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Horst Herold bemüht sich seit vielen Jahren erfolglos um einen Job. Eines Tages hat er genug und beschliesst, sich an denen zu rächen, die ihn haben abblitzen lassen. In Bangkok trifft er bei den Anonymen Alkoholikern auf Hugo Bertschi, der ebenfalls mit Rachegedanken spielt. Ohne dass sie voneinander wissen, beauftragen sie eine thailändische Computerspezialistin, Email-Konten in der Schweiz zu hacken und geheim gehaltene Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen. Eine Lawine bricht los. Plötzlich werden auf der ganzen Welt, von Zürich bis Recife, einflussreiche Profiteure des allüberall herrschenden Raubtierkapitalismus umgebracht. Polizeilich verwertbare Hinweise auf die Täter gibt es nicht, es scheint, als ob sich das kollektive Unterbewusstsein die gängigen Ungerechtigkeiten einfach nicht mehr bieten lassen will.
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Seitenzahl: 214
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Herolds Rache
Thriller
Hans Durrer
Erstausgabe im Mai 2018
Alle Rechte bei Verlag/Verleger
Copyright © 2018
Fehnland-Verlag
26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
www.fehnland-verlag.de
Coverdesign: Tom Jay, unter Verwendung von Bildern von Manuel Schönfeld (Fotolia), Cyrustr (Shutterstock), ra2studio (Shutterstock.
Lektorat, Korrektorat, Satz und Layout: Michael Kracht
978-3-947220-22-9
„Herolds Rache“ erzählt eine fiktive Geschichte. Manche Figuren wurden durch wirkliche Menschen angeregt, entspringen jedoch der Fantasie des Autors.
CHILE
Valparaíso, im Dezember
Auf der Panamericana, Anfang Februar
SPANIEN
Madrid, Anfang Juni
SCHWEIZ
Zürich, Ende Juli
Bern, Mitte August
Südostschweiz, Anfang September
THAILAND
Bangkok, Golden Palace, im Oktober
Bangkok, Sukhumvit Soi 1
Bangkok, Golden Palace
Bangkok, Sukhumvit Soi 1
Bangkok, Golden Palace
Bangkok, Sukhumvit, Soi 1
BALTIKUM
Tallin, Estland
Riga, Lettland
SCHWEIZ
Bern, Bundeshaus
Zürich, Medienhaus Seefeld
THAILAND
Bangkok, Sukhumvit Soi 1
SCHWEIZ
Bern, Bundeshaus
Zürich, Medienhaus Seefeld
THAILAND
Bangkok, Golden Palace
SCHWEIZ
Südostschweiz, am Jahresende
Zürich, Urania Wache
THAILAND
Bangkok, Sukhumvit Soi 1
Bangkok, Golden Palace
SCHWEIZ
Zürich, Seilergraben
Zürich, Seilergraben
Zürich, Stadthaus
KALIFORNIEN
29 Palms, Oasis Ave
SCHWEIZ
Zürich, Apollostraße
Zürich, Stadthaus
SCHWEIZ
Zürich, Seilergraben
Zürich, Stadthaus
Basel, Schweizergasse
Zürich, Stadthaus
Zürich, Apollostraße
Zürich, Stadthaus
Zürich, Kreuzplatz
Zürich, Stadthaus
THAILAND
Sukhumvit, Soi 1
BRASILIEN
Recife, Boa Viagem
LETTLAND
Jurmala, Lettland
SCHWEIZ
Zürichberg
Zürich, Stadthaus
BRASILIEN
Recife, Boa Viagem
SCHWEIZ
Zürich, Apollostraße
BRASILIEN
Recife, Teatro de Santa Isabel, Praça da República
SCHWEIZ
Zürich, Stadthaus
BRASILIEN
Recife, Boa Viagem
SCHWEIZ
Zürich, Stadthaus
LETTLAND
Riga, Nähe Flughafen
Die Stadt hatte mich schon angezogen, bevor ich je einen Fuß auf ihr Pflaster gesetzt hatte. Valparaíso, das Paradiestal. Mir gefiel der Name, ich wusste, dass sie am Meer liegt, und ich liebe Städte, die am Meer liegen. Fast alle. Fast deswegen, weil es ja sein könnte, dass es welche gibt, die ich nicht mag. Bis jetzt ist mir das noch nicht passiert, doch schließlich weiß man nie. Ich bin ein vorsichtiger Mensch. Bilde ich mir zumindest ein. Vielleicht aber auch nur feige und schrecke deshalb vor klaren Aussagen zurück. Weil man mich dann ja darauf festlegen könnte. Ich habe Jura studiert. Nur nichts Schriftliches hinterlassen, das könnte einen kompromittieren.
