Herz des Todes - Magret Kindermann - E-Book
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Magret Kindermann

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Beschreibung

Der Tod weiß, dass er unbezwingbar ist. Wenn er die Menschen holen kommt, hilft kein Aberglaube, kein Betteln und kein Klagen. Alles ändert sich, als er Aru begegnet. Die Leute aus ihrer Heimatstadt können sich nichts Furchteinflößenderes vorstellen und ächten das Kind. Die Freundschaft zwischen Aru und dem Tod bringt das altbewährte, fragile Gleichgewicht zwischen Sterben und Leben ins Wanken. Sie kommt hinter Geheimnisse des Todes, die bis in seine Kindheit zurückreichen – und Aru wird sie nutzen.

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil 2

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 3

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

HERZ DES TODES

Text © Magret Kindermann, 2021

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Annett Heidecke

Sensitivity-Reading: Nora Bendzko

Satz&Layout: Phantasmal Image

Innengrafiken: © Shutterstock

eBook: Grit Bomhauer

ISBN: 978-3-947147-68-7

© GedankenReich Verlag, 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

FÜR XU.

Angst verhindert nicht den Tod.

Sie verhindert das Leben.

Und das weiß niemand besser als du.

Ich bewundere dich.

Mit Fingern,

die sonst eher

zupackten und würgten,

hob er das Neugeborene

aus dem Hängekorb

und hielt es sich an

sein flatterndes Herz.

Der Tod wusste, im Moor lebte alles, sogar das Wasser. Es schien zu lachen, indem es gegen den von Menschen erbauten Holzpfad schlug, wenn er darauf ging. Das Fressen fiel dem torfigen Nass in den Mund, abgestorbene Bäume und Pflanzen, tote Tiere und Menschen, die beim Bauen ihrer Pfade und Häuser hinabgefallen waren oder von anderen hinuntergestürzt wurden. Manchmal bewegte sich etwas noch, doch niemals lange. Das Wasser zeigte seine Fürsorge, indem es alles um sich herum gut wachsen ließ.

In dieser Umgebung, in der das Leben so stark wütete, lag die Stadt Jui. Festen Boden gab es nur in trockenen Sommermonaten im Niedermoor, deswegen standen die Häuser auf Pfeilern, genau wie die Holzwege, die sie verbanden. Mehrstöckige Gebäude waren oft mit weiteren Brücken an den Dächern verbunden, private Eingänge nannten die Stadtbewohner sie, die schon von so manchen eifersüchtigen Ehemännern niedergebrannt wurden.

Der Tod fand Gefallen an dem gnadenlos zur Schau gestellten Leben, denn in Jui wussten die Menschen, wie man sich vergnügte. Meistens feierten sie, dass an diesem Tag niemand gestorben war. Für ein gutes Fest ließ der Tod auch mal seine Arbeit schleifen, besonders wenn es Wollgrasschnaps gab.

»Das Zeug ist widerlich, aber nach ein paar Gläsern macht es dich abhängig!«, sagte er und stieg auf den Tisch. Die anderen Gäste johlten und beeilten sich, ihre Krüge wegzuräumen.

»Flötenmann! Musik, bitte!«, rief der fremde Mann mit den weichen Gesichtszügen und den kummervollen Augen über die Köpfe der anderen hinweg.

Der Angesprochene setzte mit glänzenden Augen und geröteten Wangen die Flöte an den Mund. Der Rest klatschte und stampfte in einem Takt, den niemand kannte und doch fand sich jeder darin wieder.

Der Tod tanzte überschwänglich auf dem wurmzerfressenen Tisch, als glaube er nicht an das Hinfallen. Als der Flötenspieler nach Luft schnappte und das Lied erstarb, ließ sich der Tod zurück auf die Bank fallen, die nach hinten kippte und mit der Lehne gegen die Wand krachte. Eine mollige Frau mit schönen Wimpern setzte sich auf seinen Schoß und strich ihm über die glattrasierte Wange.

»Wo kommst du her? Du erscheinst so fremd und aufregend«, fragte sie.

Es war offensichtlich, dass er nicht aus der Gegend stammte. Zwar kannten sich die Bewohner Juis zumindest alle vom Sehen, so groß war die Moorstadt nicht, aber die Haut des Todes hatte einen anderen, helleren Ton als die meisten Menschen dort und auch seine Gesichtszüge wirkten fremd auf sie. Sie konnte ihn einfach keinem Ort zuordnen!

Der Tod lehnte den Kopf an die Wand, als hätte sie gefragt, woher die Magie kam und nicht er. Obwohl er nicht genau sagen konnte, ob es da einen Unterschied gab.

