Josefibichl - Marc Ritter - E-Book

Josefibichl E-Book

Marc Ritter

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Beschreibung

In Garmisch-Partenkirchen rumort es gewaltig: Die Olympischen Winterspiele entzweien den Ort. Reiche Araber reißen sich die besten Immobilien unter den Nagel. Und der ehemalige Polizeireporter Hartinger ist wieder da. Er gilt als jähzorniger Gerechtigkeitsfanatiker, der vor seinem Weggang aus dem »goldenen Landl« oft mit der Obrigkeit aneinandergeraten war. Als junger Mann verließ er über Nacht den Ort, nachdem er mit dem Kaplan bis aufs Messer gestritten hatte. Den Grund dafür weiß niemand mehr so genau. Nur, dass in derselben Nacht das Auto des Kaplans in Flammen aufging. Als nun zwanzig Jahre später ein Franziskanerpater auf dem heiligen Josefibichl erdrosselt aufgefunden wird, steht der Hauptverdächtige schnell fest.

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Für Katherine, die immer an mich glaubt

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage November 2011

ISBN 978-3-492-95585-0

© 2011 Piper Verlag GmbH, München Umschlagkonzept: semper smile, München Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von plainpicture / Westend61

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Nicht Taten zählen, sondern Worte, und Fakten spielen keine Rolle.

1

Genau so hatte er es sich immer vorgestellt.

Schwitzend, keuchend, mit ziehenden Schmerzen in den Oberschenkeln den Berg hinauf. Mehr als mit der Hitze mit sich selbst kämpfend, die letzten zehn Höhenmeter doch noch durchzustehen. Dann, vor Freude, die Kuppe erklommen zu haben, mit letztem Atem »Hurra« schreien – um dann schockgefroren innezuhalten, weil da etwas, jemand lag. Etwas Totes, jemand Umgebrachter, ein ermordeter Mensch.

Er wusste nicht mehr, wann sich diese Vorahnung in seinem Hirn festgefressen hatte. Erst vor wenigen Wochen hatte er mit den Bergläufen angefangen. Recht bald musste es gewesen sein, dass er jedes Mal, wenn er einen steilen Buckel mit letzter Kraft hinter sich brachte, sich kurz vor Erreichen der Kuppe sagte: Dort liegt gleich eine Leiche.

Sein früheres Leben, all die schlimmen Bilder stiegen wohl bei großer körperlicher Anstrengung aus seinem Unterbewusstsein herauf. Andere verarbeiteten durch Träumen. Er verarbeitete durch Schwitzen.

Nun war es so weit. Die alte Phantasie wurde an diesem frühen Dienstagabend frische Realität.

Wenn auch alles anders war. Er war nicht ganz bis zur Kuppe gekommen. Der leblose Körper lag zehn Meter unterhalb in einer Mulde links neben seinem Laufweg. Er hätte ihn nicht gesehen, wäre er nicht einen Moment zuvor über einen der vom Regen freigewaschenen kindskopfgroßen Steine in der alten Fahrrinne gestolpert. Um ein Ausrutschen im lockeren Geröll zu vermeiden, war er nach links ins hohe Gras ausgewichen. Er fing sich rechtzeitig ab, um nicht zu fallen – und nicht auf der Leiche zum Liegen zu kommen.

Auch sonst unterschied sich die Szene von der in seinem Kopf. Der Körper war nicht halb verwest, kein Schmeißfliegenschwarm erhob sich, erschrocken vor seinem Schatten. Mit seinem geschulten Blick sah er nicht mehr als vier, fünf Fliegen ihre Arbeit an den Nasenlöchern verrichten, wo sie ein- und ausgingen. Die fleißigen Tierchen hatten erst begonnen, ihre Larven in der Leiche abzulegen.

Der wichtigste Unterschied zu seiner Phantasie bestand jedoch in etwas anderem. In seinem Kopf war es immer eine Tote, eine Ermordete gewesen, die ihm beim Laufen den Weiterweg versperrte. Nackt, vergewaltigt, mit dem Messer kreuz und quer aufgeschlitzt.

Doch dort lag keine geschändete Frau. Der tote Mensch vor ihm trug nicht einen weißen Rock und eine Jeansweste. Die Leiche war bekleidet mit der braunen Kutte der Franziskanermönche. Mit der Kutte, die er seit frühester Jugend kannte.

Auch ein Messer hatte der Arrangeur dieser Szene nicht verwendet, und es war auch nicht literweise Blut vergossen worden. Die weiße Kordel mit den geheimnisvollen Knoten, die zum Habit des Franziskaners gehörte, umspannte den dürren Mönchskörper nicht an der üblichen Stelle über der Hüfte. Vielmehr hatte sie wohl jemand um den Hals des Geistlichen gelegt und ausreichend lange zugezurrt, dass diesem der Kopf puterrot, die weit aus dem Mund gestreckte Zunge dunkelblau angelaufen und die Augäpfel wie bei einem gegrillten Fisch weit aus ihren Höhlen herausgetreten waren.

Karl-Heinz Hartingers nächster Blick ging von Kordel, Kopf, Zunge und Augäpfeln des Toten zu seinem eigenen linken Arm, an dem er die Sportarmbanduhr trug. Die zweiundzwanzig Jahre als Polizeireporter hatten ihn viel von der Präzision annehmen lassen, mit dem das ermittelnde Personal seiner Geschichten den Beruf ausübte. Um wie viel Uhr er den Toten gefunden hatte, wollte er sich auf die Sekunde genau einprägen. 12:53 … 54 … 55 … 56 … Verdammt, die Uhr zeigte natürlich noch die Stoppfunktion an, mit der er die Dauer seines Laufs hatte messen wollen. Darunter gab eine blinkende 156 Auskunft über seinen Puls. Sein Arzt hatte ihn strengstens ermahnt, die Herzfrequenz zu messen, wenn er nach zweiundzwanzig Jahren Lotterlebens mit Bergläufen seine alte Form wiederzufinden suchte.

Das war auf einen Schlag reichlich egal geworden. Sein Puls interessierte in diesem Moment nicht mehr. Es stellte sich die Frage, wer den Puls des dort vor ihm Liegenden zum Stillstand gebracht hatte. Zunächst musste Hartinger also feststellen, wann genau er den toten Mönch – wenn er von der Kutte auf die Berufung des Toten schließen konnte – gefunden hatte. Hektisch drückte er an der Uhr herum, deren Gepiepe das Ansteigen seiner Herzfrequenz über hundertsechzig Schläge pro Minute quittierte. Ganz ohne dass er auch nur einen Schritt machen musste.

Endlich – 17:34:45 zeigte die Uhr, nachdem er sich durch das Menü mit Kompass, Höhenmesser, Barometer und Kalender gedrückt hatte. Dieses Getippe hatte gefühlte zwanzig Sekunden gedauert.

Karl-Heinz Hartinger, zweiundvierzig, ehemals Polizeireporter in München, nach gescheiterter erster Existenz zurück auf Los gekehrt in seinen Heimatort Garmisch-Partenkirchen, um ein gesünderer, leichterer, anderer, ja besserer Mensch zu werden, fand knapp dreieinhalb Wochen nach seiner Ankunft im Olympiaort unter der Zugspitze am Dienstag, dem 27. Juli 2010, um 17 Uhr 34 Minuten und 24 Sekunden, während er einen gemäßigten Hügellauf absolvierte, auf der Anhöhe, die sie im Tal Josefibichl nannten, einen strangulierten Mönch.