Auf dem Cerro Playa Ancha mietete ich eine günstige Cabaña mit Blick auf den Hafen und die gegenüberliegenden Hügel. In den ersten Tagen passierte es mir oft, dass ich beim Aus-dem-Fenster-Schauen innerlich jubelte – so genial schön war diese Aussicht. Wenn es das Wetter erlaubte, setzte ich mich auf die Terrasse. Meist jedoch blies der Wind zu stark. Früher sei er auf diesem Hügel noch viel stärker gewesen, doch mit der weltweiten Klimaveränderung sei er erträglicher geworden, sagte die Friseurin in der Avenida Playa Ancha.
In Shorts, T-Shirt und indischen Sandalen flanierte ich durch die Stadt, betrachtete die Menschen, trank da und dort einen Kaffee und besuchte die nahegelegenen Strände in Portales, Viña und Reñaca. Am späten Nachmittag las ich in Dostojewskis Dämonen, anschließend guckte ich fern, meist ›Fox News‹, fasziniert und angewidert von dieser Ideologie-Hetze. Diese Typen gehörten alle an die Wand gestellt. Das ist nicht einfach so dahingesagt, das meine ich so. Am Abend surfte ich im Internet und notierte auf, was mir durch den Kopf ging. Schreiben war mir Therapie, eine recht mühsame. Nur Idioten schreiben gerne, habe ich einmal eine Nobelpreisträgerin für Literatur im Fernsehen sagen hören.
Meldungen über einen einflussreichen Banker, der in New York eine Hotelangestellte vergewaltigt haben sollte, überschlugen sich. Die Polizei hatte den Mann am Flughafen JFK aus der bereits zum Start bereiten Air France Maschine geholt, verhaftet und dann in Handschellen der Presse vorgeführt. Ein paar europäische Kommentatoren regten sich auf. So werde die Unschuldsvermutung ad absurdum geführt. Ganz so, als ob diese Unschuldsvermutung einmal etwas anderes als lebensfremde Theorie gewesen wäre.
Das Bild, das die Medien von dem Banker verbreiteten, zeigte einen rücksichtslosen, dem Sex verfallenen Mann. Auch wer den Medien nicht über den Weg traut, hatte keine Zweifel, dass diese Behauptungen stimmten, denn rücksichtslos sind diese Typen doch alle und nach irgendwas süchtig sowieso. Sex, Alkohol, Geld, Anerkennung, you name it.
Gier ist ein unglaublicher Antreiber. Wen sie mal in ihren Klauen hat, den lässt sie nicht mehr so schnell los. Frauen wie Männer mutieren zu Sklaven, weil sie den Hals nicht vollkriegen. Und die Welt bewundert und fürchtet sie. Als sich in London einer der mächtigsten Medieneigentümer der Welt Fragen des britischen Parlaments stellen musste, weil einige seiner Angestellten Telefone angezapft hatten, wurde er gefragt, ob er die Verantwortung übernehme. Nein, sagte dieser Ober-Gierige, verantwortlich seien die, denen er vertraut habe.
Das sei nicht zu fassen, empörten sich voraussehbar einige Medien. Doch was hätte sich geändert, wenn der Mann gesagt hätte, er übernähme die Verantwortung?
Vor Jahren, in Schweizerhalle, gab es einen Chemieunfall. Im Rhein zwischen Basel und Rotterdam schwammen Tausende toter Fische. Der Chemiechef sagte, er übernehme die Verantwortung. Eine Worthülse. Konsequenzen hatte das für ihn keine. Hätte man ihn doch nur in den verseuchten Rhein geschmissen, mit Steinen beschwert. Und die Familie enteignet. Das ist zu unmenschlich, zu radikal? Unmenschlich und radikal sind die Ausbeuter.
