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ICH WILL KEINE ANGST MEHR HABEN von ANNE-MARIE ROBERT
Lili leidet unter Panikattacken, die sie zunehmend einschränken. Als sie es nicht mehr aushält, wendet sie sich an Dr. Berghof. Ob der Arzt auch in anderen Dingen weiterhilft? Vielleicht kann er Lili erklären, warum ihr Herz beim Anblick ihres unverschämten Nachbarn so aus dem Takt gerät …
EINE NEUE HOFFNUNG AUF RÜGEN von DANIELA STEPHAN
Seit sie die Grippe hatte, fühlt sich Anna oft kraftlos. Ihr Hausarzt weiß auch nicht weiter und empfiehlt ihr einen Erholungsurlaub auf Rügen. Dort warten nicht nur herrlich frische Luft und traumhafte Strände auf sie, sondern auch ein äußerst engagierter Arzt – und vielleicht sogar der Mann ihrer Träume …
DOCH VERGESSEN WERDE ICH DICH NIE von TANJA SELLIN
Als sie ihren Bruder an eine schwere Krankheit verliert, ist Claudia nicht mehr in der Lage, als Ärztin zu arbeiten. Trost findet sie in den Armen des Malers Sebastian Bernauer, zu dem sie eine tiefe Verbindung spürt. Dann aber wird auch er krank, und nur Claudia kann ihm helfen …
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Seitenzahl: 389
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anne-Marie Robert, Daniela Stephan, Tanja Sellin
HERZ AN HERZ BAND 6
IMPRESSUM
HERZ AN HERZ erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© HERZ AN HERZ, Band 6 2025 by Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2025 by Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg, für Anne-Marie Robert: „Ich will keine Angst mehr haben“
© 2025 by Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg, für Daniela Stephan: „Eine neue Hoffnung auf Rügen“
© 2025 by Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg, für Tanja Sellin: „Doch vergessen werde ich dich nie“
Abbildungen: Wavebreakmedia / Getty Images, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 11/2025 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751537674
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte des Autors und des Verlags bleiben davon unberührt. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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Home is where my heart is! – Zu Hause ist, wo mein Herz ist!
Es gibt wenig, was Menschen so sehr verbindet, wie das eigene Land. Knapp 200 Länder zählen die Vereinten Nationen, dabei hat jedes Land seinen eigenen Charakter, ist geprägt von der Schönheit seiner Landschaft und der Vielfalt seiner Lebensweise.
Die Wurzeln der Heimat geben uns oft Sicherheit und Vertrauen – hier lebt die Familie, hier treffen wir Freunde und helfen Nachbarn. Hier hat man vielleicht zum ersten Mal sein Herz verloren oder auch die große Liebe gefunden. Heimat schenkt den Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit, sie verleiht Kraft und Zuversicht – überall auf der Welt!
Aber wir lieben auch das Reisen und sind neugierig auf andere Länder und fühlen uns in vielen von ihnen zu Hause. Und wir sind neugierig auf Landschaften und Städte in unserem eigenen Land.
Wir möchten mit unserer neuen Romanreihe HERZ AN HERZ neugierig machen auf die schönsten Gegenden in Deutschland, auf malerische Landschaften an Nord- und Ostsee, auf schneebedeckte Berge im Süden, idyllische Seen, pulsierende Städte und romantische Ortschaften, die Sie vielleicht noch nicht kennen und beim Lesen ins Herz schließen können – ebenso wie unsere Heldinnen und Helden, die sich auf den Weg machen, die große Liebe zu finden. Oder wartet das große Glück am Ende vielleicht vor der Haustür?
Ab jetzt alle vier Wochen neu: der große Sammelband voller Glück. Drei neue Romane. Drei Happy Ends. Ein zu Herzen gehendes Lesevergnügen.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Ihr CORA Verlag
Anne-Marie Robert
Eine fröhliche Melodie erklang, und eine freundliche Männerstimme verkündete, dass die Heidelbeeren heute nur einen Euro neunundneunzig kosteten.
In der mit Spiegeln gekrönten Auslage lagen Äpfel neben Birnen, Bananen neben Weintrauben und Pfirsiche neben Aprikosen. Das Sortiment war von so hellem Licht bestrahlt, dass es in den Augen wehtat.
Lilian Seidel gehörte nicht zu den Menschen, die sich im Supermarkt von Angeboten locken ließen. Trotzdem schlenderte sie zu dem Kühlregal mit den Beeren, den Einkaufswagen vor sich herschiebend, während sie sich mit der anderen Hand das Smartphone ans Ohr hielt.
„Und du bist dir ganz sicher, dass es Arthrose ist?“, fragte sie ihre Freundin, die ihr gerade erzählt hatte, dass einer ihrer Hunde erkrankt war.
„Da gibt’s gar keinen Zweifel“, entgegnete Sabine entrüstet.
Ihre siebenunddreißigjährige Nachbarin war über die Jahre zu einer Freundin geworden. Trotzdem unterschieden sich die beiden Frauen grundsätzlich voneinander. Während Lili dazu neigte, leise zu sprechen, mochte Sabine es, ihre Botschaften möglichst laut von sich zu geben.
„Und was könnt ihr nun tun?“, erkundigte sie sich, um ihr Interesse an der Gesundheit des Hundes zu bekunden. „Hat der Tierarzt etwas dazu gesagt?“
Vor dem Kühlregal blieb sie stehen und betrachtete die Auslage. Die Himbeeren sahen prächtig aus, aber sicher würden sie nicht länger als einen Tag halten. Spätestens morgen würde sich der erste Schimmel darauf zeigen. Außerdem mochte sie es nicht, dass man die kleinen Früchte nicht ordentlich waschen konnte, ohne dass sie zermatschten.
Die Brombeeren kosteten fast ein Vermögen, und Johannisbeeren vertrug sie nicht gut. Also griff sie nach der Schale mit den Heidelbeeren.
„Gar nichts“, rief Sabine in den Hörer. „Man kann gar nichts dagegen machen. Jetzt müssen wir eben damit leben. Sollen nur noch kleine Runden gehen, auf gutes Futter achten…“
Kritisch betrachtete Lili die Schale mit den Beeren und drehte sie in ihren Händen, sodass sie auch auf den Boden blicken konnte. Da fand sie den verdächtigen weißen Pelz auf einer der Beeren und stellte die Schale angewidert zurück ins Kühlregal. Auf keinen Fall wollte sie sich den Magen verderben!
Sie ging an den Bananen vorbei und packte vier in den Wagen. Die brachten wenigstens ihre eigene Verpackung mit. Damit konnte man nichts falsch machen.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, beschwerte sich Sabine nun.
„Was?“, fragte Lili und schob den Einkaufswagen weiter in Richtung des Teeregals. Hier würde sie sich noch etwas Gutes aussuchen. Pfefferminztee und Fenchel-Anis-Kümmel-Tee. Beide waren bekömmlich. „Natürlich habe ich zugehört. Ich finde es nur so traurig, dass Lucy schon an Arthrose leidet. Sie ist doch noch jung.“
„Na ja, sie ist dreizehn, so jung also auch nicht mehr“, korrigierte Sabine sie.
Sofort bekam Lili ein schlechtes Gewissen. Hätte sie besser zuhören sollen? Es gab diese Momente, da wurde ihr bewusst, dass sie nicht multitaskingfähig war. Bis heute verstand sie nicht, wie manche Menschen gleichzeitig kochen, Rechnungen begleichen, telefonieren und eine Mail an ihren Arbeitgeber schicken konnten. Sie war schon mit Telefonieren und Einkaufen überfordert.