Ganz genau so hatte er sich das nicht vorgestellt.

»Hartinger, ich glaub’s nicht.«

»Kannst wie früher Gonzo sagen.«

»Früher war früher. Jetzt ist jetzt. Heute bin ich der Polizeichef von Garmisch-Partenkirchen. Und du … du bist …«

»Sag’s nur, Bernbacher. Jetzt bin ich …?«

»Na ja, ich mein halt, Hartinger, ich mein, Gonzo, jetzt bist du halt …«

Bevor Bernbacher ewig nach den geeigneten Worten suchen musste, fasste Hartinger seinen Ruf selbst zusammen: »… eine gescheiterte Gestalt, die hier nichts mehr zu suchen hat?«

»Das sowieso.«

»Sonst noch was, Bernbacher?« Hartinger wollte es genau wissen.

»Na ja, in Anbetracht der Sachlage … unter Berücksichtigung der Fakten … bei Würdigung der Beweise … bist du … sind Sie unser Hauptverdächtiger, Herr Hartinger.«

Je offizieller sein alter Schulkamerad wurde, desto mehr musste Hartinger sich beherrschen. »Ja, spinnst jetzt komplett, Bernbacher? Sei bloß froh, dass du das in der Einsamkeit deines Dienst-Audis zu mir sagst. Meinst, ich komm hierher nach zweiundzwanzig Jahren, und als Erstes renn ich in den Wald und bring einen Mönch um? Sonst was? Meinst, ich hab nichts Besseres zu tun?«

Der Hellste war der Bernbacher Ludwig nie gewesen, das wussten im Ort, wie die Bewohner der Doppelgemeinde Garmisch-Partenkirchen ihre zwischen Stadt und Dorf unentschiedene Siedlung nannten, im Ort wussten das alle. Wie der Polizeichef werden konnte …

Na ja, viel hatten die ja auch nicht zu tun, versteckten sich den ganzen Tag im Bullenkloster gegenüber dem Friedhof. Ab und zu wurd’s ihnen dort drin zu langweilig, dann fielen sie aus und sperrten die Bahnhofsunterführung, um Alkoholsünder dingfest zu machen. So war das zumindest, als der Hartinger noch zu ebendiesen gehörte.

Wahrscheinlich überließen sie das aber mittlerweile den Spezialkräften aus Weilheim, wie sie das Strafzettelschreiben auch an die kommunalen Kräfte abgegeben hatten und das Suchen nach illegalen Einwanderern an die Schleierfahndung der Bundespolizei. Sie hockten also Tag und Nacht und Woche um Monat zwischen Mercedes- und Volkswagenniederlassung mit Blick auf den Partenkirchner Friedhof ihre Zeit ab, schauten sich ihr finales Ruheplatzerl schon einmal an (falls sie nicht aus Garmisch stammten und in die Erde des anderen Ortsteils kämen) und rührten derweil Nescafé in heißes Wasser. Und auf einmal sollten sie sich um einen Mord kümmern. Oder um etwas, was verdammt nach einem Mord aussah.

Zumindest so lange, bis in einer Stunde die Spurensicherer aus Weilheim oder gleich die Burschen vom LKA aus München anrückten. Klar, dass man da die Gelegenheit beim Schopf packen und den Herren Weilheimern und LKA-Spezis einen fertig verhafteten, überführten, geständigen Täter präsentieren wollte. Sonst konnte man sich ja kaum mal profilieren, stimmt’s, Herr Bernbacher? Die Behauptung »Wir haben wie in jedem Jahr die Verkehrssituation rund um das Neujahrsskispringen wieder eins a im Griff gehabt« reicht für den nächsten Stern natürlich nicht aus. Aber nicht mit dem Hartinger, lieber Bernbacher, da musst du deinen Bullenschädel schon ein bissl mehr anstrengen, dachte Hartinger.

»Schau her, Bernbacher, ist doch ein Schmarrn.« Hartinger versuchte es auf die sanfte Tour und redete mit Bernbacher wie mit einem Kind. »Und das weißt du selber am besten. Ich bin natürlich kein Hauptverdächtiger, weil ich nicht mal ein Verdächtiger bin. Ich bin nicht mal ein Augenzeuge, sondern nur der Zeuge, der den Toten zufälligerweise beim Joggen gefunden hat. Und wenn du magst, sag ich dir auch genau, warum ich als Verdächtiger von Haus aus ausscheiden muss.« Hartinger versuchte ruhig und dabei nicht arrogant zu wirken. Vergeblich.

»Da bin ich gespannt, Herr Hartinger.«

»Schau her, Bernbacher, da drüben, wo deine POMs gerade das rot-weiße Absperrband durchs Gelände ziehen und dabei wahrscheinlich die eine oder andere Spur zerstören, da liegt ein toter Mann, gekleidet im Habit eines Franziskanermönchs, dem Anschein nach erdrosselt mit seiner weißen Kordel. So weit d’accord, ich meine: Sind wir uns da einig?«

»Ich kann folgen, Herr Hartinger.«

»Echt? Hammer. Also: Diesen armen Menschen habe ich um kurz nach halb sechs gefunden. Wenn du’s genau wissen willst: Ich war um 17 Uhr 34 Minuten und 24 Sekunden bei der Leiche – zumindest nach dieser Uhr hier. Ich bin runtergerannt in die Hasentalstraße und hab euch vom Erstbesten, der mir aufgemacht hat, angerufen. Das war um 17 Uhr 42 Minuten, wie dir dein Telefon-Computer sicher bestätigen wird. Ihr wart exakt um fünf vor sechs vor Ort. Ich frag mich zwar, wieso ihr für die Strecke von der Münchner Straße hier rauf dreizehn Minuten braucht, aber was geht’s mich an, wenn ihr eure schicken Schesen schiebt.« Hartinger war ganz kurz ein wenig stolz auf die Alliteration, vergaß aber im nächsten Moment seine aufgesetzte Ruhe und verfiel in gedämpftes Schreien: »Und seit kurz nach sechs sitze ich jetzt mit dir in deiner Bullenschleuder, und du schaust dir die Leiche nicht mal anständig an – was gut ist, denn sonst würdest du noch mehr Spuren zertrampeln, als das POM Fritz und Kollegen dort drüben eh schon machen. Würdest du das allerdings auf dich nehmen und hättest du auch nur eine Viertelstunde in der Polizeischule aufgepasst, könntest du allein aus dem Befall des Toten mit Schmeißfliegenlarven schließen, dass der Tote diese Bezeichnung schon mindestens seit vier Stunden, also seit mindestens zwei Uhr Nachmittag, verdient.«

Bernbacher schnaubte. »Fertig mit der Vorlesung, Hartinger? Unverschämt brauchst übrigens nicht werden, weil sonst …«

»Herr Hartinger, bitte! Nein, Bernbacher, fertig bin ich noch lang nicht, denn jetzt kommt’s: Länger als sechs Stunden liegt er auch nicht, denn sonst hätten ihn die Weiberl gefunden, die hier jeden Mittag genau um zwölf die Blumen am Kreuz gießen. War früher so und wird immer noch so sein.« Hartinger beruhigte sich allmählich und holte genüsslich zum Schlussakkord aus: »So, und jetzt kommt dem Hartinger Gonzo sein wasserdichtes Alibi, Bernbacher: Von acht bis kurz vor elf in der Früh war ich bei meinem Steuerberater, dann von elf bis eins war ich – du erinnerst dich: dein Hauptverdächtiger – bei der Frau Dr. Frankenthaler in Behandlung, Zahnstein und Gekröse aus den Lücken entfernen. Tut schlimm weh am Anfang, man riecht danach aber besser aus dem Mund. Solltest du auch mal versuchen. Und wart, von eins bis fünf hab ich dann heut tatsächlich was gearbeitet: Die vom Tagblatt haben mich erst zur Eröffnung einer Waschstraße in die Zugspitzstraße und anschließend in die Berufsschule geschickt, Abschlussklassen fotografieren. Jede Menge Leute, die mich da gesehen haben. Und den Reporter von der Lokalzeitung vergisst auch keiner, weil der sich immer vorn hinstellt und erst geht, wenn er was zu essen bekommen hat.«

»Wär’s das jetzt, Herr Hartinger?« Bernbacher, genervt.

