Stieranger - Marc Ritter - E-Book

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Marc Ritter

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Beschreibung

Dass ausgerechnet er, Lokalreporter Karl-Heinz "Gonzo" Hartinger, sich um den Unternehmer Oliver Klammert kümmern muss, der in Garmisch-Partenkirchen einen neuen Standort sucht, ist schlimm genug. Dass dies auch noch joggenderweise passieren muss, weil Klammert sich als Fitnessfreak entpuppt, macht die Sache nicht besser. Aber spätestens als sie das Grand Hotel Sonnenbichl erkunden und Hartinger auf dem Dachboden ein bekannter, höchst unangenehmer Geruch in die Nase strömt, ist mal wieder klar, dass hier etwas ziemlich zum Himmel stinkt …

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96398-5

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Umschlaggestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie

Werbeagentur AG, Zürich

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Der Tiger gähnt. Er käm so gern geloffen …

Doch seines Käfigs Stäbe halten dicht.

Und ließ der Wärter selbst die Türe offen:

Man geht ja nicht.

Kurt Tucholsky

Kapitel 1

Das Werdenfelser Land präsentierte einen oskarverdächtig schönen Herbst. Die Laubbäume, die hier und dort zwischen den Fichten und Tannen der niedrigen Vorberge hervorlugten, leuchteten ihr helles Gelb und ihr sattes Rot in die Postkartenkulisse. Darüber ragten die grauen, steilen Felsen des Wettersteins in den Himmel. Dessen Blau war von zarten weißen Wolkenfähnchen durchzogen, die der Föhn vor sich hertrieb. Die Spitzen der Kalkfelsen waren noch schneefrei. Der Bergsommer hatte seine Tätigkeit bis in den September ausgedehnt.

Karl-Heinz Hartinger radelte entgegen den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung durch die Fußgängerzone des Ortsteils Garmisch. In den Kopfhörern erklang ein Best-of der Joni-Mitchell-Songs, die er vor dreißig Jahren auf eine Musikkassette überspielt hatte. Er philosophierte in Gedanken darüber, welches das größere Wunder war: dass das schmale Tonband in der BASF-Kassette oder der Sony-Walkman die Zeiten überstanden hatte. Ein Phänomen, eines Artikels im Feuilleton der Zeitung aus der Stadt würdig. Doch Wunder sollte man nicht verstehen wollen, dachte er sich. Er lauschte seiner mittlerweile siebzigjährigen Lieblingssängerin, während er auf dem genauso alten Miele-Fahrrad der Witwe Schnitzenbaumer erhobenen Hauptes durch seinen Heimatort Garmisch-Partenkirchen radelte, und blickte hinauf in die Wälder. Dabei träumte er sich in das Herkunftsland Joni Mitchells, nach Kanada, wo die Blätter Ende September genauso bunt aussahen wie in den Alpen. Beseelt hielt er auf die Konditorei Krönner zu. Von Weitem wehte ihm ein Croissant-Duft um die Nase, der sein Glück an diesem Donnerstagmorgen ins Unendliche gesteigert hätte …

Hätte da nicht in der Mitte der Straße eine Radlstreife der Garmisch-Partenkirchner Polizei auf grün-weiß lackierten Mountainbikes gestanden. Ein Polizist und seine Kollegin reckten beide ihre mit Kellen bewehrten Hände nach oben, um ihn aufzuhalten.

»Was gibt’s, Sheriff?«, grüßte Hartinger den ihm unbekannten Uniformierten. Die Polizistin kannte Hartinger. Auch ihr gönnte er einen für seine Gewohnheiten und sein spezielles Verhältnis zur Garmisch-Partenkirchner Ordnungsmacht netten Spruch: »Servus, Natalie. Fesche Haxen hast du in den Radlerhosen. Viel besser als in der sackartigen Uniform, die sie euch geben.« Er bewegte den Kopf nach links, um die Angesprochene von der Seite anzusehen. Diese wusste genau, dass er ihren Hintern musterte. Dessen Ausmaße konnten im vierten Jahrzehnt seiner Existenz die Abstammung aus dem örtlichen Genpool nicht verheimlichen. »Sauber, ich mein, für dein Alter«, sagte Hartinger. »Respekt.« Er konnte es sich nicht verkneifen, dem zwiefotzigen Kompliment einen Zungenschnalzer folgen zu lassen.

Die Angesprochene grinste schief. »An dir ist der letzte harte Winter auch nicht spurlos vorübergegangen, Gonzo. Und die vierzig bis fünfzig vorher ebenfalls nicht.« Sie richtete ihre Augen auf seinen Bauch, der sich unter dem karierten Hemd breitmachte.

Hartinger zog die Wampe ein und beendete die Frotzeleien. Er stieg vom Rad, ging einen Schritt auf die Beamten zu und tat vertraut: »Wen suchts ihr? Kann ich helfen?«

»Sie suchen wir«, antwortete der junge Beamte.

»Gefunden!«, jubelte Hartinger. »Unsere Polizei ist großartig! Ich sag’s ja, solche Spürnasen gibt’s eigentlich nur im Krimi. Also, im Groschenroman halt. Dass ihr genau auf meinem Arbeitsweg eine Straßensperre aufbaut – Leistung. Sollen wir noch eine Verfolgungsjagd anschließen? Für euer Protokoll? Ich fahr euch nicht weg, versprochen. Nur bis vorn zum Bischoffseck. Ihr müssts nicht schwitzen, Ehrensache. ›Wir konnten Karl-Heinz Hartinger, der auf dem ungeölten Vorkriegsrad flüchtete, mit unseren Hightechgeräten in der Fußgängerzone stellen – ohne Schusswaffengebrauch!‹ Das liest sich gut im Polizeibericht, oder?«

Der Polizist fuhr unbeirrt fort. »Sie sagen es: Fußgängerzone. Sie fahren in dieser Fußgängerzone Rad. Mit Kopfhörern. Beides verboten. Jetzt würde ich gerne eine Funktionskontrolle an Ihrem … ähem, Fahrrad vornehmen.«

»Einen Schmarren. Kein Mensch ist unterwegs in eurer Fußgängerzone. Es ist halb acht am Morgen. Die Läden sind alle zu! Da ist es wurscht, ob ich da radele, weil, ist eh keiner unterwegs. Außer euch natürlich.«

»Macht nichts, Gesetze gelten immer.«

»Und für jeden«, assistierte Natalie Berchtenbreiter dem jungen Kollegen mit einem zufriedenen Lächeln.

»Ihr wisst schon, dass ich da mit dem Radl durchgefahren bin, als der Autoverkehr noch zweispurig hin- und herraste?«, empörte sich Hartinger. »Ich hab ein Gewohnheitsrecht. So, jetzt Schluss mit der Gaudi, ich brauch ein Croissant. Muss in die Arbeit. Mein erster Fototermin ist heut um acht.« Hartinger schwindelte. Er wollte vor allen anderen in der Redaktion sein, um sich die besten Termine des Tages vor dem Fotografenkollegen Meerbusch vom Terminbrett zu klauben. Doch das ging die Polizei nun weiß Gott nichts an.

»Interessiert uns nicht«, beharrte der Polizist. »Ihre Ausweispapiere, bitte.«

»Natalie, sag ihm, dass der Spaß irgendwo ein Loch hat! Überhaupts, wer iss’n der?«

»Polizeimeister Buchheimer mein Name.«

»Tja, tut uns leid«, erklärte Natalie Berchtenbreiter. »Seit gestern in der Zeitung stand, dass die Garmisch-Partenkirchner Polizei die Radler im Ort nicht unter Kontrolle hat, haben wir Befehl, gegen Radl-Rambos vorzugehen.«

»Radl-Rambos? Ich bin quasi umgefallen, so langsam war ich. Ich hab das Radl praktisch geschoben. Schauts es euch an: Ist das ein Rambo-Radl? Und: Wer schreibt so etwas in unsere Zeitung rein?«

»Wer liest denn da seine eigene Zeitung nicht?«, neckte Natalie Berchtenbreiter ihren ehemaligen Schulkameraden Hartinger. Seit er einmal im Kolpingsheim mit einer Colaflasche in der Hose Schieber mit ihr getanzt hatte, was dazu geführt hatte, dass sie kreischend den Discokeller verlassen und jahrelang darob gehänselt worden war, war das Verhältnis zwischen den beiden recht getrübt. Seit gut dreißig Jahren also.

