Herr bleibe bei uns - Robert Sarah - E-Book

Herr bleibe bei uns E-Book

Robert Sarah

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Beschreibung

Unsere Welt befindet sich am Rande des Abgrunds: Glaubenskrise, Untergang des Abendlandes, moralischer Relativismus und entfesselter Kapitalismus. Im Bewusstsein der Tragweite der aktuellen Krise zeigt Kardinal Robert Sarah auf, dass es möglich ist, einer höllischen Welt ohne Hoffnung zu entrinnen. Im Gespräch mit Nicolas Diat widmet er sich den Krisen unserer heutigen Zeit und lehrt uns, dass der Mensch auf seinem Lebensweg eine Erhebung der Seele erfahren muss, um besser aus dieser Welt zu scheiden, als er sie betreten hat.

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Robert Kardinal Sarah im Gespräch mit Nicolas Diat

Herr, bleibe bei uns!

Denn es will Abend werden

Aus dem Französischen von Hedwig Hageböck

Für Benedikt XVI.,

den unvergleichlichen Baumeister im Wiederaufbau der Kirche

Für Franziskus,

den treuen und ergebenen Sohn des heiligen Ignatius

Für die Priester in der ganzen Welt,

als Danksagung anlässlich meines Goldenen Priesterjubiläums

Inhaltsverzeichnis

Das Geheimnis des Judas Iskariot

Teil I: Der geistliche und kirchliche Niedergang

1. Die Krise des Glaubens

2. Die Krise des Priestertums

3. Die Krise der Kirche

4. Die Krise der abendländischen Identität und die geistige Trägheit

Teil II: Der herabgesetzte Mensch

5. Der Hass auf den Menschen

6. Der Hass auf das Leben

Teil III: Der Untergang der Wahrheit, der Sittenverfall und die politischen Fehlentwicklungen

7. Wohin geht die Welt? – Bruch mit der Vergangenheit

8. Hass, Spott und Hohn

9. Die Krise des Abendlandes

10. Die Irrwege des Abendlandes

11. Globalismus – Unerbittliche Feindschaften

12. Die leeren Verheißungen der Emanzipation

13. Die »Schöne Neue Welt« als Pfefferkuchenhaus

14. Der Kapitalismus und das Erscheinungsbild postmoderner Demokratien

15. Der Trauermarsch der Dekadenz

16. Religionsfreiheit

Teil IV: Vertrauen auf die Vorsehung in der Übung der Tugenden

17. Einübung der Kardinaltugenden

18. Einübung der göttlichen Tugenden

Nichts soll mich ängstigen

Gebet: Herr, bleibe bei uns

»Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?«

Röm 8,311

Das Geheimnis des Judas Iskariot

»Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien.«

(Lk 19,40)

»Was ist ein Verräter? – Na, einer, der schwört und lügt.«2

William Shakespeare, Macbeth

Warum ergreife ich noch einmal das Wort? In meinem letzten Buch habe ich zur Stille aufgerufen. Doch ich kann nicht mehr schweigen. Ich darf nicht länger schweigen. Viele Christen haben die Orientierung verloren. Täglich erhalte ich von allen Seiten Hilferufe von Menschen, die nicht mehr wissen, was sie glauben sollen. Täglich empfange ich in Rom entmutigte und verletzte Priester. Die Kirche macht die Erfahrung einer dunklen Nacht, sie ist umhüllt und verblendet vom Mysterium iniquitatis, dem Geheimnis der Bosheit.

Jeden Tag erreichen uns fürchterliche Nachrichten. Es vergeht keine Woche, ohne dass ein neuer Fall von sexuellem Missbrauch aufgedeckt wird; jeder einzelne Skandal zerreißt unser Herz als Söhne der Kirche. Der Rauch Satans, wie Paul VI. sagte, hat sich über uns gesenkt. Die Kirche sollte ein Ort des Lichtes sein; doch ist sie zu einem dunklen Loch geworden. Sie sollte ein sicheres und friedliches Heim sein; doch was für eine Räuberhöhle ist sie geworden! Wie können wir es ertragen, dass sich Raubtiere in unsere Reihen eingeschlichen haben? Viele treue Priester treten täglich als aufmerksame Hirten voller Milde, als sichere Führer auf. Doch einige Männer Gottes sind zu Agenten des Bösen geworden; sie wollten die reinen Seelen der Allerkleinsten verderben, sie haben das Antlitz Christi entehrt, das in jedem Kind gegenwärtig ist.

Alle Priester der Welt fühlten sich durch die vielen Gräueltaten verraten und gedemütigt. In der Nachfolge Christi erlebt die Kirche das Geheimnis der Geißelung; ihr Leib ist zerfetzt. Und wer führt die Schläge aus? Es sind die Männer, die sie eigentlich lieben und beschützen sollten! Ja, ich wage mit den Worten von Papst Franziskus zu sagen: Unsere Zeit ist bedroht vom Geheimnis des Judas. Unsere Kirchenmauern triefen vom Geheimnis des Verrats. Es zeigt sich auf abscheulichste Weise im Missbrauch von Minderjährigen. Doch wir müssen den Mut haben, uns unseren Sünden zu stellen: Dieser Verrat wurde vorbereitet und verursacht durch viele andere, subtilere, weniger sichtbare, doch ebenso tiefe Sünden. Schon seit Langem durchleben wir das Geheimnis des Judas. Was heute ans Tageslicht tritt, hat tiefe Gründe, die wir mutig und klar aufzeigen müssen. Die Krise, in der sich der Klerus, die Kirche und die Welt befinden, ist eine zutiefst spirituelle Krise, eine Glaubenskrise. Wir erleben das Geheimnis der Bosheit, des Verrats – das Geheimnis des Judas.

Ich möchte mit Euch die Gestalt des Judas betrachten. Jesus hatte ihn wie alle Apostel berufen. Jesus liebte ihn! Er hatte ihn ausgesandt, die Frohe Botschaft zu verkünden. Doch mehr und mehr machten sich Zweifel in Judas’ Herzen breit. Ganz allmählich begann er, die Lehre Jesu zu verurteilen. Er sagte sich: Dieser Jesus ist zu anspruchsvoll, zu ineffektiv. Judas wollte helfen, das Reich Gottes auf Erden zu errichten, sofort, mit menschlichen Mitteln und nach seinen eigenen Vorstellungen. Dabei hatte er die Worte Jesu gehört: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege« (Jes 55,8). Trotz allem hat sich Judas entfernt und Christus nicht weiter Gehör geschenkt. Er begleitete Ihn nicht länger in Seinen Nächten der Stille und des Gebets. Judas flüchtete sich in die Angelegenheiten dieser Welt, er kümmerte sich um die Kasse, um das Geld und um die Geschäfte. Der Lügner folgte Jesus weiterhin nach, doch er glaubte nicht mehr; er murrte. Am Gründonnerstagabend wusch ihm der Meister die Füße. Sein Herz hätte so verhärtet sein müssen, dass er sich nicht einmal hätte berühren lassen wollen. Doch Jesus kniete vor ihm nieder als demütiger Diener und wusch die Füße jenes Mannes, der Ihn den Feinden ausliefern sollte. Ein letztes Mal richtete Jesus Seinen Blick auf ihn, voller Milde und Erbarmen. Aber der Teufel hatte sich bereits in das Herz des Verräters eingeschlichen; Judas wich dem Blick nicht aus. Innerlich mag er wohl das alte Wort der Revolte gesprochen haben: »Non serviam – ich werde nicht dienen.« Beim Letzten Abendmahl kommunizierte er, obwohl sein Plan bereits feststand. Dies war der erste sakrilegische Kommunionempfang der Geschichte. Judas war ein Verräter.

Für alle Ewigkeit ist Judas der Name des Verräters und sein Schatten schwebt noch heute über uns. Ja, auch wir haben verraten, wie er! Wir haben das Gebet aufgegeben. Überall hat sich das Übel des auf Effizienz erpichten Aktivismus eingeschlichen. Wir versuchen, die Organisation großer Unternehmen nachzuahmen, und vergessen dabei, dass allein das Gebet das Blut ist, welches durch die Adern der Kirche fließt. Wir wissen, dass wir keine Zeit verlieren dürfen, und wollen unsere Zeit praktischen, sozialen Werken widmen. Wer nicht mehr betet, hat schon Verrat begangen. Er ist schon zu sämtlichen Kompromissen mit der Welt bereit: unterwegs in den Spuren des Judas.

Wir dulden jedwede Infragestellung der katholischen Kirche, jeden Zweifel an ihrer Lehre. Unter dem Deckmantel sogenannter intellektueller Haltungen macht es den Theologen Spaß, Dogmen aufzulösen und die Moral ihres tiefen Sinnes zu berauben. Der Relativismus ist die Maske eines scheinbar intellektuellen Judas. Warum wundert es uns, wenn wir hören, dass so viele Priester ihre Berufung an den Nagel hängen? Wir relativieren den Sinn des Zölibats, wir erheben Anspruch auf ein Privatleben, was der Mission des Priesters widerspricht. Es geht so weit, dass einige sogar das Recht auf homosexuelle Praktiken verlangen. Ein Skandal folgt dem nächsten, unter Priestern ebenso wie unter Bischöfen.