»Fürs Erste: ja.« Hartinger, ermattet.

Bernbacher holte kurz Luft, schaute geradeaus durch die Frontscheibe des Audi auf den fünfzig Meter weiter oben befindlichen Leichenfundort und holte aus: »So, dann erzähl ich dir mal, welche Situation sich mir als leitendem Ermittler hier bietet: toter Mann, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Jahre alt, stranguliert, trägt Mönchskutte, liegt auf einem Hügel unter einem großen Kreuz mit weithin leuchtendem vergoldeten Messias. Hier werden Messen unter freiem Himmel gelesen. Ein heiliger Ort quasi. Der einzige Mensch, der den toten Mann, allem Anschein nach einen Mann der Kirche, bereits tot aufgefunden haben will, ist der stadtbekannte Gewalttäter und Pfaffenhasser Karl-Heinz Hartinger, vor über zwanzig Jahren verschwunden aus der Gemeinde und seit ein paar Wochen wieder hier am Ort, kein Mensch weiß, warum. Und wenn ich dich jetzt nicht verhafte und augenblicklich wegsperre, dann nur deswegen, weil ich’s einfach nicht glaube, dass du, den ich, seitdem wir Kinder waren, kenne, hier einen umgebracht haben sollst. Und weil ich dich sowieso wiederfinde und dich, wenn du den Ort verlässt, innerhalb von zehn Minuten weltweit zur Fahndung ausgeschrieben habe. Du gehst jetzt heim, bleibst dort, und morgen werden wir das Nötige unternehmen. Ende der Durchsage und raus jetzt aus meinem Einsatzfahrzeug.«

Hartingers Tagesbilanz war überwiegend deprimierend.

Zum Punkt »Sport, Diät und Vermeidung giftiger Substanzen«, dessen Ergebnisse in einem Vokabelheft festzuhalten er sich seit seiner Ankunft in Garmisch-Partenkirchen vor drei Wochen zur täglichen Pflicht gemacht hatte, um mit weiteren Kasteiungen wie selbst geschrotetem Müsli, Verzicht auf Alkohol, Hanteltraining und strenger Diät wieder auf einen drastisch gestrafften Körper von deutlich unter hundert Kilo Gesamtgewicht zu kommen, konnte er eintragen: Ein schöner gemäßigter Berglauf, der durch Ludwigstraße, Ballengasse, vorbei am Floriansbrunnen, über Josefibichl und Gamshütte zur Schönen Aussicht hätte führen sollen, bereits nach knapp dreizehn Minuten durch einen Leichenfund am Josefibichl beendet. Die anschließende Alarmierung der Polizei samt unerfreulichem Gespräch mit dem örtlichen Polizeichef war zwar alles in allem pulssteigernd, aber sicher kein Sport. Besonders das aus Schmeißfliegenlarven, alten betenden Weiblein und der Dr. Frankenthaler zusammengebastelte Alibi hatte seinen Blutdruck gesteigert. Einer Prüfung durch einen echten Kriminalisten würde das kaum standhalten, aber Hartinger war nichts Besseres eingefallen, um sich Bernbachers Fängen zu entziehen. Das langsame Heimrollen, diesmal durch Sonnenbergstraße und Badgasse, schrieb er nur noch als aktives Stretching nieder. Ansonsten: keine Hanteln, kein Liegestütz, keine Klimmzüge an diesem Tag. Immerhin: Obwohl der Abend und die Nacht dieses an sich faden Dienstags, der eine so drastische Steigerung genommen hatte, noch nicht durchgestanden waren, notierte er schon einmal: keine Zigaretten, kein Schnaps. Kohlenhydrate nur beim Frühstück. Gewicht: 107 Kilo (morgens, nüchtern, nackt).

Die weiteren Punkte der Tagesbilanz verdienten das Prädikat »deprimierend« zu hundert Prozent:

Beim Steuerberater hatte Hartinger erfahren, dass das Finanzamt die in den letzten Jahren als freier Mitarbeiter kassierte, aber leider nicht abgeführte Mehrwertsteuer wollte. Und zwar vollständig. Und zwar sofort. 29.000 Euro – in Worten: neunundzwanzigtausend – waren da zusammengekommen. Roch nach Privatinsolvenz, das Ganze.

Den Nachmittag hatte er mit zwei albernen Fototerminen verbracht. Neueröffnung Waschstraße. Abschlussklassen Berufsschule. Wenn er Glück hatte und das Tagblatt morgen drei Bilder brachte, machte das 35 Euro mal drei: 105 Euro. Hammer: So einen erfolgreichen Tag brauchte er nur rund 290-mal zu wiederholen, dabei nichts essen und trinken, unter der Partnachbrücke wohnen – und schon waren seine Steuern bezahlt. Oder: wären, wenn das Finanzamt von diesen 105 Euro nicht dreißig Prozent einbehalten würde, nicht ein Kind Unterhalt erwartete, er wirklich, wie schon mehrmals erwogen, aus der Krankenversicherung austräte und auch keine Anziehsachen mehr kaufte. Da es an einem Ort, an dem es das ganze Jahr dreißig Grad haben konnte – im Sommer mit Plus und im Winter mit Minuszeichen davor –, durchaus geraten war, Zugriff auf eine Mindestausstattung im Kleiderschrank zu haben, und er als Lokalreporter auch nicht zu allen Anlässen in Jeans, Janker und Haferlschuhen erscheinen konnte, zudem das Kind auf Unterhalt nicht verzichten wollte (und schon gar nicht die mit diesem Kind assoziierte Frau) und die Idee mit der Krankenversicherung die Termine mit der jungen Frau Dr. Frankenthaler aus seinem Kalender getilgt hätte, rechnete er den Faktor zehn in diese Formel ein: Er würde also in rund 2900 Tagen – drei abgedruckte Bilder pro Tag vorausgesetzt – schuldenfrei sein. In nicht mal zehn Jahren. Während dieser Zeit nichts zu essen und nur Leitungswasser zu sich zu nehmen, sah er allerdings als zielführend an, um sein Idealgewicht zu erreichen. Wahrscheinlich wäre diesbezüglich sogar ein bisschen mehr – sprich: weniger – drin.

Der Bilanzpunkt »Toten Mönch gefunden« beherrschte vor all diesen Dingen die Abendgedanken Hartingers. Er rief die Szenerie, die er oben am Josefibichl gesehen hatte, noch einmal vor seinem inneren Auge wach.

