Herrgottschrofen - Marc Ritter - E-Book

Herrgottschrofen E-Book

Marc Ritter

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Kreizkruzifix, Depp, schau, dass d'weiterkommst!«, schallt es dem Hartinger entgegen, als er beim Joggen in der Nähe des Felsens Herrgottschrofen unvermutet auf eine Baustelle stößt. Hier soll ein Tunnel gebaut werden, erklärt ihm der Baggerführer. Nur dumm, dass der findige Journalist gleich einen Knochen im Baggerloch entdeckt, der ziemlich menschlich wirkt. Schon bald steht fest: Das Boandl gehört zum Skelett einer Frau, die offenbar keines natürlichen Todes starb …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

In Erinnerung an Mark van Lankeren

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage April 2012

ISBN 978-3-492-95882-0

© Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung zweier Fotos von Tommy

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Seventeen has turned thirty-five.

I’m surprised that we’re still livin’

If we’ve done any wrong

I hope that we’re forgiven

John Cougar Mellencamp, »Cherry Bomb«

Kapitel 1

Es war vielleicht doch ein bisserl viel für einen Tag.

»Verdammt, Hartinger … wenn du … dich da … mal nicht … übernimmst«, presste Karl-Heinz Hartinger zwischen vier kurzen Atemzügen hervor.

Er blickte auf seine Sportuhr, die am linken Handgelenk über der Laufjacke festgezurrt war. Er war schon knapp eine Dreiviertelstunde unterwegs. Die Route, die er sich vorgenommen hatte, führte ab diesem Teilstück von der Kreuzeckbahn hinüber zur östlichen Seite des Talkessels. Bis dorthin waren es durch die Schmölz noch einmal knapp zwei Kilometer. Acht Kilometer hatte er bereits auf dem Hinweg hinter sich gebracht. Nun also zwei rüber auf die andere Seite und dann sieben wieder zurück auf dem Kramerplateauweg. Und zu guter Letzt auch noch wieder zwei Kilometer zu seiner Dachgeschosswoh­nung in Partenkirchen. »Neunzehn … Kilometer … schaff … ich … leicht«, keuchte sich Hartinger gebetsmühlenartig vor.

Karl-Heinz Hartinger hatte diese Tour die »Große Garmisch-Partenkirchen-Runde« getauft. Er wollte diesen Frühlingstag, dessen Sonne sich bemühte, die letzten Schneereste von den Wiesen zu schmelzen, nutzen, um seine Grenzen auszutesten. Nie hätte er gedacht, dass diese Grenzen so schnell erreicht sein würden. Er war schon öfter an die volle Stunde herangelaufen. Und an diesem Tag sollte nach einer Dreiviertelstunde Schluss sein? Nein, das konnte er sich selbst nicht durchgehen lassen. Zumindest über den Fluss rüber auf die andere Seite musste er noch kommen. Dort konnte er eine Gehpassage einlegen, um dann mit erholten Beinen den Heimweg anzutreten. Außerdem gab es dort drüben auf dem Kramerplateau einen großartigen Blick über Garmisch und Partenkirchen und auf das Wettersteingebirge. Also Zähne zusammenbeißen und in Richtung Loisach.

Hartinger kannte sich am Südrand von Garmisch aus. Er war zwar in Partenkirchen geboren, hatte aber seine Adoleszenz hier im anderen Ortsteil verbracht. An den Ufern der Loisach waren sie ab dreizehn, vierzehn beinahe jedes schneefreie Wochenende am Lagerfeuer gesessen, hatten Country-Schnulzen geklampft und sich auf den dünnen Isomatten in schlechte Bundeswehrschlafsäcke gerollt. Da war erprobt und ausprobiert worden – saufen, rauchen, kiffen, auch ein bisschen Sex. Das waren oberflächlich die Hauptbeschäftigungen beim »Zelteln« gewesen. In Wirklichkeit ging es um Freundschaft und Feindschaft, ums Dazugehören und um Abgrenzung. Ums Erwachsenwerden eben.

Am Anfang, als sie noch mit den Fahrrädern und zu Fuß in den Wald und an den Fluss aufgebrochen waren, jeder mit seinem Schlafsack und so viel Augustiner-Bier und Dosen »Feuerzauber Texas« ausgestattet, wie er schleppen und konsumieren konnte, war alles harmlos gewesen. Dann kamen die Mopeds, und die Älteren hatten bald die ersten Enduros dabei. Damit ließen sich immer mehr Bier, Schnapsflaschen, aber auch Mädels in den Wald verschleppen. Aus den Lagerfeuerabenden waren Waldpartys geworden. Und als wenig später Jeeps und mit ihnen Kettensägen zum Einsatz kamen, wuchsen die Feuer zu Scheiterhaufen.

Hartinger hatte spätestens, als wieder einmal ein besonders ausgelassener Partygast eine Handvoll Zündhütchen aus Papas Waffenschrank ins Feuer geworfen und ihm ein aus dem Feuer gesprengter Funke beinahe ein Auge ausgebrannt hatte, keine Lust mehr auf die Orgien an den Loisachufern gehabt. Ein ernsthafter Unfall – sei es durch eine in den Oberschenkel eines Besoffenen schneidende Kettensäge oder eine Handvoll Munition, die ein Wahnsinniger hochgehen ließ – schien programmiert. Von all den Messern und Macheten im Party­gepäck seiner Freunde ganz zu schweigen.

Er hatte sich immer seltener dort blicken lassen. Und als der Haupttreffpunkt, eine Stelle namens »Tiefer Stein«, von einem der großen Frühjahrshochwasser der Loisach mitsamt dem riesigen Felsen einfach weggespült wurde, war es ihm so vorgekommen, als hätte die Natur das wilde Treiben nicht länger dulden wollen und den Partyraum kurzerhand abge­rissen.

Mit diesem »Tiefen Stein«, der wohl Jahrtausende an der Stelle im Fluss gelegen haben mochte, war seine Jugend weggespült worden. Kurze Zeit später hatte er dann den Ort wegen der Sache mit dem Kaplan verlassen müssen.

Diese Gedanken an die längst vergangenen Zeiten hatten ihn für ein paar Minuten die Schwere seiner Beine vergessen lassen, und Hartinger kam in der Schmölz an. Was es hier zu sehen gab, ließ ihm jedes Mal, wenn er mit dem Auto auf der Bundesstraße daran vorbeifuhr, das Messer in der Tasche aufgehen. Dort, wo jahrhundertelang ein Hof mit Pferdekoppeln und Streuobstwiese gewesen war, war vor einigen Jahren ein Gewerbegebiet entstanden. Anstelle der im Werdenfelser Land von den Bauern nie geschätzten Rösser hatte man nun endlich auch hier einen Aldi, einen Fristo-Getränkemarkt und einen ATU-Reifenservice in die Landschaft betoniert.

Es Verschandelung zu nennen wäre eine Untertreibung, dachte Hartinger, als er das Gelände durchlief. Dagegen waren die exzessiven Waldpartys seiner Jugend Ausflüge der Naturfreunde e. V. gewesen. Und nun sollte hier, an dieser Stelle, der Verkehrsverteiler des neuen Kramertunnels gebaut werden, um den sich die Menschen im Tal seit gewiss vierzig Jahren stritten. Dabei würde dieses Stück Landschaft gründlich umgegraben, damit die Blechlawine, die ins benachbarte Tirol zum Skifahren drängte, möglichst freie Fahrt hatte. Ein Schildbürgerstreich von ganz exquisiter Qualität, wie er ihn nicht einmal den Loisachtalern zugetraut hätte.

Er musste kurz stehen bleiben, um einige Brummis vorbeizulassen, bevor er die Bundesstraße überqueren konnte. Als er wieder loslaufen wollte, war die Schwere in seinen Beinen zurückgekehrt. Das war nicht sein Tag, und ein knapp dreißig Jahre dauerndes Lotterleben – das, genau betrachtet, mit den Sauforgien hier an der Loisach begonnen hatte – hinterließ eben Spuren. Auch nach dem Dreivierteljahr, das er nun wieder in Garmisch-Partenkirchen verbracht hatte und während dessen er mit vorher nie gekannter Disziplin jeden zweiten Tag – nun, beinahe jeden zweiten Tag – eine Laufrunde hin­gelegt hatte, war aus dem Zweizentner-Prackl noch kein Marathonmann geworden. Und offenbar auch noch kein Halbmarathonmann.

Hartinger lief über die Straße und den Waldweg hinunter zur Brücke. Dort fiel er ins Gehen zurück. Er wollte links vorbei am Herrgottschrofen, einem gut zwanzig Meter hohen Felsklotz mit senkrechter Wand, den die letzte Eiszeit hier liegen gelassen hatte. An den Wochenenden tummelten sich Familien auf der Wiese vor dem Schrofen und picknickten, und ein paar Kids nutzten die Senkrechte als Klettergarten. Aber an diesem Dienstagvormittag hielt sich hier keine Menschenseele auf.

Hartinger blieb unterhalb des Felsens stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse, um das Gelände in allen Details in Augenschein zu nehmen. Er schob seine Laufbrille auf die Stirn und schaute in Richtung der sich über dem nahe gele­genen Grainau auftürmenden Waxensteine in die Aprilsonne. Er genoss ihre Kraft, die nach dem langen Winter endlich wieder zu spüren war. In wenigen Monaten würde sie einen kurzen Bergsommer lang herabsengen, bevor der Winter, der hier mindestens ein halbes Jahr dauerte, wieder vom Tal Besitz ergriff. Er schloss die Augen und ließ sich die Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen, er atmete die Waldluft und roch die Nadelhölzer.