»Aus den höchsten Bergen, wo sonst nur das Wetter wohnt.«

»Und deine Arbeit? Du musst etwas mit Magie zu tun haben, es kann nicht anders sein.«

Der Tod sog ihren Duft ein und lächelte. »Rate, schöne Frau.«

»Du musst eine Bilgrim sein. Ich habe geträumt, dass ich eine Bilgrim von weit her kennenlerne.«

Das gefiel dem Tod. Bilgrims schützten die Verbindungen zwischen dem Inneren der Menschen mit deren körperlicher Hülle. Irgendwie konnte man ihn ja auch so sehen.

»Beeindruckend, wie aufmerksam du bist.« Er platzierte einen Kuss auf ihren nach Wollgras riechenden Mund. Mit einem Kichern drückte sie sich ihm entgegen.

In diesem Moment schwang die schwere Tür der Schänke auf und eine Frau, deren dichter mit grauen Strähnchen durchwachsener Afro den Türrahmen über ihr berührte, kam herein. Aus ihrer Schürzentasche hing eine gekringelte Kartoffelschale.

»Ich brauche, ich suche – Oh je! Hat irgendwer ...? Ich glaube das ja nicht, es ist eine Katastrophe!«

Weil die Alte zu lange brauchte und der Wirt verschwunden schien, schob der Tod die Mollige von sich runter, wandte sich ab und bediente sich hinter der Theke selbst. Schon vor einigen Jahren hatte er mal eine Wollgrasschnapsphase gehabt. Bis er sich damit eines Nachts mit seinem Bruder weggeschossen hatte. Das war lange, bevor er den Beruf des Todes angenommen hatte.

Da zog ihn die Mollige am Arm. »Was für ein Glück!«, rief sie. »Ausgerechnet heute haben wir eine gute Bilgrim von weit weg im Hungrigen Stein!«

Der Tod machte einen überraschten Laut. Die Alte warf sich zu seinen Füßen und heulte auf. Auf den verstaubten Wangen bildeten Tränen mehrere Rinnsale.

»Na, na, na«, sagte der Tod unbeholfen und tätschelte ihren Kopf.

Weinerliche Menschen waren ihm vertraut, im Moment des Sterbens verzweifelten viele. Aber nun musste er mit der Rolle einer guten Bilgrim umgehen und die waren wahrscheinlich um einiges netter als er.

»Ich habe jeden Schankraum besucht und dieser hier war der letzte! Wir müssen sofort aufbrechen!«

Die alte Frau zog ein Tuch aus ihrer Schürzentasche, legte es sich um den Hinterkopf und band sich über die Stirn eine Schleife, um die Haare aus dem Gesicht zu haben. Der Zopf entblößte trockene Blätter, die sich darin verfangen hatten. Sie musste wirklich überall gesucht haben. Nur die Rinnsale auf den Wangen verrieten noch ihre innerliche Unruhe.

»Ich muss erst noch meinen Schnaps austrinken«, beharrte der Tod und stürzte das Getränk hinunter. Er stand auf und streckte sich. »Herrlich!«, sagte er. »Genau ein solches Abenteuer brauchte meine Nacht hier. Das Fest wird immer besser.«

Die alte Frau runzelte die Stirn. Was für ein komischer Kauz, fand sie, jedoch beschloss sie, sie könne nicht wählerisch sein. Ausgerechnet heute war Armondin, die gute Bilgrim der Stadt, verstorben. Sie war an einem Stück Rhabarberkuchen erstickt. Wahrscheinlich wohnte in den umliegenden Dörfern noch irgendwo eine, doch Armondin hatte es aufgrund ihrer Trägheit verpasst, einen Notdienst einzurichten.

»Und ich muss kurz noch was gucken«, sagte der Tod und schwankte.

»Aber bitte schnell!«, flehte die Alte. »Es wartet ein Kind auf dich.«

Das irritierte den Tod – was sollte er mit einem Kind? –, aber er vertraute darauf, dass er früh genug auf eine Antwort stoßen würde.

Er lief unter Johlen der anderen Gäste mit der wirren Frau nach draußen und ordnete an, auf ihn zu warten. Er folgte dem Stallgeruch und gelangte zu einem Vordach, unter dem drei Esel angebunden waren. Unter ihnen lag der Wirt der Schänke in einer Blutpfütze. Als er betrunken ins Heu gepisst hatte, war ein Esel darüber so erbost gewesen, dass er ihn mit einem kräftigen Tritt in die Bewusstlosigkeit befördert hatte.

Der Tod beugte sich zu ihm hinunter und lauschte. Für jeden anderen erschien der Wirt bereits verstorben, doch der Meister im Geschäft konnte noch schwache, unregelmäßige Atemzüge erkennen.

Der Tod pisste ebenfalls ins Heu, streckte sich und gähnte, und ging zurück vor die Schänke.

»Hab noch Zeit«, erklärte er.

Natürlich verstand die Alte die Worte nicht, doch sie wollte auch nichts von dieser seltsamen Bilgrim wissen. Sie hatte ihre Pflicht getan, eine Bilgrim gefunden und das sollte reichen.