Das Geheimnis des Judas breitet sich aus. Ich möchte allen Priestern zurufen: Bleibt stark und aufrichtig! Ja, wegen einiger Amtsträger werdet ihr alle als Homosexuelle abgestempelt. Man wird die katholische Kirche durch den Schmutz ziehen und ihr den Anschein verleihen, dass alle ihre Priester heuchlerisch und machtgierig seien. Euer Herz beunruhige sich nicht! Am Karfreitag wurde Jesus mit allen Verbrechen der Welt beladen und ganz Jerusalem schrie: »Ans Kreuz mit Ihm! Ans Kreuz mit Ihm!« Die tendenziösen Ermittlungen zeigen uns, in welch einer Katastrophe sich die Kleriker befinden, die verantwortungslos mit ihrem geschwächten geistigen Leben umgehen und sich nicht einmal an die Gebote der Kirche halten. Bleibt dennoch ruhig und vertraut wie die Gottesmutter und der heilige Johannes am Fuße des Kreuzes. Die unmoralischen Priester, Bischöfe und Kardinäle werden in keiner Weise das leuchtende Zeugnis von mehr als 400 000 Priestern in der ganzen Welt verblassen lassen, die täglich treu, heiligmäßig und freudig dem Herrn dienen. Trotz der schweren Angriffe auf die Kirche wird sie nicht untergehen. Das hat der Herr versprochen und Sein Wort wankt nicht.

Die Christen zittern, taumeln und zweifeln. Für sie wollte ich dieses Buch schreiben. Ich will ihnen zurufen: Zweifelt nicht! Haltet an der Lehre fest! Haltet am Gebet fest! Ich schreibe dieses Buch, um die wahren Christen und die treuen Priester zu ermutigen.

Das Geheimnis des Judas, das Geheimnis des Verrats ist ein feines Gift, mit dem der Teufel uns Zweifel an der Kirche einträufeln möchte. Er will, dass wir sie als eine menschliche Organisation betrachten, die sich in der Krise befindet. Dabei ist sie viel mehr als das: Sie ist Christus selbst, der in ihr fortdauert. Der Teufel treibt uns zu Spaltung und Schisma, er möchte uns glauben machen, die Kirche sei eine Verräterin. Doch die Kirche betrügt uns nicht. Obwohl sie voller Sünder ist, ist sie selbst ganz ohne Sünde! Jene Menschen, die Gott suchen, werden stets genügend helle Orte in ihr finden. Lasst Euch nicht durch Hass, Trennung und Manipulation in Versuchung führen. Es geht nicht darum, eine Partei zu gründen, mit der sich die einen gegen die anderen erheben. Bereits der hl. Augustinus hatte gesagt: »Wie sehr dies zu vermeiden ist, hat der göttliche Meister schon im Voraus gezeigt, indem er das Volk hinsichtlich schlechter Vorgesetzten beruhigte und mahnte, dass niemand um ihretwillen sich vom Lehrstuhle des wahren Glaubens abwenden solle. […] Lasst uns also nicht wegen der Bösen in böser Spaltung zugrunde gehen.«3

Die Kirche leidet, sie wird von Feinden aus den eigenen Reihen verhöhnt. Wir dürfen die Kirche nicht im Stich lassen. Alle Hirten sind sündige Menschen und dennoch tragen sie in sich das Mysterium Christi.

Was sollen wir also tun? Es geht nicht darum, sich zu organisieren und irgendwelche Strategien umzusetzen. Wie können wir meinen, dass wir von uns aus in der Lage sind, die Dinge zu verbessern! Wir würden damit nur wieder in die Fußstapfen des Judas treten, die von der Illusion in den Tod führen.

Angesichts des Übermaßes an Sünden in den Reihen der Kirche sind wir versucht, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wir sind versucht, die Kirche aus eigenen Kräften zu reinigen. Doch das wäre ein Fehler. Was werden wir tun? Eine Partei gründen? Eine Bewegung? Die schlimmste Versuchung ist sicher der Feldzug der Spaltung. Unter dem Vorwand, etwas Gutes zu tun, trennt man sich, kritisiert und entzweit. Der Teufel lacht sich ins Fäustchen, denn es ist ihm gelungen, die Guten unter der Maske des Rechtschaffenen in Versuchung zu führen. Wir geben der Kirche ihre Gestalt nicht durch Hass und Spaltung zurück. Wir erneuern sie, indem wir selbst als Erste umkehren. Zögern wir nicht, jeder an seinem Platz der Sünde zu entsagen; fangen wir bei unseren eigenen Vergehen an.

Mich schaudert bei dem Gedanken, dass Christi nahtloses Gewand erneut zu zerreißen droht. In Seinem Todeskampf sah er die Trennungen der Christenheit voraus. Kreuzigen wir Ihn nicht ein zweites Mal! Sein Herz fleht uns an: »Mich dürstet nach der Einheit!« Der Teufel möchte nicht beim Namen genannt werden. Er hüllt sich in Nebel und Zwielicht. Wir müssen klar sein! »Wer Dinge falsch benennt, trägt zum Unheil in der Welt bei«, sagte Albert Camus.

Ich werde nicht davor zurückschrecken, in diesem Buch Klartext zu sprechen. Mit der Unterstützung des Autors und Essayisten Nicolas Diat, ohne den nur wenig möglich gewesen wäre und der mir seit dem Verfassen von Gott oder Nichts in unerschütterlicher Treue zur Seite gestanden hat, möchte ich mich vom Wort Gottes inspirieren lassen, das wie ein zweischneidiges Schwert ist. Fürchten wir uns nicht zu sagen, dass die Kirche eine grundlegende Reform nötig hat und dass diese sich durch unsere eigene Umkehr verwirklicht.

Verzeiht mir, wenn einiger meiner Worte Euch schockieren. Ich möchte Euch nicht mit beschwichtigenden und lügnerischen Äußerungen einschläfern. Ich suche weder Erfolg noch Ansehen. Dieses Buch ist der Aufschrei meiner Seele! Es ist ein Schrei der Liebe zu Gott und zu meinen Brüdern. Ich schulde Euch, liebe Christen, die Wahrheit, die befreit. Die Kirche befindet sich in Agonie, weil die Hirten sich fürchten, in aller Klarheit die Wahrheit auszusprechen. Wir haben Angst vor den Medien, Angst vor den Meinungen, Angst vor unseren eigenen Brüdern! Doch der gute Hirte gibt sein Leben für seine Schafe.

Auf den folgenden Seiten biete ich Euch heute das Herzstück meines Lebens an: den Glauben an Gott. Es bleibt mir wenig Zeit, ehe ich vor den ewigen Richter treten werde. Was soll ich Ihm erwidern, wenn ich Euch nicht die Wahrheit weitergegeben habe, die ich selbst empfangen durfte? Wir Bischöfe müssten erzittern bei dem Gedanken an unser schuldhaftes Schweigen, an unser Schweigen als Mittäter, an unser Schweigen aus Weltgefälligkeit.

Ich werde oft gefragt: Was sollen wir tun? Wo Spaltung droht, muss die Einheit gestärkt werden, die mit jener in der Welt herrschenden Uniformität nichts zu tun hat. Die Einheit der Kirche hat ihren Ursprung im Herzen Jesu. Wir müssen uns fest an Ihn halten, uns mit Seinem Herzen vereinen, das von der Lanze geöffnet wurde, um für uns Heimstatt und Zufluchtsort zu sein. Die Einheit der Kirche steht auf vier Säulen: das Gebet, die katholische Lehre, die Liebe zu Petrus und die gegenseitige Liebe. Diese Säulen müssen das Fundament unserer Seele und die Basis all unserer Handlungen sein.

Das Gebet

Ohne Verbundenheit mit Gott ist jedes Unternehmen zur Stärkung der Kirche und des Glaubens nichtig. Ohne Gebet gleichen wir lärmenden Pauken. Wir sinken auf eine Stufe mit den Gauklern in den Medien herab, die viel Lärm machen und nichts als Wind produzieren. Das Gebet sollte unser eigentlicher Auftrieb sein, der uns zu Gott erhebt. Wohin sonst sollten wir streben? Wozu sind wir Christen, Priester, Bischöfe auf Erden, wenn nicht um selbst einmal vor Gott zu treten und andere dorthin zu führen? Es ist an der Zeit, dies zu verkünden! Es ist an der Zeit, unsere Berufung in die Tat umzusetzen! »Wer betet, wird sicher gerettet, wer nicht betet, geht sicher verloren«, sagte der hl. Alfons Maria von Liguori. Davon bin auch ich überzeugt, denn eine Kirche, die das Gebet nicht als ihren wertvollsten Schatz hütet, rennt ins Verderben. Wenn wir nicht wieder den Sinn von langen, in Geduld ausharrenden Nachtwachen mit dem Herrn erkennen, verraten wir Ihn. Die Apostel haben es getan – halten wir uns für besser als sie? Besonders die Priester brauchen unbedingt eine betende Seele. Ohne Gebet ist die effizienteste priesterliche Handlung unnötig, wenn nicht sogar schädlich. Sie wiegt uns in der Illusion, Gott zu dienen, während wir doch das Werk des Feindes vollbringen. Wir müssen nicht die Zahl unserer Andachtsübungen erhöhen – wir sollen einfach schweigen und anbeten, uns auf die Knie werfen und in heiliger Scheu und Ehrfurcht die Liturgie begehen. Sie ist das Werk Gottes und kein Theater.