Lili nahm sich die Teesorten, die sie benötigte, und lief weiter. Suchend ließ sie den Blick über die Supermarktregale schweifen. Von den Marmeladen benötigte sie nichts. Eier und Haferflocken hatte sie noch zu Hause.
An der Süßwarenabteilung machte sie Halt. Bei den Produkten konnte sie sich sicher sein, dass sie einwandfrei waren. Sie waren allesamt verpackt, industriell verarbeitet und so voller Zucker, dass ein Verfall fast unmöglich war.
„Na ja, und zumindest habe ich dem Arzt dann gesagt …“, plapperte Sabine weiter.
Lili hörte nicht mehr zu. Sie war damit beschäftigt, ihre Lieblingsschokolade zu suchen. Zartherb, weil das bekömmlicher war als Vollmilch.
Plötzlich hörte sie eine vertraute Stimme. Alarmiert hielt sie das Handy ein paar Zentimeter vom Ohr weg. Da war die Stimme schon wieder. Wie lange war es her, dass sie sie zuletzt gehört hatte? Ein halbes Jahr? Noch immer bereitete sie ihr Herzklopfen.
Vorsichtig schob sie ihren Wagen weiter, um einen Blick zu wagen. Da war er. Hannes. Wie immer im karierten Hemd, die Haare zu einer ordentlichen Frisur geschnitten, nicht mal ein Schatten von Bart am Kinn. Er sah noch genauso aus wie damals, als er sie verlassen hatte.
„Sabine“, flüsterte Lili in ihr Handy.
„Ja?“ Die Freundin stellte ihr Geplapper ein.
„Hannes ist hier“, sagte Lili.
„Hannes? Der Hannes?“, vergewisserte sich Sabine, als würde heutzutage jeder Zweite so heißen.
Lili nickte, bis ihr bewusst wurde, dass Sabine es nicht sehen konnte.
„Ja“, sagte sie also. „Und er ist nicht allein.“
Ein überraschtes Zischen kam aus dem Smartphone.
Lili drückte sich enger ans Regal, um nicht gesehen zu werden. Denn dort, nur wenige Meter von ihr entfernt, stand ihr Ex-Freund, der einer wunderschönen Blondine die Hand auf den unteren Rücken legte.
„Ist er mit einer Frau da?“, hakte Sabine nach. „Warte, wo bist du eigentlich?“
„Im Supermarkt“, antwortete Lili.
„Bist du sicher, dass es seine neue Flamme ist?“, wollte Sabine nun wissen. Witzigerweise hatte sie auch ihre Stimme gesenkt.
„Er begrapscht ihren Po. Was glaubst du wohl?“, entgegnete Lili trocken.
„Was machst du jetzt?“
„Warten, bis sie weg sind. Ich kann Hannes jetzt nicht über den Weg laufen.“
„Gute Idee“, befand Sabine. „Dem Typ sei der Triumph nicht gegönnt.“
Das verletzte Lilian. Denn bislang waren sie zwei Menschen gewesen, die sich lediglich voneinander getrennt hatten. Doch nun hatte Sabine etwas ausgesprochen, das anscheinend seit ihrer Trennung bestanden hatte: der Wettkampf darum, wer am besten aus der gemeinsamen Zeit hervorgekommen war. Und das war offensichtlich Hannes.
Frustriert wandte sich Lili ab und zog sich tiefer in die Süßwarenabteilung zurück.
„Ich mach jetzt Schluss“, verabschiedete sie sich von Sabine, legte auf und steckte ihr Handy in die Handtasche.
Dann besah sie sich den Griff des Einkaufswagens, suchte in ihrer Tasche nach dem Desinfektionsspray und sprühte sich die Hände damit ein.
Der Geruch beruhigte sie ein wenig. Er gab ihr das Gefühl von Sicherheit.
***
Dr. Florian Bergdorf war von fröhlichem Kinderlachen umgeben. Die Gesichter seiner beiden Zwillingstöchter strahlten mit der Sonne um die Wette. Hier und dort verirrte sich ein Zitronenfalter in ihr Spiel.
Wenn der fünfundvierzigjährige Psychotherapeut mit seinen Kindern spielen konnte, war es für ihn die schönste Zeit des Tages.
Tobias, der nun schon seit einem Jahr die Grundschule besuchte, beäugte das Fangenspiel kritisch. Als großer Bruder fühlte er sich oftmals dazu verpflichtet, über den Dingen zu stehen. Nur manchmal ließ er sich dazu hinreißen, die wilden Spiele mitzuspielen.
Florian Bergdorf wunderte sich noch immer darüber, wie verschieden seine Kinder waren. Die vierjährigen Zwillinge Edda und Hedwig waren kleine Wirbelwinde, die es im Nu schafften, ein Haus von oben bis unten auf den Kopf zu stellen. Tobias hingegen war ein ruhiger Junge.
Nicht, dass er schüchtern gewesen wäre. Er gehörte lediglich zu den Kindern, die sich stundenlang mit einer Sache beschäftigen konnten. Seit Opa Walter ihm das Schnitzen beigebracht hatte, saß er meistens auf den Treppenstufen des alten Gutshofs, welcher der Familie Bergdorf als Heim diente, und schnitzte kleine Holztiere.
„Hey, mein Großer, ich könnte ein bisschen Unterstützung gebrauchen“, rief Florian Bergdorf dem Jungen zu.
Zwar hatte Florian längst beide Mädchen gefangen, doch die Kleinen machten sich einen Spaß daraus, sich immer wieder von ihrem Papa loszulösen, ihm auf den Rücken zu tippen und dann fortzulaufen.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich Fangenspielen nicht leiden kann?“, klärte Tobias seinen Vater auf.
Kurz schaute der Junge zu ihm und seinen Schwestern, dann schüttelte er den Kopf und widmete sich wieder dem Wolf in seiner Hand, dessen Kopf noch schärfer herausgearbeitet werden musste.
Florian Bergdorf lief auf die kleine Treppe zu, auf der sein Sohn saß. Schwer atmend ließ er sich neben ihm nieder und legte die Arme auf den Knien ab.
„Kleine Pause“, rief der den Mädchen zu.
Die waren sofort enttäuscht.
„Aber Edda und ich haben noch gar nicht gefangen, Papa“, beschwerte sich die kleine Hedwig. Ihre hellbraunen Löckchen klebten ihr bereits an der Stirn, weil sie so wild getobt hatte.
„Weil ihr nie fangen wollt, mein Schatz“, erinnerte Florian sie lachend.
„Hat jemand Lust auf selbst gemachte Limonade?“ Eine helle Stimme mischte sich unter das Gemurre der kleinen Mädchen.
Florian wandte sich zu seiner Frau um, die aus der Terrassentür getreten war. Auf ihren Händen balancierte sie ein Tablett mit einer Karaffe und fünf Gläsern.
„Ich“, riefen drei Kinderstimmen gleichzeitig. Dabei sprang Tobias genauso schnell von seiner Stufe auf, wie die Mädchen angestürmt kamen.
Florian lachte bei dem Anblick. Wenn es selbst gemachte Ingwerlimonade gab, herrschten bei Bergdorfs Zustände wie im Zoo. Es war die reinste Raubtierfütterung.