Doch etwas störte Hartingers Meditation. Ein Geräusch. Ein Motorengeräusch, das eindeutig nicht von der Bundesstraße über den Fluss herübergeweht wurde. Es musste ein großer Diesel sein, der da immer wieder losbrummte, leiser wurde, auf- und abdrehte, arbeitete. Ein Bagger. Oder ein Radlader. Eine Raupe vielleicht. Hier im Wald? Hartinger wunderte sich über nichts mehr, seitdem er drüben auf der anderen Seite des Talkessels für das Tagblatt die Erdarbeiten fotografiert hatte, mit denen die Kandahar-Abfahrt für die Skirennen umgebaut worden war. Aber was gab es hier zu planieren? Im Naturschutzgebiet?

Hartinger unterbrach seine Einkehr in sich selbst, öffnete die Augen und ging auf das Dieselbrummen zu. Er bewegte sich dabei rechts am Herrgottschrofen vorbei in Richtung Breitenau. Dort hatten die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg eine Siedlung für die Angestellten ihrer Hotels und Kasernen errichtet. Auch diese Siedlung war ein Teil von Hartingers Jugend. Bei den Amis konnte man damals Baseball spielen und auf dem Flohmarkt echt amerikanische T-Shirts und Hemden kaufen. Nach Lockerbie und erst recht nach dem elften September wurden diese Liegenschaften von der nicht-amerikanischen Öffentlichkeit abgeriegelt. Klein-Guantanamo wurden die verrammelten Ami-Einrichtungen mittlerweile genannt. Waren es die US-Boys, die da baggerten? Har­tinger passierte einen weiteren Kletterfelsen, der aufgrund seiner Gestalt »Frosch« genannt wurde, und sah zweihundert Meter weiter vorn das Gelb eines großen Baggers, der sich links vom Spazierweg in den Hang kämpfte.

Da fiel Hartinger ein, dass ungefähr an der Stelle, wo der Bagger mit seiner Schaufel wütend in den Boden fuhr, das ­Südportal des Kramertunnels geplant war. Offenbar sollte er Zeuge der ersten Grabungen dieses epochalen Bauwerks werden.

Er näherte sich, und als er bis auf zwanzig Meter an den Bagger herangekommen war, erkannte er den Fahrer. Konzentriert saß sein alter Schulfreund Thomas Suldinger an den Schalthebeln. In der Volksschule hatten sie beide einmal ein paar Wochen zusammengesessen und dabei eine unglaubliche Gaudi gehabt, bis sie von der Lehrerin getrennt worden waren. Hartinger war nach der Vierten aufs Gymnasium gegangen, Suldinger aber stammte aus den Sozialbauten in der Auenstraße, wo die Eltern etwas anderes zu tun hatten, als studierte Gscheiderl aus ihren Kindern zu machen. Er hatte den Hauptschul­abschluss gemacht und war zum Bau gegangen. Und er hatte offenbar einen festen Job, während Hartinger Foto für Foto dem Tagblatt verkaufen musste, zwanzig Euro das Stück.

Hartinger winkte mit beiden Armen, um sich bemerkbar zu machen. Nichts. Er ging weiter auf das Monstrum zu, bis er beinahe von der mal nach rechts, mal nach links schwenkenden Schaufel getroffen wurde. Endlich sah ihn der hoch konzentrierte Baggerfahrer. Er schaute grantig und öffnete das Seitenfenster, um den Menschen, der ihn bei der Arbeit störte, lautstark zu verscheuchen.

»Kreizkruzifix, Depp, schaugst, dass d’ weiterkommst!« Der Bass des Schimpfenden übertönte den Baggermotor.

Hartinger nahm seine bademützenähnliche Jogginghaube und die verspiegelte Laufbrille ab, und Suldinger kniff die Augen zusammen.

»Jessas, der Hartinger Gonzo, ich glaub, ich spinn«, plärrte er im gleichen Ton, aber mit aufgehellten Zügen weiter und warf die Tür des Baggers auf. Er hievte sich aus dem Scha­lensitz und kraxelte die drei Trittstufen hinunter, um seinem alten Spezl entgegenzugehen. Der Mann hatte die Statur eines Bären und überragte sogar die Einsneunzig von Hartinger um einige Zentimeter.

»Servus, Tomboy!« Hartinger grinste übers ganze Gesicht.

»Servus, Gonzo. Mei, wie lang ist des her? Fünfundzwanzig Jahr? Dreißig? Wart, lass mich dich genau anschauen – müssen fünfzig sein.«

»Depp, du bist auch nicht jünger worn«, retournierte Har­tinger. »Und ein anständiges Brauereigeschwür hast dir da angesoffen!«

»Schau dich amal an!« Suldinger tätschelte Hartingers Wampe. »Hamma auch ein paar Knödel zu viel verdrückt. Drum rennst ja da rum und störst rechtschaffene Bürger bei der Arbeit. Habts ihr Zeitungsleut jetzt gar nichts mehr zu tun, dass du am helllichten Tag da im Gymnastikanzügerl umanandahupfst?«

»Recherche nennt man das bei uns. Investigative, verstehst?« Hartinger machte eine bedeutungsvolle Miene.

»Versteh. Ja, du hast ihn gefunden, den einzigen Werden­felser, der nicht durch Grundstücksspekulationen reich geworden ist in den letzten dreißig Jahren, sondern im Schweiße seines Angesichts buckelt, um seine Schrazen zu ernähren. Bringst mich jetzt groß raus?«

»Mal schaun. Im Ernst, was baggerst da?«, wollte Hartinger wissen.

Suldinger saß immer noch der Schalk im Nacken. Mit staatstragender Miene berichtete er: »Probebohrung vorbereiten. Enorm wichtige Baggerarbeiten, die ich heute machen darf. Morgen kommen ein paar Spezialisten aus München und Berlin und was weiß ich und bohren sich da in den Boden. Hier soll bald der Tunnel rauskommen, und jetzt haben sie die Genehmigung für die Voruntersuchungen bekommen. Nach dreißig oder vierzig Jahren Hin und Her. Auf einmal pressiert’s. ›Baggern, Suldinger, baggern!‹, hat mein Chef angeschafft. Der ganze Humus da muss weg bis morgen früh.« Suldinger steckte mit einer halbkreisförmigen Armbewegung ein Areal von der Größe eines halben Fußballfelds ab. »Ich frag mich bloß, wo die mit der Raupe bleiben, weil ich mach nur die Bohrlöcher frei. Mit dem Bagger kannst ja keinen Humus abschieben.«

»Eh klar.« Hartinger tat, als hätte er Ahnung von Baumaschinen und deren Einsatzgebieten. Sein Interesse für Suldingers Löcher war geweckt. Reporternase, neugierige, sagte er im Stillen zu sich selbst. Und zu Suldinger: »Wo genau sind jetzt deine Löcher?«

»Ja, da hinten halt, direkt am Fuß vom alten Steinbruch. Siehst ja, wo meine Kettenspuren hingehen.«

Hartinger ließ seinen alten Freund neben seinem Arbeits­gerät stehen und näherte sich den Vertiefungen am Rande des Felsens. Er versank mit seinen Laufschuhen im umgewühlten Morast aus Erde, Gras und Schneeresten, den der Bagger beim Rangieren zusammengemengt hatte. Dann blickte er in vier Löcher, die jeweils cirka zwei auf zwei Meter maßen und auch wohl zwei Meter tief waren.

Suldinger war ihm gefolgt und glotzte ebenfalls in sein Werk, als sähe er zum ersten Mal ein Baggerloch. »Und da setzen die morgen mit dem Bohrer an und rütteln und scheppern mit Ultraschall-Messgeräten, damit die die Gesteinsschichten aufzeichnen«, erklärte er.

Hartinger erinnerte sich an die Fotos in der Abteilung Erdöl des Deutschen Museums, auf denen Unimogs mit solchen Apparaturen zu sehen waren. »Und wieso muss dann das ganze Areal abgeschoben werden?«

»Weil die Laster und Autos und Ingenieurcontainer und das ganze Glump sonst im Dreck versinken. Da kommt morgen noch eine saubere Kiesschicht drauf, und dann kannst du da mit dem Dreißigtonner drüber. Und außerdem kommt in der nächsten Woche der Ministerpräsident zur Eröffnung der Voruntersuchung. Quasi Anstich. Und der holt sich ungern dreckige Schuhe.«

»Gott mit dir, du Land der Bayern, Heimaterde, Vaterland!«, ätzte Hartinger. »Aber die Tanzschuacherl möchten gefälligst sauber bleiben, und außerdem fahren wir mit dem gepanzerten Siebener bittschön direkt in den Wald.«

In den Löchern lagen Kies und einige kindskopfgroße runde Steine. Dies war das Schwemmland der Loisach, die nur wenige Hundert Meter östlich ihr derzeitiges Bett gefunden hatte.

Im zweiten Baggerloch von rechts fiel Hartinger etwas auf. Seine zwei Jahrzehnte als Polizeireporter hatten seinen Blick für Anomalien geschärft. Er ging in die Hocke, um dann ins Loch zu springen, ehe Suldinger ihn daran hindern konnte.

»Knochen, Tomboy!«, rief er nach oben.