Ich wünschte, meine Brüder im bischöflichen Dienst würden niemals ihre enorme Verantwortung vergessen. Liebe Freunde, wollt Ihr die Kirche erneuern? Dann kniet nieder! Es gibt kein anderes Mittel! Wenn ihr dieses Ziel auf einem anderen Weg erreichen wollt, wird euer Tun nicht von Gott kommen. Allein Er kann uns retten – und Er wird es nur tun, wenn wir Ihn darum bitten. Mein Herzenswunsch ist, dass von der ganzen Welt ein intensives und ununterbrochenes Gebet aufsteigt, ein glühender Lobpreis und ein flehentliches Bittgebet. An dem Tag, da dieser stille Gesang in den Herzen erklingt, wird der Herr endlich erhört werden und kann durch Seine Kinder handeln. Bis dahin stehen wir Ihm mit unserem Tatendrang und Geschwätz nur im Weg. Wenn wir nicht wie Johannes am Herzen Jesu ruhen, dann haben wir nicht die Kraft, Ihm bis zum Kreuz zu folgen. Wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, dem Schlag Seines Herzens zu lauschen, dann verlassen wir unseren Gott, ja, wir verraten Ihn, wie es selbst die Apostel taten.

Die katholische Lehre

Wir müssen die Einheit der Kirche nicht erfinden oder konstruieren, denn der Ursprung unserer Einheit geht uns voraus und ist uns geschenkt: Wir haben die Offenbarung empfangen. Wenn jeder sich für seine Meinung starkmacht und die eigene Originalität einbringt, wird sich überall Spaltung ausbreiten. Es schmerzt mich zu sehen, wie viele Hirten die katholische Lehre verscherbeln und Trennung unter den Gläubigen hervorrufen. Wir schulden dem christlichen Volk eine klare, unerschütterliche und sichere Lehre. Wie kann es sein, dass Bischofskonferenzen sich gegenseitig widersprechen? Verwirrung verhindert die Anwesenheit Gottes!

Die Einheit des Glaubens verlangt eine Einheit im Lehramt durch Raum und Zeit. Wenn wir eine neue Lehre empfangen, muss sie stets in Übereinstimmung mit der vorigen Lehre gedeutet werden. Durch Brüche und Revolutionen zerstören wir jene Einheit, die in der heiligen Kirche durch die Jahrhunderte hindurch Bestand hatte. Dies bedeutet nicht, dass wir zur Erstarrung verdammt sind. Allerdings muss jede Entfaltung des Glaubens zu einem besseren Verständnis und einer Vertiefung der Vergangenheit führen. Die Hermeneutik der Reform in der Kontinuität, welche Benedikt XVI. so unmissverständlich lehrte, ist eine Bedingung, ohne die es keine Einheit geben kann. Diejenigen, die mit großem Getöse Veränderung und Bruch verkündigen, sind falsche Propheten. Ihnen geht es nicht um das Wohl der Herde, sondern sie sind Mietlinge, die sich heimlich in den Schafstall eingeschlichen haben. Unsere Einheit entsteht aus der Wahrheit der katholischen Lehre; nichts sonst bringt uns zusammen. Das Streben nach Ansehen in den Medien auf Kosten der Wahrheit ist im Grunde vergleichbar mit dem Werk des Judas.

Fürchten wir uns nicht! Welches größere Geschenk können wir der Menschheit anbieten als die Botschaft des Evangeliums? Gewiss: Jesus ist anspruchsvoll; Ihm nachfolgen heißt, täglich sein Kreuz auf sich zu nehmen. Die Versuchung der Feigheit lauert überall, besonders an den Türen der Hirten. Die Lehre Jesu erscheint schwer erträglich. Wie viele unter uns sind versucht, bei sich zu denken: »Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören?« (Joh 6,60). Der Herr wendet sich an Seine Auserwählten, an uns Priester und Bischöfe, und fragt uns erneut: »Wollt auch ihr weggehen?« (Joh 6,67). Er blickt uns in die Augen und fragt jeden einzeln: »Wirst du mich verlassen? Wirst du aufhören, den Glauben in seiner Fülle zu verkünden? Oder wirst du den Mut haben, meine Realpräsenz in der Eucharistie zu predigen? Wirst du so kühn sein, die jungen Menschen zum geweihten Leben aufzurufen? Wirst du die Stärke besitzen zu sagen, dass der Kommunionempfang ohne die regelmäßige Beichte seinen Sinn verliert? Wirst du beherzt genug sein, um an die wahre Unauflöslichkeit der Ehe zu erinnern? Wirst du genug Liebe besitzen, es selbst vor denen zu sagen, die dir im Nachhinein Vorwürfe machen könnten? Wirst du den Mut haben, die in einer neuen Beziehung lebenden Geschiedenen voller Milde einzuladen, ihr Leben zu ändern? Suchst du Erfolg oder willst du mir nachfolgen?« Gott wünscht sich, dass wir mit dem hl. Petrus voller Liebe und Demut antworten können: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des Ewigen Lebens« (Joh 6,68).

Die Liebe zu Petrus

Der Papst trägt das Geheimnis des Simon Petrus, zu dem Christus einmal gesagt hatte: »Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen« (Mt 16,18). Das Geheimnis des Petrus ist ein Geheimnis des Glaubens. Jesus wollte Seine Kirche einem konkreten Menschen übergeben. Um uns daran zu erinnern, ließ Er es zu, dass dieser Mann Ihn dreimal vor allen verleugnete, bevor Er ihm die Schlüssel Seiner Kirche übergab. Wir wissen, dass das Schiffchen der Kirche einem Menschen nicht aufgrund seiner außerordentlichen Fähigkeiten anvertraut ist. Doch wir glauben, dass diesem Mann stets der göttliche Hirte zur Seite steht, damit er an der Lehre des Glaubens festhalte.

Fürchten wir uns nicht! Hören wir, wie Jesus sagt: »Du bist Simon, […] du sollst Kephas heißen, das bedeutet: Petrus, Fels« (Joh 1,42). Von Anfang an wird der Teppich der Kirchengeschichte gewoben: Die unfehlbaren Entscheidungen der Nachfolger Petri mit einem goldenen Faden, mit einem schwarzen Faden die menschlichen und unvollkommenen Taten der Päpste, der Nachfolger Simons. In diesem unverständlichen Wirrwarr der Fäden spüren wir die kleine Nadel, die von Gottes unsichtbarer Hand geführt wird. Er ist darauf bedacht, in diesen Teppich den einzigen Namen zu sticken, durch den wir gerettet werden können: den Namen Jesu Christi!

Liebe Freunde, Eure Hirten sind voller Fehler und Unvollkommenheiten. Aber wir bringen in der Kirche keine Einheit zustande, indem wir die Priester verachten. Scheut Euch nicht, von ihnen den katholischen Glauben und die Spendung der Sakramente des göttlichen Lebens einzufordern. Erinnert Euch an das Wort des hl. Augustinus: »Wenn Petrus tauft, ist es Jesus, der tauft. Und wenn Judas tauft, ist es immer noch Jesus, der tauft!«4 Selbst der unwürdigste aller Priester bleibt ein Werkzeug der göttlichen Gnade, wenn er die Sakramente spendet. Seht, wie weit Gottes Liebe zu uns geht! Er lässt es zu, dass die sakrilegischen Hände unwürdiger Priester Seinen eucharistischen Leib halten. Wenn Ihr meint, dass Eure Priester und Bischöfe keine Heiligen sind – dann seid selbst Heilige, für sie. Tut Buße und fastet, um ihre Fehler und ihre Feigheit wiedergutzumachen. Nur auf diese Weise können wir die Last des anderen tragen.

Die brüderliche Liebe

Erinnern wir uns an die Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils: Die Kirche ist das Sakrament »für die Einheit der ganzen Menschheit«.5 Doch sie ist entstellt durch Hass und Zerwürfnisse. Es ist an der Zeit, wieder mehr Wohlwollen füreinander zu finden. Es ist an der Zeit, Argwohn und Verdacht ein Ende zu setzen! Für uns Katholiken ist es an der Zeit, einen großen Schritt zur »inneren Versöhnung« zu gehen, um mit den Worten Benedikts XVI. zu sprechen.6

Ich schreibe diese Worte an meinem Schreibtisch, von wo ich auf den Petersplatz schauen kann. Er öffnet weit seine Arme, um die ganze Menschheit umarmen zu können. Denn die Kirche ist eine Mutter, die uns ihre Arme öffnet! Eilen wir dorthin und drücken wir uns fest aneinander! In ihrem Schoß gibt es keine Bedrohung mehr für uns! Christus hat ein für alle Mal Seine Arme am Kreuz ausgestreckt, damit nunmehr die Kirche die ihren öffne, um uns in ihr zu versöhnen – mit Gott und untereinander. Zu allen, die durch Verrat, Zwiespalt und Manipulation in Versuchung geführt worden sind, spricht der Herr erneut diese Worte: »Warum verfolgst du mich? […] Ich bin Jesus, den du verfolgst« (Apg 9,4–5). Wenn wir streiten und uns hassen, verfolgen wir Jesus!