Warum war der Tote nicht von einem der vielen Wanderer gefunden worden? Weil das hohe Gras ihn verdeckte? Oder weil er in dieser Mulde lag, in die Hartinger bei seinem Bergauflauf beinahe gestolpert war? Natürlich schauten die Wanderer, die zum Josefibichl auf dem offiziellen Wanderweg rechts außen am Hang hinaufgingen, sicher immer stracks auf den goldenen Jesus, der in Beinahe-Lebensgröße sehr beeindruckend vom Kreuz den Hügel herunterstrahlte. Oben unterm Feldkreuz blieben die Spaziergänger und Wanderer dann stehen, um sich das von dort bietende Panorama, das die komplette Bergkulisse von Alpspitze bis Kramer umschloss, zu genießen. Keiner suchte da die darunterliegende Wiese mit seinen Blicken ab. Und so ein Mönch in dunkelbrauner Kutte konnte natürlich als großes Stück Holz durchgehen.

Hartinger verspürte den Drang, sich den Fundort noch einmal genau anzusehen und auch zu fotografieren. Schließlich hatte er das zwei Jahrzehnte lang fast täglich getan. Doch die Polizisten hatten den Ort in der Zwischenzeit ganz bestimmt »weiträumig abgesperrt«, wie sie wohl in ihren Bericht tippen würden.

Hartingers Gedanken blieben an seiner Unterhaltung mit seinem alten Schulkameraden Bernbacher hängen. O mei, der Bernbacher. »Pfaffenhasser« – was wusste der Bernbacher schon, warum er damals den Kaplan von Partenkirchen öffentlich als Schwein bezeichnet und den Käfer angezündet hatte? »Ortsbekannter Gewalttäter Hartinger« – das hatte sich also ins kollektive Bewusstsein der Gemeinde oder wenigstens ins schlichte des Oberbullen Bernbacher eingeschrieben.

Nein, der Bernbacher hatte wirklich keine Ahnung, was damals vor über zwanzig Jahren geschehen war.

Dann dachte er an einen weiteren Punkt seiner Tagesbilanz, der ihm noch Ärger einbringen konnte: Dr. Theresa Frankenthaler war nicht Zahnärztin, wie er Bernbacher erzählt hatte. Das war ihre im selben Haus niedergelassene ältere Schwester Irene. Dr. Theresa Frankenthaler als frisch in Partenkirchen niedergelassene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie war seine Therapeutin. Deren Dienste ausgiebig in Anspruch zu nehmen, hatte ihm der Betriebsarzt der großen Münchner Tageszeitung wärmstens ans Herz gelegt, bevor er sich in der Personalabteilung des Verlags seine Papiere aus achtzehn Jahren Angestelltendasein und den letzten vier Jahren als »fester Freier« abgeholt hatte.

Nachdem Hartinger seine Tagebucheinträge abgeschlossen hatte, ging er online, um die Nachrichtenlage zu checken. Die Onlineredaktionen von Süddeutsche, Merkur und Bild München schlummerten bereits den Schlaf der Festangestellten. Auch Merkur-Online, sonst schnell mit dem Abtippen des Polizeiberichts, hatte ebenso wenig etwas von einem toten Mönch zu berichten wie die Internetausgabe des Spiegel. War ja auch schon nach acht Uhr abends, da hielt es den Onlineredakteur schon seit Stunden nicht mehr an seinem Mac, wie Hartinger wusste.

Lange konnte es nicht mehr dauern, bis auch die verschnarchtesten Nachrichtenmenschen auf die Story ansprangen. Und die Szenerie mit totem Mönch unter Feldkreuz hatte natürlich schon in ruhigen Zeiten etwas. Weil aber derzeit die Grundfesten der heiligen Mutter Kirche durch die Missbrauchs- und Misshandlungsfälle von Ettal bis Rom erschüttert wurden, war das hier ein ganz großes Ding.

Hartinger wollte die Wette, ob wohl die Kollegen von Bild München oder die LKA-Beamten zuerst an seiner Türe klopften, nicht mal gegen sich selbst eingehen. Womöglich würden die hier im Haus der unbescholtenen Witwe Schnitzenbaumer aufeinandertreffen. Wenn das schon nicht auszuschließen war, dann wäre der armen alten Dame wenigstens zu gönnen, dass sich diese beiden fremden Truppen nur kurz auf ihrem Anwesen aufhielten.

Also schwang er sich aufs Fahrrad und radelte hinüber in den Ortsteil Garmisch, um im dortigen Bräustüberl der Dinge zu harren. Ein Hungergefühl hatte sich bereits unter der Dusche eingestellt.

»Gut Nacht, Frau Schnitzenbaumer, ich bin noch weg, machen Sie niemandem die Türe auf!« Seiner Vermieterin weitere Erklärungen durch die im Erdgeschoss offen stehende Türe zuzurufen war sinnlos. Und ob sie die erteilten Anweisungen verstanden hatte, war nicht sicher. Frau Schnitzenbaumer war reichlich mit Schwerhörigkeit gesegnet. Dorat, wie man hier sagte. Und so standen die Chancen gut, dass sie wirklich niemandem öffnen würde.

2

Der Hartinger Gonzo war also tatsächlich wieder da. Ganz schön zugelegt, der Freund, in den letzten zwanzig Jahren. Aber mei … Bernbacher schaute hinunter auf seinen eigenen Bauch. Und ausgerechnet der Hartinger trug seinen übergewichtigen Körper zum Joggen und stolperte dort, wo Hunderte von Wanderern pro Woche entlanghatschten, als Erster über einen Toten. Ein Witz, oder?

Hauptkommissar Ludwig Bernbacher hatte keine Zeit, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung über diese Umstände aufzumachen. Außerdem war Mathematik nie seine Stärke gewesen. Es ging auch um wichtigere Dinge. Es ging um ein Schwerstverbrechen in seinem Wirkungskreis, in seiner Gemeinde, in seinem Garmisch-Partenkirchen. Da hieß es: vorsichtig, umsichtig sein. Er konnte in dieser Sache mehr falsch als richtig machen.

Hatte er nicht schon den ersten großen Fehler gemacht, indem er den Hartinger hatte laufen lassen? Hätte er ihn nicht dabehalten sollen, bis sich die Kollegen aus Weilheim, vom Präsidium Oberbayern Süd in Rosenheim, gar aus München oder sonst woher eingefunden hätten? Nachdem seine Polizeiinspektion durch Hartingers Anruf alarmiert worden war, hatte er dem vorgeschriebenen Alarmplan folgend sofort die entsprechenden Stellen anrufen lassen. Andererseits: War er nur deren Erfüllungsgehilfe, konnte er nicht selbst entscheiden, wann er einen Zeugen nach Hause schickte und wann nicht? Er, Ludwig Bernbacher, konnte das. Er war Polizeichef von Garmisch-Partenkirchen.

Bernbacher stieg aus seinem klimatisierten Audi und überwachte die Absicherungsmaßnahmen der jungen Polizeiobermeister, die sich in der dämpfigen Schwüle des Sommerabends durchs Gras kämpften. Zu nahe an den Toten heran wollte er sich nicht wagen. Erstens der Spuren wegen, die nicht zerstört werden durften – wann rückten denn endlich die Spurensicherer aus Weilheim an? –, und zweitens hatte er schon als Bub beim Fußball, Eishockey, auf der Skipiste oder wann auch immer es zu Verletzungen gekommen war, am liebsten weggeschaut. Ein Helfersyndrom hatte ihn ganz gewiss nicht zum Polizisten werden lassen.