»Ja mei, Knochen find ich praktisch bei jedem Aushub hier im Wald. Da gibt’s Viecher, weißt? Die verrecken schon amal.«

»Aber wie groß sind die Viecher, die hier eingehen? Hasen, Füchse, Rehe. Das hier ist ein großer Gelenkknochen. Wie ein Hüftknochen.«

»Auch das Reh geht sich mit einer Hüfte geschmeidiger.« Bei aller Wiedersehensfreude – der Hartinger begann dem Suldinger gehörig auf die Nerven zu gehen. Kam nach zwanzig Jahren aus der Stadt, wurde gleich nach ein paar Wochen in einen Mord an einem Mönch verwickelt, wie man in der Zeitung hatte lesen können, und nun rannte er durch die Gegend und suchte Baggerlöcher nach Knochen ab. »Jetzt raus aus meinem Loch, ich muss weitermachen!«

Hartinger versuchte, den Knochen, der nur wenige Zentimeter unter der Humusschicht im Kies steckte, herauszuziehen. Vergeblich. »Hast eine Schaufel?«

»Raus, hab ich gesagt!«, herrschte der Baggerfahrer seinen Schulfreund an.

Hartinger langte nach oben, um Suldingers Hand zu greifen. Der war beruhigt, dass der Lokalreporter offenbar Ruhe geben und sich aus dem Loch ziehen lassen wollte.

Doch der Hartinger dachte nicht daran, seine eben begonnene Untersuchung einzustellen. Kaum, dass er wieder oben neben dem Loch stand, sagte er zu Suldinger: »Wo ist der Aushub? Da hinten?«

Suldinger hielt ihn an der Schulter fest, aber mit einer Drehung befreite sich Hartinger aus dem Griff und sprang mit einem weiten Satz über das äußere Loch zu dem Aushub­haufen vier Meter weiter links. »Hast jetzt eine Schaufel oder nicht?«

Suldinger wusste, dass Hartinger stur genug war, den Haufen notfalls mit den Händen umzugraben. Ihm eine Schaufel zu geben war die einzige Möglichkeit, ihn schnell loszuwerden. Finden würde er sowieso nichts, da war sich der Suldinger sicher.

Er ging zurück zum Bagger und holte aus einer Klappe eine Schippe mit spitz zulaufendem Blatt.

»Bitte, für den Herrn Reporter. So was schon mal in der Hand gehabt?«

Hartinger begann zu schaufeln. Er setzte das Werkzeug an und stieß es mit dem rechten Fuß in das lockere Kies-Erde-Gemisch. Bereits nach kurzer Zeit ließ er einen halb erfreuten, halb verwunderten Schrei vernehmen.

»Oha!«

Suldinger, der sich die Szene kopfschüttelnd vom Bagger aus angesehen hatte, wo er die Unterbrechung zu einer Kaffee-Bier-Wurstsemmel-Zigarettenpause nutzte, ging zu ihm zurück. »Was oha?«

»Knochen.«

»Mei, Viecher halt. Jetzt lass gut sein und mich weiter­machen«, flehte er beinahe. »Gleich kommt die ganze Abteilung mit Raupe und Kieslaster und vielleicht sogar mit­­samt dem Chef, und in meinem Aushub stochert ein narrischer Reporter umanada. Des kann ich null brauchen, Gonzo, glaub’s mir!«

»Tomboy, das sind Menschenknochen. Ich kenn mich damit aus. Du hörst sofort mit dem Graben auf.«

»Ja, freilich. Und morgen steh ich neben dir auf dem Arbeitsamt und stempel. Nein, danke. Jetzt wird hier ausgehoben.« Suldinger schluckte die Reste seiner Leberkassemmel hinunter und warf das Einwickelpapier auf den Erdhaufen.

»Ich sag’s nur ganz ungern. Aber wenn hier Menschenknochen liegen, dann vielleicht wegen eines Verbrechens. Und wenn du dessen Aufklärung behinderst, machst du dich strafbar. Dann steh ich doch allein im Arbeitsamt, weil du – Café Loisach.« Hartinger malte den Teufel überdeutlich an die Wand. Dabei glaubte er selbst nicht, dass sie den Baggerfahrer in den idyllisch am Flussufer gelegenen Knast von Garmisch-Partenkirchen einsperren würden.

»Was soll ich jetzt machen mit dem Schmarrn?« Suldinger war nicht wohl in seiner Haut. »Hast mich sauber neigritten!« Nichtbaggern bedeutete Ärger mit dem Chef, Baggern Ärger mit der Polizei. Und in ein paar Tagen wurde der Ministerpräsident erwartet.

Baggern oder Nichtbaggern – das war hier die Frage. Und die ging über seine Kompetenz hinaus. Er zog das Handy aus der Brusttasche der Latzhose und rief in seiner Firma an.

»Der Chef ist nicht erreichbar, mit seinen Spezln auf Jagdausflug irgendwo im Ammertal«, berichtete er Hartinger, nachdem er diese Auskunft vom Büro erhalten hatte.

»Dann ruf ich jetzt den Bernbacher Ludwig an«, sagte Hartinger und griff sich das Mobiltelefon.

»Gonzo, muss des sein?«, seufzte der Suldinger.

Hartinger nickte nur. Ja, es musste sein.

Karl-Heinz Hartinger wählte die 110 und ließ sich von der Leitstelle mit Garmisch-Partenkirchens oberstem Ordnungshüter Ludwig Bernbacher verbinden.

»Unmöglich. Ich hab den Termin extra reingequetscht. – Verschieben? Wie stellen Sie sich das vor?« Dr. Christoph Kleinschmied blickte verärgert auf den Outlook-Kalender des Ministerpräsidenten auf seinem Computerbildschirm. Dann wandte er sich vom PC ab und fixierte das Kruzifix, das in der gegenüberliegenden Ecke seines Büros hing. »Und dann auch noch wegen so einer Sache! Nee, das können Sie vergessen, Herr Bürgermeister, den Termin am Mittwoch muss ich knicken. Das macht der Chef nicht mit. – Jawohl, knicken, löschen, aus dem Kalender entfernen. Solang diese Geschichte nicht aufgeklärt ist, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Herr Ministerpräsident einen öffentlichen Auftritt bei euch da draußen wahrnimmt. Das baden Sie mal schön selber aus.«

Am anderen Ende der Leitung wurde aufgeregt argumentiert.

»Ja, ich weiß, dass das eine Signalwirkung hätte. – Ja, schon klar. – Mhm, logisch. Tunnelanstich trotz wackeliger Olympiabewerbung, Standfestigkeit der Partei und des Staates demonstrieren … – Ja, Herr Bürgermeister, vollkommen logisch. Nur, wenn ich auch mal was … – Hallo, Herr Meier, ich verstehe Ihre Argumente, aber lassen Sie mich doch bitte …« Dr. Kleinschmied kam gegen den Redeschwall seines Gesprächspartners nicht an. Er musste deutlich werden. »Jetz haldn Se doch aa amaal die Babbn!,« fränkelte er lautstark in den Hörer.

Offenbar zeigte dieser kleine Ausbruch Wirkung. Die Stimme am anderen Ende der Leitung verstummte. Kleinschmied nahm Anlauf.

»Lieber Herr Bürgermeister. Wir wissen Ihr Engagement zu schätzen. Sehr sogar. Aber bitte trauen Sie uns zu, dass wir selbst am besten beurteilen können, welche öffentlichen Auftritte des Herrn Ministerpräsidenten opportun sind und welche nicht. Und ich sage es jetzt zum allerletzten Mal: Solange die Herkunft der Leichenteile in Garmisch-Partenkirchen nicht geklärt ist, wird sich der Herr Ministerpräsident nicht an diesen Ort begeben. Und schon gar nicht an die Stelle, an der die Leichenteile gefunden wurden. – Wie? – Ja, Herr Bürgermeister, Leichenteile. Auch Knochen sind Leichenteile. – Nein, es sind nicht nur ›so a paar Knöcherl‹, es ist fast das vollständige Skelett eines Menschen ausgegraben worden. – Und auf dessen Grab wollen Sie den Herrn Ministerpräsidenten auftreten lassen?«

Am anderen Ende der Leitung wurde es wieder lebhafter.

»Ja, Herr Bürgermeister, ich sehe zu, was sich machen lässt. Die erste Lücke, die sich im Kalender auftut, reserviere ich Ihnen. Aber erst, wenn … – Nein, jetzt noch nicht! – Auch ­keinen Bleistifttermin. Bekommen Sie erst einmal Ihre Knochen entsorgt. – Freitag? Okay, wenn Sie mir bis Freitagmittag Entwarnung geben können, lassen wir’s bei Mittwoch. – Ja, versprochen. – Auf Wiederhören, Herr Meier.«

Dr. Christoph Kleinschmied war heilfroh, den lästigen Anrufer endlich losgeworden zu sein. Von allen nach Aufmerksamkeit geifernden Provinzbürgermeistern war dieser Meier der Schlimmste. Kleinschmied verstand ja, dass er den Ministerpräsidenten unbedingt bei der Eröffnung der Tunnel­baustelle dabeihaben wollte. Ach was, es war ja gerade mal die Voruntersuchung. Aber es war vollkommen in Ordnung, wenn er schon das als Anlass nahm, in seinem Hoheitsgebiet sich selbst, die Partei und den Ministerpräsidenten ins rechte Licht zu rücken. Die Macht der Partei bröckelte an so vielen Enden, da war eine stabile Mehrheit im Fremdenverkehrsort Nummer eins durchaus etwas wert. Nur, unter den gegebenen Umständen war ein Besuch des Ministerpräsidenten ausgeschlossen. Und es war fraglich, ob es später noch zu diesem Fototermin kommen würde. Wenn die Olympiabewerbung im Sommer platzte, würden auch nicht die Milliarden für den Ausbau der Verkehrswege nach Garmisch-Partenkirchen fließen. Das war vollkommen klar. Und dann würde es ganz gut sein, wenn es keine Fotos und TV-Bilder davon gab, wie der Chef sich für einen Tunnel einsetzte, der nie gebaut werden würde.