»Ich bin für die Bilder zuständig, nicht für die Buchstaben!«, wehrte sich Hartinger.

»Euer Chefredakteur war’s. Der hat einen Kommentar geschrieben, weil in der Fußgängerzone zweimal diesen Sommer ein Tourist von einem Einheimischen mit dem Radl umgenietet wurde. Angeblich. Ob unsere Polizei die wenigen Touristen, die der Ort anzieht, auch noch zur Jagd freigibt und ob hier die Verkehrsregeln aus dem Wilden Westen herrschen, lauter so Sachen. Kannst dir denken, dass das den Bernbacher Ludwig nicht amüsiert hat.«

»Mei, der Bernbacher … Wie gesagt, ich schreib so was nicht. Außerdem: Die Läden haben jetzt zu! Da hupft kein Touri nicht raus.«

»Können wir bitte die Funktionsprüfung vornehmen?«, mischte sich Polizeimeister Buchheimer in die Unterhaltung ein und wagte es, seine Hand an Hartingers Lenker zu legen.

Hartinger dachte kurz darüber nach, ob er sich nicht auf den Sattel des Schnitzenbaumer-Radls schwingen und durch die Achenfeldstraße abhauen sollte, die nach links aus der Fußgängerzone hinausführte. Doch wahrscheinlich hätte ihn der junge Mann mit dem nagelneuen 21-Gang-Polizei-Bike nach dreißig Metern gestellt. »Machts doch, was ihr wollts!«, schimpfte er, schmiss den Drahtesel gegen die nächste Laterne und verschwand in der Konditorei. »Ich bin Ehrenbürger dieser Gemeinde – ich werd’ mich beschweren!«, zürnte er nach draußen, während er den Verkaufsraum betrat. Dort bestellte er zwei Butterhörnchen, legte kommentarlos das Geld auf den Tresen und verlangte den Chef. Als der in der weißen Konditorenkleidung aus der Backstube kam, sagte Hartinger: »Franz, ich muss heute hinten raus.«

Der Konditor ließ ihn durch den Personalausgang abhauen.

Kapitel 2

Zehn Minuten später kam Hartinger zu Fuß in der Redaktion des Garmisch-Partenkirchner Tagblatts an. Der ungewollte Fußmarsch hatte seinen Grant mit jedem Schritt gesteigert. Der schöne Spätsommermorgen war ihm vom Auftritt der Berchtenbreiter Natalie samt ihrem Jungbullen gründlich vergällt worden. Weil dem Herrn Polizeiinspektionsleiter Bernbacher ein Artikel im Tagblatt nicht gefallen hatte, wurde Dienst nach Vorschrift gemacht. Typisch. Und dann war ausgerechnet er, der von Geburt an mit der Obrigkeit auf Kriegsfuß stand, aber Mitarbeiter dieser Zeitung war, den Diensthabenden in die Falle gegangen. Logisch, dass die sich ein Loch ins Knie gefreut hatten, als sie gesehen hatten, wer da auf einem Radl, dessen Licht schon seit den frühen Fünfzigern nicht mehr funktionierte und dessen Bremse noch einen Gummiklotz von oben auf den Vorderreifen drückte – oder drücken sollte, denn dieser Klotz war sicher in den Wirren der letzten Tage des Zweiten Weltkrieges abhanden gekommen –, durch die Fußgängerzone auf sie zugestrampelt war. Und wer war schuld? Der Habersetzer, der Klugscheißer, weil er jeden Schmarrn in die Zeitung reinschrieb, der ihm sauer aufstieß. Wahrscheinlich war er selbst, als er durch die Shoppingmeile getapst war, der blinde Fisch, von einem Radlfahrer dant genommen worden, wie man hier sagte. Hatte wieder seine Brille auf dem Schreibtisch vergessen, der Trottel … So was war sein Chef, dem er für jedes Foto, das gedruckt wurde, dankbar sein durfte … Hartinger steigerte sich in seinen Zorn hinein. Na, dem würde er es kochen, dem Habersetzer. Schade, dass der Lulatsch um diese Zeit noch nicht im Büro war. Hatte der nicht nötig. Bezog ein feistes Gehalt. Da reichte es, wenn man so um halb zehn in der Redaktion aufkreuzte, um seinen Käse in die Tastatur zu hämmern …

Mit dieser Saulaune schloss Hartinger den im Hof des Zeitungshauses gelegenen Mitarbeitereingang auf und stieg die Stiege hinauf in den ersten Stock. Wie erwartet, war zu dieser Uhrzeit noch kein Redakteur, keine Praktikantin und – gottlob! – kein Kollege Meerbusch am Werk. Hartinger stapfte direkt zur Terminwand, an der die Fotoaufträge für die beiden Tagblatt-Fotografen hingen. Er wollte sich die besten – sprich am schnellsten abzuarbeitenden – Vormittags-Jobs abholen, diese hinter sich bringen und dann den Rest des Tages die Sonne an einem der Seen im Garmisch-Partenkirchner Umland genießen. Ja, das hatte er sich jetzt verdient. Vielleicht konnte er da wieder auf andere Gedanken kommen. Und seine gute Laune würde ihn wiederfinden. Genau, dachte er sich, während er den letzten Bissen des zweiten Croissants hinunterwürgte, er würde sich schnellstens an den Geroldsee oder in die Braxenbucht des Eibsees begeben, wo er hoffen durfte, noch die eine oder andere Nackte anglotzen zu können, die die letzten Sonnenstrahlen mit ihrem makellosen Körper einfing. Bald würde sich die kalte Jahreszeit breitmachen, die in den Bergen von Oktober bis Juni reichte, und die Grazien würden sich unter Schichten von Funktionskleidung und Daunenjacken verstecken. Ein Dreivierteljahr lang.

Das Telefon am Fotografentisch neben dem Terminboard klingelte. Nicht wenige im Ort kannten diese Durchwahl, dennoch war es ungewöhnlich, dass morgens um acht Uhr jemand anrief, denn es war nicht mit der Anwesenheit eines der beiden Fotografen zu rechnen. Hartinger blickte auf das Display und schnaufte durch. Redaktionsleiter Peter Habersetzer rief aus dem zweiten Stock herunter. Was der um diese Uhrzeit wollte? Na, der kam ihm gerade recht. Der würde sich was anhören können. Hartinger riss den Hörer vom Apparat. »Was ist?«, blaffte er hinein.

»Entschuldigen Sie, Herr Hartinger, ich habe Sie kommen gehört. Hätten Sie ein paar Minuten für mich? Es wäre großartig, wenn Sie es einrichten könnten, nur drei Minütchen, ja?«, flötete Habersetzer in die Leitung. Seit Hartinger nach der bösen Sache mit dem Müll- und Bauunternehmer Anton Brechtl und der Rettung des Bürgermeisters Hans Meier die Ehrenbürgerurkunde verliehen worden war, war er wer. Nicht nur war die Kündigung, die die Zeitung ihm gegenüber ausgesprochen hatte, zurückgenommen worden, der karriereorientierte Redaktionsleiter behandelte ihn seitdem mit ausgesuchter Höflichkeit. Doch derart gesäuselt hatte er noch nie.

»Hm«, raunzte Hartinger. Er knallte den Hörer auf und stiefelte nach oben.

Habersetzer riss seine Bürotüre auf, noch bevor Hartinger durch Hämmern mit den Handknöcheln seinen ersten Zorn auf den Chef abreagieren konnte. Er wollte daraufhin direkt auf ihn losplärren, kam aber nicht zu mehr als einem »Was für einen Schmarrn über Radler und Touristen …« Dann bemerkte er, dass Habersetzer nicht allein in seinem Arbeitszimmer war. Auf der Couch, die in der Ecke des Büros stand, saß ein Mann.

