Die Welt will betrogen sein - Hans Durrer - E-Book

Die Welt will betrogen sein E-Book

Hans Durrer

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Beschreibung

Wir leben in einer Diktatur des Wettbewerbs. Angst, nicht zu genügen, ist die Folge – und durchaus gewünscht, denn eingeschüchterte Menschen, die um ihr Einkommen und ihre Sicherheit fürchten, garantieren den Fortbestand "unseres" Systems. Und so hetzen wir atemlos durchs Leben, ohne Zeit zum Innehalten, und ohne Chance, zur Besinnung zu kommen. Der Wettbewerb verlangt, dass wir uns verkaufen. Es sind die cleveren Verkäufer, die es an die Spitze schaffen. Für Führungsaufgaben, die auch Rücksichtnahme und Empathie voraussetzen, sind sie zumeist ungeeignet. Und ein gutes Beispiel geben sie selten. "Die Welt will betrogen sein" handelt einerseits von den Zwängen und Absurditäten des modernen Lebens – von Hauptsache authentisch über die Frage, was systemrelevant ist, zur Glorifizierung des Bauchgefühls – und regt andererseits dazu an, sich an grundsätzlichen Fragen (Will ich wirklich so leben, wie ich lebe?) zu orientieren. Es braucht die Einsicht, dass wir uns nicht ändern wollen (auch wenn wir gelegentlich das Gegenteil behaupten). Das liegt daran, dass unser Hirn falsch eingestellt ist: Wir wissen, dass sich alles ständig ändert, dass überhaupt nichts fest und stabil ist – und trotzdem streben wir nach Festem und Stabilem. Das ist die Definition von Wahnsinn. Unser Lebenswille, unsere Biologie regiert uns – dagegen hat unser Verstand keine Chance. Und so setzen wir ihn fürs Rationalisieren ein. Dabei ist unser Hirn so erfolgreich, dass es uns von jedem Schwachsinn zu überzeugen versteht. Darunter auch, dass es zur menschlichen Natur gehöre, sich Psychopathen als sogenannte Führer auszuwählen, und sich selber mit der Rolle des Schafes zu begnügen. Das Hirn kann jedoch auch ganz anders eingesetzt werden, denn wir können ihm die Richtung vorgeben. Davon erzählt dieses Buch, das dafür plädiert, uns nicht zu Sklaven unserer Gefühle zu machen.

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Seitenzahl: 274

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Hans Durrer

Die Welt will betrogen sein

Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zum Geleit

Wie ich es sehe

Wettbewerbs-Schwachsinn

Im Zeitalter der Verkäufer

Neue Narrative sind gefragt

Problemzone Gegenwart

Menschlich

Von den Erwartungen

Wir sind Sklaven unserer Gefühle

Über Krimis

Ablenkungen

Eigenartig

Wen interessiert schon, was der Kopf sagt?

Mein tägliches Nebeneinander

Einfachheit ist der Schlüssel

Vom Festklammern

Mein Bildungsideal

Vom Üben

Geschenkte Momente

Die Macht von Momenten

Vom Staunen

Das Leben, ein Geschenk

Ostertage

Das grosse Durcheinander

Die Gefühle und das Paradies

Vom Schreiben und Lesen

Hauptsache authentisch

Ladyboys

Vermenschlicht

Bin ich ein Wutbürger?

Systemrelevant

Frühlingsputz

Bildungslücken

Ein wunderliches Ding namens Sprache

Unterwegs

Es ist billiger

Sammeltrieb

Lob des Sammelns

Cut the bullshit

Vom Sparen und den Sonderangeboten

Therapeuten im Paradies

Ticktack

Elektrisiert

Mehr Licht

Seelenfänger

Es lebe der Streik!

Schweizerisches

Separatismus

(Fehl-)Prognosen

Lokale Sitten

Unterrichten in China

Die Sonntagspredigt

Maschinen übernehmen die Macht. Endlich!

Im Museum

Kolumbus, ein Alkoholiker?

Fragen

Unterwegs

In Thailand

Verschwörungstheorien

Eine Liebeserklärung an den Wandel

Der Tod der Wahrheit

Hoffnung, Gier und Eitelkeit

Der Mensch ist nicht frei

Frei nach Schopenhauer

Heilung kommt durch Zuwendung

Die Grossmeisterin der Ehrgeizes

Die Ruhe des Moments

Wir müssen über Kevin reden

Plötzlich ein Sorgenkind

Wald, Weide, Bach, Fels

Dostojewskij, eine grandiose Biographie

Werde der du bist

Der Komplexität Raum lassen

Propofol

Über Krieg und Tod

Kopfarbeit

Der Elefant im Zimmer

Nicht alle Russen ...

Ich will doch bloss sterben, Papa

Das Handwerk des Genies

Schattenmächte

Die Windsors, die Macht und die Wahrheit

Das geheime Leben des Monsieur Pick

Gefangen in emotionalen Abhängigkeiten

Eine musikalische Zeitreise

Memento Mori

Eine gespaltene Persönlichkeit

Wie ich starb – und wieder leben lernte

Ein wenig Leben

Lichte Momente

Die Erschaffung eines Serienkillers

1913

Im Kopf einer amerikanischen Familie

Pest und Corona

Wie Viren die Welt verändern

Das Leben, ein Abentuer

Simplify your life. Not yourself

Ein Plädoyer für Ambiguitätstoleranz

Impressum neobooks

Zum Geleit

People aren't interested in the truth, Dafar. 

They are interested in what keeps them safe. 

They're interested in being looked after. 

They're intereted in a tale being spun  .. 