Eigentlich hätte etwas Besseres als dieser Knochenfund gar nicht passieren können.

Der persönliche Referent rieb sich die Hände. Dann warf er einen dankbaren Blick in Richtung Herrgottswinkel und lächelte. Nun musste er auch nicht mehr die Rede schreiben, deren Vorlage beim Chef schon seit zwei Tagen überfällig war.

Karl-Heinz Hartinger saß an dem kleinen Katzentisch, den sie ihm in der Redaktion des Garmisch-Partenkirchner Tagblatts eingerichtet hatten. Er konnte darauf gerade einmal seine Kameratasche und eine Tasse Kaffee abstellen. Der picklige Praktikant hatte doppelt so viel Platz. Den brauchte er auch, denn er stopfte sich im Fünfminutentakt Snickers in den Hals.

Hartinger war stets darauf bedacht, dass sich seine Anwesenheit in den engen Redaktionsräumen so kurz wie möglich gestaltete. Terminzettel von der Pinnwand nehmen, mit den Redakteuren noch einmal kurz die einzelnen Einsätze besprechen, Post durchgehen – das meiste waren Werbebriefe für Social-Media- und Interview-Seminare – und dann raus in das wahre Leben der Gemeinde Garmisch-Partenkirchen. Dort durfte er dann Schecküberreichungen, Waschstraßen­eröffnungen, Verkehrsunfälle und immer wieder die zahlreichen öffentlichen Auftritte des Ersten Bürgermeisters Hans Wilhelm Meier dokumentieren.

Auf zwanzig Euro pro Foto hatten sie ihn mittlerweile gedrückt. Vor einem Jahr waren es noch fünfunddreißig gewesen. Die Finanzkrise hatte die schlummernde Medienkrise wieder geweckt, und der Verlag musste sparen. Fünfunddreißig Euro gab es nur noch für Fotos, die es über die Garmisch-Partenkirchen-Ausgabe hinaus in den Bayernteil des Blatts schafften. Das war vielleicht zwei-, dreimal im Monat der Fall, wenn im Olympiaort unter der Zugspitze Dinge von über­regionaler Bedeutung geschahen.

Daher hatte sich Hartinger in den letzten Monaten auch wieder stärker aufs Texten verlegt. Schließlich hatte er zwanzig Jahre als Polizeireporter in München gearbeitet und war eigentlich gar kein Fotograf. Er suchte sich die Geschichten aus, die Spaß machten, die menschelten. Mit aktueller Berichterstattung wollte er als Schreiber gar nichts zu tun haben. Da reichten ihm die Fotojobs vollauf aus.

Er porträtierte lieber Menschen aus Garmisch-Partenkirchen, die Besonderes taten und leisteten. Den Mann, der die Burgruine Werdenfels mit privatem Einsatz erhielt, die Frau, die sich immer noch als Bodybuilderin – eine der Letzen ihrer Art – den Busen flach und die Oberschenkel rund trainierte. Diese Geschichten brachten dann meist achtzig Euro, denn sie waren mit zwei Fotos versehen, und für den Text hatte er vierzig Euro Pauschale ausgehandelt. Natürlich musste er für diese achtzig Euro jemanden stundenlang interviewen und fotografieren und anschließend einen Artikel verfassen. Ein Stundenlohn von fünfzehn Euro war der Schnitt.

Eine Alternative hatte Hartinger derzeit nicht, aber er plante, seine Leute-Geschichten aus Garmisch-Partenkirchen irgendwann als E-Book herauszugeben. Damit konnte er vielleicht ein paar Kröten nachträglich einnehmen.

Auch an diesem Tag standen die üblichen Aufträge auf den Terminzetteln unter seinem Namen an der Pinnwand. Er warf einen Blick in die Spalte des Kollegen Meerbusch, aber der hatte auch nur Schrott bekommen. Es tat sich nichts Besonderes im Tal, und die Geschichte mit den Knochen vom Vortag musste erst einmal ihren Weg gehen.

Eine halbe Stunde, nachdem Hartinger Ludwig Bernbacher alarmiert hatte, war der mit drei seiner POMs vor Ort in der Breitenau eingetrudelt. Eile hatte man nicht an den Tag zu legen brauchen, denn Knochen konnten nicht weglaufen. So schwer es Bernbacher auch gefallen war, er hatte dem Hartinger recht geben müssen. Das konnten schon Menschenknochen sein, auch wenn noch nichts ganz Typisches gefunden worden war. Ein Schädel, zum Beispiel. Aber Bernbacher hatte der Fund eines Oberschenkelknochens und einiger kleinerer Knöchelchen, die wie Finger aussahen, genügt, um die Baggerarbeiten einstellen und das Gelände mit den rot-weißen Bändern abflattern zu lassen. Dann hatte er die Kriminaler in Weilheim angerufen, denn die hatten eine Spurensicherung.

Seitdem hatte Hartinger von der Sache nichts mehr gehört. Natürlich war er sofort von Bernbacher des Platzes verwiesen worden, und am Nachmittag hatte er sich in der Polizeiinspektion in der Münchner Straße zur Aufnahme eines Protokolls einfinden müssen. Dieses Mal war Hartinger wenigstens kein Verdächtiger. Das Protokoll aufzunehmen hatte keine halbe Stunde gedauert, danach konnte er wieder gehen.

Schnurstracks war er mit dem alten 740er Volvo, den er sich für den Winter besorgt hatte, hinaus an den Herrgottschrofen gefahren. Er hatte sehen wollen, was die Polizisten aus Weilheim in den letzten Stunden ausgegraben hatten.

Tatsächlich glich die Wiese mittlerweile einem frisch umgegrabenen Kartoffelacker. Das, was Suldinger nicht geschafft hatte, hatten zwei Raupen erledigt. Die gesamte Humusschicht lag abgetragen auf einem riesigen Haufen.

Die Spurensicherer in ihren weißen Overalls standen indes allesamt hinten rings um die Aushublöcher, in denen Hartinger die Knochen entdeckt hatte. So hatte Hartinger unbemerkt das rot-weiße Flatterband übersteigen können.

Er hatte unter den Spurensuchern deren Chef Hans Rottal ausgemacht, den er von mehreren Einsätzen im Süden Münchens her kannte. Der hatte ihm beschieden, dass es unmöglich sei, mit dem wenigen Personal, das ihm zur Verfügung stand, die gesamte Fläche abzusuchen. Darum konzentrierten sich seine Männer auf die unmittelbare Umgebung des Knochenfundes. Ein halbes Skelett hätten sie bereits freigelegt. Rottal hatte Hartinger die Knochen gezeigt, die sie fein säu­berlich auf ein Tuch gelegt hatten, und zwar so, dass sich tatsächlich ein menschliches Skelett daraus ergab. Die Person sei schon ziemlich lange tot, das zumindest hatte Rottal sagen können.

Hartinger gefiel gar nicht, dass die Baumaschinen das ganze Areal zusammengeschoben hatten. Sofort vermutete er Verschleierungsabsichten. Bald würden Radlader den Humus auf große Laster schaffen und ihn irgendwo deponieren. Hatte jemand zu größerer Eile angetrieben, dass man gleich mit zwei Raupen planierte? Gab es jemanden, der verhindern wollte, dass noch mehr Knochen gefunden wurden?

Er hatte da einen Verdacht. Bei dem, was Suldinger erzählt hatte, würde das, was hier am Mittwoch über die Bühne gehen sollte, ein großer Event werden, und das, obwohl es sich nicht um eine Tunneleröffnung handelte, nicht mal um die Tunnelbaueröffnung. Sondern nur, so hatte Suldinger es ausgedrückt, um die »Eröffnung der Voruntersuchung«.

Und dafür kam der bayerische Ministerpräsident her. Um zu feiern, dass man untersuchen wollte, ob an dieser Stelle vielleicht möglicherweise unter Umständen irgendwann mal ein Tunnel gebaut werden sollte oder nicht. Eigentlich Irrsinn!

Dennoch wollte sich Bürgermeister Hans Meier die Gelegenheit, dem Herrn Landesvater vor den Kameras der versammelten bayerischen Presse die Hand zu schütteln, nicht verderben lassen.

Während Hartinger seine Fototermine in den Kalender des Handys übertrug, überlegte er, wann er wohl Tomboy Suldinger am besten unter vier Augen erwischen konnte. Er musste in Erfahrung bringen, ob nach dem Knochenfund ein Befehl zum beschleunigten Baggern ergangen war. Und wenn ja, wer ihn erteilt hatte.

»Vergiss es, Gonzo. Ich will doch nicht meinen Job verlieren.« Thomas Suldinger schüttelte den Kopf. »Ich bin Baggerführer. Das ist ein anständiger Beruf. Und kein Geheimagent oder Zivilbulle. Der Mann sorgt dafür, dass ich meine Miete zahlen kann und dass meine Schrazen nicht verhungern! Basta!« Er leerte die Halbe mit einem langen Zug und knallte das Glas auf den Bierfilz. Damit war klar: Thomas Suldinger hatte »basta« nicht nur gesagt, sondern auch gemeint.