»Komm, komm!«, rief sie und marschierte vorneweg. Sie war froh, bald wieder ins Bett gehen zu können.

Die Stadt Jui war weder bei Besuchern noch bei den Bewohnern beliebt, denn das Moorwasser machte nicht nur die Bauten mürbe, sondern auch die Menschen. Nun betraten die Alte und der Tod den Holzpfad, der über das im Dunkeln nur schwer auszumachende matschige Niedrigwasser führte.

»Bist du hier geboren?«, fragte der Tod.

Neugierde gehörte zu den Eigenschaften, die er besonders an sich schätzte.

»Geboren und nie woanders gewesen. Wir müssen über den Markt. Dort hinten das Haus mit dem Holzrad, das ist es. Es ist das Haus des Redners.«

»Des Redners? Für was braucht mich der Redner?«

Der Tod befürchtete, dass die Tätigkeiten einer guten Bilgrim doch nicht zu seinen Vorstellungen eines amüsanten Abends passten. Ein Redner war angeblich im ständigen Kontakt mit dem Tod und gab vor, vorwarnen zu können, wen es als nächstes treffen würde. Wie sich dieser Beruf so lange hatte halten können, war für den Tod ein Rätsel, denn er hatte noch nie Kontakt zu einem aufgenommen. Warum auch? Menschen wollten immer alles planen, anstatt es zu erleben, selbst für ihren Tod nahmen sie sich nicht die nötige Zeit.

Die Alte vor ihm zeigte in die Richtung, in der ihr Ziel liegen sollte. »Es ist die Tochter des Redners, sie ist eben zur Welt gekommen und braucht die Weihung.«

Der Tod hatte keinen Schimmer von der Weihung, doch das Wort kam ihm feuchtfröhlich vor. Seine Stimmung hellte sich wieder auf. Unter dem Marktplatz, der ebenfalls auf Pfählen stand, gluckerte das Moor und sie erreichten das Haus mit dem Holzrad.

»Wie heißt du denn, gute Bilgrim?«, fragte die Alte.

Der Tod überlegte. »Berga.«

Irritiert drehte sie sich um, die Hand schon auf dem Türknauf. »Das ist ja ein Frauenname.«

»Dann Berg«, sagte er. Der Tod hatte noch nie verstanden, weshalb manche Namen nur für Frauen und andere nur für Männer gedacht waren.

Da dämmerte der Alten, dass die vermeintlich gute Bilgrim einen falschen Namen angegeben haben musste und sie einen Fehler gemacht haben könnte, wenn dieser Mann vor ihr nicht mal seinen Namen richtig wusste. Doch bevor sie etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür und die Köchin zog sie hinein. Um ihren Afro hatte sie noch das Seidentuch geschlungen, mit dem sie sich schlafen gelegt hatte. Anscheinend war das ganze Haus durch die eintretende Geburt geweckt worden.

Die Köchin machte die typische Kreisbewegung mit der flachen Hand zur Begrüßung und keuchte. »Danke, wir hatten schon nicht mehr mit einer Weihung gerechnet. Hier entlang. Die Mutter hat große Schmerzen, die Nachgeburt ist noch nicht gekommen.« Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und der Nasenspitze.

Der Tod duckte sich unter den Strohpüppchen hinweg, die niemand sonst daran hindern sollten, das Haus zu betreten, als ihn selbst. In Jui wie auch in sämtlichen Städten auf der Insel glaubte man nicht an Götter, dafür an den Tod. Man fürchtete ihn, war sich aber sicher, man könne ihn beeinflussen. Mit Gebeten und lächerlichem Schnickschnack versuchte man, ums Leben zu betteln, meistens um das eigene, seltener um das eines geliebten Menschen. Der Tod mochte es, Teil dieses Glaubens zu sein, aber da die Opfergaben nie Schnaps oder Schokolade beinhalteten und er dazu auch nie eingeladen wurde, interessierte er ihn nicht weiter.

Wegen der niedrigen Decke musste er den Kopf einziehen und bekam Nackenschmerzen. Auf den Balken sah er keinen Staub, weswegen er vermutete, dass sich die Rednerfamilie ein Hausmädchen leisten konnte. Die waren teuer, aber vor allem hart zu kriegen, denn die meisten jungen Menschen verließen die unbeliebte Stadt im Moor, sobald sie eine Stelle woanders ergattern konnten.

»Bist du satt?«, fragte die Köchin, als sie vor einer mit Schnitzereien verzierten Tür stehen blieben.

Obwohl das gesamte Haus in Aufruhr schien – hinter der Ecke entdeckte der Tod ein Kinderkopf, dessen Augen aus der Dunkelheit abwechselnd blinzelten –, roch es nach gebackenem Moorapfel.