Melina Marchetti

Mir passt die Welt nicht, wie sie ist. Die soziale Welt, meine ich. Und am allerwenigsten die politische, von der Paul Valéry einmal gemeint hat, ihr einziger Zweck sei es, die Menschen davon abzuhalten, sich um das zu kümmern, was sie angehe. Doch auch an der Natur habe ich einiges auszusetzen. Ein Löwe, der eine Antilope reisst – das erträgt meine sensible Seele nicht. Und wenn dann einer oder eine vom Naturkreislauf schwafelt, versteht zwar mein Verstand, doch was weiss der schon von meinen Gefühlen.

Erstaunlicherweise kümmert sich die Welt nicht um meine Sicht der Dinge. Sie tut, was sie tut, und fragt mich nicht einmal. Nehme ich mich vielleicht übertrieben wichtig? Nun ja, da kenne ich ganz andere, ein Blick in die Medien genügt. Wenn ich hier nun also meine Sicht der Dinge darlege, so tue ich dies, um Gedanken (von mir und ganz vielen anderen – ganz viele „meiner“ Gedanken haben viele schon lange vor mir gedacht) eine Plattform zu geben, die im öffentlichen Diskurs viel zu selten vorkommen.

Die Schule, so sagt man, bereite uns auf das Leben vor. Was ich in jungen Jahren bestenfalls für einen Witz hielt – Schule und Leben begriff ich damals als Gegensätze – , erachte ich heutzutage als zutreffend. Der Zweck jedweder institutionalisierten Erziehung ist die Anpassung ans herrschende System, daran ändern auch idealistisch gesinnte Lehrer nichts.

Uns wird gesagt, dass der Wettstreit natürlich sei, dass es nicht ums Gewinnen und Verlieren, sondern ums Mitmachen gehe. Wir heucheln Einverständnis und wissen doch alle, dass wir belogen werden.

Wir werden zum Kompromiss erzogen, uns wird beigebracht, dass zu sagen, was man denkt, kein Lernziel ist – sich um die Gunst des Lehrers zu bemühen, wird hingegen mit guten Noten belohnt.

Die meisten haben mit diesem System keine Mühe; viele gescheite Schüler machen Karriere. Und auch weniger gescheite, die der gesellschaftliche Erfolg motiviert. Am erfolgreichsten sind jedoch Narzissten und Psychopathen – soviel zu „unserem“ System.

Absolut jeder (dass Frauen mitgemeint sich, versteht sich von selbst), der es an die Spitze eines Unternehmens, einer politischen Partei oder einer sogenannt angesehenen Institution schafft, ist ein Egomane. Das ist auch nötig, um Mitbewerber, denen ebensolche Anlagen eigen sind, aus dem Feld zu räumen. Kein anständiger Mensch tut sich einen solchen Wettkampf an.

Täglich füttern uns die gierigen Medien mit Geschichten über die Gierigen, denen nichts peinlich ist, weder ihre Gier noch ihre Lügen. Sie zu ignorieren, ist das Schlimmste, das man ihnen antun kann. Es ist auch das Vernünftigste.

Eitelkeit wohin man auch schaut. Schafft es jemand, ständig in den Medien präsent zu sein, kann man davon ausgehen, dass er ein ausgesprochener Kotzbrocken ist. Ausnahmslos. Für diejenigen, die spirituell unterwegs sind: Wer wissen will, wie ein Zen-Meister wirklich tickt, sollte dessen Frau fragen.

Da ich selber nie Karriere gemacht habe: Bin ich etwa nur missgünstig und derart von Neid zerfressen, dass ich nicht mehr klar denken kann? Natürlich sind mir weder Missgunst noch Neid fremd, nur sind das eben nicht die einzigen Triebfedern im Leben – ausser natürlich, man entscheidet sich für sie, sei es bewusst oder unbewusst.

Sogenannt Erfolgreiche wollen beneidet werden – und beklagen sich dann darüber, dass niemand ihnen das mühsam Erreichte gönnt. Wer sich nicht für ihren Erfolg interessiert, geschweige denn davon beeindruckt ist, ist für sie, die mittels Verfahrensfragen, Details und selbstproduzierter Komplexität ihre Privilegien schützen, gänzlich uninteressant.

Was mich umtreibt, ist nicht, was die Medien (die Profit erwirtschaften müssen), mir auftischen. Was mich umtreibt, ist das Rätsel des Lebens, dem wir mit unseren selbstgefertigten Problemen davonlaufen. Politik, Sport, Kultur – alles Ablenkungen, um nicht daran denken zu müssen, dass wir heute, morgen oder in ein paar Jahren sterben werden.

Wenn dir diese Welt nicht passt, dann schaff dir doch deine eigene. Mich dabei an Oshos Life is not a problem to be solved, but a miracle to be experienced zu orientieren, erlebe ich als hilfreich. Dankbarkeit zu üben ebenso: So stelle ich mir regelmässig vor, wofür ich im Leben dankbar bin – und jedes Mal, wenn ich etwas identifizieren kann, geht es mir für Momente gut. Was ich auch als hilfreich erlebe: Die Dinge langsam anzugehen, weil ich dann die Gegenwart erfahre.

Doch natürlich sind da auch die Nächte, die von meinem Unbewussten regiert werden, das mit mir macht, was es will und es offenbar nicht nötig findet, mich um meine Meinung zu fragen. Was hilft: Die Träume weder zu problematisieren, noch zu analysieren, sondern sie einfach hinzunehmen. Und vor allem, ihnen keine besondere Bedeutung beizumessen. Es ist unser Bedürfnis nach Bedeutung und Sinn, das uns im Wege steht, wenn es um das Erleben der Gegenwart geht, die einfach ist.