»Ehrt dich ja, Tomboy, deine Solidarität mit deinem Chef. Aber da ist was faul an der Knochensache, das hab ich im Urin. Und du weißt, darauf ist Verlass.«

Suldinger beugte sich weit über den Tisch und flüsterte: »Ja, ja, Verlass. Du hast leicht reden, Gonzo. Wenn sie dich hier erneut rausschmeißen, so wie damals, gehst du halt wieder weg aus dem Ort. Aber ich? Ich bin hier angehängt. Wenn ich beim Brechtl untendurch bin, dann krieg ich auch woanders keinen Job mehr. Nicht amal bei der Gemeinde. Und die nehmen sonst jeden. Aber der Brechtl hat seine Finger überall drin. Der macht dich alle, wenn er will. Zumindest mich. Und du solltest auch aufpassen. Der schaltet genug Anzeigen im Tagblatt, dass er auch bei denen ein Wörterl mitzureden hat.«

Auch wenn der Suldinger seinen Unterhalt »nur« mit Erd­bewegungen verdiente, so wusste er offenbar doch, wie der Hase in Garmisch-Partenkirchen lief. Wahrscheinlich wusste einer, der sein Leben auf Baustellen und in Kneipen verbrachte, sogar mehr als ein erst kürzlich wieder zurückgekehrter Lokalreporter.

»Ja, aber a bissl rumhorchen, des wird doch möglich sein, Tomboy«, drängte Hartinger.

»Ich hab’s schon gesagt – nein und nochmals nein. Ich setz mich in den Bagger und schaufel das weg, was mir mein Chef sagt. Und damit reicht’s. – Svetlana, noch eine Halbe auf dem Herrn Hartinger seinen Deckel!«

Die platinblonde Weißrussin, die die Eisstockhütte hinter dem Kainzenbad betrieb, hatte vorauseilend bereits das Bier gezapft. Sie stakste auf ihren Stilettos um die Theke herum, stellte das Glas auf Suldingers Untersetzer und machte auf Hartingers Deckel einen Strich. Währenddessen sah sie ihn mit einer Spur zu wasserblauen Augen an, die zwischen den angeklebten Wimpern herausleuchteten. »Und für Monsieur? Auch noch Halbe?«

»Ja, aber ab jetzt bleifrei, Mademoiselle«, flirtete Hartinger zurück, nachdem sein Blick wieder aus den Tiefen von Svetlanas beeindruckendem Dekolleté emporgetaucht war.

Svetlana tänzelte wieder hinter ihren Tresen, um Hartingers Bleifreies einzuschenken. Suldinger lehnte sich über den Tisch und kam mit seinem Schnauzbart ganz dicht an Hartingers Ohr heran. »Des kannst auch vergessen, Gonzo. Scharfes Gerät, ohne Frage. Aber da hat auch der Bagger-Toni seine Hand drauf.«

»Und seine Finger drin?«, witzelte Hartinger.

»Des darfst aber glauben. Der Brechtl lässt nix anbrennen. So einen Kracher wie die Svetlana holt der schon mal mit ­seinem Jeep ab und fährt mit ihr in die Hütte an der Loisach.«

»Flüstern ist Lügen!«, unterbrach das Objekt der Männer­unterhaltung dieselbige.

»Passt scho, Svetlana. Es geht ausnahmsweise nicht um deinen süßen Hintern«, log Suldinger.

»Um was dann? Fund von Knochen? Hat Toni mir alles erzählt. Ist altes Zeug. Nächste Woche wird weitergebohrt.«

Hartinger sah sich die Eisstockhüttenbetreiberin genau an. Sie war die Informationsquelle, an die er herankommen musste. Machte mit ihr bestimmt auch mehr Spaß als mit dem eingeschüchterten Suldinger. Nur würde er es mit dem tollen Jeep oder gar dem Hubschrauber des reichen Bauunternehmers Anton Brechtl, der im Tal nur Bagger-Toni genannt wurde, schwer aufnehmen können. Er musste eine andere Karte ausspielen.

»Wo wir gerade davon reden, Tomboy, also vom Thema Hintern«, sagte er so laut, dass es auch die Gäste draußen vor der Hütte hören konnten, die auf dem Eisstockplatz bereits auf Asphalt schossen. »Ich hab doch den Typen von der BILD-Zeitung kennengelernt. Der macht jetzt die Seite-eins-Mädels und sucht ständig nach guten Figuren mit guten Geschichten, wie er sagt. Ich kann ihm da jederzeit Probeaufnahmen schicken, meint er. Fällt dir da nicht jemand aus dem Ort ein? Du, da haben schon manche einen fetten Vertrag mit einer Modelagentur bekommen, nachdem sie da vorn drauf waren.«

Hartinger hatte zwar schon läuten hören, dass die Seite-eins-Girls der Verlegerin schon seit einiger Zeit ein Dorn im Auge waren, doch solange die Mädels noch jeden Tag ihre Vorzüge auf Europas größter Tageszeitung darboten, konnte er Svetlana sicherlich damit ködern, und tatsächlich konnte er förmlich sehen, wie ihr die Ohren aus der Achtzigerjahre-Dauerwelle wuchsen.

Der Baggerfahrer Thomas Suldinger wusste im Moment nicht, wieso gerade er für ein Modelcasting qualifiziert sein sollte, und schaute Hartinger mit großen Augen an. Er grübelte ein bisschen und sagte: »Mei, da drüben in der Auenstraß, wo ich aufgewachsen bin in den Sozialwohnungen, da rennt schon so junges Zeugsl umananda, da musst mal an Zettel aufhängen.«

Svetlana schnappte nach dem von Hartinger ausgeworfenen Köder wie eine Forelle nach der Fliege des Fischers. Sie kam um die Theke herumgestöckelt und reckte ihren Vorbau noch steiler in Richtung Hartinger. »Habe gemodelt viel und gut zu Hause in Belarus.«

»Ah, geh weiter, hab ich mir doch gleich gedacht, dass Sie Künstlerin sind, Mademoiselle«, stieg Hartinger ein. »Hätte mich natürlich nicht getraut zu fragen, weil Sie als erfolgreiche Gastronomin und Unternehmerin, Sie hätten doch für Probeaufnahmen gar keine Zeit, hab ich mir gedacht. Und dann für die Shootings, da müssen Sie ja nach Berlin fliegen, das dauert ja dann immer zwei, drei Tage im Hotel Adlon, wo die das immer machen.«

»Null Problem. Habe ich gelernt delegieren. Wenn ich nicht da, meine Schwägerin schmeißt Laden. Null Problem, Mon­sieur.« Sie stellte das alkoholfreie Bier vor Hartinger ab und beugte sich dabei ganz tief nach vorn. Damit dies möglichst lange dauerte, schrieb Svetlana »1 alcohol freies« auf den Deckel, anstatt wie üblich einen kurzen Strich an den Rand zu machen.

Hartinger konnte ihr bis zum Bauchnabel schauen. Und das tat er auch. Dort drunten glaubte er ein Piercing funkeln zu sehen. »Ja, wenn das so ist, dann hat sich mein Besuch in diesem Etablissement ja wieder voll gelohnt.« Er strahlte zufrieden, während er immer noch mit den Augen im Ausschnitt der Eisstockhüttenwirtin spazieren ging. »Ich bin ganz sicher, dass ich heut einen aufgehenden Stern entdeckt hab.« Damit zwinkerte er seinem Spezl zu.

Tomboy Suldinger ließ das Kinn auf die Brust sinken und schüttelte den Kopf. Nachdem er am Vortag schon nicht die Entdeckung der Knochen durch den Hartinger hatte verhindern können, hatte er den alten Schulfreund nun auch nicht vom Gschpusi seines Chefs fernhalten können. Wenn das der Bagger-Toni erfuhr, konnte sich der Suldinger einglasen lassen.

Er leerte die Halbe in einem Zug und orderte mit einem kurzen Befehl die nächste, bevor Svetlana noch mit einem Bandscheibenvorfall über den Tisch sank.

»Schön, dass der oberste Polizist in meinem Landl dann doch a bissl Zeit für mich hat!«

Hauptkommissar Ludwig Bernbacher hatte gleich ein schlechtes Gefühl gehabt, als er das Klingeln des Telefons verpasst hatte und dieses schon eine Minute später mit der gleichen Penetranz erneut einen Anrufer vermeldete. Das Display hatte seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

»Ludwig, hamma schon was Neues?«, legte der Bürgermeister los, ohne dass Bernbacher erklären konnte, warum er nicht gleich hatte abnehmen können.

»Äh … neu? Was meinst jetzt konkret, Hansi?«

»In der Knochensache. Haben die Münchner irgendwelche Ergebnisse verlautbart?«

»Ah, woher! Das schieben die auf die lange Bank. Sind ja alte Knochen. Also, nicht die Münchner, die Knochen halt. In der Gerichtsmedizin haben die frischen Leichen Vorrang. Das kann dauern.«

»Ist auch gut so. Die sollen sich nur Zeit lassen. Aber ein erstes schnelles Vorabergebnis brauch ich. Verstehst, Ludwig?«

Bernbacher grübelte. Die Logik des Bürgermeisters erschloss sich ihm nicht auf Anhieb.

Der Bürgermeister unterbrach das Schweigen. »Also, dann pass auf. Wir müssen bis morgen Mittag wissen, wer die Leiche ist, sonst kommt der Ministerpräsident am Mittwoch nicht.«

Bernbacher hielt das für eine gute Nachricht. Wenn der Ministerpräsident nicht anrauschte, hätte er am Mittwoch auch keinen Großeinsatz zu leiten. Das würde die Überstunden- wie auch die Wohlfühl-Situation seiner Beamten und ­seiner selbst deutlich verbessern. »Ja, mei, Hansi. Dann schau ich, dass ich denen in München Dampf mach«, versprach er lauwarm.

»Ja, aber nur, wenn es ein – sagen wir mal – erträgliches Ergebnis ist«, beschwor ihn der Bürgermeister.