Nach der ersten Woche legte ich mir eine Tagesroutine zu. Aufstehen um sechs, duschen, anschließend kurz ins Internet, um Emails und Nachrichten zu checken, um sieben dann zum ausgiebigen Frühstück. Dem besten auf dem Cerro Playa Ancha, wie die Betreiberin des B&B vermutlich zu Recht behauptete. Um neun zum Fitness in das zwei Straßen entfernt liegende Studio, das um diese Zeit meist leer war. Ich bin fünfzig, sehe aber mindestens drei Monate jünger aus. Um elf dann für zwei Stunden zum Strand nach Portales, gefolgt von einem längeren Spaziergang dem Ufer entlang. Zurück auf dem Cerro Playa Ancha machte ich im immer gleichen Laden meine Einkäufe, vor allem Früchte. Um sechs dann in das nahe AA-Meeting. Bei den Anonymen Alkis geht es ums Teilen; man erzählt davon, wie es gewesen ist, als man noch gesoffen hat, was dann geschehen ist und wie es heute ist. Eines Abends sagte einer: Früher hielt ich alle für Super-Arschlöcher, jetzt empfinde ich sie nur noch als Arschlöcher. AA ist nichts für esoterisch Abgehobene.
***
Mein Name ist Herold, Horst Herold. Wie der vom BKA. Ich habe seine Biografie gelesen. Nicht die Ganze. Seit ich Buchbesprechungen mache, lese ich eigentlich nur noch selten ein Buch von Anfang bis Ende. Dass Leute verlegt werden, von sogenannt renommierten Verlagen, die viel schlechter schreiben als ich, dagegen protestiere ich mit Leseverweigerung. Weshalb ich dann überhaupt Besprechungsexemplare anfordere? Es gab mal Zeiten, da erhoffte ich mir von Büchern Antworten auf bedrängende Lebensfragen. Man sagt, dass man diese in Büchern nicht findet. Nun ja, man sagt vieles und auch viel Dummes. Ich jedenfalls habe durch Bücher ganz viele Einsichten gewonnen. Andererseits: Schon mal einen Schriftsteller live gesehen? Meist blass und unsportlich. Was sollen mir solche Heinis und Heidis schon zu sagen haben? Doch zurück zur Herold-Biografie. Verfasst hat sie Dieter Schenk, der war offenbar mal bei der Kripo. Und schreibt, dass Herold in einer Rede gesagt habe, »Demokratie gebe es nicht im Kapitalismus, weil das Kapital und nicht das Volk herrsche.« Steht auf Seite 44 von »Der Chef«. So heißt das Buch, ist 2000 bei Goldmann erschienen. Ohne Quellenangabe geht ja heute gar nichts mehr.
Das meiste, was ich lese, erinnere ich ja nicht. Oder höchstens undeutlich. Doch dieser Satz, der ist mir geblieben. Wieso der und nicht ein anderer? Oder gar keiner? Keine Ahnung, ich kann da nur raten. Etwa so gut wie die Psychologen. Oder die Psychologinnen. Geht mir ziemlich auf den Nerv, dass man heutzutage überall die weibliche Form anhängen muss. Wobei, so richtig konsequent ist ja dabei niemand. Oder schon mal von Deppinnen und Trottelinnen gehört?
Der BKA-Herold war Sozialdemokrat. Ich nicht, ich gehöre keiner Partei an. Die Parteiprogramme mögen ja verschieden sein, die Mitglieder sind es nicht. Schon gar nicht die, welche es politisch zu was gebracht haben. Die haben alle gute Ellenbogen, verstehen viel davon, wie man den Gegner niedermacht. Das können sie, aber sonst? In der Schweiz gibt es Regierungsmitglieder, von denen ich noch nie einen sachlich überzeugenden Satz gehört habe. Außer Worthülsen ist da nichts. In anderen Ländern ist es auch nicht besser. Apropos andere Länder: Ich habe mal gelesen, in Thailand hätten die Parteien gar keine Programme. Da sagt einer einfach, ich gründe jetzt mal meine eigene Partei. Und wenn er Geld und Einfluss hat, dann funktioniert das auch. Das Programm ist er selber. So macht man sich keine Illusionen, es gehe um die Sache. Die Thais sind überhaupt viel realistischer als Europäer oder Amerikaner. Dass es im Thailändischen ein Wort für ›Illusion‹ gibt, konnte ich mir lange Zeit überhaupt nicht vorstellen. Während eines Sprachkurses in Bangkok habe ich dann die Lehrerin gefragt. Sie dachte angestrengt nach und sagte dann, man würde es als ›falsche Hoffnung‹ übersetzen.