Die landläufigen Glaubensvorstellungen überzeugen mich nicht, die gesellschaftlichen Werte – diejenigen, die praktiziert werden – irritieren mich nicht nur, sie lösen in mir grösstenteils Abscheu aus. Was ich nicht zu empfinden vermag, erfüllt mich mit Misstrauen, meinen eigenen Weg zu gehen ist mir Gebot.

Die Welt will betrogen seinist in drei Kapitel unterteilt. Das erste (Essays) beginnt mit So wie ich es sehe und endet mit Vom Schreiben und Lesen, das zweite (Alltagssatiren) geht von Hauptsache authentisch bis zu Verschwörungstheorien, das dritte (meine Auseinandersetzung mit Büchern, von denen ich viel gelernt habe) fängt an mit Eine Liebeserklärung an den Wandel und endet mit Ein Plädoyer für Ambiguitätstoleranz. Gemeinsam ist diesen drei sehr unterschiedlichen Kapiteln das Bemühen, sich nicht vom vollkommen durchgeknallten Zeitgeist gängeln zu lassen, sondern dem reflektierten Eigensinn Geltung zu verschaffen.

Just look and see – die rechten Antworten offenbaren sich von ganz alleine.

Wie ich es sehe

Was wir von der Welt wissen, hat Niklas Luhmann einmal geschrieben, wissen wir aus den Medien. Und obwohl wir diesen nicht so richtig trauen, bauen wir trotzdem unser Weltbild auf ihnen auf. Das ist das Eine, das Andere ist die eigene, direkte Wahrnehmung.

Was können wir überhaupt wissen? Wir wissen, was wir erfahren. Die Schwerkraft, zum Beispiel, die können wir erfahren. Wir wissen, was Kälte ist. Und was Wärme ist. Weil wir sie erfahren.

Alle Aussagen, die wir machen, sind letztlich Aussagen über uns selber. Etwas anderes kennen wir nämlich nicht. Und auch uns selber nur ganz unvollständig.Sein Gegner sei debil und korrupt, twitterte der Golfer und passionierte Fernsehzuschauer aus Florida. Was sind das anderes als Selbstbeschreibungen? Seine ehemalige Kontrahentin gehöre eingesperrt, fordert er. Genau, was mit ihm selber geschehen sollte. Die Medien, die ihn kritisieren (alle anderen nicht), sind Fake, behauptet der grösste Fake aller Zeiten – für einmal ist sein stetiger Superlativ angebracht.****Wir denken in Ursache und Wirkung und das scheint ja auch bestens zu funktionieren. So ziemlich überall, nur im Bereiche des Unbewussten nicht. Robert Creeley hat es in seiner Autobiographie so ausgedrückt: „Aber es wäre wahrlich ein Narr, wer annähme, dass irgendein Leben einer schlichten Folgerichtigkeit gehorcht, oder verdient wäre, oder selbstverständlich.“ Und Thomas Mann meinte im Zauberberg: „Während er den versilberten Hobel über seine mit parfümiertem Schaum bedeckten Wangen führte, erinnerte er sich seiner verworrenen Träume und schüttelte nachsichtig lächelnd, mit dem Überlegenheitsgefühl des im Tageslicht der Vernunft sich rasierenden Menschen den Kopf über so viel Unsinn.“Dass alles seinen Grund haben muss, ist uns selbstverständlich und dass von Nichts Nichts kommt sowieso. Dass Alles immer schon da gewesen sein und immer so bleiben könnte, übersteigt unseren Horizont. Allerdings nicht den von allen. So postulierte Empedokles einen universellen Kreislauf der Dinge, in dem es weder Schöpfung noch Vernichtung gibt. Und auch der römische Dichter und Philosoph Lukrez war der Auffassung, dass das Universum keinen Schöpfer oder Designer hat, sondern als immerwährende Veränderung existiert.****Bangkok, Thailand, Mitte der 1990er. ‚Lectures and meditation‘ im World Fellowship of Buddhists. Ajahn Sumedho, ein amerikanischer Theravada-Mönch führt aus: Sollten Sie zum Schluss kommen, was ich Ihnen gerade vorgetragen habe, sei interessant gewesen, dann haben Sie mich gründlich missverstanden. Interessant ist nämlich auch das Liebesleben der Vögel. Und vieles andere mehr. Entscheidend ist jedoch etwas anderes – ob etwas hilfreich ist.Ich finde die Vorstellung, dass alles schon immer gewesen ist und sich ständig ändert, mehr als nur hilfreich, ich finde sie befreiend.

Wettbewerbs-Schwachsinn

Der eine ist dafür, die andere dagegen, im Fernsehen werden sie aufeinander losgelassen. Ja und Nein, Schwarz und Weiss, Richtig und Falsch oder, gemäss der Inkarnation der Inkompetenz, die vor nicht allzu langer Zeit im Weissen Haus in Washington residierte, Gewinner und Verlierer – es ist zum Kotzen.

Wieso der Durchschnittswähler (und die Durchschnittswählerin) Idioten und Idiotinnen in die Regierung wählt, ist mir ein Rätsel, das nur von dem noch weit grösseren Rätsel übertroffen wird, weshalb diese Bürogummis der Sonderklasse ohne Fantasie und Rückgrat, welche die Medien am Laufen halten, uns ständig davon berichten, was Leute, von denen alle wissen, dass sie nichts wissen, gerade wieder gesagt haben. Sätze wie dieser: „We’ll see what happens“ laufen heutzutage unter breaking news.