Im Sprechfunk, den er über den Außenlautsprecher seines Audi mithören konnte, meldeten sich zum ersten Mal die Weilheimer. Verfranzt, die Deppen. Hoffentlich konnten sie das hier oben wenigstens anständig. So viele Menschen wurden im Oberland auch nicht umgebracht, dass so eine SpuSi den ganzen Tag Mordschauplätze zu untersuchen hätte. Auch wenn die Weilheimer für so ziemlich das ganze Bayernland, das sich südlich Münchens befand, zuständig waren. An den westlichen Grenzen Oberbayerns gab es manchmal Reibereien mit den Augsburgern. Klar, dass man sich um jeden spektakulären Fall an der Grenze zwischen Bayern und Schwaben stritt. Normal spektakulär war ein Selbstmörder, der von der Echelsbacher Brücke gesprungen war, oder ein zu risikofreudiger Kawasaki-Fahrer hinter Unterammergau – etwas ganz anderes war das hier: ein echtes Kapitalverbrechen.

Das Dudeln des Mobiltelefons, das sauber an den Gürtel der Sommeruniform geklammert war, unterbrach Bernbachers Gedanken.

»Hauptkommissar Bernbacher, Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen.« Bernbacher versuchte einen unaufgeregten, professionellen Ton.

»Schneider, LKA. Bernbacher, wo sind Sie?«, fragte die Stimme am anderen Ende forsch.

Bernbacher schlug innerlich die Hacken zusammen. Das LKA. Bayerisches Landeskriminalamt, München. Die POMs sahen zu ihm herüber und bemerkten seine ungewohnt straffe Körperhaltung. Sie wussten: Jetzt wird’s ernst.

»Direkt am Tatort. Sichere das Umfeld. Alles unter Kontrolle.«

»Woher wissen Sie, dass das der Tatort ist? Haben Sie einen Augenzeugen?«

Bernbacher wurde beinahe schwarz vor Augen. Waren das jetzt ein großer Fehler oder zwei kleine gewesen? Nicht gut, gar nicht gut …

»Korrigiere, bin am Fundort des Leichenfunds, äh, am Ort des Fundes … Zeuge vorhanden, aber …«

»Bernbacher, halten Sie die Leute aus dem Gelände, wir sind in einer Viertelstunde da. Machen Sie Fotos von allem, was Sie sehen. Vielleicht läuft Ihnen ja eine Gämse vor die Linse. Ende.«

Bernd Schneider reichte das Gehörte, um zu wissen, dass da ein schwieriger Fall auf ihn zukam. Sein rechter Bikkembergsschuh nagelte das Gaspedal des BMW ans Bodenblech. Kaum, dass er den Wagen auf Höchstgeschwindigkeit gebracht hatte, die bei zweihundertfünfzig Stundenkilometern elektronisch begrenzt war, erreichte er das Ende der Autobahn 95 bei Eschenlohe. Er preschte mit vollem Orchester weiter über die B 2, schnitt durch das enge Oberau, dass die Wäsche an den Balkonen rechts und links der Bundesstraße flatterte, und stellte den Wagen nur knapp fünfzehn Minuten nach dem Telefonat mit Bernbacher auf dem Parkplatz der Garmisch-Partenkirchner Polizeiinspektion ab. Er wies seine Assistentin an, sofort einen ortskundigen Fahrer zu rekrutieren, der sie zum Fundort der Leiche bringen sollte. Dort nahm er die Situation gründlich in Augenschein – wobei er peinlich darauf achtete, die Arbeit der mittlerweile ebenfalls eingetroffenen Spurensicherung nicht zu behindern.

Nach der Besichtigung des Fundorts und seiner Umgebung, während derer Schneider zwei Stunden auf dem Josefibichl verweilte, ließen sich die beiden LKA-Beamten wieder zur PI fahren. Schneider musste sich deren Leiter Ludwig Bernbacher zur Brust nehmen. Er fand ihn in seinem Büro vor, wo er geschäftig auf die Computertastatur hackte.

»Ist das wirklich Ihr Ernst? Sie haben den einzigen Zeugen – oder vielleicht sogar Tatverdächtigen – nach kurzer Befragung auf Joggingschuhen nach Hause geschickt? Sagen Sie, dass das nicht wahr ist!«

Bernd Schneider hatte in seiner fünfzehnjährigen Polizeikarriere, die ihn bis in das Dezernat SG532, den Kriminaldauerdienst des Bayerischen Landeskriminalamts, gebracht hatte, selten eine so dämliche Geschichte gehört wie die, die ihm dieser bräsige Provinzsheriff Bernbacher hier auftischte. Dämlicher waren damals zu Beginn seiner Laufbahn vielleicht die Ausreden der betrunkenen Autofahrer gewesen, die er – »Allgemeine Verkehrskontrolle, darf ich einmal die Papiere sehen?« – aus dem fließenden Verkehr zu ziehen hatte.

In einem Fall von Totschlag, um den es sich hier offensichtlich handelte, den einzigen Menschen, der überhaupt etwas Verwertbares zu dem Vorfall beitragen konnte, nach Hause schicken – joggend – und darauf vertrauen, dass er dort blieb … Einen ausgebufften Expolizeireporter. Karl-Heinz Hartinger. Gonzo Hartinger.

Natürlich kannte Schneider den in München stadtbekannten Trinker, Weiberhelden und – leider auch – verdammt hartnäckigen Schreiberling Hartinger. Jeder Polizist, der in den vergangenen zwanzig Jahren in und um München an einem Fall gearbeitet hatte, der nur unwesentlich spektakulärer war als ein Automatenaufbruch in Neuperlach, hatte mit Hartingers halsstarrigem Wahrheitsdrang und seiner spitzen Feder Bekanntschaft gemacht. Der Mann konnte einem so richtig auf den Zeiger gehen.

»Dann schicken Sie sofort eine Streife los, die den Kerl innerhalb der nächsten fünf Minuten hier in Ihre romantische Trutzburg befördert, Mann!« Schneider schnaubte.

»Schon unterwegs, Herr Hauptkommissar.« Wenigstens dieses Mal hatte Bernbacher bereits sein Hirn und zwei seiner POMs in Bewegung gesetzt, bevor ein Befehl dazu ergangen war.

»Lassen Sie uns in der Zwischenzeit die Lage festhalten.« Bernd Schneider ließ keine Sekunde lang einen Zweifel daran, wer der Chef im Ring war. Auch wenn die Kollegen in Uniform teilweise fast zwanzig Dienst- und somit Lebensjahre mehr auf dem Buckel hatten und dies hier eigentlich ihr Gäu war: Er war Schneider, er war LKA – alles hört auf mein Kommando.

Er trommelte die vier Beamten der Garmisch-Partenkirchner Polizeiinspektion, die am Fundort gewesen waren, den obersten Spurensicherer und die beiden Vertreter der Kripo aus Weilheim sowie seine Assistentin Claudia Schmidtheinrich und natürlich Bernbacher am langen Tisch im kargen Besprechungsraum zusammen. Am oberen Tischende saß er, Schneider, und leitete die Besprechung mit den wenigen Fakten ein, die er während der Anreise von München her per Telefon und durch seine Besichtigung des Fundorts erfahren hatte. Claudia Schmidtheinrich, rechts neben ihm, protokollierte fleißig in den mitgebrachten Laptop.

»Fürs Protokoll, Claudia: Dienstag, 27. Juli 2010. Einundzwanzig Uhr fünfunddreißig. Ort: PIGAP. Anwesend … Na ja, siehst du ja selber. Hast ja die Namen der Herren.«

Schneiders Assistentin nickte, blies sich eine dunkelbraune Locke aus dem Gesicht, die sich aus ihrem streng gebundenen Pferdeschwanz gelöst hatte, und schaute über ihre halbrunde Brille nach links und rechts.