»Herr Hartinger, wenn ich Sie mit Herrn Klammert bekannt machen dürfte«, stellte der Redaktionsleiter die beiden einander vor.

Hartinger nickte und äußerte nichts außer »Hm«. Widerwillig nahm er die Hand entgegen, die sich ihm von der Couch aus entgegenstreckte.

»Oliver Klammert. Freut mich sehr«, sagte der Mann, der gute zehn Jahre jünger als Hartinger aussah. Er schien drei Klassen besser gewandet, als man sich in Garmisch-Partenkirchen einkleiden konnte. Der Mann kam von auswärts, das war klar.

»Hm«, wiederholte Hartinger.

»Herr Hartinger, setzen Sie sich bitte«, lud Habersetzer ihn ein. »Herr Klammert ist ein Freund unseres Verlages. Also des Verlegers.«

Diese Information war nicht geeignet, Hartingers Sympathie für den geschniegelten Fremden zu wecken. Im Gegenteil. Mit einem deutlich zweifelnden »Hm« quittierte er sie.

»Also eher ein Freund der gesamten Verlegerfamilie, wenn ich richtigliege«, plapperte Habersetzer nervös weiter, als ginge es um seinen Job. »Herr Klammert ist an einigen Internet-Start-Ups beteiligt, die die Tochter unseres Herrn Verlegers so überaus erfolgreich betreibt.« Es ging also wirklich um Habersetzers Job, dachte Hartinger. Mit einem »M-hm« ließ er vernehmen, dass er nicht nur akustisch verstanden hatte.

»Außerdem hat Herr Klammert eine Gemeinsamkeit mit Ihnen, lieber Herr Hartinger.«

»Hm?« Hartinger zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

»Er läuft sehr gern – gell, Herr Klammert, tun Sie? – und da habe ich gedacht, es wäre großartig, Sie würden ihn einmal – aber natürlich nur, wenn es in Ihren Terminplan passt, Herr Hartinger, die Arbeit geht vor, ist klar –, also, wenn es möglich wäre, auf eine – wie sagen Sie immer? –, eine Ihrer Ortsrunden, die Sie rennen, Sie wissen schon, mitnehmen könnten, ich meine: Wie wäre es mit heute Nachmittag? Da würde es dem Herrn Klammert gut passen, ich meine, stimmt doch, oder, Herr Klammert? Können Sie, Herr Hartinger, ich meine, da können Sie doch, oder?«

Es musste Habersetzer wirklich viel daran liegen, dass diesem smarten Jüngelchen ein schönes Berglauferlebnis zuteilwurde, dachte Hartinger. Er war kein Unmensch und erlöste seinen Redaktionsleiter. Doch bevor er mit einem »Hm, von mir aus« dem Plan zustimmte, der ihn seiner Ausblicke auf die Schönen an den Bergbadegewässern berauben würde, ließ er eine quälend lange Pause entstehen, wobei er Habersetzer tief in die Augen blickte. Wir sprechen uns noch, und das wird teuer, bedeutete dieser Blick.

»Wunderbar, Herr Hartinger, ich meine, wunderbar, Karl-Heinz, ich habe ganz vergessen … Wir sind ja jetzt – gell? –, seitdem Sie … Quatsch, seitdem du wieder bei uns bist, nach der Zeit im Krankenhaus … Das habe ich Ihnen schon gesagt – gell, Herr Klammert? –, dass unser Karl-Heinz, dass er Ehrenbürger der Marktgemeinde ist, weil er den Herrn Bürgermeister vor dem sicheren Verbrennungstod gerettet hat.«

Oliver Klammert ging nicht auf die Lobpreisungen Habersetzers ein. »Sagen wir, um 14 Uhr im Partenkirchner Posthotel? Dort bin ich abgestiegen.«

»In Ordnung«, bestätigte Hartinger.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Hartinger«, sagte Oliver Klammert.

»Hm. Also, um zwei.« Hartinger erhob sich, nickte in die Runde und verdrückte sich, bevor noch weitere Spezialaufträge auf ihn zukommen konnten.

Draußen vor der Redaktion hielt ein Streifenwagen der Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen. Hartinger sah durch das Fenster des Treppenhauses zwei Beamte aussteigen. Er rannte hinab in den ersten Stock, schnappte seine Fototasche, flitzte ins Erdgeschoss und verschwand durch den Hinterausgang auf den Parkplatz. Vorn klingelten die Polizisten an der Anzeigenannahme, deren Tür sich zur Straße hin befand. Natürlich war dort vor neun Uhr niemand anzutreffen, der die Türe hätte öffnen können. »Deppen«, murmelte Hartinger, schüttelte den Kopf und kraxelte über den Jägerzaun aufs Nachbargrundstück.

Kapitel 3

»Ich weiß, dass Sie das nicht gern machen, und ich weiß es umso mehr zu schätzen.« Die SMS von Oliver Klammert kam um zwölf Uhr auf Hartingers Handy an. Klar. Habersetzer hatte ihm Hartingers Nummer gegeben. Klammert überließ offenbar nichts dem Zufall. Er wollte die Dinge kontrollieren, vor allem die Menschen, die ihn umgaben. Das entsprach dem Bild, das sich Hartinger von ihm nach einer ausführlichen Internetrecherche und einem Telefonat mit Kurt Weißhaupt in München von dem Unternehmer gemacht hatte.

In den frühen 1990ern hatte der ehemalige Banklehrling aus Kassel zwei Semester Wirtschaft in München studiert und hatte dann sein Studium hingeschmissen, um nach Amerika zu gehen. Er war direkt ins Silicon Valley im Süden von San Francisco gefahren, hatte reihum bei den dort entstehenden Internetfirmen Praktika absolviert und die ersten – noch äußerst überschaubaren – Aktienpakete der Yahoos, Ebays und Amazons erworben. Diese waren plötzlich ein Vielfaches seines Einsatzes wert gewesen und hatten Oliver Klammert zu einem ziemlich reichen jungen Mann gemacht. Er hatte aber dieses Geld sofort wieder in Unternehmen des Neuen Marktes investiert und spätestens mit dem Börsengang von EM.TV seinen Status von reich auf steinreich verbessert. Rechtzeitig vor dem Platzen der Internetblase im Jahr 2001 hatte er seine Gewinne realisiert und war dazu übergegangen, die in Amerika erfolgreichen Geschäftsmodelle des Internets auf Europa zu übertragen. In Deutschland, später auch Frankreich, Italien, Skandinavien und vor allem in Russland, hatte er Kopien der großen US-Internetfirmen aus dem Boden gestampft, um diese dann an eben jene Unternehmen verkaufen zu können, als sie sich mit eigenen Niederlassungen in der Alten Welt hatten ausbreiten wollen. Oliver Klammerts Kopien von Stellenmarktportalen oder Schuhversendern waren immer schon vor ihren Originalen da gewesen. Für die Amerikaner war es einfacher gewesen, ihre eigenen Klone zu kaufen, als sich gegen sie durchsetzen zu müssen. Klammert schien wie König Midas alles, was er anfasste, in Gold zu verwandeln. Allerdings war er mit einigen Investments in China gescheitert, wo die Verhältnisse nicht ganz so einfach lagen. Hier musste man die Kinder der Kader ins Geschäft mit einbeziehen, was Klammert zuerst verpasst, dann aber schnell nachgeholt hatte.