Dass China mit den USA wetteifert, die Russen sich bei den amerikanischen Wahlen einmischen, die Nordamerikaner das iranische Regime mit einem ihrer Wahl ersetzen wollen. Glaubt wirklich jemand, das nordamerikanische Modell, „the best democracy money can buy“, sei derart attraktiv?

Es mag für die davon Profitierenden gute Gründe für Wettbewerb geben, für die anderen eher nicht. Das beste Argument dagegen ist, dass Wettbewerb die Gierigen und Grössenwahnsinnigen fördert. Das heisst: die Anständigen bleiben auf der Strecke.

Meine Sympathie gehört denen, die sich diesem Irrsinn verweigern und versuchen aus der Dualität herauszukommen. Das ist möglich, wenn man zuallererst begreift, dass das Grossmaul im Weissen Haus keine Ausnahme war, sondern eine Haltung verkörpert, die den meisten vertraut ist: „Me first“ – geistige Gesundheit geht anders.

Dies gesagt, muss ich gleichwohl gestehen, dass es durchaus Fälle gibt, wo ich ganz eindeutig für Schwarz/Weiss und Entweder/Oder bin. Ein Beispiel: Wenn Narzissten sich äussern, höre ich nicht mehr zu. Ohne Wenn und Aber. Und wie merke ich, ob jemand ein Narzisst (oder eine Narzisstin) ist? Ich habe Augen, Ohren und Verstand.

Im Zeitalter der Verkäufer

Ein Film über David Bowie auf Arte. „Keep your electric eye on me, babe“ packt mich noch genauso wie einst. Und „Ch-ch-changes, don’t want to be a richer man“ sowieso. Am Ende des Ziggy Stardust-Konzerts in den frühen 1970ern im Hammersmith in London, verkündet Bowie, dies würde das letzte derartige Konzert sein. Man ist überrascht, kann es nicht nicht glauben, dass jemand auf dem Höhepunkt aufhört, sagt der Kommentator. Bowies Bandkollege Mick Ronson sieht das anders: Bowie habe ein unheimliches Gespür dafür gehabt, was sich verkaufen lasse.

Vor Jahren, im Norden von Bangkok war ein Flugzeug abgestürzt. Die Polizei hatte die Unfallstelle gesichert, trotzdem gelang es einigen Dorfbewohnern sich der vom Himmel gefallenen Gegenstände zu bemächtigen. Ja, haben denn die überhaupt keine Scham, keinen Respekt vor den Toten?, fragten die Medien. Eine Frau, die einen Pelzmantel ergattert hatte, rechtfertigte sich mit den Worten: Hätte ich ihn nicht genommen, hätte ihn die Polizei genommen.

Kurz darauf berichtete die ‚Bangkok Post‘, es seien amerikanische Rechtsanwälte im Land eingetroffen, die auf der Suche nach Angehörigen der Opfer des Absturzes seien – sie wollten diese vertreten, also ihre Dienstleistungen verkaufen. Meine Bekannte, Filmemacherin aus Los Angeles, meinte: Kapitalismus pur, es geht nur ums Geld, furchtbar. Prostituierte seien verglichen mit diesen Aasgeiern moralisch anständig. Auch würden sie, im Gegensatz zu Anwälten, nach erfolgter Leistung regelmässig gute Gefühle zurücklassen.

Niemand, so scheint mir, ist heutzutage medial präsenter und besser bezahlt, als Verkaufstalente. Ja, so recht eigentlich dreht sich in der modernen Welt so ziemlich alles ums Sich-Verkaufen-Können. Eine Mentalität, die mir fremder kaum sein könnte und vermutlich mit ein Grund ist, weshalb ich mich dem stromlinienförmigen Lebenslauf weitestgehend entzogen habe.

Wohl fühle ich mich stattdessen auf Reisen und in der Welt der Bücher. Eigenartigerweise habe ich mich jedoch nie wirklich daran gestört, dass der Buchmarkt genau denselben Gesetzen unterliegt wie jeder andere Markt auch. Und dass so recht eigentlich alle Medien – die mich lange faszinierten – genau den gleichen Mechanismen unterliegen wie zum Beispiel die Banken: Bei beiden geht es in erster Linie ums Verkaufen.

Verkaufen zu können setzt Käufer voraus, also Menschen, die nicht mit dem zufrieden sind, was sie haben. Bei mir sind das hauptsächlich Bücher. Und da ich sie mit Bildung (einem hohen Gut, das ich bislang nie in Frage gestellt habe) gleichsetze, bringe ich sie nicht wirklich mit Verkauf und Konsum in Verbindung. Klar doch, theoretisch schon, gefühlsmässig hingegen nicht. Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass der Kopf gegen Gefühle selten eine Chance hat.