Lasst uns einen Augenblick gemeinsam im Geiste vor dem gewaltigen Fresko von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle beten, wo das Jüngste Gericht dargestellt ist. Knien wir uns nieder vor der göttlichen Majestät, die sich uns hier offenbart, umgeben vom ganzen himmlischen Hof. Die Heiligen sind da und tragen ihre Marterwerkzeuge: Apostel, Jungfrauen, Unbekannte, Heilige, die nur das Herz Jesu kennt – alle singen Ihm zur Ehre und zum Ruhm. Zu ihren Füßen schreien die Verdammten in der Hölle ihren Hass gegen Gott heraus. Und plötzlich werden wir uns unserer Winzigkeit, unserer Nichtigkeit bewusst. Plötzlich schweigen wir, die wir eben noch meinten, so viele wichtige Ideen zu haben, so viele notwendige Projekte. Die Größe Gottes, welche alle Grenzen überschreitet, hat uns überwältigt. Erfüllt von kindlicher Scheu, erheben wir unsere Augen zum siegreichen Christus, der jeden Einzelnen von uns fragt: »Liebst du mich?« Lassen wir Seine Frage in uns widerhallen, anstatt Ihm eine übereilte Antwort zu geben.

Lieben wir Ihn wirklich? Sterben wir fast vor Liebe zu Ihm? Wenn wir ganz einfach und demütig antworten können: »Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich liebe« (Joh 21,17), dann wird Er uns anlächeln und mit Ihm Maria und alle Heiligen im Himmel. Und wie einst zum heiligen Franziskus von Assisi sagen sie zu jedem von uns: »Geh und bau meine Kirche wieder auf!« Geh, bau wieder auf: durch deinen Glauben, durch deine Hoffnung, durch deine Liebe. Geh, bau durch dein Gebet und deine Treue wieder auf. Durch dich wird die Kirche wieder zu meinem Haus.

Robert Kardinal Sarah

Rom am Freitag, den 22. Februar 2019

Quellenangaben

1 Alle Bibelzitate sind, soweit nicht anders vermerkt, der Einheitsübersetzung entnommen.

2 William Shakespeare: Macbeth, Cadolzburg, ars vivendi, 2001, S. 139–141

3 Augustinus: Brief 105, Quelle: https://www.unifr.ch/bkv/kapitel2807-16.htm

4 Augustinus: Vorträge über das Johannes-Evangelium V. 18

5 Lumen Gentium, I.1. Alle päpstlichen Texte sind, soweit nicht anders vermerkt, der Internetseite des Heiligen Stuhls entnommen: http://w2.vatican.va/content/vatican/de.html

6 Benedikt XVI.: Brief an die Bischöfe anlässlich der Publikation des apostolischen Schreibens »Motu Proprio Data« Summorum Pontificum

Teil I: Der geistliche und kirchliche Niedergang

»Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?«

(Lk 18,8).

1. Die Krise des Glaubens

NICOLAS DIAT: Befindet sich unsere Zeit in einer Glaubenskrise?

KARDINAL ROBERT SARAH: Erlauben Sie mir, mit einem Bild zu antworten. Ich glaube, dass die Haltung der modernen Welt der Feigheit des heiligen Petrus bei der Passion gleicht, von der wir in den Evangelien lesen. Nachdem Jesus verhaftet worden war, folgte Petrus Ihm aus der Ferne und betrat, zweifellos zutiefst erschüttert, den Sanhedrin. »Als Petrus unten im Hof war, kam eine von den Mägden des Hohepriesters. Sie sah, wie Petrus sich wärmte, blickte ihn an und sagte: Auch du warst mit diesem Jesus aus Nazaret zusammen. Doch er leugnete und sagte: Ich weiß nicht und verstehe nicht, wovon du redest. Dann ging er in den Vorhof hinaus. Als die Magd ihn dort bemerkte, sagte sie zu denen, die dabeistanden, noch einmal: Der gehört zu ihnen. Er aber leugnete wieder. Wenig später sagten die Leute, die dort standen, von Neuem zu Petrus: Du gehörst wirklich zu ihnen; du bist doch auch ein Galiläer. Da fing er an zu fluchen und zu schwören: Ich kenne diesen Menschen nicht, von dem ihr redet« (Mk 14,66–71).

Wie Petrus hat die moderne Welt Christus verleugnet. Auch heute haben die Menschen Angst, sich zu Gott zu bekennen, sie fürchten sich, Seine Jünger zu sein. Sie denken: »Mir wäre es lieber, Gott nicht zu kennen«, denn sie fürchten sich vor dem Blick der anderen. Man fragt sie, ob sie mit Christus vertraut seien, doch sie antworten: »Ich kenne diesen Menschen nicht.« Sie schämen sich und schwören sogar: »Gott? Ich weiß nicht, wer Er ist!« Wir wollen in den Augen der Welt glänzen – und schon haben wir unseren Gott dreimal verraten. Wir behaupten: Ich bin mir nicht sicher, was Ihn angeht, das Evangelium, die Dogmen, die christliche Moral. Wir schämen uns für die Heiligen und Märtyrer, wir erröten beim Thema Gott, Seiner Kirche und ihrer Liturgie, wir zittern vor der Welt und ihren Sklaven. Nachdem Petrus Jesus verraten hatte, schaute der Herr ihn an. Wie viel Liebe und Erbarmen, aber auch wieviel Vorwurf und Gerechtigkeit war in diesem Blick! Da weinte Petrus bitterlich; und er verstand es, um Vergebung zu bitten.

Werden wir den Blick Christi aushalten? Ich nehme an, dass die moderne Welt ihre Augen abwendet; sie hat Angst. Sie möchte ihr eigenes Gesicht nicht sehen, welches sich in diesen milden Augen Jesu widerspiegelt. Also verschließt sie sich. Doch wenn sie sich nicht anblicken lässt, wird sie wie Judas in der Verzweiflung enden. Dies ist der Geist unserer heutigen Glaubenskrise: Wir wollen nicht zu dem aufblicken, den wir gekreuzigt haben. Auch wir rennen in den Selbstmord. Dieses Buch ist ein Aufruf an die moderne Welt, den Blick Gottes auszuhalten und endlich weinen zu können.

Wie definieren Sie den Glauben? Was heißt glauben?

Das sind Fragen, die uns nicht mehr loslassen dürfen. Wir müssen nach dem Sinn unseres Glaubens fragen, um zu verhindern, außerhalb unserer selbst zu leben, in der Oberflächlichkeit, in der Routine, in der Gleichgültigkeit. Es gibt Wirklichkeiten, die man erfahren, aber nur schwerlich definieren kann, wie zum Beispiel die Liebe oder eine innige Beziehung zu Gott. Diese Wirklichkeiten erfassen unser ganzes Sein, packen es, verändern es und formen es von innen her um. Wollen wir trotzdem versuchen, stammelnd etwas über den Glauben zu sagen, würde ich meinen, dass für uns Christen der Glaube ein vollkommenes und absolutes Vertrauen des Menschen gegenüber einem Gott ist, dem er persönlich begegnet ist.

Manche bezeichnen sich stolz als Ungläubige, Atheisten oder Agnostiker. Ihrer Meinung nach befindet sich der menschliche Geist in vollkommener Unwissenheit über die innere Natur, über Ursprung und Ziel der Dinge. Diese Menschen sind zutiefst bemitleidenswert. Sie gleichen gewaltigen Flüssen, die keine Quelle haben, welche sie speist. Sie gleichen Bäumen, die zum Sterben verurteilt sind, weil man ihnen erbarmungslos die Wurzeln abgehauen hat. Früher oder später vertrocknen sie und gehen ein. Wer keinen Glauben hat, gleicht einem Menschen, der weder Vater noch Mutter hat, die ihn hervorbrachten und ihm helfen, seinen Blick auf das Geheimnis seiner Person zu verstehen. Der Glaube ist eine wahre Mutter. In den Märtyrerakten fragt der römische Präfekt Rustikus den Christen Hieran: »Wo sind deine Eltern?« Dieser antwortet: »Unser wahrer Vater ist Christus und unsere Mutter ist der Glaube an ihn.«1 Nicht an Gott zu glauben, ist ebenso tragisch, wie keine Mutter zu haben.

Eigentlich ist es schön, wenn sich viele Männer und Frauen gläubig nennen. Viele Völker räumen dem Glauben an ein transzendentes Wesen einen wesentlichen Stellenwert ein. Einige von ihnen stellen ihre Götter unter der Gestalt von mehr oder weniger personifizierten Mächten dar, welche die Menschen beherrschen. Diese Götter flößen Furcht, Scheu, Angst und Schrecken ein; und daraus entsteht die Versuchung zu Magie und Götzendienst. Wir können uns vorstellen, dass sie blutige Opfer fordern, um ihre Gunst zu erlangen oder ihren Zorn zu besänftigen.

In der Geschichte der Menschheit kennen wir einen Mann, der eine vollkommene Umkehr vollzogen hat: Es war Abraham, der die ganz persönliche Beziehung zu dem einen Gott entdeckte. Diese Beziehung gründete in einem rückhaltlosen Vertrauen auf das Wort Gottes. Abraham hört ein Wort, einen Ruf, und gehorcht sofort. Auf radikale, eindringliche Weise wird ihm geboten, sein Land zu verlassen, seine Verwandtschaft und sein Vaterhaus, und »in das Land [zu gehen], das ich dir zeigen werde« (Gen 12,1).