»Wie soll ich das machen? Ich untersuch die Boandln ja ned.« Ludwig Bernbacher hatte sich an die unlösbaren Auf­gaben, die sein Bürgermeister regelmäßig an ihn herantrug, gewöhnt. Aber ein Gutachten der Gerichtsmedizin in München zu beeinflussen …

»Ja, ich mein, Ludwig, wir müssen halt schauen. Also, du musst schauen, und zwar, wann was veröffentlicht wird. Verstehst? Quasi Güterabwägung.«

Bernbacher glotzte aus seinem Bürofenster hinaus auf die mit morgendlichem Pendlerverkehr angefüllte B2. Könnte er doch nur in seinen silbernen Passat steigen und nach rechts auf die Autobahn fahren. Und von dort aus immer weiter, ­vielleicht hinter München auf die A9 Richtung Berlin und irgendwo vor der Hauptstadt rechts und an ihr vorbei ins märkische Niemandsland. Untertauchen, wo ihn keiner kannte. Einfach weit, weit weg von Garmisch-Partenkirchen das Wochenende und vielleicht auch noch die kommende Woche verbringen.

»Welche Güter, Hansi? Bitte konkret. Du weißt: ich mittlere Reife, du Jurastudium.« Das Adjektiv »abgebrochenes« hatte Bernbacher wohlweislich verschluckt.

»Mei, Ludwig, das ist doch wirklich keine Quantenmechanik! Wenn der Befund irgendwie schlecht ist für uns, das heißt, wenn der Befund ergibt, dass wer etwas mit dem Skelett gemacht hat, was den Ministerpräsidenten abhalten könnte zu kommen … Also als das Skelett, du verstehst, noch ein Mensch war, und wenn man diesen Menschen brutal … Also was weiß ich, was da passiert ist. Dann sieht man das ja, und dann kommt der Ministerpräsident vielleicht nie nicht. Wenn aber die Untersuchung bis morgen Mittag ohne Ergebnis bleiben sollte, kommt er ganz sicher nicht, zumindest nicht am Mittwoch.«

Ludwig Bernbacher hatte aus dem Gestoibere des Bürgermeisters endlich die richtigen Schlüsse gezogen. »Verstehe, Hansi. Wir wollen am Freitagmittag ein Ergebnis, das besagt, dass die Knochen da schon seit ewigen Zeiten liegen und auch ohne irgendeinen verbrecherischen Hintergrund.«

»Ganz genau. Perfekt. Ein Mann wie du, der die kompli­ziertesten Sachverhalte in das präzise Amtsdeutsch eines Polizeiprotokolls zu gießen gelernt hat, kann so etwas mit einem einzigen klaren Satz ausdrücken!«, schleimte der Bürgermeister.

»Ich weiß halt immer noch nicht, wie ich’s anstellen soll, Hansi, aber …«

»Mach dir nicht zu viele Sorgen, die werden schon nix finden. Und das bitte bis Freitag. Bitte umgehende Information, wenn irgendwas aus München kommt.«

»Eh klar, Hansi«, sagte Bernbacher in die bereits tote Leitung. Der Bürgermeister hatte nach seinem Befehl einfach aufgelegt.

Bernbacher war sich sicher, dass Meier seine Verbindungen über die Partei ins Innenministerium und von dort zum Landeskriminalamt spielen lassen würde, um die Untersuchung zumindest zu beschleunigen. Dass er an deren Ergebnis drehen konnte, traute er ihm nicht zu. Aber seine Kontakte in München würden dem Bürgermeister auch berichten können, ob sich Bernbacher dort wie versprochen gemeldet hatte. Also musste er wohl oder übel in der Gerichtsmedizin an­rufen.

Er hoffte, dass es in dieser Woche genug ungeklärte Todesfälle in der großen Stadt und im Freistaat gegeben hatte, sodass die »Garmischer Baggerleiche«, wie die Boulevardpresse das Skelett einfühlsam getauft hatte, erst am Montag auf den Edelstahltischen in der Nußbaumstraße landete.

Hartinger konnte am besten während des Laufens denken. Nachdem die lange Tour, seine große Ortsrunde, vor zwei Tagen durch den Knochenfund unterbrochen worden war, war es am frühen Donnerstagabend wieder an der Zeit, in die schnellen Schuhe zu steigen. Nebenbei könnte er hinten beim Herrgottschrofen nach dem Rechten sehen. Wenn er es so weit schaffte.

Er entschied, bis zur Bayern-Halle mit dem Fahrrad zu fahren. Dann konnte er den Kramerplateauweg entlangrennen und würde auf diesem, auch wieder laufend, zurückkommen. Er hätte natürlich auch eine seiner anderen Strecken nehmen können, doch der Knochenfund beschäftigte ihn einfach zu sehr. Er war von der Natur mit vielem ausgestattet worden, mit knapp zwei Metern Körpergröße, zwei Zentnern Körpergewicht und auch mit ein bisschen Hirn. Aber bei der Verteilung der Geduld hatte Karl-Heinz Hartinger nicht laut genug »hier« gebrüllt.

Während er auf dem Bett seiner Dachkammer in der Dreitorspitzstraße saß, um die Schuhe zu schnüren, dachte er darüber nach, was ihm der Suldinger Thomas am Abend zuvor in der Eisstockhütte gesteckt hatte. Dass es der Bagger-Toni, der Brechtl, zusammen mit dem Gruber Veit in einer Jagdhütte des schwerreichen Baron von Storck ordentlich krachen ließ. Der Brechtl und der Gruber – eine Combo wie geschaffen füreinander, dachte Hartinger, als er die Treppen in dem kleinen Haus der Witwe Schnitzenbaumer hinabstieg und sich sein Radl hinter dem Anbau holte. Würde man die beiden Männer in einem Roman beschreiben, würden wohl auch gut meinende Kritiker das Prädikat »Holzschnitt« vergeben. Und das zu Recht. Aber die zwei waren halt genau so, wie man sich einen reichen oberbayerischen Bau-, Fuhr- und Entsorgungsunternehmer und seinen besten Spezl, einen Großgrundbe­sitzer und Tourismusunternehmer mit gschpinnerten Ideen, landläufig vorstellte.

Der Brechtl hatte ein Vermögen mit dem gemacht, was andere Leute wegwarfen. Und mit dem, was sie ausschieden. Fäkalien hatte er mit seinen Pumpwagen aus den Versitzgruben der Garmisch-Partenkirchner geholt. Am Anfang mit einem gebrauchten Scheißelaster, den er sich vom zusammengeschnorrten Geld gekauft hatte, dann bald mit einer wachsenden Truppe von Mitarbeitern, die seine Flotte manövrierten.

Die runden Trommeln seiner übel riechenden Trucks zierte nicht wie andernorts ein verschämtes Logo, sondern sein eigenes Konterfei in Überlebensgröße. In einer Sprechblase war sein selbst gedichteter Slogan zu lesen: »Ob kalt, ob heiß – ich kümmer mich um jeden Scheiß!« Auf diese Weise ganzjährige und persönliche Einsatzbereitschaft signalisierend, war Noboby Brechtl schnell zur lokalen Berühmtheit aufgestiegen. Brechtl war einer, der zu seinen niederen Diensten stand. Und prächtig daran verdiente.

Als in den Siebzigern und Achtzigern der Siegeszug der Kanalisation auch den Südrand der Republik erreichte, verkaufte Brechtl seine Laster und schaffte sich einige Raupen und Bagger an, die ihm schließlich zu seinem ortsbekannten Spitznamen verhalfen. Mit diesen Geräten verlegte er die Rohre, die ihm sein angestammtes Saug- und Pumpgeschäft ruiniert hatten. Die ausufernde Bautätigkeit im Talkessel vergrößerte mit jedem neuen Haus und jedem Meter Kanal sein Vermögen.

Bald stieg er auch in das Abrisswesen ein. Und in den Hochbau. Und da er immer als Erster wusste, wo eines der schönen alten Häuser Garmisch-Partenkirchens abgerissen werden sollte, damit darauf eine neue Anlage mit Eigentumswohnungen hochgezogen werden konnte, war es zudem ein Leichtes für ihn, in den Immobilienmarkt einzusteigen, wo ja frühzeitige Information die eigentliche Ware war. Anders als die übrigen Haie dieses Gewerbes musste er sich dazu nicht in den Gemeinderat wählen lassen und Mitglied im Bauausschuss werden. Endlose Nachtsitzungen im Rathaus blieben ihm erspart. Eine Tatsache, die ihm sehr bei der Ausübung seines Hobbys zugutekam: Der Brechtl Toni war seit frühester Jugend fanatischer Jäger und saß lieber in der Abend- und Morgendämmerung auf einem Hochstand als auf einem Sitzungsstuhl.

Schließlich entstand in den Achtzigern ein richtiger kleiner Konzern, als der Wohlstandsmüll zum Rohstoff erklärt wurde und die Deutschen ihre alte Liebe zur Separation des Wertvollen vom Unwerten im Abfalltrennwesen endlich wieder ausleben konnten. Brechtl baute in Absprache mit der Gemeinde eine Vorzeigemülltrennstation in einem ehemaligen Naturschutzgebiet. Einige gewonnene Plastik-, Papp- und Papierkriege gegen die von außen in den Talkessel drängende Konkurrenz später war Brechtl der unangefochtene Müllkönig des Landkreises. Da für viele Müllsorten bei der Annahme wie bei der Weitergabe vollkommen legal Geld an ihn floss, fand er dieses Business schöner als Gelddrucken.

