren galt.

Frank wechselte das Thema und wies auf die polierten Sandsteinplatten, die als Bodenbelag dienten. Da die Diele nun um gut vier Meter länger geworden war, würden diese nicht mehr für den ganzen Raum reichen. Wir entschieden uns, die historischen Platten zu verteilen und die Zwischenräume mit einem modernen Material zu füllen.

Am Ende der Woche war es dann so weit. Unsere neue Diele hatte sich zu einer imposanten Halle gewandelt, die gekonnt Altes mit Neuem verband.

Der Schreiner war am Zuge und baute eine Holztreppe zum Dachgeschoss ein, die sich bald in einem sanften Bogen emporwand. Ich entschied, dass ich sie später dunkel beizen würde, da sie zu der Sitzgruppe vor dem Kamin passen sollte, die ich in der Upkammer gefunden hatte. Die schadhaften Bezüge hatte ich durch blassblauen Samt ersetzt, farblich passend zu dem Blütenfresko. Die Sandsteinplatten hatten wir inselförmig über die gesamte Halle verteilt und die Zwischenräume mit einer versiegelten Kieselschüttung gefüllt. Auch die eisenbeschlagene Truhe hatte einen Platz an der Längsseite gegenüber der Fensterreihe gefunden und wurde von zwei schmiedeeisernen Kerzenleuchtern flankiert.

Frank trat in die Halle, bewaffnet mit einem Schreibblock, wechselte einige Worte mit dem Schreiner und kam dann auf mich zu. „Hast du Lust zu planen?“