Der Glaube ist also ein »Ja« zu Gott. Er verlangt vom Menschen, seine Götzen, seine Kultur, all seine Sicherheiten und den irdischen Besitz zu verlassen, um in das Land, die Kultur und das Erbe Gottes zu gehen. Glauben bedeutet, sich von Gott führen zu lassen. Darin besteht unser einziger Reichtum, unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Der Glaube ist unsere Kraft, unser Halt, unsere Sicherheit, unser unerschütterlicher Grund, auf den wir uns stützen können. Wir leben den Glauben, wenn wir unser Haus auf jenen Felsen bauen, welcher Gott ist (vgl. Mt 7,24). Er sagt zu uns Menschen: »Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht« (Jes 7,9).

Der Glaube Abrahams macht eine Entwicklung durch, er kräftigt sich und verwurzelt sich in einem persönlichen, unzerstörbaren Bund mit seinem Gott. Der Glaube fordert und fördert die Treue, welche die unerschütterliche Bereitschaft bedeutet, uns an Gott allein zu binden. Unter Treue verstehen wir zuerst die Treue Gottes, der stets Seine Versprechungen hält und jene, die Ihn suchen, niemals verlässt (vgl. Ps 9,11): »Ich schließe mit ihnen einen ewigen Bund, dass ich mich nicht von ihnen abwenden werde, sondern ihnen Gutes erweise. Ich lege ihnen die Furcht vor mir ins Herz, damit sie nicht von mir weichen« (Jer 32,40; vgl. auch Jes 55,3 und Jes 61,8).

Der Glaube steckt an. Tut er es nicht, dann hat er seinen Geschmack verloren. Der Glaube ist wie die Sonne: Er scheint, strahlt, erleuchtet und erwärmt alles um sich herum. Kraft seines Glaubens führt Abraham seine ganze Familie und Nachkommenschaft in eine persönliche Beziehung mit Gott. Gewiss ist der Glaube ein sehr persönlicher und intimer Akt, doch muss er auch in der Familie, in der Kirche und ihrer Gemeinschaft bekannt gemacht und gelebt werden. Mein Glaube ist der Glaube der Kirche. Daher nennt sich Gott selbst den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (vgl. Ex 3,6), den Gott der Väter des Volkes Israel.

Der Glaube ist in der Tat eine starke Verbindung zwischen Gott und Seinem Volk Israel. In allem macht Gott den ersten Schritt. Doch der Mensch muss auf diese göttliche Initiative reagieren. Der Glaube versteht sich als Antwort der Liebe auf einen Anstoß zur Liebe und zum Bündnis in der Liebe.

Der Glaube wächst in einem intensiven Gebetsleben und in der kontemplativen Stille. Er wird genährt und gefestigt in der täglichen Zwiesprache mit Gott, in einer anbetenden, betrachtenden und schweigenden Haltung. Wir bekennen ihn im Credo, welches wir in der heiligen Messe sprechen, und beweisen ihn in der Befolgung der Gebote. Der Glaube wächst durch ein Leben der Innerlichkeit, der Anbetung und des Gebets. Er lebt aus der Liturgie, aus der katholischen Lehre und aus dem Reichtum der Traditionen. Seine wesentlichen Quellen sind die Heilige Schrift, die Kirchenväter und das Lehramt.

Wenn es auch schwierig und mühsam ist, Gott zu erkennen und eine persönliche, intime Beziehung mit Ihm einzugehen, können wir Ihn doch durch Sein Wort und die Sakramente wahrhaft sehen, Ihn hören, Ihn berühren und Ihn betrachten. Durch die aufrichtige Zuwendung zur Wahrheit und zur Schönheit der Schöpfung, aber auch durch unsere Fähigkeit, den Sinn des sittlich Guten wahrzunehmen, also durch das Lauschen auf die Stimme unseres Gewissens – denn wir tragen dieses Verlangen, diese Sehnsucht nach einem ewigen Leben in uns –, schaffen wir eine gute Voraussetzung, um mit Gott in Berührung zu kommen. Der heilige Augustinus sagte: »Befrage die Schönheit der Erde, befrage die Schönheit des Meeres, befrage die Schönheit der Lüfte, die ausströmen und sich verbreiten, befrage die Schönheit des Himmels, […] befrage diese, sie werden dir alle antworten: ›Schau her, wir sind schön!‹ Ihre Schönheit ist ihr Bekenntnis. Wer hat diese vergänglichen Schönheiten gemacht, wenn nicht der, welcher unveränderlich schön ist?«2

In den Augen vieler Zeitgenossen ist der Glaube ein Licht, welches für frühere Gesellschaften ausreichte. Doch in den heutigen Tagen, in Zeiten von Wissenschaft und Technologie, sei er nurmehr eine trügerische Funzel, die den Menschen daran hindere, sein Wissensspektrum furchtlos zu erweitern. Ja, er sei sogar ein Hemmnis für die Freiheit, denn er halte den Menschen in Unwissenheit und Angst gefangen.

Papst Franziskus findet auf diese aktuelle Mentalität in seiner Enzyklika Lumen Fidei eine eindrucksvolle Antwort: »Das Licht des Glaubens besitzt nämlich eine ganz besondere Eigenart, da es fähig ist, das gesamte Sein des Menschen zu erleuchten. Um so stark zu sein, kann ein Licht nicht von uns selber ausgehen, es muss aus einer ursprünglicheren Quelle kommen, es muss letztlich von Gott kommen. Der Glaube keimt in der Begegnung mit dem lebendigen Gott auf, der uns ruft und uns seine Liebe offenbart, eine Liebe, die uns zuvorkommt und auf die wir uns stützen können, um gefestigt zu sein und unser Leben aufzubauen. Von dieser Liebe verwandelt, empfangen wir neue Augen, erfahren wir, dass in ihr eine große Verheißung von Fülle liegt, und es öffnet sich uns der Blick in die Zukunft. Der Glaube, den wir von Gott als eine übernatürliche Gabe empfangen, erscheint als Licht auf dem Pfad, das uns den Weg weist in der Zeit. […] Wir begreifen also, dass der Glaube nicht im Dunkeln wohnt; dass er ein Licht für unsere Finsternis ist.«3 Ein Mensch, der keinen Zugang zum Licht des Glaubens hat, gleicht einem Waisen oder – wie wir schon früher erwähnten – einem Menschen, der seinen Vater und seine Mutter nie gekannt hat. Wie traurig und unmenschlich ist es, weder Vater noch Mutter zu haben! Für die ersten Christen »war der Glaube als Begegnung mit dem in Christus geoffenbarten lebendigen Gott eine ›Mutter‹, denn er gebar sie, zeugte in ihnen das göttliche Leben, bewirkte eine neue Erfahrung, eine lichtvolle Sicht des Lebens, wofür man bereit war, öffentlich Zeugnis zu geben bis zum Äußersten.«4

Wir müssen mit Nachruck daran festhalten, dass Glaube ohne Umkehr unmöglich ist. Er verlangt, dass wir uns von unserem sündigen Leben, unseren Götzen und unseren selbst gemachten »Goldenen Kälbern« lossagen, um uns wieder dem lebendigen und wahren Gott zuzuwenden in einer Begegnung, die uns vollkommen verändert und umwandelt. Die Begegnung mit Gott ist furchterregend und versöhnlich zugleich. »Glauben bedeutet, sich einer barmherzigen Liebe anzuvertrauen, die stets annimmt und vergibt, die das Leben trägt und ihm Richtung verleiht und die sich mächtig erweist in ihrer Fähigkeit zurechtzurücken, was in unserer Geschichte verdreht ist. Der Glaube besteht in der Bereitschaft, sich immer neu vom Ruf Gottes verwandeln zu lassen.«5 Dieser Gott fordert uns beständig auf: »Kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, Weinen und Klagen! Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider, und kehrt um zum Herrn, eurem Gott! Denn er ist gnädig und barmherzig« (Joël 2,12–13). Doch unsere Umkehr zum Herrn, unsere echte Bekehrung durch eine Antwort der Liebe hin zu einem neuen Bund mit Ihm, muss in der Wahrheit geschehen. Sie muss Fleisch annehmen und kann sich nicht nur in der Theorie oder durch theologische und kanonische Feinheiten vollziehen. Hierin unterscheiden wir uns gar nicht so sehr vom Volk des Ersten Bundes. Nachdem Israel immer wieder von Gottes Hand für seine Untreue und seinen Bündnisbruch bestraft worden war, meinte es, die Rückkehr zur Gnade und Erlösung durch eine flüchtige Buße ohne tiefe Reue finden zu können. Energisch lehnten die Propheten oberflächliche, sentimentale Bußübungen ab, wie die Israeliten sie vollzogen: ohne wahre Abkehr von der Sünde, von dem sündigen Zustand und den Götzen, welche ihre Herzen in Beschlag genommen hatten. Nur eine Reue, die aus tiefstem Herzen kommt, kann die Verzeihung und das Erbarmen Gottes erlangen.