Er war gern gesehener Gast an allen Stammtischen in beiden Ortsteilen und spendete großzügig sämtlichen wohl- und untätigen Organisationen, von Sportvereinen bis zur Feuerwehr. Bei der Pflege der politischen Landschaft war er auf wohl­tuende Weise farbenblind. Er kannte eh nur zwei politische Richtungen. Die eine war gegen, die andere für ihn. Und die eine unterstützte er über die Grenze des Nichtmeldepflichtigen hinaus.

Kurzum: Ohne den Bagger-Toni lief nichts am Ort. Toni Brechtl führte das selbstbewusste Leben eines Selfmade-Mil­lionärs amerikanischen Zuschnitts. Jeder sollte wissen, dass es ihm gut ging. Dafür hatte er sein Leben lang viel Scheißdreck bewegt, wie er nicht müde wurde zu betonen.

Ganz anders Veit Gruber. Dessen Vermögen war ererbt. Und es schien ihm zwischen den Fingern zu zerrinnen. Natürlich ließ er nach wie vor im Ort den großen Max raushängen. Doch längst hatte er von italienischen auf bescheidenere bayerische Autofabrikate umgestellt – dem Rücken wegen, wie er immer wieder sagte –, aber ein M oder ein S musste schon vor der Typenbezeichnung stehen.

Er schmiss Runde um Runde im John’s Club und versuchte dort, die mittlerweile halb so alten Damen abzuschleppen. Ab und zu gelang ihm das sogar, doch hätte jemand darüber Buch geführt, wäre deutlich geworden, dass dies, wenn überhaupt, nur noch zwischen Silvester und Dreikönig passierte, wenn die naturbrandigen Hol- und Rheinländerinnen, die in Ischgl kein Zimmer mehr bekommen hatten, Garmisch-Partenkirchen unsicher machten.

Was Gruber nicht wusste, war, dass durchaus jemand eine Statistik erstellte über seine Eskapaden: seine Frau Elfie, die die Stunden bis zur Eröffnung des Scheidungsverfahrens zählte.

Geschäftlich lief es noch schlechter als geschlechtlich. Grubers ererbter Wald war ein Minusgeschäft, seine in B-Lagen überteuert angeschafften Gewerbeimmobilien zeichneten sich immer öfter durch Leerstände aus, und was seine Gastronomiebetriebe erwirtschafteten, betrogen ihm die Saisonangestellten unterm Hintern weg. Er dachte sich immer wieder neue Megakonzepte aus, bei denen er sich regelmäßig im Größenwahn verrannte. Doch mehr als ein Kletterwald war dabei noch nicht herausgekommen.

Dass die beiden Geschäftsleute zusammen auf die Jagd nach Rotwild und offenbar auch nach zweibeinigen Rehlein gingen, wunderte Hartinger nicht. Schon eher, dass der Baron von Storck angeblich auch mit von der Partie war. Das konnte man sich eigentlich nicht vorstellen. Der angesehene Bankier, einer alten Familie entstammend, lebte komplett zurückgezogen. In der Klatschpresse tauchte er nicht auf. Nur ab und an, wenn er eine königstreue bayerische Splitterpartei mit einer meldepflichtigen Spende bedachte, erschien er in einem Einspalter auf den Politik- und Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen unter der Rubrik »Unsere lustigen Milliardäre«.

Es war bekannt, dass er ganze Hochtäler mit herzerweichend schönen Seen in den Ammergauer Bergen sein Eigen nannte. Nur das in der Bayerischen Verfassung festgehaltene Jedermannsrecht zur Naturbetretung hielt ihn davon ab, diese Besitztümer für die Öffentlichkeit komplett sperren zu lassen. Wie sein entfernter und längst verblichener Verwandter, der berühmte König, hielt er sich wohl am liebsten in seiner eigenen Bergwelt auf.

Und da sollten die krachledernen Krawallbrüder Brechtl und Gruber ein- und ausgehen? Hartinger musste darüber unbedingt mehr erfahren. Auch wenn das mit alten Knochen nichts zu tun hatte. Aber wer konnte sagen, welche Story sich dahinter verbarg? Warf er Tomboy Suldingers Andeutung und Svetlanas Talente in einen Topf und rührte mit dem großen Spekulationslöffel um, kam er zu dem Ergebnis, dass es in den Jagdhütten deftig zuging. Hartinger musste sich unbedingt an diese Zeugin heranmachen.

Mit diesem Gedanken – sowie einigen weiteren, die sich vorwiegend mit Svetlanas hervorstechendsten Merkmalen und den hoffentlich bald anstehenden Probeaufnahmen beschäftigten – erreichte Hartinger das ehemalige Garmischer Brauereigelände, auf dem nun die Tigerbrauerei aus München volle und leere Flaschen lagerte. Dort stand auch die Bayern-Halle, in der größere Trachtenevents stattfanden. Links der Halle führte ein Weg nach oben zum Kramerplateau.

Hartinger kettete sein Fahrrad an ein Verkehrsschild und war ein kleines bisschen stolz auf sich. Er war tatsächlich am Bräustüberl vorbeigefahren, ohne einen Zwischenstopp einzulegen. Vor einem Jahr, als er mit dem Laufen angefangen hatte, hätte er sich dort noch eine Halbe zum Auflockern der Muskeln genehmigt. Drei Halbe später hätte er dann den Lauf auf den nächsten Tag verschoben. Das war jetzt alles kein Thema mehr. Hartinger hatte in den vergangenen zwölf Monaten ein großes Stück Wegs hinter sich gebracht.

Er dehnte seine Waden und joggte den steilen Anstieg locker hinauf. Fünf Minuten später hatte er die Höhe erreicht, auf der sich der Kramerplateauweg über die Westseite des Tales erstreckte. Er liebte diesen Weg. Für Mountainbiker war er gesperrt, und die meisten Einheimischen hielten sich sogar daran. Er war breit genug, um an den langsamen Pensionären vorbeijoggen zu können, ohne diese dadurch zu erschrecken. Nur ab und zu galt es, einen Zwillingskinderwagen durch einen Schritt ins Gras zu umspringen.

Hartinger dachte weiter nach. Der Anblick der Knochen in Suldingers Baggerlöchern ließ ihn nicht los. Dass die ausgerechnet bei der Vorbereitung des umstrittenen Tunnels auf­getaucht waren, war schon ein spaßiger Zufall. Wollte vielleicht einer, dass das Gebiet für weitere Arbeiten gesperrt würde?

Sicher, es gab unzählige Gegner des Tunnelbaus. Die einen, Naturschützer selbstredend, wollten gar keinen Tunnel, die anderen wollten andere Trassen. Das war immer so bei derlei Projekten. Hartinger wusste, dass das Thema »Tunnelumfahrungen des Talkessels« schon im Ort gebrodelt hatte, als er diesen vor über zwanzig Jahren in Nacht und Nebel hatte verlassen müssen. Und in all der Zeit hatte sich nichts getan.

Die Farchanter, im Dorf vor der Olympiagemeinde beheimatet, hatten so lange die Straße blockiert, bis sie einen Tunnel bekommen hatten. Die Oberammergauer hatten schon seit langer Zeit eine breite Umgehungsstraße. Ein Amigo aus ihren Reihen hatte vor bald zwanzig Jahren den Ministerpräsidenten beerbt und setzte prompt die Entlastungsstraße für seine Heimatgemeide durch. Nur die Garmischer und Partenkirchner hatten sich so lange darüber gestritten, ob sie nun einen, zwei oder gar keinen Tunnel brauchten, bis aufgrund der Ebbe in den Kassen eine Finanzierung solcher Mammutbauten nur noch bei erhöhtem öffentlichem Interesse sichergestellt war.

Ein solches wäre die Vergabe der Olympischen Spiele nach München und Garmisch-Partenkirchen. Und daher wurden nun, wenige Monate vor dem alles entscheidenden Termin, Tatsachen geschaffen. Erprobungstunnel wurden in Berge getrieben. Damit jeder sehen konnte: Wir glauben fest an Olympia in Bayern. Auch wenn die Südkoreaner das zehnfache Budget haben und noch einmal eine halbe Milliarde drauf­legen, wenn sie die Spiele bekommen. Dass diese Erkundungsmaßnahmen so etwas wie das Pfeifen im Wald waren, störte nicht. Wenigstens pfiff man mit schwerem Gerät.

Hartinger erreichte den Herrgottschrofen eine gute halbe Stunde, nachdem er an der Bayern-Halle losgelaufen war, und traute seinen Augen nicht. War am Vortag schon fleißig weiterplaniert und gegraben worden, hatte man an diesem Tag den Kies auf weiten Flächen der ehemaligen Wiese ausgebracht. Offenbar hatte man keine Lust, auf weitere Gräber und vielleicht sogar auf eine archäologische Sensation zu stoßen. Auf einen alten Friedhof aus vorchristlicher Zeit etwa. So etwas konnte einen ganzen Bauabschnitt ruinieren.

Nur die beiden Löcher, in denen Hartinger die Knochen gefunden hatte, waren mit Polizei-Absperrband gesichert. Aber auch diese Fundorte waren verwaist. Niemand grub darin weiter.

Hartinger nahm sein Mobiltelefon aus der engen Tasche der Laufhose. Da er nie wusste, wann er als Lokalfotograf zu einem Einsatz gerufen wurde, hatte er es auch beim Joggen meistens dabei. Auch, weil er vor einem Jahr eine Leiche auf seinem Laufweg gefunden hatte und damals die umliegenden Häuser abklingeln musste, um an ein Telefon zu gelangen. Er wählte Kurt Weißhaupts Nummer, und der nahm den Anruf bereits nach dem zweiten Klingeln entgegen. »Nur, weil du es bist«, eröffnete er das Gespräch.