»Och, nach der Sauferei krieg ich immer Kohldampf. Wenn du was da hast, ein mit Moorapfel gefülltes Huhn oder so ...«

Die Köchin warf der alten Frau einen bösen Blick zu, der aussah wie: »Was hast du denn da für einen schlecht vorbereiteten Ochsen mitgebracht?« Zum Tod sagte sie: »Ich hole schnell einen Moorapfel aus dem Ofen.«

Eine gute Bilgrim durfte während der Weihung nie hungrig sein, um die gesamte Aufmerksamkeit dem Kind geben zu können. Deswegen wurde ein Festmahl vorbereitet, sobald die Wehen einsetzten.

»Mit Bulnüssen und Honig gerne!«, rief der Tod.

Er ahnte nicht, dass er nach allem hätte fragen können, doch was hätte er sich anderes wünschen können? Nur Huhn wurde in Jui nie angeboten, die Tiere galten als heilig.

Gebackener Moorapfel war eine Spezialität der Region, die man frisch nicht exportieren konnte. Die saftigen Äpfel wuchsen an den Wurzeln des Gorkaubaums unter Wasser und hielten sich nach der Ernte unverarbeitet nur wenige Stunden. Der Tod liebte sie und brachte manchmal jemanden aus der Gegend um, bevor es seine Zeit gewesen wäre, um mal wieder einen Moorapfel genießen zu können.

Der Honig, in dem man die Frucht buk, stammte nicht von Bienen, sondern von Pilzen, die auf verrottenden Baumstämmen wuchsen. Die Pilze bildeten jährlich ein im Dunkeln leuchtendes Sekret, das einerseits als feuerlose Lichtquellen und anderseits als Honigersatz genutzt wurde.

Die kulinarischen Erzeugnisse des Moores waren ein gutes Geschäft für die Region und in Jui hatte man ein feines Gefühl für Verkaufserfolge. Und so brachten Händler regelmäßig getrocknete Moorapfelscheibchen, Moorapfelbier, Gorkaugemüse, Pilzhonig und Herkulenbeulen, die auf Wasserschnecken wuchsen, in die ganze Welt. Trotzdem war Jui eine arme Stadt, denn sonst hatte sie nichts zu bieten.

»Ist noch heiß«, sagte die Köchin und reichte ihm einen Teller mit der gelben Frucht, die durch den Honig bläulich leuchtete. »Bitte iss schnell. Die Weihung kann nicht mehr lange aufgeschoben werden. Wir haben Serenika hereingelockt, um das Mädchen zu beschützen.«

Serenika war eine Hühnerart mit türkis schimmernden Federn, aus denen gerne Schmuck gemacht wurde. Nicht nur, weil sie hübsch aussahen, sondern auch, weil die Hühner unsterblich waren und man den Federn nachsagte, ihren neuen Trägern das Gleiche zu bescheren. Der Tod konnte sie nicht leiden, weil man sie nicht essen konnte. Sie waren nicht totzukriegen und wenn man es doch versuchte, wurde es eine endlose, unappetitliche Sache. Unsterblichkeit konnte auch seine Schattenseiten haben.

Der Tod lehnte sich an die Torfwand und schob sich einen Bissen in den Mund. Ein lustvoller Laut entwich ihm. Die frische, erdige Süße breitete sich in seinem Mund aus. Hastig schob er ein weiteres Stück nach, bevor der Geschmack Zeit hatte, zu verblassen.

»Schneller!«, flehte die Alte. »Das Kind stirbt sonst.«

»Keine Sorge. Es stirbt schon jemand anderes heute Nacht«, sagte der Tod und schmatzte. Er leckte den leeren Teller sauber und streckte den beiden Frauen die Zunge raus. »Leuchtet meine Zunge?«, fragte er.

Die Alte schaute ihn sprachlos an, doch die Köchin schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.

»Schluss jetzt!« Sie öffnete die Tür und schob ihn hinein.

Das Schlafzimmer wurde mit einem Feuer in der Mitte des Raumes warm und trocken gehalten. Wohin der Tod auch blickte, sah er Serenika. Mit wiegenden Köpfen blickten die Vögel zu ihm und blinzelten, denn sie erkannten ihn und sagten so Guten Tag. Im Bett lag eine schlafende Frau mit schweißnassen Haaren.

»Sie ruht sich aus. Wir müssen gleich die Nachgeburt herausholen.« Eine weitere Frau, die hinter dem Bett auf einem Schaukelstuhl saß, hatte diese Worte gesprochen. Sie war die Geburtshelferin.

Ein dünner, schwarzer Stoff über dem Gesicht der Frau im Bett konnte nur vom Tod gesehen werden. »Weckt sie auf und holt sie gleich, sonst überlebt sie es nicht.«

Die Geburtshelferin sprang auf und rüttelte die Schlafende. Sie tat es nicht, weil der Fremde Autorität ausstrahlte, sondern weil man in Jui jede Aussage über den Tod ernst nahm. Niemand wollte derjenige sein, der eine Warnung ignoriert hatte.