Außerdem ist der Glaube vor allem eine kirchliche Kategorie. Gott selbst schenkt uns den Glauben durch unsere heilige Mutter, die Kirche. »Der Glaubensakt des Einzelnen gliedert sich in eine Gemeinschaft ein, in das gemeinsame Wir des Volkes. […] Das Licht des Glaubens ist ein inkarniertes Licht, das von dem leuchtenden Leben Jesu ausgeht. […] Das Licht Jesu erstrahlt wie in einem Spiegel auf dem Antlitz der Christen, und so verbreitet es sich, so gelangt es bis zu uns, damit auch wir an diesem Schauen teilhaben können und anderen sein Licht widerspiegeln, wie bei der Osterliturgie das Licht der Osterkerze viele andere Kerzen entzündet. Der Glaube wird sozusagen in der Form des Kontakts von Person zu Person weitergegeben, wie eine Flamme sich an einer anderen entzündet. Die Christen säen in ihrer Armut einen so fruchtbaren Samen, dass er ein großer Baum wird und die Welt mit Früchten zu erfüllen vermag.«6

Es ist unmöglich, alleine zu glauben, wie es auch unmöglich ist, aus sich selbst geboren zu werden oder sich selbst zu zeugen. Der Glaube ist mehr als eine persönliche Entscheidung, die der Gläubige in seinem Inneren fasst; er ist keine isolierte Beziehung zwischen dem glaubenden Ich und dem göttlichen Du, zwischen einem autonomen Subjekt und Gott. Manche würden heute den Glauben gern auf eine subjektive, private Erfahrung reduzieren. Doch der Glaube geschieht immer in der Gemeinschaft der Kirche, denn dort offenbart sich Gott in Fülle, dort lässt sich erfahren, wie Er in Wahrheit ist.

In einem Gespräch mit den Priestern zum Abschluss des Priesterjahres sagte Benedikt XVI. am 10. Juni 2010: »Es gibt keine Mehrheit gegen die Mehrheit der Heiligen: Die wahre Mehrheit sind die Heiligen in der Kirche und an den Heiligen müssen wir uns orientieren!« Worin findet dieser Vorrang der Heiligkeit heute einen besonderen Widerhall?

Einige wünschen, dass die Kirche sich nach dem Vorbild der modernen Demokratien verändere. Man möchte die Herrschaft der Wahlurne anvertrauen. Doch damit würden wir die Kirche, die von Gott gegründete Familie, zu einem menschlichen Verein degradieren.

In der Geschichte der Kirche hat stets der »kleine Rest« den Glauben bewahrt. Die wenigen Gläubigen, die Gott und Seinem Bund treu blieben, sind der Stumpf, der immer wieder aufblüht, um den Baum weiterleben zu lassen. Wie hilflos sie auch sein mag – eine kleine Herde wird immer übrig bleiben, als Mahnung für die Christen und die Welt. Die Heiligen haben Gott gefunden, sie haben das Wesentliche erfasst, sie sind der Grundpfeiler der Menschheit. Die Erde wird neu geboren und erneuert durch die Heiligen und ihre unerschütterliche Verbundenheit mit Gott und all jenen, die sie zum ewigen Heil führen wollen.

Keine menschliche Initiative – und sei sie noch so reich an Talenten und Großherzigkeit – kann eine Seele verwandeln und ihr das Leben Christi schenken. Allein die Gnade und das Kreuz Christi können die Seelen retten und heiligen und die Kirche wachsen lassen. Wenn wir die menschlichen Anstrengungen steigern und meinen, die Methoden und Strategien würden aus sich heraus wirken, dann werden wir nur Zeit verlieren. Allein Christus kann den Seelen Sein Leben geben; Er gibt es in dem Maß, in dem Er selbst in uns wohnt und uns an sich gezogen hat. So ist es bei den Heiligen; ihr ganzes Leben, all ihr Tun und Wollen ist beseelt von Jesus. Das Ausmaß der Bekehrung, welche durch einen Apostel gewirkt wird, hängt einzig von seiner Heiligkeit und der Intensität seines Gebetslebens ab.

Täglich sehen wir, wie eine unglaubliche Menge an Arbeit, Zeit und Mühen voller Eifer, doch ohne jegliche Wirkung verschwendet wird. Die Kirchengeschichte zeigt, dass ein einziger Heiliger genügt, um Tausende von Seelen zu bekehren. Betrachten wir zum Beispiel den Pfarrer von Ars. Er war schlichtweg heilig, verbrachte viele Stunden vor dem Tabernakel und hat auf diese Weise Scharen von Menschen aus der ganzen Welt in ein kleines, unbekanntes Dorf gezogen. Die heilige Thérèse vom Kinde Jesu, die nach wenigen Jahren in einem Karmel auf dem Land an Tuberkulose starb, hat nichts anderes getan, als einfach fromm zu leben und allein Jesus zu lieben; aber sie hat Tausende von Seelen berührt. Die Hauptbeschäftigung aller Jünger Jesu muss die Heiligung sein. Das Gebet, die stille Kontemplation und die Eucharistie müssen die erste Stelle in ihrem Leben einnehmen; ohne sie ist alles andere nur eitles Treiben. Die Heiligen sind bestrebt, die Sünder zur Wahrheit Christi zu führen, die sie lieben und in der sie leben. Sie können diese Wahrheit nicht verschweigen oder auch nur das kleinste Wohlgefallen an Sünden und Fehlern bezeugen. Die Liebe zu den Sündern und Verirrten verlangt von uns, dass wir unbarmherzig gegen ihre Sünden und Irrtümer kämpfen.

Heilige sind den Augen ihrer Zeit oft verborgen. Wie viele Heilige in den Klöstern werden von der Welt nie erkannt!

Ich bedauere, dass viele Bischöfe und Priester ihre Hauptaufgabe vernachlässigen, nämlich ihre eigene Heiligung und die Verkündigung des Evangeliums Jesu. Stattdessen engagieren sie sich für sozialpolitische Fragen wie Umwelt, Migration oder Obdachlose. Sich an diesen Diskussionen zu beteiligen, mag löblich sein. Wenn sie dabei jedoch die Evangelisierung und ihre eigene Heiligung vergessen, ist ihr Tun umsonst. Die Kirche ist keine Demokratie, in der die Mehrheit die Richtung vorgeben darf. Die Kirche ist ein Volk von Heiligen. Im Alten Testament erneuert ein kleines, stets verfolgtes Volk den Bund mit Gott immer wieder durch die Heiligkeit seines alltäglichen Lebens. In der Urkirche nannten die Christen sich »Heilige«, weil ihr ganzes Leben von der Gegenwart Christi und vom Licht Seines Evangeliums durchdrungen war. Sie waren in der Minderheit, doch sie haben die Welt verändert. Christus hat Seinen Anhängern nie versprochen, dass sie in der Mehrzahl sein werden.

Trotz all ihrer missionarischen Bemühungen hat die Kirche die Welt nie beherrscht.

Denn die Mission der Kirche besteht in der Liebe und die Liebe beherrscht nicht. Die Liebe ist da, um zu dienen und zu sterben, damit die Menschen das Leben haben und es in Fülle haben. Johannes Paul II. hatte also Recht, als er sagte, dass wir noch ganz am Anfang der Evangelisation stehen.

Die Stärke eines Christen entspringt seiner Beziehung zu Gott. Er muss die Heiligkeit Gottes in sich Fleisch werden lassen und die Waffen des Lichts anlegen (vgl. Röm 13,12), die »Hüften umgürtet mit Wahrheit, angetan mit dem Brustpanzer der Gerechtigkeit, die Füße beschuht mit der Bereitschaft für das Evangelium des Friedens. Vor allem greift zum Schild des Glaubens!« (Eph 6,14–16). Dieser Harnisch rüstet uns für den großen Kampf der Heiligen, der das Gebet ist. Über diese Schlacht schreibt der heilige Paulus an die Römer: »Ich bitte euch aber, Brüder und Schwestern, bei unserem Herrn Jesus Christus und bei der Liebe des Geistes: Kämpft mit mir in den Gebeten für mich vor Gott!« (Röm 15,30). Weiter schreibt Paulus an die Kolosser: »Es grüßt euch Epaphras, der Knecht Christi Jesu, einer von euch. Immer kämpft er für euch im Gebet, dass ihr vollkommen werdet und ganz durchdrungen seid vom Willen Gottes« (Kol 4,12).

Das Buch Genesis berichtet von einer geheimnisvollen Begebenheit: dem Kampf zwischen Jakob und Gott. Wir sind beeindruckt vom Mut Jakobs, mit Gott zu streiten. Das Ringen dauert die ganze Nacht. Zunächst scheint Jakob zu siegen, doch sein wundersamer Gegner schlägt ihm auf das Hüftgelenk, welches sich ausrenkt, während er mit Ihm die Auseinandersetzung führt. Jakob wird die Verletzung dieses nächtlichen Streits für immer mit sich tragen; seitdem geht auf seinen Namen die Bezeichnung des Gottesvolkes zurück: »Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel – Gottesstreiter –; denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und gesiegt« (Gen 32,29). Ohne zu offenbaren, wie er selbst heißt, segnet Gott Jakob und schenkt ihm einen neuen Namen. Diese Episode wurde zum Sinnbild für den geistigen Kampf und die Wirkkraft des Gebets. Nachts, in Stille und Einsamkeit, kämpfen wir im Gebet mit Gott.

Heilige sind Menschen, die jede Nacht bis zum Morgengrauen mit Gott ringen. Dieser Kampf lässt uns wachsen und die wahre Größe als Mensch und Kind Gottes erreichen, denn unser Herr Jesus Christus hat »uns erwählt vor der Grundlegung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor ihm« (Eph 1,4).