„Langsam“, mahnte Isabelle ihren Nachwuchs und nahm vorsorglich die Karaffe in die Hand. Erst letzte Woche hatten die Zwillinge eine Kanne zerbrochen, nachdem sie sich darum gestritten hatten, wer von ihnen ausschenken durfte.
Als die Kinder schließlich mit dem süßen Erfrischungsgetränk versorgt waren, setzte Isabelle sich mit zwei gefüllten Gläsern zu ihrem Mann und reichte ihm eines davon. Er dankte es ihr mit einem Kuss auf die Schläfe.
„Ist das nicht schön heute?“, schwärmte Isabelle verträumt und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
Der Ausblick war wirklich bezaubernd. Der alte Gutshof lag mitten im Grünen. Eine weitläufige Wiese umgab das großzügige Anwesen. Gleich hinter ihrem Gartenzaun führte ein Weg direkt in den dichten Laubwald. Die Bäume leuchteten in einem saftigen Grün, und auf der Wiese hatten schon etliche Wildblumen ihre bunten Köpfe in die Luft gereckt.
„Manchmal kann ich noch immer nicht glauben, wie viel Glück wir mit allem hatten“, stimmte Florian ihr zu, trank einen Schluck Limonade und legte seiner Frau einen Arm um die Schulter. Hinter ihnen veranstalteten die Kinder einen Wettbewerb, wer am schnellsten sein Glas leeren konnte.
Und tatsächlich hatten die Bergdorfs jede Menge Glück gehabt. Ursprünglich aus Berlin, hatte sich die Familie nach einem ruhigeren Sitz auf dem Land umgesehen. Dabei hatte der Mediziner jedoch Wert darauf gelegt, nicht zu abseits zu leben. Es war ihm wichtig, den Kindern die Vorteile einer Stadt bieten zu können, ohne dass sie dem dazugehörigen Lärm ausgesetzt waren, und Isabelle sah das genauso.
Zwei Jahre lang hatte sich das Ehepaar nach einem geeigneten Wohnsitz umgesehen. Als sie schließlich die Anzeige ihres jetzigen Zuhauses in einer Zeitschrift aus dem Biomarkt gefunden hatten, war es ein Leichtes gewesen, eine Entscheidung zu fällen. Zwei Tage später hatten sie das Haus und das Grundstück besichtigen können, und nur drei Monate später waren sie umgezogen. Isabelle behauptete bis heute, dass sie schon beim Anblick der Anzeige gewusst hatte, dass es ihr Haus sein würde.
„Spielst du wieder mit uns, Papa?“, fragte Edda, die das Limonaden-Wetttrinken offensichtlich gewonnen hatte. Mit ihren kurzen dünnen Beinen stakste sie die Stufen hinunter.
Florian schaute auf seine Armbanduhr. Schon kurz vor zwei. In einer Viertelstunde musste er die Praxis im Nebenhaus des Hofs öffnen. Vielleicht war sogar schon der erste Patient vorgefahren.
„Ich muss wieder arbeiten, mein Schatz“, erklärte er seufzend und erhob sich von der Stufe.
„Oh Menno, Papa“, stöhnten die Zwillinge gleichzeitig, wurden jedoch sofort von ihrem großen Bruder in die Schranken gewiesen.
„Der Papa muss arbeiten, damit wir Limonade trinken können“, klärte er seine Schwestern wichtigtuerisch auf.
In der Schule hatten sie über die Berufe ihrer Eltern gesprochen und darüber, welche Berufe sie gerne einmal ausüben wollten. Seitdem fühlte sich der Siebenjährige noch reifer. Denn das Prinzip von Arbeit und Geldverdienen hatte er gleich verstanden.
„Halt die Klappe“, entgegnete Hedwig trotzig, „du bist nicht unser Papa.“
Als hätten die Mädchen sich miteinander verschworen, hakten sie sich unter und stampften über die Wiese davon, bis sie einen Schmetterling gefunden hatten, den sie nun zu fangen versuchten.
„Bekommst du das mit der Rasselbande hin?“, fragte Florian seine Frau scherzhaft.
„Jetzt, wo du wieder in die Praxis musst, ist die Rasselbande immerhin kleiner geworden“, konterte sie und schenkte ihrem Mann ein Lächeln.
Während Florian die Familienidylle verließ und in Richtung seiner Praxis lief, ging er im Kopf seinen Nachmittag durch.
Vier Patienten erwartete er heute. Da er vormittags als Allgemeinmediziner tätig war, blieben ihm nur die Nachmittage, um seine Patienten psychotherapeutisch zu betreuen. Diese Struktur half ihm, beide Bereiche miteinander zu vereinen.
Als er sich dem Nebenhaus näherte, das früher einmal dem Hausmeister als Wohnhaus gedient hatte, fuhr ein roter Kleinwagen in die Einfahrt. Frau Boll winkte ihm schüchtern, und er winkte freundlich zurück.
Er blieb stehen und wartete. Florian Bergdorf lagen die Patienten am Herzen. Daher war es ihm wichtig, der Frau zu zeigen, dass sie bei ihm willkommen war.
„Guten Tag, Frau Boll“, grüßte er sie herzlich, als sie ausgestiegen war. „Sie bringen heute aber ein herrliches Wetter mit.“
***
Dass es schmerzhaft würde, war Lilian schon bewusst gewesen, nachdem sich Hannes damals von ihr getrennt hatte. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass sie ihrem Ex-Freund irgendwo in der Stadt begegnen würde.
Es wäre ein Herbsttag, doch der Wind würde ihren kurzen blonden Haaren nichts anhaben können. In ihrer Fantasie trug sie einen Wollmantel und hatte das Gesicht lächelnd in die Brise gereckt. Hannes sollte sie sehen und ein kleines bisschen bereuen, dass er sie verlassen hatte.
Die Realität sah nun leider anders aus …
Lili stand vor dem Kühlschrank und sah auf ihre Einkäufe im Korb hinunter, bis sie sich endlich fasste und die Tür öffnete. Mechanisch griff sie nach Joghurt, Quark und Käse und verstaute die Produkte akribisch in die vorgegebenen Fächer. Den Joghurt ins obere Regal auf die linke Seite, der Quark kam auf die rechte Seite. Den Käse legte sie in eine transparente Plastikschale zwei Regale tiefer.
Bei Lili hatte alles einen festen Platz. Sie liebte ihre Ordnung.
Sie liebte es auch, die Schränke zu öffnen, blind hineingreifen und gleich das Richtige packen zu können. Ordnung gab ihr Sicherheit.
Dann legte sich ein Schatten über ihre Gedanken.
Frustriert warf Lili die Kühlschranktür zu und sah zu Boden. War Hannes nicht genau deshalb gegangen? Weil sie an allem festhielt, was ihr Sicherheit gab?
Lili erinnerte sich daran, wie ihr ehemaliger Freund jedes Mal die Augen verdreht hatte, wenn sie ihn darum gebeten hatte, die Schuhe an die Seite zu stellen, statt sie mitten im Flur liegen zu lassen. Sie war der Meinung, dass es ein völlig normaler Wunsch war. Genauso wie andere Frauen sich ständig darüber beschwerten, dass ihre Männer benutztes Geschirr statt in den Geschirrspüler lieber in der Spüle deponierten. Aber Hannes hatte darin nur eine weitere Marotte gesehen.
Durch das gekippte Fenster drangen Männerstimmen herein; nebenan wurde offenbar gearbeitet. Lili hatte einen großen Wagen vor dem Haus stehen gesehen, als sie nach Hause gekommen war.