Mittlerweile wurde sein Privatvermögen auf über zwei Milliarden Dollar geschätzt, wobei die Werte seiner unüberschaubaren Beteiligungen je nach Marktlage noch wesentlich wertvoller beschrieben wurden. Dabei sei, so entnahm es Hartinger den wenigen Porträts, die die Wirtschaftspresse anzubieten hatte, Klammert ein relativ bescheiden auftretender Mensch geblieben, der nicht wie Software-Milliardäre amerikanischen Zuschnitts mit teuren Hochseejachten oder Einstieg in Raumfahrtunternehmen von sich reden machte. Er hielt sogar seine Wohltätigkeitsaktionen aus der Öffentlichkeit und ließ sich nicht mit hungernden Kindern in Afrika fotografieren. Er stiftete Dorfbrunnen und Schulen in Ghana und der Elfenbeinküste.

»Ich habe den einmal bei uns gesehen, als er sich einen Nachmittag lang überlegt hat, unsere gesamte Zeitung zu kaufen«, hatte Kurt Weißhaupt berichtet, der ehemalige Lokalchef der Süddeutschen Zeitung und damit Hartingers Boss zu dessen Münchner Zeit. »Ich dachte eigentlich, der ist der Sekretär oder Assistent, der auf seinen Zampano wartet, bis ich kapiert hab, dass er das selbst war. Klammert hat uns wohl nicht gekauft, weil wir ihm zu altmodisch waren. Schade eigentlich, jetzt müssen wir uns mit schwäbischen Rechtsanwälten rumschlagen«, hatte Weißhaupt sein Resümee beendet.

Hartinger musste das nicht erzählt werden. Er hatte schließlich seinen Job als Polizeireporter bei der großen Zeitung verloren, nachdem er einem dieser neuen Manager Prügel angedroht hatte. Aber das war auch schon wieder fast vier Jahre her. Er hatte sich in seiner neuen alten Heimat Garmisch-Partenkirchen eingerichtet. War vom Paria zum Ehrenbürger aufgestiegen. Wenn ihm das mal einer vorausgesagt hätte … Nur die Steuerschulden, die nahmen täglich Raum in seinen Gedanken ein. Ob er die jemals würde abstottern können?

Jedenfalls hatte er an diesem Tag einem milliardenschweren Unternehmer seine Heimat joggenderweise zu zeigen. Eine Aufgabe, die ihm zu seinen Münchner Zeiten, als er höchstens zwischen Taxi und Schumann’s Bar zu Fuß gegangen war, niemand zugetraut hätte. Die Frage war, ob er sich das zutrauen konnte. Er brachte noch immer zwei Zentner auf die Waage, und sein Laufpartner sah so aus, als wöge er knapp mal die Hälfte. Hartinger hatte in dem Moment, als ihn Habersetzer gebeten hatte, mit Klammert laufen zu gehen, gewusst, dass das ein harter Job werden würde. Aber auch, dass er dem Redaktionschef zehnmal so viel für eine Ortsrunde aus den Rippen leiern konnte wie für ein Foto von einem Friseurjubiläum, das er sonst an diesem Tag geknipst hätte.

Er hatte telefonisch zweihundert Euro für eine Runde rund um Garmisch-Partenkirchen mit Habersetzer vereinbart – und von diesem den Tipp erhalten, er möge doch um die Ordnungshüter einen weiten Bogen machen. Hartinger hatte kurz klargestellt, dass er die Malaise mit den ihn suchenden Polizisten einzig und allein dem Leitartikel aus der Feder Habersetzers zu verdanken habe. Und dass dieser bitte schön dafür zu sorgen habe, dass sein wichtigster Mitarbeiter unbehelligt aus der Sache herauskomme. In seiner Dachgeschosswohnung in der Dreitorspitzstraße war die Polizei bislang aber nicht aufgekreuzt.

Hartinger hatte also wieder einmal alles in seinem eigenen Sinne bestens geregelt. Locker joggend kam er im Partenkirchner Posthotel an. Von seiner Wohnung unterm Dach der Witwe Schnitzenbaumer hatte er bis in die Ludwigstraße nur fünf Minuten Laufstrecke zu absolvieren. Genau vier Minuten vor zwei zeigte die Uhr über der Rezeption, als er die Lobby betrat.

»Herr Professor Klammert erwartet Sie in Suite 201«, begrüßte ihn die hinter dem Empfangstresen stehende hübsche Ostdeutsche, die sehr gut in ihr Dienstlandhausdirndl passte, wie Hartinger fand. Diese Mandy würde er sich merken. Professor Klammert – über diesen Titel hatte Hartinger gar nichts gelesen. Vielleicht hatte er es aber auch überlesen. Es war ja üblich geworden, dass Wirtschaftsgrößen durch generöses Spendenverhalten gegenüber einer Privatuni eine Honorarprofessur erwarben, doch mittlerweile waren den meisten der Schleichprofessoren diese Titel schon wieder peinlich. Hartinger beschloss, diese Schwäche seines Kunden bei der richtigen Gelegenheit anzusprechen. Kunden – wie er dieses Wort schon hasste: Er war Journalist, der hatte keine Kunden.

»Der Herr Professor erwartet uns in der Suite. Na sauber. So tief sind wir gesunken, Hartinger«, murmelte er vor sich hin. »Gut, zweihundert Euro pro Joggingrunde sind zweihundert Euro.« Hartinger nahm sich vor, nicht darüber nachzudenken, ob sein Schützling so viel in der Sekunde oder in der Minute verdiente, als er die Treppen zum zweiten Stock erklommen hatte und an die Tür von Suite 201 klopfte.

Nichts tat sich. Hartinger klopfte wieder und setzte die Knöchel ein bisschen deutlicher ein. Nichts. »Herr Klammert?«, rief er gegen die Türe, doch dahinter blieb es still. Er wartete ein paar Sekunden, dann klopfte er erneut. Nichts. Er rief noch einmal den Namen des Zimmergasts. Aber es tat sich nichts.

Die Zimmertüren des Posthotels waren noch nicht mit Kartenlesegeräten ausgestattet und wurden per Schlüssel versperrt. Hartinger drückte auf Verdacht die Klinke nach unten. Wider seiner eigenen Erwartung ließ sich die Tür öffnen. Hartinger schob sie einen Spalt weit auf. Was würde ihn wohl erwarten? Bei seinem Riecher für Leichen, die sich ihm regelrecht in den Weg legten, war es beinahe schon wahrscheinlich, dass er in dieser Suite ein Blutbad vorfinden würde. Mit einem aufgeschlitzten Internetmilliardär in der Mitte der unappetitlichen Szenerie.

»Herr Klammert, sind Sie da?«, rief Hartinger durch den Spalt nach innen. Als er wieder keine Antwort erhielt, nahm er sich ein Herz und stieß die Tür ganz auf, betrat den Vorraum der Suite – und erstarrte. Ein gelblich weißer Hund in der Größe eines neugeborenen Kalbs und mit einem Kopf, so groß wie eine Wassermelone, fletschte ihn an und zeigte sein beeindruckendes Gebiss. Hartinger sah die sich unter den hochgezogenen Lefzen vorschiebenden Zahnreihen. Waren das rote Fleischfetzen zwischen den Zähnen? Hartinger bewegte sich langsam rückwärts, aber das schien das Monster als Einladung zu sehen, sich ihm zu nähern. War Oliver Klammert von seinem eigenen Wachhund zerrissen worden? Hartinger versuchte, seinen Blick von den schwarz funkelnden Augen des Untiers zu lösen, um in der Suite irgendetwas ausmachen zu können. Er konnte von seiner Position aus nur einen Teil des Raums einsehen, doch er hatte freien Blick auf die Couch mit Blumenmuster, und auf der lag kein zerfleischter Mann, was Hartinger aber nicht beruhigte. Vielleicht hatte sich der Hund im Bad über seinen Herren hergemacht.

»Ruhig, ganz ruhig«, sagte er mit möglichst unaufgeregter Stimme, was schon deswegen schwierig war, weil ihm das Herz bis zum Hals schlug.

Hartinger spürte in seinem Rücken plötzlich ein weiteres Lebewesen. Jemand oder etwas hatte sich hinter ihm bewegt, da war er sicher. Hartinger fuhr herum, sah Oliver Klammert und drehte sich in der gleichen Sekunde wieder zurück zum Hund, denn der hatte sicher schon zum Sprung angesetzt, um ihn von hinten niederzureißen. Er wollte wenigstens seine Hände zwischen sich und das Beißwerkzeug des Mordsviechs bekommen.