Gott hat uns berufen, Ihn anzubeten. Doch der Mensch will nicht niederknien. Anbetung bedeutet, in Demut und Liebe vor Gott zu treten. Es geht nicht um eine rein gewohnheitsmäßige Handlung, sondern um eine Geste der Anerkennung der göttlichen Majestät. Sie drückt eine kindliche Dankbarkeit aus. Wir dürfen keine Gegenleistung erwarten. Bedeutsam ist, dass wir uns vorbehaltlos hingeben.

Für Joseph Ratzinger, den späteren Benedikt XVI., bestand die Krise der Kirche vor allem in der Glaubenskrise.

In einer Ansprache vor den Mitgliedern der Kurie am 22. Dezember 2011 kam Benedikt XVI. zu folgendem Schluss: »Der Kern der Krise der Kirche in Europa ist die Krise des Glaubens. Wenn wir auf sie keine Antwort finden, […] dann bleiben alle anderen Reformen wirkungslos.« Wenn er von einer »Krise des Glaubens« spricht, müssen wir richtig verstehen, dass es sich nicht in erster Linie um ein intellektuelles oder theologisches Problem im akademischen Sinn handelt. Es geht um einen »lebendigen Glauben«, einen Glauben, der das Leben durchdringt und verändert. Weiter sagte Benedikt XVI. an jenem Tag: »Wenn Glaube nicht neu lebendig wird, tiefe Überzeugung und reale Kraft von der Begegnung mit Jesus Christus her, dann bleiben alle anderen Reformen wirkungslos.« Dieser Verlust des Gespürs für den Glauben ist die eigentliche Wurzel der Krise unserer Gesellschaft. Wie damals in den ersten Jahrhunderten der Christenheit, als das Römische Reich zusammenbrach, scheinen die menschlichen Institutionen sich auch heute auf dem Weg in den Abgrund zu befinden. Die zwischenmenschlichen Beziehungen – seien sie politischer, sozialer, ökonomischer oder kultureller Art – werden schwierig. Wir haben das Fundament der gesamten menschlichen Zivilisation untergraben und der totalitären Barbarei die Tore geöffnet, indem wir den Sinn für Gott verloren haben.

Um was es geht, erklärte Benedikt XVI. wunderbar in seiner Generalaudienz am 14. November 2012: »Der von Gott getrennte Mensch [ist] auf eine einzige Dimension – die horizontale – reduziert und eben dieser Reduktionismus ist eine der wesentlichen Ursachen für die Totalitarismen, die im letzten Jahrhundert tragische Folgen hatten, ebenso wie für die Wertekrise, die wir in der gegenwärtigen Wirklichkeit erfahren. Durch die Verdunkelung des Gottesbezuges hat sich auch der ethische Horizont verdunkelt, um dem Relativismus und einem zweifelhaften Freiheitsverständnis Raum zu geben, das nicht befreiend ist, sondern den Menschen am Ende vielmehr an Götzen bindet. Die Versuchungen, denen Jesus in der Wüste vor seinem öffentlichen Wirken ausgesetzt war, zeigen jene ›Götzen‹ auf, die den Menschen anziehen, wenn er nicht über sich selbst hinausgeht. Wenn Gott die zentrale Stellung verliert, dann verliert der Mensch den ihm zukommenden Ort, findet er nicht mehr seinen Platz in der Schöpfung, in den Beziehungen zu den anderen.«

Ich möchte diesen Gedanken unterstreichen: Gott die Möglichkeit zu verweigern, in alle Bereiche des menschlichen Lebens einzudringen, verbannt den Menschen letztlich in die Einsamkeit. Was bleibt, ist ein isoliertes Individuum, ohne Ursprung, ohne Ziel. Es ist dazu verdammt, wie ein wilder Nomade in der Welt umherzuirren, ohne zu wissen, dass er Sohn und Erbe eines Vaters ist, der ihn aus Liebe erschaffen hat und ihn beruft, an Seinem ewigen Glück Anteil zu haben. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, Gott beschränke unsere Freiheit oder beraube uns ihrer womöglich ganz. Im Gegenteil: Gott kommt, um uns aus der Vereinzelung zu befreien und unserer Freiheit einen Sinn zu geben. Der moderne Mensch hat sich zum Gefangenen einer Vernunft gemacht, die in einem solchen Ausmaß autonom ist, dass sie zu Isolation und Autismus führt. »In der Offenbarung Gottes [geht] es gerade darum, dass er, der Lebendige und Wahre, in unsere Welt einbricht und so auch den Kerker unserer Theorien aufbricht, mit deren Gitterstäben wir uns selbst gegen dieses Kommen Gottes in unser Leben absichern wollten. […] Die Not der Philosophie, das heißt die Not, in die sich die positivistisch fixierte Vernunft hineinmanövriert hat, ist zur Not unseres Glaubens geworden. Er kann nicht frei werden, wenn die Vernunft selbst sich nicht neu öffnet. Wenn die Tür zu metaphysischer Erkenntnis verschlossen bleibt, wenn die von Kant fixierten Grenzen menschlichen Erkennens unüberschreitbar sind, dann muss der Glaube verkümmern: Es fehlt ihm einfach die Atemluft«,7 schrieb Joseph Ratzinger in dem Aufsatz Zur Lage von Glaube und Theologie heute.

Der Niedergang unserer Zivilisation geht weit zurück. Er erreichte einen kritischen Punkt am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Auseinandersetzung der Kirche mit der Moderne hat im Westen bei vielen Priestern und Christen Leiden und Zweifel hervorgerufen. Bei seiner Rede auf dem Katholikentag 1966 in Bamberg sprach Joseph Ratzinger sehr klare Worte. Um die Situation der Kirche in der heutigen Zeit darzustellen, führte er als Metapher die neugotische Kathedrale von New York an, die von Stahlriesen und Wolkenkratzern überragt ist. Früher waren die Kirchturmspitzen höher als alle Häuser der Stadt und erinnerten an den Ewigen; heute aber ist das heilige Gebäude umstellt von mächtigeren Bauwerken und wirkt in seiner Umgebung wie verloren. Die anbrechende Moderne verachtete die Kirche, die Intellektuellen verstanden die Lehre nicht mehr; es entstand der Eindruck eines unausräumbaren Missverständnisses. Dies führte – besonders in den Jugendbewegungen – zu dem Wunsch, sich von gewissen alten, überholten Details zu verabschieden. Für viele wurde das Herzstück des christlichen Lebens unverständlich, denn sie schauten nur noch auf diese nebensächlichen Kleinigkeiten. Als Beispiel führte Joseph Ratzinger den altmodischen Stil einiger vorkonziliarer Traktate an, die Äußerlichkeit der Römischen Kurie und die übertriebene Zurschaustellung von Prunk und Pracht in den barocken Pontifikalämtern. Es galt, die Ursachen dieser Missverständnisse und der unnötigen Skandale auszuräumen. Der Kern des Evangeliums musste in einer Sprache zum Ausdruck kommen, welche die modernen Menschen verstehen konnten.

Die pastorale Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudium et Spes über die Kirche in der Welt von heute wollte das Erbe abstauben, um es stärker zur Geltung kommen zu lassen. Als es jedoch darum ging, die Beziehung der Kirche zur Welt von heute in anderen Worten auszudrücken, merkte man, dass die Probleme weit über das bloße Streichen veralteter Ausdrucksweisen hinausgingen. Es ist legitim, neue Formen der Evangelisation zu suchen, welche die moderne Welt aufnehmen und begreifen kann, aber es ist naiv und überflüssig, die Kirche um jeden Preis mit der Welt in Einklang bringen zu wollen. Schlimmer: Es ist ein Anzeichen theologischer Blindheit. Joseph Ratzinger erklärte in seiner Ansprache vor der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang im Dezember 2005: »Auch in unserer Zeit bleibt die Kirche ein ›Zeichen, dem widersprochen wird‹ (Lk 2,34) – diesen Titel hatte Papst Johannes Paul II. nicht ohne Grund noch als Kardinal den Exerzitien gegeben, die er 1976 für Papst Paul VI. und die Römische Kurie hielt. Es konnte nicht die Absicht des Konzils sein, diesen Widerspruch des Evangeliums gegen die Gefahren und Irrtümer des Menschen aufzuheben. Zweifellos wollte es dagegen Gegensätze beseitigen, die auf Irrtümern beruhten oder überflüssig waren, um unserer Welt den Anspruch des Evangeliums in seiner ganzen Größe und Klarheit zu zeigen. Der Schritt, den das Konzil getan hat, um auf die Moderne zuzugehen, und der sehr unzulänglich als ›Öffnung gegenüber der Welt‹ bezeichnet wurde, gehört letztendlich zum nie endenden Problem des Verhältnisses von Glauben und Vernunft, das immer wieder neue Formen annimmt.«