Das Nachbarhaus stand seit anderthalb Jahren leer. Nun fragte sie sich, ob es endlich verkauft worden war. Soviel sie wusste, hatten die Eigentümer stark mit dem Preis runtergehen müssen, um es auf dem Markt attraktiver zu machen.
Seufzend stellte sie den Korb zurück an seinen angestammten Platz in der Küche. Dort gab es eine kleine Ausbuchtung in der Wand, in die er prima hineinpasste. Dann schaltete sie den Wasserkocher an, um sich einen Tee zuzubereiten. Akribisch maß sie den Pfefferminztee ab und gab einen Dreiviertellöffel in das Sieb.
Nachdem der Wasserkocher mit einem leisen „Klick“ den Kochvorgang beendet hatte, goss sie das Wasser über den Tee. Während Lili wartete, wanderten ihre Gedanken wieder zu Hannes.
Das Wiedersehen war so anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte! Obwohl man vermutlich nicht von einem Wiedersehen sprechen konnte, wenn man bedachte, wie sie sich hinter den Supermarktregalen versteckt hatte. Wie peinlich!
Trotzdem war sie erleichtert, dass Hannes sie nicht entdeckt hatte. Denn nicht nur, dass sie heute ganz und gar nicht so aussah wie in ihrer Wiedersehensvorstellung – Hannes’ neue Freundin schien auch noch einem Modemagazin entsprungen zu sein. Sie war einfach atemberaubend schön gewesen.
Fast schon fragte sich Lilian, wie es Hannes, der mit seinen Hemden und der Brille eher langweilig aussah, gelungen war, solch eine Frau an sich zu binden. Aber dann erinnerte sie sich daran, wie charmant er sein konnte.
Hannes verfügte über ein Selbstbewusstsein, das nur Männern zu eigen war, die auf ganzer Linie Erfolg hatten. Und als frisch gewählter Landtagsabgeordneter durfte sich Hannes erfolgreich nennen.
Frustriert drehte Lili sich wieder zu ihrem Tee um. Eine frische Minznote stieg ihr in die Nase, während sie das Sieb zum Abtropfen in die Spüle stellte und mit der Tasse zur Couch ging.
Früher hatte sie viele Abende mit Hannes hier verbracht. Sogar den letzten Abend ihrer Beziehung. Noch immer schmerzte es sie, wenn sie daran dachte, wie er das Gespräch begonnen hatte.
„Du, da ist was, was ich mal mit dir besprechen muss“, hatte Hannes gesagt und sie angesehen, als handelte es sich um einen Termin am Wochenende, den er dringend einhalten musste. Also hatte Lili lediglich das Buch, das sie gerade gelesen hatte, in ihren Schoß sinken lassen.
Was dann gefolgt war, hatte allerdings nichts mit einem Wochenendtermin gemein gehabt.
Hannes hatte sich von ihr getrennt. Kurz und bündig hatte er ihr erklärt, dass sie nun seit geraumer Zeit zusammen und ihm ein paar Dinge aufgefallen waren. So, als handelte es sich um ein paar Ungereimtheiten, die beiseite geschafft werden mussten.
Mit immer größerem Erstaunen war Lili seiner ausschweifenden Rede gefolgt, die wie einstudiert geklungen hatte. Dabei kam heraus, dass er sich mehr und mehr an ihren Zwängen störte. Es waren nicht nur die Schuhe, die er gern achtlos im Flur liegen ließ, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Es war auch das viele Händewaschen, wenn Lili etwas angefasst hatte, von dem sie glaubte, dass es sie krank machen konnte. Türgriffe. Der Einkaufswagen. Hände.
Immer mehr stellte sich heraus, dass Hannes unter ihren Zwängen litt. Ihm missfiel, dass sie nie gemeinsam essen gehen konnten, weil Lili glaubte, dass sie die schweren Mahlzeiten in den Restaurants nicht vertrug. Dass sie nicht gemeinsam in die Sauna gingen, weil sie die hygienischen Bedingungen dort infrage stellte. Dass sie bei jedem kleinsten grummelnden Geräusch in Panik verfiel, weil sie befürchtete, jemand von ihnen hätte eine Magen-Darm-Erkrankung.
Lili litt seit Jahren unter einer Emetophobie, die Angst vorm Erbrechen. Das wiederum führte dazu, dass sie sich vor Bakterien und Viren fürchtete.
Sie hatte immer geglaubt, dass sie die Angst einigermaßen im Griff hätte. Immerhin traf sie sich mit Freunden, scheute sich nicht vor der Öffentlichkeit und ging einer geregelten Arbeit nach (obwohl Hannes ihren Job als Social-Media-Managerin immer als Humbug abgetan hatte). Doch als er sich mit diesen Erklärungen von ihr getrennt hatte, war ihr bewusst geworden, wie sehr sich ihr Leben offenbar doch von dem anderer Menschen unterschied.
Lili pustete auf ihren Tee. Das Getränk wärmte ihr die Finger. Obwohl es Juni war, mochte sie es, wie die Hitze ihre Finger durchlief und ihre Haut rot zurückließ.
Dann trank sie einen Schluck. Und mit diesem Schluck spülte sie auch die Erinnerungen an Hannes und diesen dunklen Abend hinunter.
Als sie gerade von der Couch aufstehen und ihre Tasse wegräumen wollte, wurde sie vom Klingeln an der Tür aufgeschreckt. Verwundert blickte sie in den Flur, doch das Milchglas der Tür machte es unmöglich, die Person davor auszumachen. Also stellte sie die Tasse auf dem Sideboard im Esszimmer ab und ging in Richtung des Hämmerns, das ihr vermittelte, dass sie sofort öffnen sollte.
„Wie lange hast du dich im Supermarkt versteckt?“, begrüßte Sabine sie ohne Umschweife, nachdem Lili die Tür geöffnet hatte.
„Gar nicht lange“, wiegelte sie ab und schloss die Tür gleich wieder, nachdem Sabine unaufgefordert eingetreten war. In den plumpen Turnschuhen und der weiten Jeans sah sie aus, als wollte sie einer handwerklichen Tätigkeit nachgehen.
Sabine gab nichts auf schöne Kleidung. Bei ihr musste es praktisch sein. Bei zwei Hunden und zwei Söhnen war das allerdings auch wenig verwunderlich.
Sabine legte den Kopf schief.
„Und jetzt die Wahrheit, bitte“, sagte sie fordernd.
„Zwanzig Minuten“, stöhnte Lili und trottete hinter ihrer Freundin und Nachbarin in den offenen Wohn- und Essbereich ihres Hauses.
Das Haus hatte Lili von ihrer Oma geerbt. Es war eines der ersten Häuser in dieser Wohngegend gewesen, doch da es immer wieder modernisiert worden war, sah man dem Gemäuer sein Alter nicht an.
„Und alles nur wegen dem Blödmann“, befand Sabine und ging direkt in Lilis Küche, wo sie sich ein Glas aus einem der Hängeschränke holte und kaltes Wasser aus der Leitung hineinlaufen ließ. „Wie sah sie aus?“
„Wer?“, fragte Lili unnötigerweise.
Es war schon schlimm genug, dass sie sich ihre Niederlage eingestehen musste – Hannes trauerte ihr und ihrer gemeinsamen Zeit kein bisschen hinterher und war nun glücklich mit einer neuen Frau –, da wollte sie das Ganze nicht noch akribisch untersuchen.