Neben dem Bett hing ein Korb von der Decke, in dem ein Huhn auf einem Bündel lag. Das Tier döste zufrieden, weil es mit getrockneten Käfern gefüttert worden war. Der Tod trat näher und schob das Huhn beiseite. Bei dem Bündel handelte es sich um das Neugeborene. Nur der Kopf war zu sehen, der Rest war in den für die Region typischen Stoff aus Schilf gewickelt. Die gräuliche Blässe war schon verschwunden und die Haut hatte das dunkle, warme Braun ihrer Mutter angenommen.

»Jetzt kommt die Weihung«, flüsterte jemand aufgeregt hinter ihm. Die andere schien ihr zu bedeuten, sie solle schweigen. »Was denn?«

Der Tod drehte sich um und hob fragend die Schultern. Erwartungsvoll kamen die zwei Frauen näher. Von ihnen würde er keine Hilfe bekommen. Was wurde bloß von ihm erwartet? Vielleicht sollte er einfach verschwinden. Die frische Mutter stöhnte auf.

Da öffnete das Neugeborene ein Auge. Neugierig beugte er sich über es. Er hatte schon mit Säuglingen zu tun gehabt, aber da waren sie meistens schon tot gewesen. Seine Schwester hatte drei Kinder bekommen, doch nach den Geburten hatte man ihn nicht eingeladen. Den Tod hielt man lieber auf Abstand, selbst wenn er der Bruder war. Bei diesem Kind handelte es sich um andere Umstände. Es war am Anfang seines Lebens, an Tag Null.

»Niemand ist gerade so weit von mir entfernt wie du«, sagte er.

»Was sagt er?«, flüsterte die Alte.

»Lauter!«, sagte die Köchin.

Der Tod hob den Kopf und betrachtete das Wesen mit dem einen braunen Auge vor sich. Nach langen Regentagen war das Moor vom aufgewühlten Schlamm genauso braun, doch diese Tage waren selten. Er hob seine Hand über den Korb. Die Augen der Frauen wurden größer. Der Tod machte hilflos eine Handbewegung, als würde er Salz über das Mädchen streuen.

»Bist du überhaupt eine Bilgrim?«, fragte die Köchin und stemmte einen Arm in die Hüfte. Es musste der sein, mit dem sie immer die Eier aufschlug, denn der Bizeps war deutlich zu sehen.

»Er hat’s gesagt!«, rief die Alte und duckte sich. »Mich trifft keine Schuld, ich habe überall gesucht und er hat’s gesagt.«

»Ich bin die beste Bilgrim, die ihr hättet finden können und das gerade war erstklassige Magie. Macht man jetzt überall so, hat euer Moorloch wohl noch nicht erreicht!«

Die Köchin blickte ihn länger an. »Wir haben auch nur dich. Also mach fertig, drei Gaben und so und dann raus hier.«

Die Mutter im Bett schrie und mit einem Schmiergeräusch kam endlich die Nachgeburt. Sofort fiel sie wieder in einen tiefen Schlaf. Die Geburtshelferin griff nach einem Eimer und warf die blutigen Tücher und Überreste hinein.

Der Tod hatte sich inzwischen wieder dem Mädchen genähert.

Hallo, hallte es in seinem Kopf. Erschrocken fuhr er zusammen. Es hatte nicht wirklich das Wort benutzt, aber es war die Bedeutung dessen gewesen, das Kind hatte ihn begrüßt. Und es sagte noch mehr. Es sagte: Guck mal. Mit dem zweiten Auge, das es öffnete, zeigte es dem Tod seine Seele.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Ergriffen wischte er sie weg und schniefte. Die Seele war zwar jung und ungestüm, doch sie war stark und hatte eine Ruhe, die ihn in die Knie zwang. Während ganz Jui an nichts Übermenschliches als den Tod glaubte, begann eben dieser an Götter zu glauben.

»Darf ich es halten?«, fragte er.

Da lächelte selbst die Köchin.

Mit Fingern, die sonst eher zupackten und würgten, hob er das Neugeborene aus dem Hängekorb und hielt es sich an sein flatterndes Herz. Wie immer, wenn er einen anderen Menschen berührte, fiel ihm seine hellbraune Haut auf, die nicht das Einzige war, das er von seinem Vater geerbt hatte. Sein Atem stockte, als ihn vergrabene Erinnerungen durchfluteten.

Die Seele des Mädchens flocht ein Band aus seiner Selbst und schnürte es um das Herz des Todes, das sich sofort beruhigte. Die Körperwärme des Kindes ließ ihn schwindeln. Er spürte den starken Drang, am Köpfchen zu riechen. Durfte er das? Das wäre sicher merkwürdig.