In der Tat bemühten einige den Begriff der Menschwerdung, um zu behaupten, dass Gott der Welt entgegengekommen sei und sie geheiligt habe. Folglich musste die Kirche nach ihrer Auffassung mit der Welt versöhnt werden. Naiv glaubten sie, Christsein bestünde darin, fröhlich in die Welt einzutauchen. Im Gegensatz zu diesem pubertären Irenismus verwies Joseph Ratzinger darauf, dass die Inkarnation im Neuen Testament nur im Licht der Passion und der Auferstehung verstanden werden kann. In den Predigten der Apostel nimmt die Verkündigung der Auferstehung, die untrennbar mit dem Kreuz verbunden ist, eine zentrale Stellung ein. In seiner Rede auf dem Katholikentag in Bamberg erklärte Joseph Ratzinger: »Eines aber kann auf jeden Fall gesagt werden: Eine Weltzuwendung der Kirche, die ihre Abwendung vom Kreuz darstellen würde, könnte nicht zu einer Erneuerung der Kirche, sondern nur zu ihrem Ende führen. Der Sinn der Weltzuwendung der Kirche kann nicht sein, den Skandal des Kreuzes aufzuheben, sondern allein der, ihn in seiner ganzen Blöße wieder zugänglich zu machen, indem alle sekundären Skandale weggeräumt werden, die sich dazwischengeschaltet haben und leider oft genug die Torheit der Liebe Gottes mit der Torheit der Eigenliebe der Menschen verdecken und so feindlich einen falschen Anstoß geben, der sich zu Unrecht hinter dem Anstoß des Meisters verschanzt. Anders ausgedrückt: Der christliche Glaube ist für den Menschen aller Zeiten ein Skandal. Dass der ewige Gott sich um uns Menschen annimmt und uns kennt, dass der Unsterbliche am Kreuz gelitten hat, dass uns Sterblichen Auferstehung und Ewiges Leben verheißen ist: das zu glauben, ist für den Menschen eine aufregende Zumutung. Diesen christlichen Skandal hat das Konzil nicht aufheben können und wollen. Aber wir müssen hinzufügen: Dieser primäre Skandal, der unaufhebbar ist, wenn man nicht das Christentum aufheben will, ist in der Geschichte oft genug überdeckt worden von dem sekundären Skandal der Verkündiger des Glaubens, der durchaus nicht wesentlich ist für das Christentum, aber sich allzu gerne mit dem Glaubensskandal verwechseln lässt und sich in der Pose des Martyriums gefällt, wo man in Wahrheit nur das Opfer der eigenen Engstirnigkeit ist.«8

Ich halte an diesem zentralen Punkt fest: Jesus Christus ist durch Sein Kreuz die einzige Quelle des Heils und der Gnade. Durch das Opfer Seines Todes, im Sieg über die Sünde, schenkt Er uns das übernatürliche Leben, das Leben der Freundschaft mit Ihm, das zum ewigen Leben führt. Um in Jesus Christus das uns geschenkte göttliche Leben zu finden, gibt es keinen anderen Weg als das Kreuz, welches die Kirche »spes unica – die einzige Hoffnung« nennt. Über dieses Kreuz sagt der heilige Paulus: »Ich aber will mich allein des Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn, rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt« (Gal 6,14). Paulus spricht unverblümt: In seiner Lehre kenne er nichts »außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten« (1 Kor 2,2). Um den Ungehorsam und den Stolz Adams wiedergutzumachen, musste Jesus sich aus Liebe erniedrigen und wurde »gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen« (Phil 2,8–9). In diesem für die Christenheit grundlegenden Satz erklärt der heilige Paulus, dass Gottes Sieg aus dem Kreuz hervorgeht. Die menschliche Natur ist durch die Sünde unserer Stammeltern verletzt, weil diese sich dem göttlichen Leben aus Selbstgefälligkeit verweigert hatten; doch durch das Kreuz wird unsere Natur wiederhergestellt. Christus hat unsere Natur angenommen und so wurde sie zum Werkzeug des Opfers, der vollkommenen Hingabe durch die Annahme des Todes im Gehorsam der Liebe.

Deshalb kann die Orientierung der Kirche hin zur Welt nicht Abwendung vom Kreuz bedeuten, nicht Preisgabe des Skandals, welches im Sühneleiden Christi besteht. Unentwegt versucht die Kirche, sich zu reformieren, das heißt, alle Skandale in ihrem Inneren aufzudecken, die sündige Menschen begangen haben. Doch sie tut es, um den Wert des ersten und unersetzlichen Skandals des Kreuzes noch mehr hervorzuheben, den Skandal eines Gottes, der aus Liebe zu den Menschen bis ans Kreuz geht. Wie können uns die unerhörten Ärgernisse, welche heute von Männern der Kirche vollzogen werden, unberührt lassen? Sie verletzen nicht nur die Herzen der Kleinen, sondern – was noch schlimmer ist – sie verhüllen das glorreiche Kreuz Christi mit einem schwarzen Schleier. Die Sünden der Christen verwehren unseren Zeitgenossen die Konfrontation mit dem Kreuz. Wir haben tatsächlich eine echte Reform in der Kirche nötig, die das Kreuz wieder in den Mittelpunkt stellt! Wir dürfen die Kirche nicht den Maßstäben der Welt anpassen. Wir müssen sie reinigen, damit sie der Welt das Kreuz in seiner ganzen Blöße vor Augen führen kann.

Meinen Sie, dass der Verlust des Sinnes für Gott mit dem Verlust der Einsicht in die Notwendigkeit der Anbetung sowie der Ehrfurcht vor dem göttlichen Absoluten verknüpft sind?

Der Verlust des Sinnes für Gott bildet das Fundament aller Krisen. Die Anbetung ist ein Akt der Liebe, der respektvollen Verehrung, der kindlichen Hingabe und der Demut vor der erschreckenden Majestät und Heiligkeit Gottes. Wie Jesaja steht der Mensch vor dieser gewaltigen Gegenwart, vor der die Seraphim einander zurufen: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen. Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit« (Jes 6,3). Mit dem Propheten sprechen wir: »Weh mir, denn ich bin verloren. Denn ein Mann unreiner Lippen bin ich und […] den Herrn der Heerscharen haben meine Augen gesehen« (Jes 6,5).

Jesaja fällt vor Gott auf die Knie und verneigt sich, um Ihn anzubeten und um Reinigung von seinen Sünden zu bitten. Denn es stellt sich tatsächlich die Frage: Wie können wir uns verbeugen und anbeten, wenn wir voller Sünde sind? Wie können wir vor der Heiligkeit Gottes bestehen, wenn wir an unserer Sünde festhalten? Die Anbetung ist das sicherste Kennzeichen der Würde des Menschen. Sie ist Dankbarkeit für die wohlwollende Nähe Gottes und menschlicher Ausdruck der überwältigenden Beziehung zwischen Mensch und Gott. Der Mensch wirft sich auf den Boden, er wird geradezu niedergeschmettert durch die gewaltige Liebe, welche Gott ihm entgegenbringt. Anbeten heißt, sich von der göttlichen Liebe verzehren lassen. Vor der Liebe begibt man sich immer auf die Knie. Allein der Vater kann uns die rechte Weise der Anbetung und die rechte Haltung der Liebe lehren.

Wir begreifen nun auch, dass die Liturgie ein von Gott inspirierter, menschlicher Akt ist, unsere Antwort auf Gott, der uns liebt und uns mit großem Wohlwollen entgegentritt.

Doch es fehlen die Anbeter. Damit das Volk Gottes anbetet, müssen es zuerst die Priester und Bischöfe tun. Sie sind dazu berufen, unaufhörlich vor Gott zu stehen. Ihr ganzes Leben ist dazu bestimmt, ein immerwährendes und beharrliches Gebet, eine andauernde Liturgie zu werden. Sie führen die Gemeinschaft der Gläubigen an. Die Anbetung ist ein persönlicher Akt, ein Gespräch mit Gott von Herz zu Herz, welches wir erlernen müssen. Erinnern wir uns an Mose, der die Israeliten lehrte, ein anbetendes Volk zu werden und im Geist der Kindschaft vor Gott zu stehen. Gott selbst setzte Aaron als Priester ein, damit er und seine Nachkommen das Priesteramt Gottes ausführen. Die Juden wissen, dass sie in der Paschafeier stets den Auszug aus Ägypten in Erinnerung behalten müssen, das große Zeichen der Liebe Gottes zu Seinem Volk Israel.

Nicht selten kommt es vor, dass Bischöfe und Priester die Anbetung vernachlässigen, weil sie ganz um sich selbst und ihre Aufgaben kreisen, weil der menschliche Erfolg ihres Amtes sie völlig in Anspruch nimmt. Sie finden keine Zeit für Gott, weil sie das Gespür für Ihn verloren haben. Er hat keinen Platz mehr in ihrem Leben. Der Primat Gottes meint jedoch, dass Gott den Mittelpunkt in unserem Leben, unseren Handlungen und Gedanken einnimmt. Wenn der Mensch Gott vergisst, verherrlicht er am Ende sich selbst. Er wird sein eigener Gott und lehnt sich offen gegen Gott auf. Er verhält sich, als wäre die Welt sein Eigentum, ein ihm vorbehaltenes Reich. Gott hat mit der Schöpfung nichts mehr zu tun; sie ist zu menschlichem Besitz geworden, aus dem Profit geschlagen wird.

Unter dem Vorwand, das Übernatürliche »rein zu bewahren«, hindern wir Gott, in unser Leben einzutreten; wir verweigern Seine Menschwerdung. Wir sträuben uns dagegen, dass Gott durch die Heilige Schrift zu uns spricht, und wollen sie daher ihres Sinngehaltes entleeren. Unter dem Vorwand, Seine Transzendenz zu wahren, wehren wir uns dagegen, von der Theologie über Gott belehrt zu werden. Wir grenzen Frömmigkeit, Religiosität und das Heilige aus, unter dem Vorwand, unsere Beziehung zu Gott nicht von menschlichen Vorstellungen verzerren zu lassen. Kardinal Ratzinger schrieb in DerGeist der Liturgie