»Bärli, ist dir warm, was hechelst du denn so?«, fragte Klammert von hinten.

Der Hund fuhr sein Gebiss ein, wedelte mit dem Schwanz und trottete zu Hartinger. Hartinger zog einen angebissenen Energieriegel aus der Innentasche der Laufhose und gab sie dem Monster. Das überschlug sich beinahe vor Freude und begann umgehend, ihm die nackten Waden abzuschlecken.

»Diese Riegel gehen gar nicht«, mahnte Klammert.

»Mir tun die manchmal gut.«

»Ihnen vielleicht, aber für mein Bärli sind die Gift.«

»Oh, sorry.« Hartinger zwinkerte seinem neuen Freund auf vier Pfoten zu. Er wusste, was er ab jetzt immer in der Tasche haben würde.

»Tut mir sehr leid, ich war im Yoga-Raum und habe ein paar Lockerungsübungen gemacht«, entschuldigte sich Klammert. »Hat Bärli Sie erschreckt?«

»Bärli? I wo! Ich wollte ihm gerade meinen Unterschenkel zum Mittagessen anbieten, aber wir waren uns noch nicht einig, ob er den rechten oder den linken bevorzugt.«

»Das überrascht mich. Er ist nämlich Veganer. Gegen Fleisch jeglicher Art ist er allergisch. Hört sich komisch an, ist aber so. Bärli wird streng ayurvedisch ernährt. Darum bitte ich Sie, ihm keine Riegel oder sonst irgendwas zu geben.« Klammert verzog keine Miene, als er dies sagte, und ging an Hartinger vorbei in seine Suite. »Nur noch die Laufschuhe angezogen, und wir können los. Kommen Sie rein, Herr Hartinger.«

»Ayurvedisch? Dieser Koloss?«, staunte Hartinger. »Was es nicht alles gibt.« Er erneuerte die geheime Abmachung mit Bärli durch ein weiteres Augenzwinkern. Der Hund schien ihn zu verstehen, denn er drückte seinen massigen Körper gegen seine Knie.

»Wobei wir es mit Menschenfleisch noch nicht versucht haben, gell, Bärli? Nein, das haben wir noch nicht. Was kostet ein Kilo von Ihrer Wade, Herr Hartinger?« Klammert machte ein erschreckend ernstes Gesicht, als er das sagte.

Bärli auch.

»Nicht käuflich, tut mir leid.«

»Ich würde sagen: Kommt auf den Preis an, richtig, Herr Hartinger? Der bestimmt Angebot und Nachfrage.«

»Wenn Sie’s sagen …«

»Nun, ich hab nur zwei Semester Wirtschaft studiert. So was bringen sie einem da bei.«

Hartinger schwieg. Hatte seine »Laufkundschaft« einen an der Klatsche?

»Komm, Bärli, Herr Hartinger zeigt uns mal das Tal«, sagte Klammert zu seinem Hund und tätschelte ihm den Kopf, der sich ungefähr in Höhe von Hartingers Hüfte befand.

»Der kommt mit?«

»Der rennt uns in Grund und Boden, glauben Sie mir, Herr Hartinger.«

»Ohne Zweifel. Eine Leine nehmen Sie nicht mit?«

»Eine Leine … Bärli, der Herr Hartinger meint, du kannst nicht gehorchen. Was sagst du dazu? Haben wir schon mal eine Leine gebraucht, Bärli? Haben wir nicht, gell?«

Hartinger verdrehte die Augen. Na, das würde was werden. »Es sind unter Umständen andere Leute unterwegs. Schafe. Rinder. Kinder.«

»Mag er alles nicht. Die Allergie!«

Hartinger zweifelte jetzt nicht mehr: Klammert hatte definitiv einen an der Klatsche. Zweihundert Euro sind zweihundert Euro, sagte er sich im Stillen – und laut zu Klammert: »Auf geht’s. Was wollen Sie sehen?«

»Ganz einfach: alles. Gibt es einen Weg, auf dem Sie mir den ganzen Ort zeigen können? Beide Hälften, die Umgebung, die Berge ringsum und so weiter?«

»Klar. Große Panoramarunde. Hasental, Kramerplateau, Rießersee, Skistadion, Riedhänge und wieder zurück. Dauert aber mindestens zwei Stunden.«

»Kein Problem für uns, gell, Bärli?« Klammert strahlte und tätschelte Bärli den Kopf.

Hartinger fürchtete, dass dies auf ihn nicht zutraf. Außerdem wollte er diesen lukrativen Job auf mehrere Nachmittage ausdehnen. »Vielleicht sollten wir uns mehr Zeit nehmen«, schlug er vor. »Dann kann ich Ihnen unterwegs auch mehr erklären. Oder sind Sie nur heute in Garmisch-Partenkirchen?«

»Nein, ich bin ab jetzt immer da«, sagte Klammert mit diesem Heute-gehört-mir-die-Welt-und-morgen-auch-Lächeln, das er schon in der Früh in Habersetzers Büro zur Schau getragen hatte.

Hartinger wusste nicht, wie er diese Nachricht bewerten sollte. Was wollte so ein Typ in seinem Heimatort? Alles aufkaufen und zubauen? Es war in den letzten Jahrzehnten schon Bausünde an Bausünde gereiht worden. Aber schlimmer ging immer. Klammert war also ein Feind. Allerdings: Wenn Hartinger es schlau anstellte und den Klammert zu seinem Dauerlaufpartner machte, sprang sicher der eine oder andere Euro für ihn heraus. »Was ist der eigentlich?« Hartinger deutete auf den Hund. Er würde den Tarif bei Habersetzer auf 250 Euro heraufsetzen. Pro Stunde. Es war nie die Rede davon gewesen, dass er mit einem fleischallergischen Ayurveda-Monster leinenlos durch Garmisch laufen sollte.

»Dogo Argentino, Mastiff, Pyrenäenberghund. Ein süßer Mischling eben.«

»Mastiff. Dogo. Hört sich eher gefährlich als süß an. Schaut, ehrlich gesagt, auch so aus.«

»Gefährlich ist nur der Hund, der falsch aufgezogen wird. Allerdings: Der Pyrenäenberghund hat einen unbändigen Schutztrieb, da brauchen wir uns vor nichts zu fürchten. Gell, Bärli? Brauchen wir nicht.«

»Aha.«

»Sie haben Erfahrung mit Hunden?«

»Eigentlich weiß ich nur, dass sie vorne beißen und hinten … Na ja, das weiß ja jeder.«

»Was keiner weiß: Aus dem Unterfell des Pyrenäenberghundes wird Wolle hergestellt. Bis zu achtzig Prozent wärmer als Schafswolle. Sie sollten sein Winterfell sehen, aber das hat er derzeit natürlich nicht. Wächst erst ab November. Dann auf einen Schlag. Er bekommt eine Mähne wie ein Löwe. Gell, Bärli? Die bekommst du.«

»Interessant. Also los, wir laufen dort drüben an der Kirche vorbei nach oben in Richtung Josefibichl, und da kann ich Ihnen schon einmal den ersten Überblick geben, Herr Klammert.«

»Oliver. Unter Sportsfreunden: Olli.«

»Karl-Heinz. Unter Sportsfreunden: Gonzo.«

»Ich weiß.«

Die beiden gaben sich die Hand, dann joggten sie schon im Hotelflur los. Bärli trottete dem ungleichen Paar nach, das nicht nur vierzig Kilo an Gewicht, sondern auch anderthalb Köpfe an Größe trennte.

Kapitel 4

»Ja, es wäre großartig, den Mann zufriedenzustellen, da haben Sie ganz und gar recht, Herr Habersetzer.« Bürgermeister Hans Wilhelm Meier hatte seine Geschäftsmiene aufgesetzt. Beflissen nickte er, während er den Ausführungen seines Gesprächspartners am Telefon lauschte.