Schneider ratterte die Fakten herunter: wer wann wo von wem gefunden worden war.

»Kollege Spurensicherer, was haben Sie bisher?«

Jetzt, um halb zehn Uhr abends, arbeiteten oben auf dem Josefibichl noch drei der vier Kollegen im Flutlicht weiter, der dienstälteste, Herrmann Rottal, dem es hoffentlich gelingen würde, sich auch die verbleibenden acht Jahre bis zur Pensionierung in den weißen SpuSi-Overall zu zwängen, berichtete: »Der ganze Berg ist voll von Spuren. Wie die Anwesenden ja wissen, verkehren dort regelmäßig Wanderer und auch Gläubige, die am Feldkreuz Blumen niederlegen. Und so ist auch die Spurenlage. Grobstollige Wanderschuhe, Damenschuhe, Kinderschuhabdrücke – einfach die komplette Auswahl. Zur Leiche: keine Schleifspuren, scheint also direkt dort zu Tode gekommen zu sein. Wir wissen aber sicherlich mehr, sobald uns der Gerichtsmediziner, der derzeit noch oben ist, seinen Bericht liefern kann. Ansonsten: viel Müll, Papiertaschentücher, Schokoriegelpapier, das Übliche in der schönen Natur. Müssen wir erst im Labor auswerten.«

»Mit anderen Worten: viel nichts«, grummelte Schneider den Kollegen an. Der hielt es für zeit- und nervenschonender, mit nicht mehr als einem vieldeutigen Heben der Augenbrauen auf diesen Einwurf zu antworten.

»Hat sonst noch jemand etwas Erhellendes beizutragen?« Schneider richtete diese Frage direkt an die auf der rechten Seite des Tisches versammelten Garmisch-Partenkirchner Kollegen.

»Mei, es wäre vielleicht für die Anwesenden interessant, dass im Franziskanerkloster St. Anton ein Mönch abgeht.« Alle Augen richteten sich schlagartig auf Bernbachers jungen Kollegen, den Polizeiobermeister Paul Grasegger. In einem Anflug von Selbstverantwortung hatte er nach der Rückkehr vom Josefibichl im von dort nur wenige Hundert Meter Luftlinie entfernten St. Anton angerufen. »Der Abt Gregorius sagt, dass der junge Mitbruder Engelbert gegen ein Uhr am Nachmittag St. Anton verlassen hat. Gibt Geigenstunden im Ort. Um sechs Uhr zur Vesper ist er nicht aufgetaucht. Gregorius wollte sowieso bei uns anrufen, weil: vollkommen unnormal, dass der Engelbert aushäusig bleibt.«

Grasegger beendete seinen kurzen Bericht, während sein Chef Bernbacher und die anderen Uniformierten äußerst selbstzufriedene Mienen aufsetzten. Schneider nagelte ihn mit einem durchdringenden Blick auf dem Besprechungsstuhl fest. Fast eine Minute starrte er den nur wenig jüngeren Uniformierten an. Im Raum war nichts als der draußen an der Polizeiinspektion vorbeirauschende Verkehr der B 2 zu hören.

Schneider wartete so lange, bis er das Augenduell mit Grasegger gewonnen hatte und dieser den Blick senkte. Dann sagte er so ruhig, wie er konnte: »Wenn Sie mir das nächste Mal eine so wichtige Information vorenthalten, statt unverzüglich Meldung zu machen, werden Sie sich wünschen, die nächsten zwei Jahre Knöllchen schreiben zu dürfen. Ich stecke Sie dann nämlich als Instruktor in die Kinderverkehrsschule. Das hat noch jedem renitenten Jungspund Disziplin beigebracht.« Und zu Bernbacher: »Hätten Sie die Liebenswürdigkeit, mir jetzt, nachdem ich dankenswerterweise von der möglichen Identität des Toten in Kenntnis gesetzt wurde, auch noch den Zeugen Hartinger vorzustellen? Ich wäre Ihnen wirklich zu großem Dank verpflichtet.«

Die Selbstzufriedenheit wich schlagartig aus Bernbachers Gesicht, und die Erinnerung an seinen Fehler ließ seine vom jahrzehntelangen Biergenuss dauergeröteten Apfelbäckchen ebenso erblassen wie die Tatsache, dass die Kollegen, die er vor über einer Stunde losgeschickt hatte, um diesen Fehler wieder wettzumachen, immer noch nicht zurück durch das große Eisentor der Polizeiinspektion gerollt waren.

»Zeuge Hartinger, jawoll!«, antwortete er, dem TV-Wachtmeister aus dem Königlich Bayerischen Amtsgericht nicht ganz unähnlich, wie Claudia Schmidtheinrich amüsiert zur Kenntnis nahm. Dann stürzte er aus dem Besprechungsraum, um in der Funkzentrale nach seinem Suchtrupp zu plärren.

»Loisach vier, melden!«, blaffte er höchstpersönlich in das Mikro, den wachhabenden Funker unsanft zur Seite schubsend. Und nachdem sich eine halbe Minute nichts tat: »Loisach vier – melden, sofort!« Weitere sehr zähe dreißig Sekunden vergingen: »Loisach vier – ja, zäfix, wo steckts ihr denn?« Zorn und Verzweiflung brachten seine Stimme an den Rand des Überschlags in die übernächste Oktave.

Die Besatzung von Loisach vier hatte ganze Arbeit geleistet. Erst einmal hatten die Polizeiobermeister Janine Wagner und Maik Oberbrück versucht, den Zeugen Hartinger in seiner Wohnung in der Dreitorspitzstraße anzutreffen. Während seine Kollegin mit dem Oberpfälzer Dialekt lautstark mit der tauben oberbayerischen Vermieterin diskutierte, was Oberbrück aufgrund seines eigenen obersächsischen Sprachhintergrunds erst gar nicht versucht hatte, schlich er sich ums Haus. Nach Erklimmen eines Holzstapels und des Garagendachs stellte er fest, dass die beiden Dachfenster des Anbaus, die zum Zimmer des Untermieters gehören mussten, dunkel und geschlossen waren. Bei der Hitze war da sicher niemand unterm Dach. Er verließ seine nicht ganz legale Spähposition, bedeutete seiner Kollegin im Vorbeigehen per Kopfnicken, ihm schnell zu folgen, und setzte sich in den Wagen.

Sie klapperten die Kneipen der beiden Ortsteile ab, was sich über eine Stunde hinzog. Dann: Teilerfolg für Loisach vier im Bräustüberl. Ja, der Hartinger Gonzo sei kurz nach acht da gewesen, habe schnell ein saures Lüngerl verdrückt, dabei ein alkoholfreies Weißbier heruntergestürzt und sei dann ziemlich unvermittelt wieder davongeradelt. Wohin? Ja, das wusste die Bedienung Anni auch nicht so genau, nur habe er es während des Bezahlens wahnsinnig eilig gehabt und noch gesagt: »Den um neun muss ich erwischen!« Dabei habe es sich sicherlich um einen Zug gehandelt oder einen Bus, meinte die Anni.

Bevor die Männer vom Stammtisch mit ihren Fragen auf die jungen Polizisten losgehen konnten, was zum Teufel denn da oben in Partenkirchen los sei, weil dort seit Stunden alles abgesperrt sei, und ob wohl ein Blindgänger aus dem Krieg dort gefunden worden wäre, waren die beiden wieder im Audi und jagten – diesmal mit vollem Orchester – in Richtung Bahnhof, wo sie den Neunuhrzug nach München knapp verpassten.