Überhaupt diese Demokratie! Völlig überbewertet. Das beste Argument gegen sie, soll Churchill gesagt haben, sei ein zehnminütiges Gespräch mit einem Durchschnittswähler. Mehr kann man dazu eigentlich nicht sagen. Außer man ist Politiker. In der Schweiz gab es einen Abgeordneten, der sein eigenes Demokratie-Institut hatte, weshalb er dauernd zu irgendwelchen Konferenzen flog. Ist ja auch okay, doch warum er nicht selber dafür aufkommen musste, ist mir schleierhaft. Hat man je darüber abgestimmt? Natürlich nicht. Über Geld wird in der Schweiz grundsätzlich nicht geredet, und abgestimmt schon gar nicht. Was glauben Sie, was da los wäre, wenn das Volk sich dazu äußern könnte, ob ein Bundesrat wirklich fast eine halbe Million Schweizer Franken pro Jahr wert sei? Haben Sie schon einmal einem Schweizer Bundesrat, Mann oder Frau, zugehört? Eben. Dass die für so was überhaupt bezahlt werden! So recht eigentlich müsste es genau umgekehrt sein, dass nämlich die bezahlt werden, die sich diesen Stuss anhören müssen. Der Fernsehchef und der Postchef und all die anderen staatlichen Chefs, die verdienen übrigens alle noch mehr. Haben wir natürlich auch nie darüber abgestimmt.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Horst Herold ist kein Pseudonym. Das heißt nicht, dass dies mein wirklicher Name ist. Wirklich im Sinne von amtlich registriert, meine ich. Es ist der Name, den ich mir für eine meiner Identitäten gegeben habe. Ich kann mir ja schließlich meine Identitäten aussuchen. Und als Horst Herold kann ich mir Dinge erlauben, die ich mich unter meinem behördlich erfassten Namen nie trauen würde. Mich zu rächen, zum Beispiel.
Rache hat heutzutage einen schlechten Ruf. Teilweise zu Recht. Man denke zum Beispiel an »Ehrenmorde« und Ähnliches. Überhaupt, diese Kulturen, wo die Leute, okay, einige, aber eben einige zu viel, dauernd beleidigt sind und von Ehre schwafeln. Zum Kotzen ist das. Wussten Sie, dass ein Drittel aller »Ehrenmord«-Opfer männlich sind? Sie werden getötet, weil sie schwul sind, oder Ehebrecher – oder selbst einen »Ehrenmord« verweigern. Habe ich im ›Spiegel‹ gelesen.
Im Fernsehen ein Mann, Juraprofessor, glaube ich, der behauptet, Sinn der Strafe sei die Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft. Ich weiß, so ähnlich steht es auch im Gesetz. Das ist natürlich völliger Unsinn. Wie vieles, das in Gesetzen steht. Der Mann hat offenbar noch nie eine Strafanstalt von innen gesehen. Sinn der Strafe ist Vergeltung, und die ist ein menschliches Urbedürfnis. Und Abschreckung. Obwohl die ja nicht funktioniert, auf jeden Fall kann man nicht beweisen, dass sie funktioniert. Wie auch?
Im Fernsehkanal der BBC ein Video, worauf zu sehen ist, wie Männer aufgefordert werden, sich in Reih und Glied aufzustellen. Dann werden sie erschossen. Das Video stamme von den Taliban, sagt der Kommentar. Bei den Männern, die so hingerichtet worden seien, habe es sich um pakistanische Polizisten gehandelt. Ich bin gegen die Todesstrafe. Sie ist mir zu mild. Lebenslanger Kerker bei Wasser und Brot sollte diesen Taliban blühen. Oder glaubt da jemand an Wiedereingliederung in die Gesellschaft? Mit psychologischem Sondereinsatz vielleicht?