„Wer wohl?“, schnaufte Sabine und trank das halbe Glas in einem Zug. „Die Kassiererin natürlich!“
„Schon gut“, gab sich Lili geschlagen.
Es war zwecklos, ihrer Freundin etwas vorzumachen. Immerhin war sie diejenige gewesen, die sich damals um sie gekümmert hatte, nachdem Hannes ausgezogen war.
„Hinreißend“, erklärte sie also seufzend.
Sabine machte große Augen.
„Mist“, fluchte sie. „Mit ‚schön‘ hätte ich leben können. Aber ‚hinreißend‘ ist eine ganz andere Nummer.“
Lili schlug sich die Hände an den Kopf und schloss die Augen. „Du hättest sie sehen sollen. Sie sind Arm in Arm durch diesen verfluchten Supermarkt geschlendert, als würden sie da eine Szene für einen bescheuerten Liebesfilm drehen.“
„Oje, komm her, meine Süße!“ Sabine stellte das Glas beiseite und nahm sie in den Arm. Doch die Berührung fühlte sich seltsam an.
Natürlich umarmten sich die Freundinnen zu Geburtstagen und auch manchmal zur Begrüßung, aber ansonsten verzichteten sie auf körperliche Gesten. Es passte nicht zu ihnen.
„Bist du dir denn ganz sicher, dass er dich nicht gesehen hat?“, fragte Sabine weiter.
Lili wurde rot bei dem Gedanken, wie sie sich an das Regal mit den Keksen gedrückt und die Verfallsdaten der Packungen verglichen hatte, als eine Angestellte des Supermarkts mit skeptischem Blick an ihr vorbeigegangen war.
„Er hätte schon durch Wände schauen müssen, um mich zu entdecken“, versicherte sie selbstironisch.
„Na, Super-Hannes ist doch alles zuzutrauen“, warf ihre Nachbarin ein.
Es war kein Geheimnis, dass Sabine nicht viel von Lillis Ex-Freund hielt. Schon damals, als sich Lili noch in einer glücklichen Beziehung geglaubt hatte, war sie ihm stets mit Provokationen begegnet. Meistens war Hannes zu perplex gewesen, um darauf reagieren zu können.
Lili erinnerte sich an eine Szene, als sie und Hannes im Wald spazieren gewesen und dort Sabine über den Weg gelaufen waren. Die taffe Hundebesitzerin hatte Hannes vorm Fallen gewarnt, weil er so aalglatt war. Hintergrund war eine Entscheidung im Landtag gewesen, bei der er sich als neuer Abgeordneter enthalten hatte.
„Sabine, werd’ jetzt bitte nicht unfair“, stoppte Lili sie daher. „Hannes und ich hatten eine schöne Zeit, und er war ein toller Freund. Er hat schon recht, dass das Leben mit mir nicht einfach ist. Ich kann es ihm nicht mal verdenken, dass er so schnell jemand Neues gefunden hat. Seine neue Freundin hat bestimmt nicht so viele Marotten wie ich.“
Lili wollte gerade zurück ins Wohnzimmer gehen, doch Sabine hielt sie fest.
„Gut, verstanden, über Super-Hannes darf nicht gelästert werden. Und ich akzeptiere, dass er eine neue Freundin hat. Aber hör auf, von Marotten zu reden. Du hast Ecken und Kanten, und die machen dich interessant“, versuchte es Sabine mit einer Aufmunterung.
„Sehr interessant“, fasste Lili in ihrem ironischsten Unterton zusammen.
„Aber wenn Hannes jemand Neues hat, wird’s für dich vielleicht auch langsam Zeit, jemanden kennenzulernen.“
Und damit bugsierte die Nachbarin Lili zum Küchenfenster und deutete mit einer Hand nach draußen.
Widerstrebend folgte Lilis Blick dem Fingerzeig. Und dort entdeckte sie jemanden, der gerade dabei war, einen Karton aus dem großen Auto zu tragen, das sie schon eben beim Heimkommen gesehen hatte.
„Wer ist das?“, fragte sie erstaunt.
Ihr Blick blieb an dem Mann haften, dessen dunkelblonde Haare ein wenig verstrubbelt aussahen. Auf seinem Gesicht erschien ein schiefes Lächeln, und er rief einem Mann etwas zu, der an ihm vorbeiging und im Auto verschwand. Erst jetzt erkannte Lili, dass es sich bei dem Auto um einen Umzugswagen handelte.
„Der neue Nachbar“, flötete Sabine und lugte ihr über die Schulter.
Lili blieb stumm. Statt etwas zu sagen, beobachtete sie das Geschehen links von ihrem Küchenfenster. Der neue Nachbar schien in ihrem Alter zu sein, also in den Dreißigern. Sein Gesicht hatte etwas Schelmisches, vor allem, wenn er – wie jetzt – lächelte. Die Jeans, die er trug, sah abgenutzt aus. Und das T-Shirt schien ein altes Bandshirt zu sein.
„Ich habe gar nicht mitbekommen, dass das Haus den Eigentümer gewechselt hat“, lenkte sie ihre Gedanken von dem Mann ab, der ihr zu heiß erschien, um in dieser ruhigen Nachbarschaft einzuziehen. Gehörten solche Typen nicht eher in die Hauptrolle einer amerikanischen Wohlfühlserie?
„Du würdest es nicht mal mitbekommen, wenn nebenan ein Vulkan ausbricht, weil du noch dabei wärst, die Bakterien auf deiner Spülbürste zu zählen“, erwiderte Sabine, ohne den Blick abzuwenden. Auch sie schien von dem neuen Nachbarn angetan zu sein.
Kichernd stieß Lili sie in die Seite. Manchmal musste sie tatsächlich über sich selbst lachen, auch wenn sie noch nie die Bakterien auf ihrer Spülbürste gezählt hatte.
Leider waren diese Zwänge Ausdruck einer psychischen Erkrankung. Und die hatte die Macht, Lilis Leben zu einem einzigen Hürdenlauf zu machen. Da war es eine kleine Wohltat, wenn der Anblick des neuen Nachbarn sie ein wenig ablenkte.
Genau in dem Moment hob dieser den Kopf und schaute zu ihrem Fenster.
***
Dexter hatte sich den Umzug stressiger vorgestellt. Umso dankbarer war er, dass seine Bandkollegen allesamt angeboten hatten, ihm zu helfen. Nach und nach schleppten sie Waschmaschine, Trockner, Kartons, Sessel und sämtliche Möbel in das Haus, das er von nun an seines nennen durfte.
„Heute Abend gibt’s dann eine Einweihungsparty?“, fragte Jenne.
Jenne war nicht sein richtiger Name, sondern lediglich die Abkürzung seines Nachnamen Jendereck. Jahrelang hatte Dexter nicht gewusst, wie Jenne überhaupt mit Vornamen hieß, bis er erfahren hatte, dass er – ebenso wie ihr Drummer – ein Luis war. Also war schon zu Jugendtagen aus dem zweiten Luis ein Jenne geworden.
Seltsamerweise nannte selbst seine Freundin ihn so. Dem Mann mit den langen dunklen Haaren schien es nichts auszumachen.
„Damit du gleich am ersten Tag die ganze Einrichtung wieder demolierst?“, entgegnete Dexter. „Vergiss es.“
Er drückte seinem Freund einen Krimskrams-Karton in die Hände und fragte sich, warum er den Krempel nicht schon zu Hause entsorgt hatte.