Vor einigen Jahren hatte er die Seele einer verstorbenen Mutter abgeholt. An diese erinnerte er sich kaum noch, allerdings an den hinterbliebenen Vater, der sein soeben geborenes Kind an sich drückte. Ein Leben für das andere, wie der Tod es empfunden hatte. Der Vater jedoch hielt es, als habe er es eigenhändig aus einem Vulkan geborgen. Nun als Bilgrim getarnt, ahnte er, dass der Mensch jemanden lieben konnte, den er nicht kannte.

Dafür zerbrach etwas in seinem Inneren, von dem er nicht ausgegangen war, dass es noch weiter brechen kann. Wenn doch jedes Kind in eine solche bedingungslose Herzenswärme hineingeboren wurde, weshalb konnten manche Eltern ihre Kinder dennoch verraten? Auch der Tod war mal ein neugeborener Junge gewesen. Er blinzelte die Erinnerung weg.

»Also gut, drei Gaben«, sagte er und wiegte das Geschöpf in seinen Armen. »Ich wünsche dir, dass die, die dich am meisten lieben, immer an deiner Seite bleiben. Ich wünsche dir, dass du die Ruhe im Sturm bist. Ich wünsche dir, dass du erkennst, was du brauchst.« Er drückte einen Kuss auf die winzige Stirn und das Kind schloss schnell die Augen.

»Das war schön«, seufzte die Geburtshelferin, die mit blutigen Händen auf einem Schemel saß und das Putzen vergessen hatte.

Die Köchin nahm ihre Schürze ab und faltete sie, als sei der Tag damit beendet. »Jetzt fehlt nur noch ein Name. Bitte, sei so nett. Such du einen aus, gute Bilgrim, Frau Rednerin möchte es sicher so.«

Der Tod blickte dem Mädchen ins Gesicht.

»Aru«, sagte er. »Aru nach der ältesten Baumkönigin dieser Erde, die zweimal die Stadt Numesas rettete.«

»Das ist eine schöne Legende«, sagte die Alte. Sie gähnte.

Die Tür öffnete sich und ein alter Mann mit spitzen Schultern und löchrigen Pantoffeln kam hinein. Er musste mit der Mutter im Bett verwandt sein, denn beide hatten ähnliche schmale Handteller und knubbelige Finger. Augenblicklich sah er den Tod und wie das Huhn erkannte er ihn. Die Reaktion war jedoch eine andere.

Der Mann stieß einen lauten Schrei aus, hustete und schrie erneut. »Ihr habt den Tod eingeladen, ihr Dummen, ihr habt das Kind dem Tod gegeben!«

Schon spürte der Tod am ganzen Körper Fausthiebe und das Bündel wurde ihm aus den Armen genommen.

»So ein Unsinn, wisst ihr überhaupt, wie alles funktioniert?«

Doch die drei Frauen und der Alte mit den Pantoffeln mussten sich nicht mit etwas auskennen, um es zu fürchten.

»Ich geh ja, meine Güte! Der Wirt wartet schon auf mich.« Unter Schlägen öffnete der Tod die Zimmertür. »Ich spüre ohnehin, dass mein Alkoholpegel gefährlich sinkt.«

»Nimm die drei Gaben zurück!«, schrie die Köchin. »Niemand will drei Gaben von dir, da endet alles nur im Totenreich.«

»Dort endet alles, meine Liebe. Und du sicher früher als später!« Wieder streute der Tod imaginäres Salz, um seiner Drohung mehr Kraft zu verleihen, und schloss die Tür hinter sich.

Niemand folgte ihm. Nach dem hell erleuchteten Schlafzimmer brauchte er eine Weile, um im dunklen Flur sehen zu können.

»Nervige Omas«, sagte er laut, in der Hoffnung, man könne ihn noch durch die Tür hindurch hören. Wenigstens hatte er einen Moorapfel gekriegt.

Vor ihm standen mehrere dekorative Gegenstände auf einem Deckenbalken. Wieder mehrere Strohpuppen – man musste ihn in diesem Haus wirklich fürchten –, ein bemalter Stein und ein Silberkrug. Der Tod brauchte dringend noch einen Wollgrasschnaps. Wo er eben noch gestanden hatte, füllte Luft die abrupt entstandene Leere.

Es dauerte einige Zeit, bis der Tod bemerkte, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Es fing bei den einsamen Abendessen an. Normalerweise genoss er die letzte Mahlzeit des Tages, wenn er in einem Abenteuerroman las und Ehinwein trank, bis er auf dem Sitzkissen einschlief. Doch nach seinem Besuch in Jui konnte er sich nicht mehr auf den Helden aus der Unterwasserstadt Amidas konzentrieren. Er stocherte in seinen Backfüßen herum und verstand nicht, warum ihm das Leben so beschwerlich fiel. Der Tod bat seinen Koch Safferle, sich zu ihm zu setzen.