Ich selber muss keine Verbrechen sühnen, doch ich habe mit einigen ein Hühnchen zu rupfen. Mit denen, die mich, als ich einen Job beziehungsweise ein Einkommen brauchte, haben abblitzen lassen. Die werden dafür zahlen. Doch nicht jetzt, ich bin dafür noch viel zu aufgewühlt. Ich muss emotional zuerst wieder runterkommen. Rache ist ja vor allem süß, wenn sie kalt serviert wird. Eiskalt ist noch besser.
Im Bus von Copiapó nach Coquimbo. Wüstenlandschaft. Solange was wachse, könne man nicht von Wüste sprechen, sagt der junge Franzose neben mir. Von was dann? Einem »semi-desierto« vielleicht? Er nickt zustimmend. Für mich bleibt es eine Wüste, ob jetzt da ein paar Sträucher wachsen oder nicht.
Hinter Ovalle dann plötzlich eine riesige Weite, der Himmel ist verhangen, die Farben sandig, grün und grau. Bilder von Neuseeland, der nördlichen Insel, nahe der Bay of Islands, tauchen vor meinem inneren Auge auf. Der Stimmung wegen, regnerisch, grau in grau, vermute ich. Und weil es auch so eine verlassene Gegend war. Und weil ich mich gerade alleine und verloren fühle? Fühlte ich mich damals in Neuseeland so? Fühle ich mich jetzt so? Nicht nur, aber auch. Damals wie heute. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem, was meine Augen wahrnehmen und meinen Empfindungen? Und wie kommt es, dass ich jetzt, wo ich das aufschreibe, ganz plötzlich, und ohne, dass ich einen Anlass erkennen kann, an meine Mutter denke? Und jetzt, ein paar Minuten später, und immer noch meinen Gedanken an sie nachhängend, über sie, ihre gänzlich unprätentiöse Art durchs Leben zu gehen, schmunzeln muss?
Vor einigen Jahren, im Nordosten Brasiliens. Mit dem Bus von Fortaleza kommend, treffe ich in Sobral ein. Alle Geschäfte sind geschlossen, es ist ein nationaler Feiertag. Nein, nicht alle, sagt ein Motorradtaxifahrer; wir machen uns auf die Suche und finden auch wirklich einen Supermarkt und eine Konditorei, die aufhaben. Bei der Fahrt durch menschenleere Straßen kommen wir auch an einem Platz mit einer Kirche vorbei, von der eine von hohen Gebäuden flankierte Seitenstraße abgeht. Für einen kurzen Moment wähne ich mich in Domodossola, ein paar Augenblicke später überqueren wir wieder einen Platz und jetzt ist mir, als befände ich mich in Glarus.
Der Flug nach Zürich wird aufgerufen. Der etwa 40-jährige Mann, der vor mir in der Schlange steht, spricht unaufhörlich in lautem Schweizer-Englisch in sein Mobiltelefon. Auch als er der Dame vom Bodenpersonal, die eine Vorkontrolle durchführt, seinen Boardingpass entgegenstreckt, unterbricht er sein affektiertes Geplapper nicht. Ein richtiger Kotzbrocken. Ich drehe mich um, mein Blick überfliegt die Menschen hinter mir. Niemand schenkt mir Beachtung. Blitzschnell verabreiche ich dem Handy-Angeber eine Kopfnuss, tue, als würde ich stolpern und stoße, als ich neben meinem Vordermann zu Boden stürze, ein gereiztes »He« aus. Eine Salve schweizerdeutscher Flüche ergießt sich ins Handy. Ich richte mich auf, lächle leicht gezwungen und stelle mich wieder hinter dem Handy-Mann in die Schlange. Dieser befühlt seinen Hinterkopf, er hat aufgehört zu telefonieren.