Also weiter die Bahnstrecke entlang. Oberau – Ohlstadt – Murnau – Huglfing … Kurz vor Weilheim endete die Zuständigkeit der Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen. An keinem Halt stieg Hartinger aus. Und im Zug war er auch nicht, wie Janine Wagner sicherstellte, die seit Ohlstadt im Zug mitgefahren war und alle Wagen bereits in Murnau durchsucht hatte.

Bernbachers verzweifelter Funkruf nach seinem Streifenwagen Numero vier musste ins Leere gehen, nachdem dieser die beiden Eschenloher Tunnels hinter sich gelassen hatte und die alte analoge Funktechnik an die Grenze ihrer Reichweite gebracht war. Umgekehrt versuchte Oberbrück mehrfach, Bernbacher per Handy zu erreichen, doch in der Aufregung hatte der Leiter der Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen sein Mobiltelefon bei der Rückkehr vom Leichenfundplatz leider im Auto liegen lassen.

Karl-Heinz Hartinger war vom Radar der bayerischen Polizei fürs Erste verschwunden. Er hatte den Zug in Oberau auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite verlassen und war – hinter dem gerade vor dem Bahnhof anrauschenden Audi der beiden jungen Polizisten – zurück zur Bundesstraße gerannt und von dort geradewegs zur Shell-Tankstelle am Ortsausgang, wo er einen italienischen Milchlasterfahrer fragte, ob er ihn mit nach München nehmen könne.

Der Trasporto Latte ließ ihn kaum eine Stunde später im Westen der bayerischen Landeshauptstadt an der Aral-Tankstelle auf dem Mittleren Ring wieder aussteigen, bevor er auf die Lindauer Autobahn einfädelte, um irgendwo im Allgäu fünfundzwanzigtausend Liter Milch abzuholen, die – in Italien zu echtem Mozzarella verarbeitet – wieder von einem Käselaster zurücktransportiert werden sollten.

Hartinger hatte an diesem Tag keine Zeit, sich über diesen innereuropäischen Warenkennzeichnungswahnsinn aufzuregen. Er war froh, dass er den grünen Häschern Garmischs erst einmal entkommen war. Auch wenn das bedeutete, dass er schneller als geplant wieder dort angelangt war, wohin er erst als geläuterter Mann hatte zurückkehren wollen: in der Stadt, die ihn ganz nach oben und ziemlich weit nach unten gebracht hatte.

Er eilte zur nächsten U-Bahn-Haltestelle am Westpark, um die Linie sechs in die Innenstadt zu nehmen. Am Marienplatz stieg er aus und wusste den Mann, den er suchte, in einem Umkreis von dreihundert Metern. Kurt Weißhaupt, ehemaliger Lokalchef der Süddeutschen Zeitung, konnte nur in Schumann’s Bar am Odeonsplatz sitzen.

Hartinger lenkte seine Schritte durch die Theatinerstraße vorbei an den Läden internationaler Stilkonzerne, die sich in den letzten Jahren an die Stelle der eingesessenen Modehäuser gesetzt hatten, und betrat die Bar fünf Minuten später durch die versteckte Seitentür in der Galeriestraße.

Nicht viele Gestalten – und Gott sei Dank keine ihm bekannten – saßen an den kleinen Holztischen mit den roten Reserviert-Schildern. Die meisten Besucher hatten an diesem ersten warmen Sommerabend seit Wochen an einem der umkämpften Tische auf der Ludwigstraße vor dem Lokal oder auf der Terrasse im Hofgarten Platz genommen. Man ließ München mit der eigenen Grandezza um die Wette leuchten.

Auf Weißhaupt jedoch war Verlass: Er saß am hintersten Tisch links von der Bar und hatte bei einem Pils auf sein Hacksteak mit Kartoffelsalat gewartet, das einer der jüngeren Barmänner gerade vor ihm platzierte.

»Mensch, Kurt«, begrüßte Hartinger seinen Exchef. »Gut, dass du nicht mehr mit dem Redaktionspaternoster fahren musst. Der würde bei deiner Kalorienaufnahme bald ungebremst vom vierten Stock in den Keller durchrauschen.«

So, als wären seit Hartingers Abgang nicht mehrere Monate vergangen, in denen sie kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten, sondern als hätten sie an diesem Tag erst in der großen Konferenz der Zeitung das letzte Mal zusammengesessen, erwiderte Weißhaupt, ohne von seinem Teller aufzublicken: »Du schon wieder. Ich dachte, dich wären wir los, Mister Universum. Hat sich unser geschätzter Verlag jetzt tatsächlich ein Fitnessprogramm für übergewichtige Pensionäre einfallen lassen und dich wieder nach München geholt? Muss sagen, wenn ich dich sehe, vergeht mir der Hunger.«

»Macht nichts, bleibt mehr für mich.« Hartinger hatte sich Weißhaupt bereits gegenübergesetzt und nahm vom Gedeck des leeren Platzes neben Weißhaupt die Gabel, mit der er sofort in das dampfende Hacksteak stach. »Erwartest noch jemanden?«

»Manchmal muss man nicht warten, man wird gefunden«, seufzte Weißhaupt und begann seinerseits mit der Mahlzeit. »Im Ernst«, fuhr er nach dem ersten Bissen fort und schmatzte seinem Gegenüber ins Gesicht, »so schnell habe ich nicht mit dir gerechnet. Eigentlich hab ich erwartet, dass das Nächste, was ich von dir höre, das Scheppern des Eisenkranzes ist, den du mir ins Grab hinterherschmeißt, Gonzo.«

»Manchmal muss man auch die dunkelste Vergangenheit ruhen lassen. Ich bin euch – stell dir vor: gerade erst seit heute – nicht mehr böse, dass ihr mich rausgeschmissen habt. Und du konntest ja eh nichts dafür, und mal abgesehen davon, dass du nicht sofort solidarisch mit mir gekündigt hast, hab ich dir nichts vorzuwerfen. Und bei einem, der kurz darauf in den wohlverdienten Ruhestand geht, ist das ja auch nicht zu erwarten.«

»Ach, ich hätte schon viel früher gehen sollen, Hartinger. Hätte nicht mehr in den neuen Büroturm an der Autobahn nach Passau mit umziehen sollen. Hast du noch mitbekommen, wie es den Redaktionsmamis auf der windumtosten Plattform vorm Haupteingang bei einem ordentlichen Frühjahrsföhn die Kleinen aus der Hand bläst, wenn sie die aus dem Betriebskindergarten holen? Landen dann an der Glasfront des Betriebsrestaurants. Mensch, Hartinger, früher hießen die Mamis noch Schnecken, Eulen oder Tanten, der Betriebskindergarten war das Praktikantenzimmer und das Betriebsrestaurant schlicht und einfach die gute alte SZ-Kantine mit dem schönsten Blick auf unsere Liebfrauenkirche. Weißt ja, Hartinger: Ich bin ein Auslaufmodell, glaub noch an Recherche zu Fuß. Deshalb hab ich da draußen in dem modernen Vierkantbolzen nichts mehr verloren.«

Weißhaupts generationsbedingten Chauvinismus zu geißeln hatte Hartinger jetzt nicht die Muße. Normalerweise hätte er eine mindestens zwei Pils lange Debatte über die frevelhafte Ungleichbehandlung von Frauen auch bei scheinbar liberalen Zeitungsverlagen eingeläutet. Bei »Recherche zu Fuß« musste Hartinger allerdings innerlich lachen, denn Weißhaupt war unangefochtener Kurzstreckenweltmeister im Taxi; öffentliche Verkehrsmittel waren unter seiner Würde, und seine Kraft hatte er schon immer für die Zeit nach der Pensionierung geschont.