»… vollkommen, ja, werde ich sofort veranlassen. Gut, dass wir ihn zum Ehrenbürger … Ja genau, vorausschauend, gell, sagen Sie auch? Richtig … Wer hätte das gedacht … Mei, man weiß nie, wen es wann nach oben spült, und wen … Genau, Herr Habersetzer … Ja, stimmt: wichtig für den Ort. So ein Mann wie der Klammert, vollkommen korrekt. Gutes Gespür haben Sie da … Nein, um Gottes willen, dem Gruber? … Nein, da werde ich einen Teufel tun. Sie sicher auch … Nein, da haben wir kein Interesse. Hernach kommt der mit seinem Tempelschmarrn … Ja, da haben Sie vollkommen recht, nicht vermittelbar heutzutage. Kopftuchdebatte, nein, wollen wir keine hier am Ort … Gott bewahre, Herr Habersetzer … Nur halt den Bernbacher Ludwig … Mhm, einfangen, ja, ganz so einfach wird das nicht … Der fühlt sich in seiner Polizistenehre gekränkt … Was meinen Sie, ein Porträt über ihn? Ganzseitig? Hm, an sich eine gute Idee, Herr Habersetzer, aber … Meinen Sie nicht, das sieht ein bissl arg gekauft aus … Ich meine … Nicht gerade zufällig könnte das aussehen, nach dem Radlartikel … Mhm, da haben wir was auszubaden, gell, Herr Habersetzer? … Jaja, wir zwei haben da was auszubaden, ganz recht, aber geschrieben hab ich das ja nicht, wenn ich das auch mal … Das nächste Mal, wissen Sie, da könnten Sie schon vorher bei mir … Nein, Sie müssen mir nicht Ihre Leitartikel vorlegen. Wo kämen wir denn da hin, Herr Habersetzer? Ich bitte Sie … Ich mein nur, wegen Befindlichkeiten … Jaja, schon klar, kann ja jedem mal die Hutschnur platzen, wenn man sieht, wie die rasen, die Burschen … Vollkommen korrekt, die reinsten Rambos, darum haben wir ja diesen Artikel … Ja, weiß ich schon, dass Sie den Bernbacher nicht persönlich gemeint haben … Ach so, Sie persönlich hat einer dant genommen … Ja, das ist was anderes, warum haben Sie das nicht gesagt? Da hätte ich doch eine Großfahndung … Ich mein, der Bernbacher Ludwig hätte den schon zur Strecke gebracht, den Radl-Rambo, den elendigen. Hm … Mhm … Ja, interessant … Mhm, eine Serie? Eine Serie über die wichtigen Männer in der Gemeinde … Richtig. Da könnten Sie ihn schon einbetten, den Bernbacher Ludwig … Wundervolle Idee, könnte direkt von mir … Nein, anfangen, anfangen würd ich nicht direkt mit ihm … Vielleicht eher die tapferen Kommandanten unserer hervorragendst ausgestatteten Wehren … Hm … Oder nein, lieber nicht … Mit welchem fängt man da wieder an? … Doppelporträt Garmischer und Partenkirchner Feuerwehrkommandant … Ja, da werden Sie schon eine Doppelseite brauchen, mindestens … Und wen stellen Sie dann da rechts und wen links hin … Gefährliche Sache, Herr Habersetzer, echt gefährlich … Hm, mit wem könnte man anfangen, wen gibt’s nur einmal am Ort? … Lassen Sie uns einmal nachdenken … Was meinen Sie? … Was? Mich? Ah, gehens zu, Herr Habersetzer, über mich gibt’s doch nichts, was die Leute nicht eh wissen … Ja, wenn Sie meinen … So eine Homestory kann nicht schaden … Wahlkampfzeiten … Ja, haben Sie schon recht … Nein, natürlich nicht in meinem Haus auf Zypern, sondern hier, hier im Ort … Die Leute kämen ja auf falsche Gedanken … Wie meinen Sie? … Den Aufmacher der Serie über mich und dann gleich die nächste Woche den Bernbacher drannehmen und ihn wissen lassen, dass er gleich nächste Woche drankommt, damit er den Hartinger ab sofort in Ruhe lässt? … Gute Idee … Ich soll ihm das … Ja, das kann ich schon, logisch … Ich hoff ja nur, er macht da mit … Weil, bestechlich ist er natürlich nicht, unser Polizeichef … Nein, niemand bei uns ist bestechlich, eh klar … Wer, wenn nicht ich, wüsste das am besten … Okay, ich ruf ihn an. Aber – eins noch, Herr Habersetzer. Das Porträt vom Ludwig, so groß … Ich mein, eine drei viertelte, oder sagen wir: eine halbe Seite reicht da ja, sonst schaut’s ja eher zu dick aufgetragen aus … Genau, Herr Habersetzer, wir verstehen uns … Über mich anderthalb oder zwei Seiten? Der Mensch im Amt und im Privatleben? Ach wo, das ist ja auch übertrieben … Ich bin ja eh jeden Tag in Ihrer Zeitung … Ja, in Gottes Namen, wenn Sie meinen, dann machen Sie, ja, auch beim Sporteln. Aber bitte ordentlich fotografieren. Jessas, das macht doch dann nicht der Hartinger? … Stimmt, der Meerbauch, den gibt’s ja auch noch … Wie? Meerbusch, ja, genau, Busch. Gottlob … Ja, so bekommen wir das sicher wieder hin. Und der Bernbacher lässt den Hartinger in Ruhe … Ja, die Flensburger Punkte, ob er ihm die … Also, ich seh zu, was ich machen kann, gell, Herr Habersetzer? Also, alles klar. Ich ruf ihn an, den Bernbacher … Ja, jetzt gleich … Wiederhören, Herr Habersetzer … Ja, ich melde mich, servus …«

Bürgermeister Hans Wilhelm Meier legte auf und wunderte sich. So servil hatte er den Chefredakteur des Tagblatts noch nie erlebt. Natürlich war der aus Niederbayern reingeschwappte Habersetzer weder als Revoluzzer auf die Welt gekommen, noch einer geworden, sonst wäre er ja nicht bei der Heimatzeitung. Aber dieses Gespräch gerade eben … Ein Musterbeispiel von Unterwürfigkeit, wie es der Bürgermeister gerne sah. Konnte noch was werden aus dem Mann. Dieser Klammert, der am Vortag im Posthotel Partenkirchen samt Hund eingezogen war, wie ihm seine Zuträger sofort berichtet hatten, musste unglaublich wichtig für Habersetzer sein.

Hans Wilhelm Meier drückte eine Kurzwahltaste am Telefon. Während er darauf wartete, dass der oberste Polizist seines Ortes am anderen Ende der Leitung abnahm, gab er den Namen Oliver Klammert in das Suchfenster seines Internetbrowsers ein. Was er da las, gefiel ihm. Denn er las von Geld. Von viel Geld. Und zu Geld hatte der Erste Bürgermeister Hans Wilhelm Meier schon immer eine besondere Affinität gehabt. Leider hatte er es nicht so erfolgreich angehäuft wie das Objekt seiner Recherche, doch immerhin hatte er selbst es zu einem Haus auf Zypern gebracht, zu dem man auch »Villa« sagen konnte, ohne sich des Größenwahns schämen zu müssen. Natürlich hatte sein Bürgermeistergehalt nicht komplett dazu ausgereicht, dieses Kleinod zu errichten. Doch es gab eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit mit einem stadtbekannten Bauunternehmer, der in die Lücke gesprungen war, die der vor zwei Jahren auf tragische Weise ums Leben gekommene Anton »Bagger-Toni« Brechtl hinterlassen hatte. Über das Innenverhältnis zwischen ihm und diesem Bauunternehmer, dem frisch im Landl angekommenen Italiener Federico Uanasso, gab es nichts, was die Wählerschaft oder überhaupt jemand jemals erfahren musste. Gleiches galt hinsichtlich einiger Firmen auf den englischen Kanalinseln und in Liechtenstein.