Die Maschine der Iberia landet planmäßig um 18 Uhr 40 in Zürich Kloten, auf die Minute genau. Eigentlich ein Wunder. Wer regelmäßig mit Iberia fliegt, rechnet damit, in Madrid seinen Anschlussflug zu verpassen. Fliegt Iberia eigentlich immer verspätet ab?, habe ich einmal eine Gepäckkontrolleurin am Flughafen in Havanna gefragt. Die seien »muy informal«, hat sie geantwortet. Also wenn die Spanier es schafften pünktlich zu sein, sage ich mir, als der Flieger auf der Piste von Unique (Größenwahnsinnige mussten das sein, einen Flughafen so zu taufen, doch das fällt in so verblendeten Zeiten wie den unseren schon gar nicht auf) ausrollt, dann würde ich es auch schaffen, meine Rachepläne umzusetzen.
Fünf Uhr nachmittags. In zehn Minuten wird sie rauskommen.
Ich stehe unter einer überdachten Toreinfahrt gegenüber dem Bürohaus, in dem die ALOM untergebracht ist und lasse den Haupteingang nicht aus den Augen. Ich trage helle, weit geschnittene Hosen, blaue Turnschuhe, ein hellblaues, langärmeliges Hemd; meine rechte Hand umfasst eine große, leere ALOM-Plastiktüte.
Punkt zehn nach fünf tritt sie aus der Tür. Sie ist um die Mitte dreissig, etwa einsfünfundsechzig groß, schlank, weißhäutig, mit kurzen schwarzen Haaren. Sie trägt hochhackige Schuhe, einen leichten, grauschwarzen Hosenanzug und eine weiße Bluse und steuert geradewegs auf die Trambahnhaltestelle zu, wo sie zwei Minuten später in die Nummer 4 einsteigt. Kaum hat sich die Trambahn in Bewegung gesetzt, gehe ich zügig auf die Tür zu, aus welcher die Sekretärin Mühlemanns kurz zuvor auf die Straße getreten ist, und eile die Treppen in den zweiten Stock hinauf.
Das Büro der ALOM, einer Gesellschaft, die sich auf Entwicklungszusammenarbeit spezialisiert hatte, befindet sich am Ende des Ganges. Ich drücke die Türklinke runter und trete ein.
Eine Woche lang hatte ich Heiri Mühlemann, der sich jedoch seit einem Sommerkurs an einer amerikanischen Universität Heinrich F. Mühlemann nannte, observiert. Er war Personalchef, doch die Bezeichnung Head of Human Resources war ihm entschieden lieber. Mitte dreissig, einen Meter fünfundsiebzig groß, blass, leicht übergewichtig, wohnte er zusammen mit seiner Freundin, einer Psychologin, in einer ruhigen Seitenstraße im Industriequartier. Die beiden führten, sollte denn die vergangene Woche typisch sein, ein recht geselliges Leben. Nur gerade den Sonntag hatten sie zu Hause verbracht. Montag waren sie im Kino, Dienstag mit Schweizer Freunden Thailändisch essen, Mittwoch mit griechischen Freunden in einem türkischen Lokal, Donnerstag in einer Selbsterfahrungsgruppe für Paare, die sich noch nicht lange genug kannten, um schon Probleme zu haben, Freitag beim Konzert einer Trommel-Formation aus Malawi («When an African hears drums, nothing can hold him back«, wurde die Truppe angesagt) und am Samstag folgten sie einer Einladung von Freunden aufs Land, zum Barbecue.
Wie die meisten Schweizer so war auch Mühlemann ein pünktlicher und verlässlicher Mensch. Er kam jeweils mit dem Bus um halb acht zur Arbeit und ging um halb sechs wieder nach Hause. Von fünf bis halb sechs war er, es sei denn er hatte einen Termin außer Haus, regelmäßig alleine im Büro.
Ich schließe die Eingangstür hinter mir, gehe ein paar Schritte nach links, wo sich Mühlemanns Büro befindet. Beim Eintreten blicke ich mich kurz um, mein Blick streift auch Mühlemann, der an seinem Schreibtisch sitzt und mich mit heruntergeklapptem Kiefer anstarrt. Schnurstracks eile ich auf den Telefonstecker zu und beginne, das Kabel herauszureißen, als Mühlemann »Was machen Sie da?«, ruft. Seine Stimme klingt herrisch, sie ist das Befehlen gewohnt, gleichzeitig schwingt darin jedoch auch Verblüffung mit. Der Vorgang, der sich da vor seinen Augen abspielt, lässt ihn die Beherrschung verlieren.