»Hockst wieder im Hofgarten und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein?«, stichelte Hartinger.

»Wenn der lieb und gut wäre, hätte er weder Telefone erfunden, noch dich damit ausgestattet. Was gibt’s? Ich krieg gleich mein Essen.«

»Die Knochengeschichte. Hast sicher gelesen.«

»Hmhm«, grumpfte Weißhaupt ins Telefon. Offenbar war das Hacksteak mit Bratkartoffeln auf seinem Tisch eingetroffen. Das Gericht wurde ihm in Schumann’s Bar ohne Bestellung vorgesetzt.

»Die vertuschen da was. Ich bin gerade draußen. Alles weggeschoben und planiert.«

»Hartinger, siehst schon wieder Gespenster?«

»Na ja, die meisten materialisieren sich ja dann doch zu einer anständigen Story, wie du weißt.«

Kurt Weißhaupt, der ehemalige Lokalchef der Süddeutschen, wusste.

»Lustig, oder? Ich sitz im Schumann’s und bewege Erdäpfel in mich hinein, und du stehst dort draußen im Wald und schaust Erdbewegungen an.«

»Hammer, dein Sprachwitz, Kurt. Damit musstest du ja stellvertretender Chefredakteur werden. Jetzt mal im Ernst, hast du irgendwas gehört, dass irgendjemandem bei euch da in München der Knochenfund irgendwie Sorgen bereitet? Ich mein, du könntest ja mal nachhorchen.«

»Könnt ich.«

»Machst auch?«

»Morgen. Heute hab ich Feierabend.«

»Ich besuch dich dann auch wieder, wenn du was Interessantes herausbekommst.«

»Hab’s mir gerade anders überlegt.«

»Witzig. Also dann, gehab dich wohl, Kurt Weißhaupt. Konzentrier dich auf die Bratkartoffeln und lass die Finger vom jungen Gemüse.«

»Passt schon, Gonzo Hartinger. Auch toller Sprachwitz. Damit musstest du ja Reporter in der Provinz werden. Ich melde mich, wenn ich was weiß. Habe die Ehre.« Damit beendete Weißhaupt das Gespräch.

Es machte Hartinger schier wahnsinnig, dass er im Moment nichts tun konnte. Er musste das Ergebnis der Untersuchungen abwarten. Zumindest würde er es nicht später erfahren als die Polizei in Garmisch-Partenkirchen, dafür würde Kurt Weißhaupt mit seinen sehr guten Verbindungen im Freistaat sorgen. Aber warten musste er wenigstens noch eine Nacht.

Er machte mit dem Handy ein Bild der umgepflügten und aufgekiesten Waldwiese, verstaute das Gerät wieder in seiner Hosentasche und begab sich auf den Rückweg.

Diesmal gönnte er sich eine Einkehr im Garmischer Bräu­stüberl. Zwei Halbe alkoholfreies Weißbier und eine Portion Blut- und Leberwürste später radelte er zu seiner Kemenate im Ortsteil Partenkirchen. Er hatte an diesem Abend noch einen Termin, und der erforderte eine ausgiebige Dusche inklusive Rasur, Beschneidung der Zehen- und Fingernägel sowie Stutzen der Nasenhaare.

Um halb elf Uhr wartete Svetlana Ryschankawa darauf, nach Dienstschluss von ihm an der Eisstockhütte abgeholt zu werden.

Der 740er rasselte im Leerlauf auf dem Parkplatz der Eisstockhütte. Obwohl Hartingers ökologisches Gewissen in ihm lauter aufheulte als ein Ferrari Testarossa beim Kavalierstart, ließ er die Maschine laufen, damit die Temperatur im Innenraum des Autos nicht zu tief absank. Im April war es nachts noch empfindlich kalt im Werdenfelser Land (Hartinger kannte gar keinen Monat, in dem die Nächte dort nicht empfindlich kalt waren), und er wollte nicht, dass sich die wahrscheinlich leicht bekleidete Svetlana im Auto verkühlte. Wenn sie wirklich eines der Gschpusis vom Bagger-Toni war, dann war sie dessen martialische wie luxuriös ausgestattete Riesenjeeps mit Stand- und Sitzheizung gewohnt. Hartingers betagter Volvo hatte dergleichen Sonderzubehör nicht zu bieten. Allerdings betrachtete er die Tatsache, dass die Sitze des Schwedenpanzers mit fahlgrünem Veloursstoff anstatt mit teurem Leder bezogen waren, eher als vorteilhaft für nackte Nierchen.

Er wusste nicht, ob er es wagen sollte, Svetlana direkt in ihrer kleinen Gaststätte abzuholen, denn eigentlich wollte er keine unerwünschten Zeugen ihres Rendezvous. Wahrscheinlich zog es auch Svetlana vor, draußen im Schutz der Dunkelheit unauffällig in seinen Wagen zu schlüpfen. Ihm jedenfalls wäre das lieber. Er wollte nicht auf der Abschussliste vom Bagger-Toni landen, bevor auch nur irgendeine verwertbare Information von Svetlana gekommen war.

Als die Quarzuhr im Armaturenbrett zwanzig vor zwölf anzeigte und immer noch keine Svetlana aus der Eisstockhüt­­te stelzte, schickte er ihr eine SMS: »Warte draußen. Gonzo.« Vielleicht war der Bagger-Toni gerade in der Hütte und hielt seine Freundin davon ab, pünktlich zu sein. Aber das erschien Hartinger unwahrscheinlich, denn die Anwesenheit des Fuhr- und Müllunternehmers hätte ein brettlbreit vor dem Eingang parkender Hummer, ein Ford-F150-Monster-Pick-up oder ein auf Kampfeinsatz getrimmter Mercedes-Gelände­wagen der G-Klasse überdeutlich signalisiert. Drunter machte es der Brechtl Toni nicht – am liebsten wäre er sowieso den ganzen Tag mit einem seiner chromverzierten Kieslaster durch die Gegend gedonnert.

Endlich erloschen hinter den Landhausvorhängen der Eisstockhütte die Lichter. Durch das Fenster der Beifahrertür fixierte Hartinger den Eingang der Gaststätte. Dort müsste sein Date gleich die drei Stufen zu ihm herabsteigen. Drei Minuten vergingen – dann riss jemand die Fahrertür des Volvo auf.

Hartinger erschrak beinahe zu Tode. Er duckte sich zur Fahrzeugmitte weg, als wäre er bei etwas schrecklich Unerlaubtem erwischt worden. Er war sicher, dass in der nächsten Sekunde ein Knüppel oder die eisenharte Faust des Bagger-Toni seinen Schädel treffen würde.

Als nichts dergleichen geschah, drehte er sich zur offenen Tür um. Er musste kräftig schlucken. Direkt vor ihm in Augenhöhe tänzelte Svetlanas Nabelpiercing. Ihre hautenge Hose aus cremefarbenem Schlangenlederimitat saß mehr unter als auf den Hüftknochen und ließ jede Kontur ihres Unterleibs nicht nur erahnen.

Hartinger riss seinen Blick von ihrer Körpermitte los und ließ ihn nach unten wandern, zu absurd steilen Stilettos. Er schaute wieder an ihr hinauf, und seine Augen hatten jede Menge nackter Haut abzutasten, bis endlich ein goldbesticktes Bustier die Blöße seiner Verabredung mit Mühe und Not bedeckte.

Der nächtlichen Kühle der Jahreszeit entsprechend, hatte sich Svetlana zumindest einen Mini-Bolero aus flauschigen pinkfarbenen Federn über die Schultern gelegt. Aus dem Make-up leuchtete knalliger Lippenstift.

Hartinger schluckte erneut. Zweimal. »Svet-lana …«, stammelte er.

»Was hast du gedacht, Gonzo, eh? Hab ich dich schön geschreckt. Bin ich raus bei Hintereingang!« Sie lachte und schlug sich vor Vergnügen auf den rechten Oberschenkel. »Na los jetzt, wenn du mich schon nicht abholst, Feigling, hältst du wenigstens Dame Türe auf!«

Hartinger sprang vom Sitz. »Mei, ich hab nicht gewusst, Svetlana, ob’s dir recht ist, wenn ich reinkomm«, entschuldigte er sich, während er ums Auto lief und seiner Begleitung den Wagenschlag aufriss, als wäre sie Joan Crawford und er ein Fahrer von Warner Brothers im Hollywood der Fünfzigerjahre.

Svetlana trippelte hinter dem Volvo herum und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. »Schönes Auto«, log sie, als Hartinger wieder auf seinem Chauffeursplatz saß. Dabei strich sie mit der Hand über das staubige Kunststoff-Armaturenbrett vor ihr, als wäre es mit dem Leder einer vom Aussterben bedrohten Echsenart überzogen oder aus sündteurem Tropenholz gefertigt.

»Besser schlecht gefahren als gut gegangen, Svetlana. Ist immerhin kein Wolga.«

»Oh, ich nix gegen dieses Auto. Fuhren in meiner Jugend die Bonzen zu Hause in Belarus. Werde ich immer Ehrfurcht haben vor Volvo.«

Hartinger konnte nicht sehen, ob Svetlana vor sich hin grinste oder ob sie es ehrlich meinte. Ihm waren Autos schon immer so was von wurscht gewesen. Den Volvo hatte er nur deshalb vor dem Schrottplatz gerettet, weil das Radeln im Garmisch-Partenkirchner Winter mit Fototasche und sich überschneidenden Terminen weder gesundheits-, noch kar­riere­fördernd war.

Ende der Leseprobe