Seit Neuestem frage ich mich zunehmend, wozu Bildung eigentlich gut sein soll? Das Gegenwärtig-Sein zu üben wäre definitiv sinnvoller

Neue Narrative sind gefragt

Um sich auf dieser Welt zurecht zu finden, hat der Mensch Systeme ganz unterschiedlicher Art geschaffen – man denke an die Verwaltung oder die Schule – , die dann wiederum in unendliche viele Subsysteme unterteilt wurden. Diese Systemvielfalt gibt Halt und Orientierung, doch natürlich verwirrt sie auch und garantiert unzählige Probleme, so dass der Mensch etwas zu tun hat und beschäftigt ist, denn nichts erträgt er weniger als die Langeweile.Zu den Systemen, die sich der Mensch ausgedacht hat (und immer noch ausdenkt), gehören die akademischen Disziplinen, denen vor allem eigen ist, dass sie in Definitionen ersaufen, die nicht nur klar machen sollen, was ihr Gegenstand ist, sondern auch, was er nicht ist. Aus juristischer Sicht, sagt die eine, aus historischer Sicht, der andere. Viele Jahre fand ich das spannend, diese Perspektivenwechsel faszinierend, die verschiedenen Sichtweisen anregend. Heutzutage sehe ich darin nur mehr eine Gewohnheit des Denkens – und diese funktioniert für mich nicht mehr.Wir orientieren uns an Geschichten, weil wir sie kontrollieren können. „Die Menschen denken eher in Geschichten als in Fakten, Zahlen oder Gleichungen, und je einfacher die Geschichte, desto besser. Von den drei Geschichten, die das 20. Jahrhundert prägten – die faschistische, die kommunistische und die liberale Erzählung – , hat sich die liberale („Wenn wir unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme nur immer weiter liberalisieren und globalisieren, werden wir Frieden und Wohlstand für alle schaffen.“) am längsten gehalten“, doch die globale Finanzkrise und das gegenwärtige Chaos in den USA (und anderswo) haben uns den Glauben an die liberale Erzählung weitgehend genommen, schreibt Yuval Noah Harari in 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert.Und dann kam Corona – und nichts mehr war wie es einst gewesen ist. Was Politiker, Medienleute und andere sagten, die ohne die Öffentlichkeit nicht leben können, interessierte mich nicht mehr. Hilfreich fand ich hingegen von Epidemiologen, Virologen und Medizinern zu lernen.Die meisten Erdenbürger wollen so schnell wie möglich zurück zu den vertrauten Zuständen. Ich gehöre nicht dazu und glaube auch nicht, dass das wünschenswert ist. Meines Erachtens stehen wir erst am Anfang einer Entwicklung, die, wie das Entwicklungen so an sich haben, überhaupt nicht absehbar ist.Das Dümmste, das man in einer so noch nie dagewesenen Situation machen kann, ist mit der Art Denken, die überhaupt erst zu diesem Problem geführt hat, dieses Problem lösen zu wollen. Nie fand ich die üblichen Kommentatoren nichtssagender, nie zeigten Politiker deutlicher, wie gänzlich unfähig sie sind (kein Wunder, denn ausser den politischen Machtspielen beherrschen sie eh nichts), nie war offensichtlicher, dass der Mensch sich nicht ändern will.Charles Darwin hat uns gelehrt, dass nicht die Gescheitesten und auch nicht die Cleversten überleben, sondern die, welche sich am besten anzupassen wissen. An die Natur, nicht an die eigenen Vorstellungen!

Problemzone Gegenwart

So recht eigentlich sind wir ständig irgendwo anders als da, wo wir gerade physisch sind. Unser Hirn (oder was sich darin befindet) saust ohne Unterbruch durch die Gegend, in die Vergangenheit und in die Zukunft, nur weg von hier. Wo er am liebsten leben würde, wurde der englische Autor Eric Ambler, der lange in Clarens, oberhalb von Montreux, lebte, einmal gefragt: Immer da, wo er gerade nicht sei, antwortete er.

Hätte ich doch nur. Was würde ich doch dann. Wenn ich nur könnte. Dergestalt sind wir mental unterwegs. Im Wünschen, Hoffen, Sollen und Wollen. Das ist doch kein Problem, werden die meisten wohl sagen, das ist völlig normal. Ist es in der Tat, jedenfalls statistisch gesehen. Doch so gesehen stinkt auch Scheisse nicht, denn Millionen von Fliegen werden doch wohl nicht irren.

Aber Hallo! Die Hoffnung stirbt zuletzt, das weiss ja nun wirklich jeder, und das meint doch, sie ist dem Menschen wesensmässig, er braucht sie, kann ohne sie nicht sein. Sowieso. Doch in meinem Falle ist sie problematisch. Mehr als problematisch. Weil sie mir ständig sagt, es sei anderswo besser und der richtige Zeitpunkt eigentlich nie der, der gerade ist, sondern irgendwo in der Zukunft. „Ach Zukunft“, sagte Brigitte Bardot in ‚Et Dieu crea la femme‘, „die haben die Leute erfunden, um die Gegenwart zu verderben.“

Die Gegenwart ist alles, was wir haben. Wir wissen das. Warum finden wir es dann so schwierig und unattraktiv, uns entsprechend zu verhalten und ganz entspannt im Hier und Jetzt zu verweilen? Weil Wissen selten hilft. Und der Mensch schlicht nicht fähig ist, seinen Einsichten gemäss zu handeln. Man denke etwa an die Vorsätze, die wir uns für Januar oder Montag vornehmen, dann auf Ostern, Pfingsten und Mittwoch verschieben bis wir dann zur spirituellen Variante, also zu Weihnachten und Sonntag hinüberwechseln.

Natürlich kommt es gelegentlich vor, dass wir gemäss unserer Einsichten handeln – wenn wir zu erschöpft sind, uns dagegen zu wehren. Was letztlich nichts anderes heisst, als dass wir vom Körper und seinen Bedürfnissen regiert werden.

Ständig sind wir auf Autopilot unterwegs, tun, was wir tun, ohne bewusst zu denken. Nehmen wir das Sprechen: Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was für Worte in welcher Reihenfolge aus meinem Mund purzeln. Im Nachhinein erklärt mir dann mein Hirn, weshalb ich was gesagt habe, denn ohne Sinn kann ich nicht leben und das Hirn liefert diesen Sinn. Wie gesagt: Im Nachhinein.