Ich drehe mich ihm zu, spitze die Lippen, bringe meinen rechten, ausgestreckten Zeigefinger davor in Position, beuge mich vor und flüstere ein gedehntes »Pssssst.«
»He, was fällt …« schreit Mühlemann. Sein Gesicht ist rot angelaufen, die Adern an den Schläfen treten hervor. Doch noch bevor er seinen Satz fertigmachen kann, stehe ich schon hinter ihm, reiße mit dem angewinkelten Unterarm seinen Kopf hoch und drücke ihm damit fast die Luft ab. »Schnauze«, zische ich. Doch Mühlemann denkt gar nicht daran, stillzuhalten. Er versucht nach Leibeskräften, sich aus der Umklammerung zu lösen. Ich lasse von der Umklammerung ab, drehe seinen Stuhl um die eigene Achse bis ich sein Gesicht vor mir habe und schlage ihm so hart auf den Mund, dass er zu bluten anfängt. Ich trete einen Schritt zurück, nehme den etwa fünfzig Zentimeter langen und fünf Zentimeter dicken Lederknüppel aus meiner Plastiktasche mit der Aufschrift, ALOM, Let’s work together, und zeige mit diesem auf Mühlemann.
»Es ist ganz einfach: Sie tun, was ich Ihnen sage, oder ich haue sie windelweich. Klar?«
»Was wollen Sie?«, fragt Mühlemann.
»Ich hab gefragt, ob es klar sei?«
»Ja, aber was wollen Sie?«
»Ihnen eine Lektion erteilen.«
»Wofür? Warum?«
»Eins nach dem andern: Sie sollen wissen, mit wem sie es zu tun haben.«
Ich setze mich in den Besuchersessel, den Knüppel gut sichtbar auf den Knien, und lehne mich vor.
»Vor einigen Monaten habe mich bei Ihnen um eine Stelle beworben. Um eine Stelle, die in den Zeitungen ausgeschrieben war. Ich kriegte dann einen dieser Standardabsagebriefe zurück. Ich war wütend, sehr wütend, denn ich fand, ich wäre für diese Aufgabe eigentlich viel zu qualifiziert gewesen. Und ich hatte sie auch gar nicht wirklich gewollt. Doch ich hatte schon lange nicht mehr gearbeitet, und brauchte dringend ein Einkommen. Ich setzte also ein Bewerbungsschreiben auf, bemühte mich dabei um einen lockeren Ton, wollte zeigen, dass ich Humor habe. Ich hatte das Gefühl, mich anzubiedern. Umso erniedrigender schien mir dann die Absage. Daraufhin habe ich Sie angerufen. Ich wollte eine Erklärung. Was sollte das bringen? Ich kann es Ihnen auch heute noch nicht sagen. Ich war wütend und basta. Sie konnten sich natürlich nicht an mich erinnern. Ich war einer unter vielen, denen man Absagen geschickt hatte. Eine Routinesache. Sie wollten mich schnell loswerden, redeten irgendwas von Erfahrung auf diesem Gebiet. Doch ich insistierte, sagte Ihnen noch einmal, wer ich war, was ich gemacht hatte. Sie erinnerten sich, bemerkten, ich sei doch der, der versucht hatte, witzig zu sein, doch Sie hätten diesen Versuch überhaupt nicht witzig gefunden, vielmehr bemüht und aufgesetzt. Sie wollten nicht mit mir reden. Ich war Ihnen lästig. Doch das realisierte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich verdrängte es, sagte mir, Sie hätten sicher ihre Gründe, warum Sie nicht so gut drauf seien an diesem Tag. Doch der Ton Ihrer Stimme ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie redeten mit mir, wie man mit einem Bittsteller redet. Ich weiß, das ist für Leute wie Sie, die ihm karitativen Geschäft tätig sind, nichts Ungewöhnliches. Schließlich haben Sie tagaus tagein mit Menschen zu tun, die für Sie nun einmal in erster Linie Verlierer sind.«
Genau das bis du auch, ein beschissener Verlierer, zudem harmlos, sonst würdest du nicht dastehen und mir deine Wut erklären, sagt sich Mühlemann, der mit der Zunge seine Zähne abtastet. Zwei der oberen Backenzähne wackeln. Er schweigt, das wird von ihm erwartet. Nur keine Gegenrede, ich darf den Kerl nicht reizen.