»Fühlst du dich wohl bei mir? Kochst du gerne für mich?«, fragte er.

»Es ist schön hier, Tilonn. Ich koche für jeden gerne, solange er so einen guten Geschmack hat wie du.«

Safferle, ein kleiner Mann mit Haut wie Vulkangestein war seit vierzehn Jahren sein Koch und hätte kaum zufriedener sein können. Safferle konnte so mit sämtlichen Zutaten der Erde experimentieren, zu denen er sonst keinen Zugang gehabt hätte. Er hatte extra für die Stelle die Lautsprache gelernt, denn in seiner Kultur kommunizierten sie ausschließlich durch Gesten und Mimik.

Der Tod wusste eigentlich, wie gerne Safferle für ihn arbeitete. »Wie geht es deiner Frau?« Auch das wusste er, er hatte sie vor ein paar Stunden im Garten getroffen.

»Sie ist glücklich, weil ihre Kollektion fertig ist.« Safferles Frau entwarf Kleidung aus Wurzelfasern, die in den großen Städten beliebt waren.

»Und Sinne?« Der Sohn seines Kochs würde nächstes Jahr zum Studieren ausziehen.

»Sinne geht’s auch gut. Wie sieht es mit dir aus? Du bist so schwermütig.«

»Ja.« Der Tod schob seinen Teller weg.

»Hat deine Schwester wieder geschrieben?«

Der Tod verneinte. Er mochte es nicht, wenn sie erwähnt wurde.

»Soll ich noch eine Nachspeise machen?«

»Ich will Schokolade«, wimmerte der Tod.

Er erkannte, dass der Zustand nicht von allein verschwinden würde. Er brauchte Kalinika. Doch die Hexe war vorsichtig mit ihren Gaben, sie würde etwas Gutes haben wollen.

Während er Schokoladenkuchen im Stehen aß, betrachtete er die Regale mit dem Diebesgut. Ein kleines Glas mit Korken fiel ihm auf. Der Inhalt schien sich zu bewegen und beim Näherkommen sah man, dass sich darin ein kleines Universum befand. Ja! Das gehörte zwar zu seinen wertvolleren Gegenständen, doch Kalinika würde nicht Nein sagen können. Er sagte Safferle, dass es spät werden würde, und ließ die Luft seinen Platz einnehmen.

Dafür verdrängte er die feuchtwarme Luft in einer Höhle gar nicht so weit von ihm entfernt, in der am Rande eines Sees ein Haus mit rundem Dach stand. Unter ihm war die Erdplatte dünn und Lava erwärmte diese. Über ihm konnte man eine Öffnung in der Felsdecke ausmachen, durch die Sterne leuchteten. Am Stein hangelte sich die Kletterpflanze Ehin hinunter, zwischen ihnen wuchsen Pilze, deren Hüte ein kühles Licht ausstrahlten. Kniff man die Augen zusammen, konnte man die leuchtenden Punkte mit Sternen verwechseln.

Der Tod ging auf das Haus zu. Kalinika war zuhause, denn das Feuer zum Kochen flackerte im Fenster. Er atmete flach, denn er konnte weder die Feuchtigkeit noch den Geruch nach modrigem Stein leiden. Sein Kreislauf sackte ab und er kniff sich in den Unterarm, um den Schwindel zu vertreiben.

»Kalinika!«, rief er, noch bevor er die Türschwelle erreicht hatte.

Ein Schatten erschien am offenen Fenster. Der Tod erkannte den unverwechselbaren Umriss der Hexe.

»Tilonn!«, rief sie.

Augenblicklich entspannte er sich. Ihre Stimme tat das, sie löste alle harten Stellen, wie der Anblick des Meeres.

Die Tür öffnete sich und Lert, Kalinikas Mann, bat ihn herein. Die Miene des Todes verdüsterte sich. Anfangs hatte er gedacht, er wäre ihr Diener. Er war klein und schmal mit hervortretenden Augen, der Tod konnte sich nicht vorstellen, dass eine elegante Hexe wie Kalinika ihn wählen würde.

Trotzdem musste er zugeben, dass daraus vor allem die Eifersucht sprach. Lert war ein warmer Mensch und ein guter Gesprächspartner. Doch der Tod war gut aussehend und nicht weniger interessant. Seit der ersten Begegnung mit der Hexe hatte es eine unbestreitbare Anziehung zwischen ihnen gegeben. Der Tod fragte sich oft, was gewesen wäre, wenn er sie zuerst getroffen hätte.

»Mein Freund!«, rief Lert und lächelte.

Mit dem gemütvollen Funkeln in seinen Augen verlor er größtenteils den Schrecken, den sein Äußerstes verbreitete. Der Kerzenschein im Haus untermalte das rötliche Braun seiner Haut. Ein kadmiumroter Fleck zwischen Kinn und Mund verriet, dass er zu den Sonnenhaltern gehörte.