Als ich einmal meinem Freund Heiri gestehe, dass ich gar nie wirklich mitkriege, wie ich von meiner Wohnung im dritten Stock zum Briefkasten beim Hauseingang runtergehe, weil das alles ganz automatisch geschehe, fragte er: Was gibt es denn da mitzukriegen? Wie wär’s mit dem Treppen Hinabsteigen?, fragte ich zurück. Finde ich nicht spannend, antwortete er. Ich schon, ich finde es ein Wunder, dass es überhaupt möglich ist.

Menschlich

Sagt man über ein Verhalten, es sei nur menschlich, meint man damit nie etwas Gutes. Rechthaberisch, streitsüchtig, missgünstig, beleidigt, auf Rache sinnend – all dies und Ähnliches mehr läuft gemeinhin unter menschlich. So recht eigentlich bedeutet das ja, dass genau die Eigenschaften den Menschen menschlich machen, von denen man wünschte, er hätte sie nicht.

Eitelkeit gehört auch zu den Eigenschaften, die dem Menschen wesensmässig sind – und ich zunehmend schlecht ertrage. Medienleute, Politikerinnen, Musiker, Schauspielerinnen und Fotomodelle (dass das ein Beruf sein kann!) – alle auf Applaus aus. Und davon kann man bekanntlich nie genug kriegen, wie der auf die 80 zugehende Sir (!?) Mick Jagger, der nach wie vor wie ein Teenager über die Bühne rennt, immer mal wieder demonstriert. Oder die englische Königin, die einfach nicht vom Amt lassen konnte, auf das ihr ältester Sohn sich bis ins eigene Alter gedulden musste. Wer die Applaus-Abhängigen verehrt, sollte sich fragen, wieso er von seinem eigenen Leben ablenkt.

Wir verbringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz, heisst es in einem der Psalmen. Kaum ein Satz, der mir in letzter Zeit häufiger durch den Kopf gegangen ist. Der ehemalige deutsche Superminister Karl Schiller soll diese Bibelstelle bei seinem Tod aufgeschlagen gehabt haben – ein Mann, dessen Leben nach den üblichen Vorstellungen erfolgreicher nicht hätte sein können. Nach seinen eigenen offenbar eher nicht.

Wir alle haben so Momente, in denen wir wissen, dass wir etwas fundamental falsch machen, wir anders, ganz anders leben sollten. Es ist menschlich, dass wir es nicht tun. Leider.

Schopenhauer: „Erst im späten Alter erlangt der Mensch ganz eigentlich das horazische nil admirari, d.h. die unmittelbare, aufrichtige und feste Überzeugung von der Eitelkeit aller Dinge und der Hohlheit aller Herrlichkeiten der Welt: die Chimären sind verschwund

Von den Erwartungen

„Lange nicht gesehen! Wie geht es Dir?“, fragt mich mein Bekannter. „Es gibt zwei Antworten darauf“, antworte ich, obwohl es natürlich noch ganz viele mehr gäbe. „Die erste: Ich bin total frustriert; die zweite: ich habe immer mal wieder Super-Momente.“ Mein Bekannter zeigt sich ob der ersten Antwort bestürzt, die zweite scheint ihn nicht zu interessieren. „Frustriert?! So kenne ich Dich gar nicht, auf mich wirkst Du überhaupt nicht so. Wieso frustriert?“ „Weil so ziemlich alles im Leben nicht so ist, wie es meiner Meinung nach sein sollte.“ „Geht es auch konkreter?“ „In meiner Vorstellung sollten die Anständigen an der Spitze stehen, in der Realität ist das überhaupt nicht so. Auch finde ich, dass Lügner und Inkompetente aus dem Amt gejagt werden sollen, doch auch das ist nicht der Fall.“ „Du scheinst ganz unrealistische Vorstellungen von der Welt zu haben“, sagt mein Bekannter, der glaubt, sein Direktorengehalt sei seinen Fähigkeiten geschuldet.

Doch wie gesagt: Ich habe immer mal wieder Super-Momente. Sie treten meist dann ein, wenn ich meine Erwartungen vergessen habe, wenn ich nicht denke, wenn ich einfach wahrnehme, was ist. Doch kann man seine Erwartungen eigentlich vergessen? Nur für Momente, denn unser Gehirn ist antizipierend eingestellt, ist also immer schon bei dem, was kommt oder kommen könnte, es flieht das Hier und Jetzt.

Seit ich das Fotografieren entdeckt habe, gehe ich anders durch die Welt. Aufmerksamer. Letzthin, in Marseille, in einer engen Gasse entdeckte ich am Himmel über mir ein Stück Stoff, das sich in Stromleitungen verfangen hatte und nun vom Wind durch die Luft gewirbelt wurde, so dass immer wieder neue, nicht vorherzusehende Formationen entstanden. Ich blieb stehen und versuchte das Schauspiel mit meiner Kamera einzufangen. Jede Aufnahme zeigte one moment in time,mein Fotografieren wurde zur Meditation – ich tat, was ich tat, nicht mehr, nicht weniger, nur gerade das.

Die meiste Zeit gehe ich jedoch mit einer mir selten bewussten Erwartungshaltung durch die Gegend. So erwarte ich etwa, dass wenn ich jemanden anständig behandle, mir ebenfalls anständig begegnet wird. Auch erwarte ich, dass ich nicht angelogen werde, dass die Menschen sagen, was sie denken, dass diejenigen, die die Steuerzahler viel Geld kosten, sich ihres Amtes fähig und würdig erweisen. Meines Erachtens sind dies absolut berechtigte Erwartungen, doch meine Erfahrung zeigt, dass ihnen eher selten entsprochen wird.