»Bleib ruhig, sag nichts, reiz ihn nur nicht. Das denken Sie jetzt wohl.« Ich bin aufgestanden und um ihn herumgegangen.
Ein Schlaumeiertyp, hält sich für clever, Mühlemann grinst verächtlich, doch dem wird er es zeigen, der wird noch auf die Welt kommen. An der Fachhochschule hatte er gelernt, dass es für jedes Problem auch eine Lösung gibt. Mühlemann war ein Musterschüler gewesen und sich auch deshalb gewiss, dass er diese Prüfung hier bestehen würde. Das ist doch, sagt er sich, no problem.
Genau in diesem Augenblick saust der Lederknüppel auf seinen Kopf nieder, triff ihn hinterm Ohr und Mühlemann wird schwarz vor den Augen.
Ich fange ihn auf, bevor er vom Stuhl sackt, lege ihn auf den Boden, ziehe ihm Schuhe, Socken, Hosen und Unterhosen aus, packe sie in den ALOM, Let’s work together-Plastiksack, und fühle dann seinen Puls. Der wird schon bald wieder zu sich kommen, ich bin beruhigt.
***
Wie erwartet, wird der Vorfall in der kommenden Woche in keiner Zeitung erwähnt.
Die Polizei zu rufen und damit eine der Presse zugängliche Polizeimitteilung zu schaffen, wäre Mühlemann dann doch zu peinlich gewesen. Schließlich weiß man nie, ob nicht ein Journalist, der gerade nichts Besseres zu tun hat, der Geschichte nachgehen würde. Denn dann würde auch er selber unter die Lupe genommen werden. Auch wenn er ein reines Gewissen hatte, so wäre es ihm eben doch nicht angenehm, wenn ein Fremder in seinen Angelegenheiten herumwühlte. Es war ihm schon peinlich genug gewesen, seiner Freundin reinen Wein einzuschenken. Doch da hatte er keine andere Wahl gehabt. Nachdem er wieder zu sich gekommen und sich über seine Lage klar geworden war, hatte er sie vom Apparat im angrenzenden Büro aus angerufen und gebeten, Hose, Unterhose, Socken und Schuhe vorbeizubringen. Natürlich hatte sie wissen wollen, was geschehen war. Alles, im Detail. Es war ihm unangenehm gewesen. Er hatte von einem verzweifelten Stellensuchenden gesprochen, der über eine ausgeprägt niedere Frustrationstoleranz verfügte. Und seine eigene Rolle dabei? Ganz normal. Professionell. Er war sich keines Fehlers bewusst. Doch die Freundin glaubte, dass er ihr etwas verschwieg.
»Das ist doch ein klassisches Beziehungsdelikt«, sagte sie.
»Ach komm. Dem ist ganz einfach der Kragen geplatzt. Der wäre doch auf jeden andern genauso losgegangen.«
»Dann hätte er dir nicht den Grund seiner Attacke erklärt. Er wollte dich treffen und er wollte, dass dir das klar ist.«
»Ich glaube eher, dass er einem Entscheidungsträger wie mir einmal eine reinhauen wollte. Weil er erfolgreiche Leute wie mich dafür verantwortlich macht, dass er keine Stelle kriegt. Eine Mischung aus Verzweiflung und Neid.«
»Siehst du dich so? Als erfolgreichen Entscheidungsträger?«
»Sicher. Du etwa nicht?«
***
In den Abendnachrichten wurde eine Reportage aus Weißrussland angekündigt. Der Vollzug der Todesstrafe in diesem Land grenze an Unmenschlichkeit, sagte die Moderatorin, die nicht den Eindruck machte, sie verstünde, wovon sie redete.