Hartinger nahm die nachdenkliche Pause nach Weißhaupts Tirade auf moderne Zeiten zum Anlass, das Vorgeplänkel zu beenden und zum Thema zu kommen: »Du musst mir helfen.«

»Mit einer Recherche?« Weißhaupt sah Hartinger mit hochgezogenen Brauen an.

»Ja, mit einer Recherche, mit Informationen, mit allem, was du weißt und kannst.« Hartinger fixierte die Augen Weißhaupts. »Ein Mönch ist tot. Ich habe ihn gefunden. Wenn sie keinen anderen haben, werden sie es mir anhängen.«

Der Abend begann Kurt Weißhaupt Spaß zu machen. Erst kam sein alter Zögling – sein gefallener Zögling, der ihn enttäuscht hatte, aber immerhin – in sein Wohnzimmer und erklärte den Krieg für beendet (auch wenn er sich das nicht anmerken ließ, aber das war an sich schon eine sehr gute Nachricht), und nun wurde auch noch eine Story daraus, und sein bester Mann steckte mittendrin.

Weißhaupt wurde vom Jagdfieber gepackt wie ein alter Eskimo, an dessen Iglu ein Eisbär vorbeischlenderte. »Kannst du mir das bitte ausdeutschen, was du mir hier als Dessert auftischen willst, Gonzo?«

»Ja, das kann ich, aber nicht hier. Ist eh der Hammer, dass ich mich hier rumtreibe, wo mich spätestens morgen jeder Bulle im Freistaat auf dem Schirm hat.«

»Ich sag’s ja: Recherche zu Fuß bringt’s, Gonzo. Per Telefon hättest du mich erst morgen ab zehn in der Redaktion erreicht«, grinste Mobilfunkmuffel Weißhaupt, der trotz seines Geschimpfes auf den Zeitungsturm am Rande der Stadt auch nach seiner Pensionierung noch immer als Berater der Chefredaktion jeden Tag ebendort aufkreuzte. »Los jetzt, Kurt, jetzt lass den Deckel anschreiben und nichts wie raus hier.«

Barmann Marek sah die beiden noch durch den dunkelgrün gekachelten Seitenausgang verschwinden, zu dem es durch die Schwingtür direkt neben Weißhaupts Stammplatz ging, dann schrieb er das Pils und das Essen auf den weißen Untersetzer mit dem Schumann’s-Schriftzug und hängte ihn zu den anderen an den Nagel neben der Kasse. Monatlich einmal wurden Weißhaupts gesammelte Deckel zu einer Rechnung zusammengefasst und diese an den Verlag gesandt. Auch wenn Weißhaupt von Herzen gerne über seinen ehemaligen Arbeitgeber schimpfte, diese »freiwillige Sozialleistung« hatte er in die Pensionärszeit herübergerettet.

3

Im kleinen Franziskanerkloster St. Anton oberhalb Partenkirchens löschte Abt Gregorius das Licht in seinem Zimmer und kniete sich vor sein schmales Bett. Die Ellenbogen auf der Matratze aufgestützt, faltete er die Hände und legte seinen Kopf mit der Stirn auf die beiden übergeschlagenen Daumen. Er betete für die Seele des jungen Paters Engelbert, der nur für sehr kurze Zeit sein Mitbruder gewesen war. Abt Gregorius war wieder allein im Kloster. Morgen würden sie kommen mit ihren Fragen und bald darauf mit ihren Verdächtigungen.

Es war seine Aufgabe, Pater Engelbert, das Kloster und den Orden zu schützen. Und es gab die Aufgabe, die er sein ganzes Leben lang schon zu erfüllen gehabt hatte.

»Du musst dich dort wieder blicken lassen. Und zwar bald.«

Kurt Weißhaupt vermied zu sagen: »Du wirst dich stellen müssen.«

»Ich hab da eine Story, die ich recherchieren will«, entgegnete Hartinger. Sein ehemaliger Chef und er gingen die Sendlinger Straße in Richtung des gleichnamigen ehemaligen Stadttors, um dort links in das Glockenbachviertel abzubiegen, wo Weißhaupts Stadtwohnung lag.

»Das Problem ist, dass du mitten in dieser Story drinsteckst. Und zwar tiefer, als dir bewusst ist. Die Meldung, die wir gerade online gestellt haben, lesen nicht nur unsere geschätzten Leser, sondern auch die lieben Kollegen und die Vertreter der Staatsmacht. Die wissen jetzt, dass wir zumindest in Kontakt stehen. Wahrscheinlich stehen sie jetzt schon bei mir vor der Tür. Und wenn nicht, dann morgen früh um sieben.«

In der Hans-Sachs-Straße, in der Weißhaupt wohnte, patrouillierte tatsächlich ein Streifenwagen, aber dessen Besatzung tat nur ihren Routinejob in einem Viertel, das immer noch von Schwulenbars und Szenekneipen geprägt war. Die billigen Mieten der Altbauwohnungen hatten das ehemalige Münchner Stadtviertel Nummer elf seit den Achtzigerjahren mit Künstlern und Lebemenschen angefüllt. Das Glockenbachviertel war »in« geworden, und Medienschaffende und Unternehmensberater waren schließlich ein- und die Mieten hatten um das Vierfache angezogen. Nun riefen die neuen Bewohner in den mittlerweile luxussanierten Altbauwohnungen immer öfter die Polizei, wenn sie die »Hipness«, die sie ursprünglich hergelockt hatte, in ihrer Nachtruhe störte.

»Du kannst heute Nacht im Gästezimmer übernachten, aber schau, dass du morgen um fünf draußen bist«, empfahl Weißhaupt.

Hartinger nahm das Angebot dankbar an. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig.

Gerade im verbliebenen kleinen Stadtbüro der Zeitung, deren Redaktionen jetzt in dem modernen Büroturm residierten, war in ihm die große Sehnsucht nach seinem alten Polizeireporterleben aufgekommen. Ungewöhnlich für einen pensionierten Lokalchef, aber sehr gewöhnlich für einen wie ihn, hatte Weißhaupt einen Schlüssel zu dem versteckt gelegenen »SZ-Servicezentrum« in der Fürstenfelder Straße, und mit seinem Passwort hatte er Hartinger Zugang zum Redaktionssystem ermöglicht. Hartinger hatte die Story über den toten Mönch innerhalb einer Viertelstunde runtergetippt, und in diesen fünfzehn Minuten war er wieder ganz der Alte gewesen.

Ob das eine schlaue Idee gewesen war, sich der Garmischer Polizei zu entziehen und dann so deutliche Spuren zu hinterlassen, bezweifelte er selbst. Obwohl – was hatte er denn verbrochen? Was konnte er dafür, dass gerade er den toten Mönch da liegen gesehen hatte? Dass er nicht schon weiter unten eine andere Abzweigung genommen hatte und direkt ins Hasental gelaufen war? Aber er und ein toter Mönch – passender ging’s wohl nicht.

Auf dem Weg in Weißhaupts Badezimmer verabschiedete sich Hartinger von seinem ehemaligen Chef. »Wir bleiben in Kontakt, Meister Weißhaupt.«

»Wird nicht ausbleiben«, sagte Weißhaupt, bevor er seine Schlafzimmertür zuzog. »Du schuldest den Lesern und mir die Auflösung deines kleinen Rätsels.«

Ende der Leseprobe