„Die Kiste kannst du gleich entsorgen“, rief er Jenne hinterher.
Als er ihm nachblickte, erkannte er eine Regung hinter einem der Fenster des Nachbarhauses. Belustigt stieg er wieder in den Laderaum des Umzugswagens, wo er sich einen neuen Karton griff. Als er vollbeladen aus dem Auto stieg, kam ihm Luis entgegen.
„Neugierige Nachbarn auf zehn Uhr“, raunte der Drummer ihm im Vorbeigehen zu.
Dexter ging langsam auf sein Haus zu, dann schmunzelte er, blickte abermals zu dem Fenster, hinter dem er eben die Regung entdeckt hatte, und zwinkerte der Person dahinter zu.
Wer auch immer hinter der Gardine stand – die Person würde sich nun hoffentlich ertappt fühlen.
***
Um sich von ihren schmerzhaften Erinnerungen abzulenken, hatte Lilian sich etwas überlegt. Sie öffnete den Schrank, in dem sie ihre Backutensilien aufbewahrte, und zog zunächst die Kastenform heraus. Anschließend suchte sie in der kleinen Plastikschale, in der sie die Tütchen mit Sahnesteif, Natron und Vanillezucker aufbewahrte, nach Trockenhefe. Glücklicherweise hatte sie noch ein Päckchen, sodass sie nicht noch mal zum Supermarkt fahren musste.
Nachdem sie die Schale wieder zurück in den Schrank gestellt hatte, heizte sie den Ofen vor. Wie konnte eine Nachbarschaft schöner starten als mit einem kleinen Willkommensgeschenk?
Auch als sie zwei Stunden später mit dem noch warmen Brot und einer Packung Salz vor der Haustür des Nachbarhauses stand, sagte sie sich das immer wieder. Denn leider musste sie feststellen, dass sie sich eigentlich gar nicht mehr so sicher war, ob das, was sie hier tat, gut ankommen würde. Die Typen, die sie eben vom Fenster aus beobachtet hatte, machten nicht den Eindruck, als würden sie sich über Brot und Salz freuen. Außerdem fragte sie sich, wer von ihnen wohl ihr Nachbar war.
Nachdem sie noch einmal tief durchgeatmet hatte, drückte sie auf die Klingel. Sie hörte nichts und versuchte es ein zweites Mal, musste aber feststellen, dass die Klingel entweder kaputt oder ausgestellt worden war. Also klopfte sie gegen die Tür und wartete.
Die Sonne verabschiedete sich am Horizont und warf einen orangefarbenen Schleier auf die Bäume, die das Wohngebiet am oberen Rand begrenzten. Auf Lilis Arm stellten sich bereits die feinen Härchen auf.
Als sie ihre Hand hob, um ein weiteres Mal zu klopfen, wurde unvermittelt die Tür geöffnet. Mitten in der Bewegung hielt Lili inne und lächelte verlegen, als sie dem Mann gegenüberstand, der ihr und Sabine heute Nachmittag zugezwinkert hatte.
„Oh, hi“, sagte sie mit dünner Stimme.
„Hi“, grüßte der neue Nachbar.
Seine dunkelblonden Haare lagen über der Stirn verstrubbelt zur Seite. Das verlieh ihm etwas Verwegenes. Dass er sie nun mit diesem schiefen Grinsen anlächelte, unterstrich den Eindruck nur.
Sofort sammelte sich Lili wieder, als ihr auffiel, dass sie ihn angestarrt hatte, und hielt ihm das Präsent hin.
„Willkommen in der Nachbarschaft.“ Ihr Lachen klang ein wenig gekünstelt. „Brot und Salz. So macht man das doch, oder?“
Der Mann vor ihr zog eine Augenbraue hoch, während ein Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen nach oben gezogen war. Dann nahm er das Geschenk entgegen.
„Ich habe keine Ahnung, aber danke schön“, erwiderte er, beachtete das Brot jedoch gar nicht, sodass sich Lili ein wenig über den Arbeitsaufwand ärgerte.
„Ich bin übrigens Lilian. Lilian Seidel“, beeilte sie sich zu sagen und wollte sich gerade eine Strähne hinters Ohr klemmen, als ihr einfiel, dass sie ihr blondes Haar nun kurz trug. „Aber alle nennen mich Lili.“
Der neue Nachbar legte das Willkommensgeschenk irgendwo hinter sich ab und stützte seinen rechten Arm am Türrahmen ab. Dabei rutschte der Ärmel seines T-Shirts so weit nach oben, dass Lili eine Tätowierung auf der Innenseite seines Oberarms sehen konnte.
„Lili, hm?“, machte er und sah sie auf eine Art und Weise an, die sie verwirrte. „Was, wenn ich nicht wie alle bin?“
Die Frage machte sie sprachlos. Was sollte sie darauf antworten? War es überhaupt eine Frage? Und warum hatte der Typ jetzt diesen seltsamen Ton in seiner Stimme?
„Ähm, na ja, also, ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns.“ Sie hoffe, diese unangenehme Begegnung so zu beenden.
„Da bin ich mir ganz sicher, Lili“, erwiderte er, und sein Grinsen machte sie nur noch nervöser.
„Also dann …“, sagte sie, hob die Hand zum Abschied und machte auf dem Absatz kehrt. Dann fiel ihr noch etwas ein. „Ach so, vielleicht warten Sie noch, bis Sie das Brot anschneiden. Es dürfte innen noch heiß sein.“
„Hey, Lili“, rief er ihr plötzlich hinterher, als sie sich schon in Sicherheit wägte.
Sie drehte sich um und kniff die Lippen zusammen, da sein Anblick im Türrahmen etwas hatte, vor dem sie dringend weglaufen wollte. Oder hinlaufen. So genau konnte sie das im Moment nicht sagen.
„Ich steh auf Heißes“, setzte er nach, zwinkerte ihr mit diesem schiefen Lächeln zu und schloss anschließend die Tür.
Als sich Lilian endlich in ihr Haus geflüchtet hatte, ließ sie sich mit dem Rücken gegen die Tür fallen. Heiß war ihr nun auch. Und die Gänsehaut auf ihrem Arm war längst verschwunden.
Was fiel diesem Kerl eigentlich ein? Hatte er gerade mit ihr geflirtet? Oder hatte er sie nur veräppeln wollen? So oder so war sein Verhalten inakzeptabel gewesen. In Zukunft würde sie es sich gut überlegen, bevor sie neue Nachbarn willkommen hieß.
***
Dexter musste sich ein Lachen verkneifen, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Die Kleine von nebenan war süß. Trotzdem hatte er es nicht lassen können, sie aus ihrer Reserve zu locken. Mit dem scheuen Lächeln und dem nervösen Blick hatte sie ausgesehen, als bräuchte sie jemanden, der mal ein bisschen Leben aus ihr herauskitzelte. Umso amüsanter war es gewesen, dabei zuzuschauen, wie sich ihre Wangen immer stärker gerötet hatten.
Mit dem Brot und dem Salz ging er gemächlich zurück in die Küche, wo er gerade dabei gewesen war, die Oberschränke an die Wand zu schrauben.
„Wer war das?“, wollte Jenne wissen, der die Spülmaschine anschloss.
„Die Nachbarin“, antwortete er beiläufig.
„Die neugierige Kleine vom Fenster?“
„Jep“, machte Dexter und ließ es dabei bewenden. Irgendwie wollte er nicht über sie sprechen.