Das liegt unter anderem daran, dass unsere Kultur von uns verlangt, Heuchler zu sein. Das ist notwendig, um „unser“ System, das im Kosten-Nutzen-Denken gefangen ist, am Laufen zu halten. Gibt es eigentlich etwas Fantasieloseres als alles unter dem Aspekt von Kosten und Nutzen zu betrachten? Sollte es im Leben darum gehen, möglichst an dem Wunder teilzuhaben, dass wir für eine gewisse Zeit auf diesem Planeten unterwegs sein dürfen, dann eher nicht.

Es gehe darum zu hören, habe ich letzthin gelesen. Nicht zuzuhören, nicht hinzuhören, nur zu hören. Denn: Wem man zuhört, spielt keine Rolle, was man hört, genauso wenig –dassman hört, um das Hören an sich, darum geht es. Verblüffend, dass man das überhaupt kann! Auch wenn ich auf meinen Tinnitus gut verzichten könnte

Wir sind Sklaven unserer Gefühle

Man müsse sich mit einer Aufgabe identifizieren, hinter einer Sache stehen, voll und ganz, habe ich die längste Zeit meines Lebens geglaubt. Das unbedingte Sich Hingeben an was auch immer packte mich, schien mir das potentiell Erfüllendste – und war es tatsächlich auch immer wieder. Als ich als Jugendlicher Fussball spielte, bei Regen und Schnee, gab es für mich nur den Fussball; als ich in einer Rockband sang, gab es für mich nichts anderes als alles, was mit Rockmusik zusammenhing. Das Gleiche galt für die Rechtswissenschaft, den Journalismus, die Fotografie, die Linguistik, Verhaltensänderungen und so weiter und so fort, so recht eigentlich galt es für alles, was mich einmal begeisterte. Hatte sich die Anfangsfreude erschöpft, war’s jedoch vorbei; nur die Gewohnheit (mehr noch: die Bequemlichkeit) bewog mich, mich nicht endgültig davon zu verabschieden.

Heutzutage funktioniert das nicht mehr, erlebe ich die Welt anders. „Es geht nicht um Dich“, habe ich letzthin in einem Science Fictiongehört. Und: „Du musst einer höheren Sache dienen.“ Nein, ich bin nicht plötzlich religiös geworden, doch ich verstehe mittlerweile besser, dass alle unsere Leiden auf Ego-Problemen gründen (Ich will die Welt anders als sie ist, meine Gefühle anders als sie sind), dass unser Hirn falsch eingestellt ist. Wir sind von unserem Überlebenstrieb dominiert, diesem ist alles untergeordnet, und so suchen wir Sicherheit, von der wir wissen, dass es sie nicht gibt, nicht geben kann, ja lebensfremd ist. Das hält uns nicht davon ab, sie trotzdem zu suchen – das ist die Definition von Wahnsinn.

Wie sie sich fühle?, wurde Margaret Thatcher nach einer verlorenen Wahl einst gefragt. Warum fragen Sie mich nicht, was ich denke?, antwortete sie. Angesichts der Flüchtigkeit unserer Gefühle wäre das bei weitem die vernünftigere Frage.

Meine Einsichten haben sich entwickelt, meine Gefühle nicht, sind in der Pubertät stehen geblieben – dieselben Hoffnungen, dieselben Erwartungen, dieselben Sehnsüchte. Sie nicht persönlich zu nehmen, sie aus emotionaler Distanz zu betrachten, sie zu entpersönlichen, hilft mir, eine neue Erfahrung der Welt zu machen.

Wir können beeinflussen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Das ist schwierig, doch es lässt sich üben. Was für ein Glück, denn schliesslich wäre auch eine Welt denkbar, in der das Üben keinen Platz hat. Die Unsicherheit, das Nicht-Wissen, die Gegenwart zuzulassen, darauf liegt heute mein Fokus.

„Manchmal sitze ich einfach auf einer Bank, spüre den leichten Wind und die Stille und die Sonnenstrahlen im Gesicht. Dann bin ich glücklich“, sagt die 50 Jahre alte Frau, die die Flutkatastrophe letzten Sommer im Ahrtal unter dramatischen Umständen überlebt hat. Betrachten, Spüren, Dasein. Wunderbar!

Im Zug komme ich mit einer Gymnasiastin ins Gespräch, der ich erzähle, ich würde am Morgen nach dem Aufwachen jeweils liegenbleiben und meine Gedanken betrachten, die innert Millisekunden mich nach Brasilien, Thailand, vierzig Jahre zurück und in die Zukunft katapultierten. Wer angesichts solcher Phänomene glaube, er verstehe das Leben und die Welt, sei ein Trottel, füge ich hinzu. Sie staune, sagt daraufhin die junge Frau, dass ich nach dem Aufwachen liegenbleiben könne. Sie selber müsse unverzüglich aufstehen, damit sie nicht zu spät in die Schule komme.