In der Polizeiinspektion an der Münchner Straße wurde das Telefon abgenommen. Endlich.

»Mensch, Ludwig, schön, dass ich dich noch erwisch, so kurz vor Feierabend.« Die Uhr auf dem Display des Bürgermeistertelefons zeigte 13:57, ein, wie Meier fand, großartiger Zeitpunkt, um dem stets entsetzliche Überarbeitung zur Schau stellenden Chefpolizisten einen blöden Spruch bezüglich des Rufes der Garmischer Polizei als Faulenzertruppe reinzudrücken. »Jetzt rat mal, wen ich gerade am Telefon gehabt hab?«

»Mei, Hansi, was weiß denn ich, bin ich die Sphinx oder der Lauch?«

»Jauch, Ludwig, Jauch heißt der.«

»Von mir aus. Ich schau ja kaum fern, weil, ich sitz nämlich Tag und Nacht an meinem Schreibtisch und schieb Überstunden und pass auf die Einwohner und Besucher unseres Orts auf, wie du dich erinnern kannst, wobei es das reinste Wunder ist, dass ich vor lauter Arbeitsüberlastung nicht schon lang einem Herzkasperl erlegen bin. Sicher die gute Luft in unserem Luftkurort. Also, war er’s?«

»Wer? Was war wer?«

»Ja, der Jauch halt.«

»Wieso jetzt der Jauch?«

»Mei o mei, Hansi, musst auch mal Urlaub machen. Wen, in drei Teufels Namen, hast du angerufen?«

»Ich? Niemand.«

»Oder wer dich? Ist ja auch wurscht: Mit wem hast du telefoniert?«

»Ach so, jetzat. Ja, der Dings, mit dem … na, wie heißt der jetzt?«

»Du, Hansi, ich sag’s ungern. Aber die Zeit eines leitenden bayerischen Polizeibeamten ist knapp bemessen.«

»Der von der Zeitung halt. Der Chef von denen. Der …«

»… Habersetzer.«

»Genau.«

»Sag’s halt gleich.«

»Ja, wenn du mich so drausbringst, mit deinem Lauch.«

»Jauch.«

»Was? Ja, von mir aus. Auch wurscht. Also, auf alle Fälle hab ich was ganz Großartiges rausgehandelt für dich, Ludwig. Ich mein natürlich, für die gesamte bayerische Polizei als solche und die Inspektion Garmisch-Partenkirchen im Speziellen. Eine komplette Wiedergutmachung und Rehabililatata … Weißt schon, halt ein positives Porträt über dich.«

Garmisch-Partenkirchens oberster Polizist Ludwig Bernbacher schwieg.

»Ludwig, bist noch da? Hörst? Ein Porträt!«

»Ein Passbuildl von mir? In der Zeitung?«

»Schmarrn! Eine Würdigung deiner Person und Leistungen als Vorsteher der Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen, in der du alles einmal darstellen kannst, auf mindestens einer halben Seite! In der Heimatzeitung dieses unseres wunderschönen Landls!«

»Aha.«

»Super, oder? Dann hört oder liest die Bürgerschaft einmal direkt von dir, also quasi aus be-ru-fens-tem Munde, welche enormen Spitzenleistungen ihr da den ganzen Tag – und vor mir aus auch die Nacht – da drinnen verbringts, ich mein vollbringts, da drinnen in eurer Polizeiinspektion. Weil, ganz ehrlich, Ludwig, von außen sieht das ja kein Mensch.«

»Ist das jetzt schon wieder so eine Kritik, von wegen wir lassen uns zu wenig sehen im Ort und sitzen uns nur unsere Hintern in den Uniformhosen platt?«

»Ludwig!« Der Bürgermeister tat empört. »Also, weisst, Ludwig! Von mir würdest du so was gar nie nicht zu hören bekommen.« Meier war froh, dass das Gedankentelefon noch nicht erfunden war. Denn sonst hätte sein Gegenüber an dieser Stelle nur gehört: »Genau!«

»Hm«, grmpfte Bernbacher in den Apparat. »Wollt’s nur mal wissen. Weil, wir haben nicht umsonst die geringsten Verbrechenszahlen bayernweit und dabei eine der höchsten Aufklärungsquoten. Und das bei einer Million Übernachtungen im Jahr! Was meinst du, was da in anderen Ländern los wär? Stell dir das mal in Polen vor. Italien. Was da an Autoaufbrüchen passieren würd. Ha? Was meinst? Wie viel? Taschendiebstahl! Stündlich! Und bei uns: nichts dergleichen!«

»Ja, Ludwig, großartig, jetzt hör mir doch mal zu …«

Bernbacher war nicht zu bremsen. »Und da kommt der dahergelaufene Redakteur, dieser Schmierfink, der keinen ordentlichen bayerischen Polizeibericht lesen kann, geschweige denn einen überhaupt zu Papier brächte, kommt der daher, dieser niederbayerische Grattler, und schreibt auf Seite eins von seinem Schmierblatt, in das man nicht einmal einen toten Fisch einwickeln kann, weil dann der tote Fisch vor lauter Grausen zum Leben erwacht und davonrennt, schreibt doch der Depp da rein, dass wir – Hansi, wir, die Polizei! Lass dir das einmal auf der Nase zergehen –, dass also wir dran schuld sind, dass so wenige Touristen nach Garmisch-Partenkirchen kommen, weil wir nicht darauf aufpassen, dass nicht irgendwelche Idioten mit dem tiefer gelegten Mountainbike durch die Fußgängerzone holzen. Wir!«

Hans Wilhelm Meier hatte nicht geahnt, dass der Groll des Polizisten Bernbacher so tief saß. Habersetzers Artikel vom Vortag hatte wohl größere Verwerfungen in der Polizeiinspektion verursacht. »Ja, Ludwig, Sauerei, sag ich auch, vor allem, weil das ja gar nicht stimmt mit den wenigeren Touristen, weil unser Tourismuschef müht sich ja von Herzen, sehr talentiert, der Mann. Aber was willst machen? Die Presse …«

»Das sag ich dir, was ich da mach: Jeden von diesen Schreiberlingen werd ich auf Schritt und Tritt überwachen, dass die meinen werden, Nordkorea wär ein schönes Land zum Auswandern, das sag ich dir. Heut in der Früh ist uns schon der Hartinger ins Netz gegangen. Fahrradfahren in der Fußgängerzone, freihändig, mit Beschallung beider Ohren, auf einem verkehrsuntüchtigen Fahrzeug, Widerstand gegen die Staatsgewalt, anschließende Flucht, zweimal. Da kommt ganz schön was zusammen. Bei dem seiner Vorgeschichte kann ich mir vorstellen, dass der endlich seiner gerechten Strafe zugeführt wird, der Saukerl, der ganz greislige. Der kennt die JVA Stadelheim ja schon von innen, da wird er bald wieder seine Zelle beziehen können!«

»Ludwig, aber das Schafott bleibt im Keller, das kommt nicht auf den Mohrenplatz«, machte sich Meier lustig.