„Hübsch?“, hakte Jenne nach.
„Die Frage kannst du dir selbst beantworten. Du hast sie schließlich am Fenster gesehen.“
Dexter nahm seine Arbeit wieder auf. Die Dübel steckten bereits in der Wand. Für die nächste Aufgabe würde er die Hilfe seines Kumpels benötigen.
„Dann halt dich ran“, meinte Jenne nur, stand vom Boden auf und klatschte in die Hände.
Mit einem letzten Blick begutachtete er sein Werk. Offenbar war er zufrieden, denn sogleich hob er den Oberschrank an, damit Dexter ihn festschrauben konnte.
Dexter mochte das gemeinsame Arbeiten mit seinem Freund. Sie waren ein eingespieltes Team. Oftmals harmonierten sie, ohne groß Worte miteinander zu wechseln. Jenne wusste irgendwie immer, was als Nächstes zu tun war.
Zufrieden nahm Dexter den Akkuschrauber in die Hand. Es dauerte keine fünf Minuten, dann hing der letzte Schrank, und die Küche musste nur noch ausgewischt und eingeräumt werden. Das hatte allerdings auch noch Zeit.
„Hast du was zu essen da?“, fragte Jenne, der sich suchend in der Küche umsah.
Zwar hatten sie heute Mittag Pizza bestellt, doch seitdem hatten sie auch jede Menge gearbeitet. Und da sich die anderen Helfer mittlerweile alle verabschiedet hatten, blieb umso mehr Arbeit für sie beide übrig.
„Nur frisches Brot von nebenan, Kumpel. Sorry“, entschuldigte sich Dexter, der erst am nächsten Morgen einkaufen wollte.
Ein Brummton störte ihn auf, sodass er von der Arbeitsplatte herabstieg, um einen Blick auf sein Handy zu werfen. Da er mittlerweile ganz schön erledigt war, kam ihm die Ablenkung gelegen.
„Was dagegen, wenn ich mir was davon abschneide?“, vergewisserte sich Jenne, der bereits das Brot auf dem Küchentisch in Augenschein genommen hatte.
„Mach nur“, forderte Dexter ihn auf und sah auf das Display hinunter.
Sofort verdüsterte sich seine gute Laune. So lange war es nun her, dass er zuletzt etwas von ihr gehört hatte. Ausgerechnet heute musste sie sich melden. An dem Tag, der ihm so viel bedeutete, weil er in sein erstes Eigenheim gezogen war.
„Verflucht“, zischte er leise.
„Hm?“, fragte Jenne, der das Brot mit seinem Taschenmesser bearbeitete.
Dexter wandte den Blick ab, um nicht allzu lang darüber nachzudenken, worin die Klinge des Taschenmessers wohl sonst noch gesteckt hatte.
„Ach nix“, murmelte er nur. Dann las er die Nachricht noch einmal.
Hey, mein Süßer!
Hab gehört, du bist umgezogen. Hast es wohl richtig geschafft, was? Ich bin stolz auf dich.
Ich weiß nicht, ob du’s schon gehört hast, aber ich wohn’ jetzt bei Marvin. Na ja, nicht mehr lange, denn ich hab vor, so schnell wie möglich auszuziehen. Der Typ ist ein total kranker Kontrollfreak! Meinst du, du kannst mir vielleicht ein bisschen Geld borgen, damit ich eine hübsche Wohnung finde? Nur für den Übergang. Bekommst es schnell wieder. Versprochen.
Jessi
Es war immer dasselbe mit ihr. Kaum hatte sie jemanden kennengelernt, zog sie auch schon bei ihm ein. Dexter wusste nicht, ob es daran lag, dass sie das Geld für die Miete sparen wollte, oder ob sie tatsächlich noch an die Liebe glaubte. Doch bislang hatte es nicht einen Mann in ihrem Leben gegeben, mit dem es auch nur ansatzweise funktioniert hätte.
Melde mich morgen, schrieb Dexter zurück.
Er hatte keine Lust, sich heute mit Jessis Problemen auseinanderzusetzen. Er hatte es aus seiner persönlichen Misere herausgeschafft. Langsam sollte sie anfangen, auch daran zu arbeiten.
***
Lilian wachte auf mit diesem Gefühl der dunklen Erkenntnis. Das Zimmer um sie herum war in Schwärze getaucht. Der Schein der Straßenlaterne, die schräg vor ihrem Schlafzimmerfenster stand, schaffte es nicht bis zu ihrem Bett.
Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie die Konturen ihrer Möbel ausmachen. Doch da war etwas, das ihre gesamte Aufmerksamkeit erforderte und sie mit aller Gewalt an sich zerrte.
Lili schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein und aus. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, hatte sie mit jedem Zug das Gefühl, zu wenig Luft in ihre Lungenflügel zu bekommen. Daher wurde das Einatmen immer intensiver, immer tiefer, immer hektischer, sodass auch das Ausatmen außer Kontrolle geriet.
Verzweifelt drehte sich Lili auf die Seite. Da begann ihr Bauch zu rebellieren. Erst nur durch Geräusche, dann durch ein leichtes Ziehen.
Wenn es mir jetzt gelingt einzuschlafen, kann ich das Schlimmste verhindern, sagte sie sich im Stillen und hielt die Augenlider fest geschlossen.
Aber ihr Bauch wollte keine Ruhe geben und beschwerte sich lautstark. Sie hätte heulen können, denn sie wusste, was ihr nun bevorstand.
Lili hatte Angst. Und diese Angst war ausgelöst worden von den zahlreichen Erfahrungen, die ihre Nächte schon oft zu einem einzigen Albtraum hatten werden lassen.
Wieder meldete sich ein Ziehen in ihrem Bauch, stärker diesmal, doch noch auszuhalten. In ihrem Unterleib rumorte es. Und durch die hektische Atmung, die sich mit jedem Rumoren steigerte, wurde ihr übel.
Sollte sie ruhig liegen bleiben? Oder sich auf die andere Seite drehen, um ihren Bauch zu beruhigen?
Doch als das nächste Ziehen solch einen starken Schmerz verursachte, wurde Lili klar, dass sie diesen Kampf verloren hatte. Wieder einmal.
Kurz wartete sie ab, bis das Ziehen abebbte, dann schlug sie die Bettdecke zurück. Voller Angst schlurfte sie barfuß ins Badezimmer. Sobald das Licht eingeschaltet war, sollte sie sich besser fühlen, dachte sie wieder einmal, aber so war es nie. Denn das künstliche Lampenlicht in ihrem Bad verband sie nur noch mit den nächtlichen Qualen, die die Angststörung ihr bescherte.
Lili erfrischte sich am Waschbecken. Das Wasser sorgte dafür, dass sie klarer denken konnte. Nur half klares Denken während einer Panikattacke nicht. Daher spürte sie nach, wie ihr Herz wild polterte, als würde es vor der Enge fliehen wollen und gegen eine Tür hämmern. Ihr Atem ging immer schwerer. Die Luft wurde immer dünner.
Alarmiert beugte sich Lili über das Waschbecken. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, sodass ihr kurzes Haar darauf kleben blieb. Auch ihr T-Shirt war schweißgetränkt.