Über Krimis

Gute Krimis sind lehrreich. Ohne Fernsehkrimis wüsste ich zum Beispiel nicht, dass ein lange zurückliegender Fall von einem Kommissar erst dann aufgedeckt werden kann, nachdem er seinen Job verloren hat. Oder dass bei der Zusammenstellung eines Streifenpolizisten-Teams darauf geachtet werden muss, dass die beiden Kandidaten über diametral entgegengesetzte Charakterzüge verfügen. Oder dass es vor jedem Polizeigebäude immer einen freien Parkplatz hat.Von den Autoren schätze ich besonders Dominique Manotti, die mich über wirtschaftliche und politische Zusammenhänge aufklärt, Robert Wilson, der einen seiner Protagonisten diesen ganz wunderbaren Vorschlag machen lässt, wie man die Ungleichheit beenden könnte: Einfach alle Private Security verbieten, dann würden die Reichen nicht mehr geschützt sein. Und natürlich Stieg Larsson und dessen Nachfolger David Lagercrantz, deren Held Blomkvist sich einzureden versuchte, „dass das Leben vielleicht doch nicht ganz so beknackt war“, was ihm allerdings nicht sonderlich gut gelingt.Bernard Minier verdanke ich diesen wunderbaren Dialog: „Das tut mir leid“, sagte er widerwillig. „Braucht es nicht. Ändere dich. Tschüss.“ James Bond die Frage: „Warum kriegt man immer Ratschläge von Menschen, die selbst keine annehmen?“ Und der Autorin Alafair Burke diese: „Ich möchte Sie fragen, warum Sie von Jasons Unschuld so gottverdammt überzeugt sind. Falls es auf Fakten und Beweisen beruht, schön, halten Sie zu ihm, und wir werden sehen, welche Seite beim Prozess gewinnen wird. Wenn es aber nur ist, weil sie glauben, ihn zu kennen …“. Soviel Nüchternheit ist in einer Zeit, wo alles ausser der eigenen Überzeugung angezweifelt wird, enorm wohltuend.Bei Krimis gibt es so recht eigentlich immer eine Kämpferin für die Gerechtigkeit, beziehungsweise einen einsamen Helden mit einer schwierigen Kindheit, der aus völlig uneigennützigen Motiven der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Besonders wirklichkeitsnah ist das zwar nicht, doch viele lesen ja Krimis, weil sie der Wirklichkeit enfliehen wollen. Oder weil sie etwa Helden suchen? Das mögen Psychologen so sehen, doch der Bestseller-Autor Lee Child braucht keinen Helden, ihm genügt „die Hauptperson eines populären Romans“, die die Menschen darin bestärkt, worin wir alle bestärkt werden müssen: „ermutigt, gestärkt, aufgerichtet und getröstet zu werden.“Etwas weniger pädagogisch ist Debra Jo Immergut unterwegs, die mit der Vorstellung, der Mensch würde sich im Laufe seines Lebens emotional entwickeln kurzen Prozess macht. Und damit natürlich ins Schwarze trifft: „Wir wachsen, wir altern, wir bemühen uns eifrig, uns zu entwicklen und zu reifen, doch irgendein unentrinnbares Naturgesetz sorgt dafür, dass das Teenager-Ich das existenzielle Ich bleibt. Der unveränderliche Kern. Du kannst vor ihm davon laufen, aber es läuft dir hinterher. Es folgt dir durch jeden Seitenweg und Kellereingang. Und manchmal holt es dich ein …“.Übrigens: Ich habe selber einen Thriller geschrieben, Herolds Rache, einen, der ohne Held auskommt, in dem es keine Hinweise auf die Täter gibt und es scheint, als ob sich das kollektive Unterbewusstsein die gängigen Ungerechtigkeiten einfach nicht mehr bieten lassen will. Schwer vorstellbar? Sowieso, doch das war das Corona-Virus auch.

Ablenkungen

Wir lenken uns ab. Ständig. So recht eigentlich tun wir nichts anders. Fast ein ganzes Leben lang. „Ganz entspannt im Hier und Jetzt“ lautet ein Buchtitel, zu dem ich einst gierig gegriffen habe. Ich habe keine Erinnerung mehr ans Buch (ein generelles Phänomen: auch an gerne gelesene Bücher erinnere ich mich, wenn überhaupt, nur sehr vage), doch im Hier und Jetzt bin ich nach wie vor selten. Und entspannt noch seltener.

„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen“, klagte Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert. Warum sollte er das bloss wollen?, liesse sich da fragen, doch ich vermute, der französische Mathematiker und Philosoph meinte etwas anderes: Wir halten uns selber nicht aus. Was wir haben, genügt uns nicht. Ständig wollen wir mehr und anderes.

Probleme, zum Beispiel. Was wären wir ohne sie? Und so schaffen wir immer neue, berufen uns dabei auf die Komplexität der Welt, die angeblich nach immer grösserer Differenzierung verlangt. Das äussert sich etwa in neuen Fachdisziplinen, die den Vorteil haben, den darin Beschäftigten einen geregelten Tagesablauf und ein Auskommen zu verschaffen.

Vom Event Management zur Verhandlungsführung – nichts, das sich nicht (wissenschaftlich?!) studieren liesse. Der Mensch will beschäftigt sein und es ein Leben lang bleiben. Nicht nur die Arbeit, auch die Freizeit wird durchorganisiert. Nur keine Leere aufkommen lassen. Blaise Pascal: „Belustigung und Zeitvertreib“, hat keinen andern Zweck, „als die Zeit vergehen zu lassen, ohne sie zu fühlen, oder vielmehr ohne sich selbst zu fühlen.“

Vortrefflich ablenken kann man sich übrigens auch mit der Politik, von der Paul Valéry einmal gesagt, sie sei „die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.“ In der Politik wird bekanntlich gestritten. Da der Streit jedoch nicht unbedingt ein positives Image hat, redet man von Streitkultur, was irgendwie nach zivilisatorischer Errungenschaft klingt, doch vor allem verschleiert, dass es ums Recht-Haben geht. Dass der Gescheitere nachgibt, glaubt heutzutage keiner mehr.