»Hansi, das ist kein Spaß. Der Hartinger hat eh einiges auf dem Kerbholz. Ab jetzt wird durchgegriffen in meiner Gemeinde, das Lässie-fähr ist vorbei.«

»Das was? Wurscht. Jedenfalls das ist meine Gemeinde, damit wir uns da einig sind, gell? Also, jetzt mach mal eine Pause und hör zu! Der Hartinger ist leider wichtig für diesen Ort. Er hat mir das Leben gerettet und ist Ehrenbürger. Punkt eins. Punkt zwei: Er ist seit heute früh das persönliche Kindermädel von einem äußerst wichtigen Neubürger dieser unserer wunderschönen Gemeinde. Und ich wünsche, dass diesen beiden Menschen überall, wohin sie auch kommen, der rote Teppich ausgerollt und keine Kerkertür aufgerissen wird, wo sie dann verschwinden. Verstehst du, um den Hartinger geht’s mir nicht, aber der andere, ein gewisser Oliver Klammert, der kann noch ganz wichtig für mich … ich mein’, für uns werden.«

»Und deswegen soll ich tatenlos zusehen, wie das Recht in dieser Gemeinde gebrochen wird, und vielleicht sogar Unrecht vertuschen? Während die Pressemeute gleichzeitig über uns herfällt?«

Bürgermeister Meier hatte weder Zeit noch Lust für weitere Ausführungen und sagte es direkt: »Genau.« Nach einer kurzen Pause der Überraschung am anderen Ende der Leitung fügte er hinzu: »Der Hartinger hat ab sofort Narrenfreiheit. Zumindest so lange, wie er sich um den Klammert kümmert, und das kann seine Zeit dauern. Doch danach ist er von mir aus wieder zum Abschuss freigegeben. Aber, Ludwig, erst auf mein Signal hin.«

Ludwig Bernbacher schnaubte wie ein andalusischer Bulle, kurz bevor er in die Arena stürmt. In Gedanken zählte er bis zehn, dann zischte er: »Auf deine Verantwortung, Hans Wilhelm Meier. Und nur, weil’s du bist. Und dein Porträt, das kannst du dir … Und der Habersetzer auch, nur dass du’s weißt! Wenn ich ruhighalte, dann nur für den Segen unseres Ortes. Und weil wir bei wieder mehr Touristen, die der Klammert hoffentlich bringt, auch wieder mehr Planstellen bekommen, bevor wir hier alle wie die Hamster aus dem Radl fallen.«

»Ich werd es in der Partei weitertragen, dass ihr dringend mehr Leute braucht, Ludwig. Aber nicht, dass sie mir dich wegbefördern! Menschen mit Weitblick und Tatkraft braucht dieses Tal. Und du musst ja auch denken: Wenn ich einmal nicht mehr als Bürgermeister zur Verfügung stehen sollte, weil Landrat oder Landtag oder was weiß ich, wozu sie mich noch überreden werden – du weißt ja, weg will ich niemals aus diesem wunderschönen Fleckl, aber Dienst am Volk, da kann sich unsereiner ja nicht ewig entziehen –, wenn’s also dumm läuft, muss ich nach München, stell dir vor, vielleicht sogar als Minister oder Staatssekretär. Jedenfalls, wer ist denn dann der Nächste auf der Liste hier im Ort? Hamma doch schon alles besprochen …«

»Passt scho, Hansi. Kannst dem Hartinger sagen, er braucht sich nicht zu verstecken. Aber sehen tun wir alles, gell? Dass das klar ist.«

»Eh klar, Ludwig, eh klar. Alles klar.« Bürgermeister Meier rang sich ein »Danke« ab, dann legte er auf, um sich direkt im Anschluss die Hände zu reiben. Zufrieden erhob er sich aus seinem Chefsessel, ging hinüber zum Erkerfenster des weitläufigen Büros und blickte über die Rathauskreuzung in Richtung der Ludwigstraße, wo er Oliver Klammert im Posthotel wusste. Er riss die Tür zum Vorzimmer auf und schrie: »Christina, machst mir einen Termin mit Oliver Klammert, wohnhaft Posthotel Partenkirchen, zum Abendessen. In ein gescheites Restaurant. Na ja, in das beste, das wir hier halt so haben.«

Kapitel 5

»Das dort hinten, das Hotel, da laufen wir hin!« Oliver Klammert musste nicht einmal kurz Luft holen, um seinen Plan Hartinger mitzuteilen.

»Sonnenbichl – Grand Hotel«, presste Hartinger zwischen zwei Atemzügen hervor.

»Möchte ich mir ansehen.«

Hartinger blieb stehen. »Was, jetzt?«, brüllte er Klammert hinterher, der einfach weiterlief. Neben Hartinger machte Bärli Sitz, um ihm sofort den Schweiß von den Waden zu lecken. »Das ist tierischer Schweiß, ich weiß nicht, ob du das verträgst«, mahnte Hartinger seinen neuen Fan, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Bärli trottete hintendrein.

Eine kurze steile Auffahrt führte zum Grand Hotel Sonnenbichl hinauf. Klammert wartete bereits oben. Er stütze die Hände auf ein niedriges Geländer und dehnte die Waden.

Hartinger blieb neben ihm stehen und tat es ihm gleich. Dass Bärli die Gelegenheit nutze, um sich an Hartingers Schweißströmen gütlich zu tun, störte nur Hartinger. »Wieso schmecke gerade ich ihm so gut?«, fragte er in die Landschaft hinein. Eine Antwort von Klammert erwartete er nicht.

»Weil du dich nicht mit Antimückenspray eingesprüht hast, schätze ich«, sagte Klammert dennoch. Er hatte wohl auf alles eine logische Erklärung. Er drehte sich um und blickte das hellgelbe Gebäude an. »Das ist ja ein toller Kasten!«, staunte er. »Und diese großartige Wiesenlandschaft direkt davor … Wie aus dem Bilderbuch. Mit diesem wunderschönen einzeln stehenden Baum!«

»Das ist der Stieranger«, klärte Hartinger ihn auf.

»Großartiger Name!«, schwärmte Klammert.

»Unverkäuflich, kann ich dir gleich sagen. Gehört der GarmischerWeidegenossenschaft. Ist traditionell die Wiese, auf die sie ihre Jungstiere stellen, bevor sie auf die Alm kommen.«

»Und wieso sollte sie unverkäuflich sein?«, fragte Klammert wieder mit diesem eiskalten Gesichtsausdruck, den er immer aufsetzte, wenn es um Geld und Wert ging.

»Weil es sich nicht um die Waden eines abgebrannten Fotografen, sondern um eine Wiese der Garmischer Weidegenossenschaft handelt, ganz einfach. Die müssen nichts verkaufen, die wollen nichts verkaufen. Und an jemanden wie dich schon zweimal nicht. Außerdem: Außenbereich. Da darfst du höchstens einen Heustadel hinstellen.«

»Wer sagt denn, dass ich da irgendwas hinstellen will? Ist ja eine noch bessere Nachricht, dass hier niemand bauen darf. Das Hotel finde ich viel interessanter«, sagte Klammert.

»Ich glaube, da könntest du jetzt reingehen und es gegen deine Turnschuhe tauschen, wenn du nur die Schulden übernimmst. Die suchen schon seit Ewigkeiten einen solventen Käufer. Seit der Scheich seine Anteile verkauft hat, geht’s damit ganz schön talwärts«, wusste Hartinger.

»Der Scheich, aha.«

»Der Emir von Al-Weyh Dabai, dem hat der Schuppen mal gehört. Der hat um die Ecke ein kleines Wochenendhäusl, und wenn er Besuch bekam, hat er die Leute hier einquartiert. Aber er war lange nicht mehr da, vielleicht gefällt es ihm in einer anderen seiner Residenzen besser.«

»Interessant, interessant. Dann gehen wir jetzt rein und schauen uns das von innen an.«

Hartinger sah erst an Klammert, dann an sich hinab. »So, in den kurzen Jogginghosen?«

Doch sein Laufkunde, wie er Klammert in Gedanken nannte, war schon unterwegs in Richtung Hoteleingang. Als Laufbursche, diese Bezeichnung hatte er für sich selbst gewählt, ging Hartinger unverzüglich hinterher. Bärli folgte hechelnd.

Im Hotel warf sich der Hund sofort auf den kühlenden Marmorboden. Klammert stand bereits vor dem Concierge, und Hartinger sah gerade noch, wie er ihm einen Fünfziger zusteckte. Der Mann musste mit einem Bündel Scheine in der Jogginghose unterwegs sein. Der Concierge verschwand hinter einer Tür, auf die in goldenen Plastiklettern »Direktion« geklebt war.

»Der Direktor kommt gleich«, sagte Klammert zu Hartinger.

Ende der Leseprobe