Die Übelkeit in ihrem Bauch ballte sich zu einem gemeinen Klumpen zusammen, der ihr schwer im Magen lag. Kurz krampfte sie, dann … Nichts. Als wäre das alles nur ein Scherz gewesen, ebbte die Übelkeit wieder ab. Ihr Atem beruhigte sich, der Schmerz zog sich zurück, und ihr Herz hörte auf, um Befreiung zu betteln.
Zurück blieb Lili, die sich erschöpft mit dem Rücken gegen die Badewanne sinken ließ.
Wie viele Nächte hatte sie schon auf diese Weise verbracht? Unzählige! Seit Jahren schon quälten sie Angst und Panik. Und obwohl sie sich bereits mit einigen Dingen auseinandergesetzt hatte, die angeblich Abhilfe verschaffen sollten, hatte sie bislang keinen Erfolg verbuchen können.
Seufzend wusch sie sich die Hände, sah ihrem matten Gesicht im Spiegel entgegen und ging zurück in ihr Schlafzimmer. Sollte sie es wagen, sich wieder hinzulegen? Die Gefahr, dass eine neuerliche Attacke folgte, wäre zu groß.
Da auch die Übelkeit noch nicht völlig verschwunden war, ging Lili zu ihrer Kommode, in deren oberster Schublade sie ihre Medikamente aufbewahrte. Links befanden sich die Medikamente gegen Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Bauchkrämpfe.
Sie zog die Schachtel mit den Reisetabletten heraus. Die sorgten meistens dafür, dass die Übelkeit nachließ, und betäubten ihre Innereien und ihren Geist so sanft, dass sie davon in der Regel nach einer Stunde einschlief.
Sie drückte eine Tablette aus dem Blister und steckte sie sich in den Mund. Bei dem bitteren Geschmack musste sie ein Würgen unterdrücken. Mit einem kräftigen Schluck aus ihrer Wasserflasche, die sie jeden Abend gefüllt an ihr Bett stellte, spülte sie die Tablette hinunter.
Nun ging es ihr schon besser. Manchmal genügte die Gewissheit, dass sie etwas eingenommen hatte, und sogleich beruhigte sich ihr gesamter Körper.
Allerdings war sie nun hellwach, auch wenn die Panik sie an den Rand der Erschöpfung getrieben hatte. Lili blickte auf ihren Nachttisch. Darauf lag ein Buch, das sie vor wenigen Tagen zu lesen begonnen hatte. Aber sie konnte sich im Moment nicht vorstellen, sich einer Liebesgeschichte zu widmen, während ihr eigenes Liebesleben so aussah, dass sie sich vor ihrem Ex-Freund zwischen Supermarktregalen versteckte.
Mit dieser traurigen Erkenntnis ging sie zu ihrem Kleiderschrank. Sie öffnete die mittlere Tür. Im untersten Fach bewahrte sie in Kisten alte Erinnerungsstücke auf. Urlaubskarten von Freunden, einen Blechring aus dem Kaugummiautomaten von ihrer früheren Schulfreundin, ein altes Handy, auf dem die Nachrichten ihres damaligen Schwarms gespeichert waren. Heute würde sie das Handy gar nicht mehr eingeschaltet bekommen, da der Akku kaputt war.
Lili zog einen blauen Karton heraus, in dem sie die Erinnerungsstücke aus den letzten Jahren aufbewahrte. Er war deutlicher leerer. Je älter sie wurde, desto weniger Momente erschienen ihr so schön, dass sie sie nicht mehr vergessen wollte.
Auf dem Boden klappte sie den Deckel des Kartons auf. Da lagen sie. Die Fotos aus der Zeit mit Hannes.
Zuoberst lag ein Bild, auf dem sich Lilian an seine Brust schmiegte. Ihr damals noch schulterlanges Haar war vom Wind verweht worden. Im Hintergrund vermischte sich das Grau der Nordsee mit dem Grau des Himmels.
Nachdenklich nahm Lili den Stapel Fotos in die Hand und blätterte sie nacheinander durch. Hannes auf einer Geburtstagsfeier, zwei Knöpfe des blauen Hemdes geöffnet, sein Freizeitlook. Hannes und sie in Straßburg, ein Knopf geöffnet, sein Öffentlichkeitslook. Lili am Esstisch von Freunden, das Lächeln gefroren. Essen bei anderen Leuten machte sie stets ängstlich.
Lili und Hannes mit Freunden vorm Kino. Sie erinnerte sich noch an den Abend. Sie hatten einen gruseligen Thriller gesehen. Obwohl sich Lili auf den Film gefreut hatte, war ihr während der Vorstellung nicht wohl gewesen. Immerzu hatte sie daran denken müssen, was sie tun konnte, sollte sie in der geschlossenen Dunkelheit des Kinosaals eine Panikattacke bekommen. Oder noch schlimmer: sollte sich ein Magen-Darm-Virus in ihrem Körper befinden, der sich ausgerechnet dann bemerkbar machte.
Je weiter sie durch die Fotos blätterte, umso mehr stellte sie fest, wie maskenhaft ihr Gesicht auf den Aufnahmen aussah. Und dann wurde ihr bewusst, was Hannes gemeint hatte, als er davon gesprochen hatte, dass er endlich wieder unbeschwert leben wollte. Er wollte ein Leben führen, in dem ihm niemand permanent damit in den Ohren lag, dass dieses oder jenes passieren könnte. Er wollte ein Leben ohne Angst und Panik.
Auch ohne fremde Angst und Panik. Denn Hannes schien unter ihrer Angststörung ebenso gelitten zu haben wie sie, wenn auch auf andere Weise.
Wie viel Leben verpasste Lilian, weil ihre Angststörung ihr andauernd Gefahren vortäuschte, die nicht existierten? Wie viele Jahre hatte sie schon dadurch verloren?
Ernüchtert steckte sie die Fotos zurück in den Karton. Dann stülpte sie den Deckel darüber und schob ihn zurück an seinen angestammten Platz. Es wurde Zeit, etwas zu ändern.
Lili ging auf ihren Schreibtisch zu, der direkt unter ihrem Fenster stand. Von dort hatte sie einen Blick über den Wendeplatz vor ihrem Haus. Wanderer parkten oft ihre Autos dort, wenn sie den Wald oberhalb des Wohngebiets erkunden wollten.
In dieser Nacht blickte sie auf graue Container, die vor Tagen dort abgestellt worden waren. Eine einsame Laterne beleuchtete die metallene Ansammlung, als handelte es sich um eine Kunstinstallation.
Lili öffnete die oberste Schublade ihres Schreibtischs und zog ein weißes Blatt und einen Stift daraus hervor. Dann legte sie beides vor sich und wandte ihr Gesicht der Nacht zu, während es in ihrem Kopf arbeitete.
Schließlich begann sie zu schreiben:
Wunschliste
Schöne Kleidung tragen
In einem See schwimmen
Ein Festival besuchen
Eine wilde Romanze eingehen
Essen gehen und genießen
Lachen
Ins Kino gehen und dabei Popcorn essen
In den Urlaub fahren
Einmal nach New York fliegen
Das Haus voller Freunde haben …
Im Regen tanzen
***
„Bist du fertig?“, rief Sabine mit ihrer schrillen Stimme ins Haus.
Lili zog hastig ihre Wanderschuhe an. Da es letzte Nacht überraschend geregnet hatte, wollte sie ungern in Sneakers durch den Wald gehen.
„Nur noch einen kurzen Moment“, rief sie aus dem Hauswirtschaftsraum zurück, in dem sie ihre Schuhe aufbewahrte. „Kommt doch einfach rein.“