»Du hast dich gar nicht angekündigt. Ich befürchte, die Suppe reicht nicht für uns drei.«

Der Tod winkte ab. Er hatte schon gegessen, aber Lerts Kochkünste waren auch bescheiden. Kalinika konnte gut kochen, vor allem mit Algen und Fisch, aber sie hasste es, weswegen sie sich meistens drückte.

»Mein lieber, lieber Tilonn«, sagte seine alte Freundin und kam auf ihn zu, ihre Bewegungen wie sanfter Wellengang.

Der Tod spürte, wie sich ihre Muskeln zusammenzogen, als sie ihn umarmte. Das Licht der Pilze verstärkte den dunkelblauen Schimmer ihrer Haut.

»Ich brauche deine Hilfe«, sprach er in ihre dichten, dünnen Zöpfe.

»Natürlich, warum sonst solltest du dich blicken lassen? Das letzte Mal warst du doch auch hier, weil du ein Pferd statt seinem Reiter geholt hast. Was ist daraus geworden?«

Sanft drückte sie ihn in einen Stuhl am Esstisch. Lert stellte ihm einen Becher Ehinwein hin, der beim Gären anders als die Pilze aus Jui seine Leuchtkraft verlor.

»Den hab ich bei den Drachen-Sonnenhaltern wiedergefunden, bei denen er sich versteckt hat. Er dachte, sie würden ihn beschützen, aber natürlich haben die mich sofort gerufen. Dummkopf. Überall sonst hätte er noch ein paar Jahre als Geist existieren können. Das ist das Problem, wenn man sich zu wichtig nimmt. Als ob ich eine Suchaktion wegen ihm gestartet hätte.«

»Na ja, du warst schon recht aufgewühlt«, sagte Kalinika.

»Ich wollte dich doch nur sehen«, sagte der Tod und blickte sie über den Becherrand hinaus an.

»Und mich!«, sagte Lert und teilte Karten aus.

Bei jedem Besuch spielten sie ein paar Runden Merr-papa, was man aus der ausgestorbenen Sprache der Sonnenhalter übersetzen konnte mit Todesspiel oder auch Todeskampf.

»Und dich«, bestätigte der Tod und er meinte es sogar ehrlich.

Zwar wünschte er sich regelmäßig, mal mit Kalinika allein zu sein, doch hatte er in dem hässlichen Lert einen schönen Freund gefunden. Seit Jahren besuchte er die beiden schon.

Die Hexe füllte seinen Becher auf und setzte sich zu ihnen. Der Ehinwein schmeckte schal, wie alles, das mit wenig Sonnenlicht gedeihen musste. Die Erinnerung an den Blick auf die Sterne rief etwas in das Gedächtnis des Todes. Er zog das Glas mit dem Universum aus der Tasche und stellte es auf den Tisch. Kalinikas Augen blitzten auf.

»Das ist ja hübsch«, sagte sie. Ein mickriger Versuch, ihre Begeisterung herunterzuspielen.

Sie streckte die Hand danach aus, doch der Tod hielt das Glas fest. »Es ist die Seele eines Zauberers.«

»Ein Zauberer? Wie kommst du an einen Zauberer, noch dazu einen toten?«

Endlich ließ der Tod das Glas frei. Sie hob es dicht ans Auge und sah zu, wie sich die Galaxien drehten.

»Er wollte nicht gehen, da hat ihn mein Vorgänger da hineingesperrt, damit er nicht frei herumgeistert, und Schaden anrichtet.«

Kalinika nickte. »Man wird kein Zauberer, ohne über Leichen zu gehen.«

»Das ist ein bisschen ein Klischee, oder?«

»Aber es stimmt!«, mischte sich Lert ein. »Zumindest meistens. Zauberer sind verrückt. Anders kann man so gar nicht werden.«

»Woher hast du das?«, fragte Kalinika.

Das wollte der Tod nicht verraten. Seine Vorliebe für das Klauen war nichts, das sich zum Prahlen eignete.

»Keine Ahnung mehr. Vielleicht ein Geschenk oder so.«

Sie schienen ihm zu glauben. Er atmete auf. Lügen mochte er nicht, das sorgte jedes Mal für verspannte Nackenmuskeln.

»Und jetzt schenkst du es mir?« Kalinika drehte das eingeschlossene Universum mehrmals im Kreis. Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke.« Mit dem Kuss wehte eine kühle Brise von ihr zu ihm.

Sie stellte das Glas mit der Seele hinter sich aufs Fensterbrett, setzte sich zurück auf ihren Platz ihm gegenüber und schaute ihn konzentriert an. Es hätte dem Tod unangenehm sein können, aber er war das Prozedere gewohnt. Lert legte seine erste Karte. Sie zeigte die Zahl 8 und einen majestätischen Laubbaum. Die Baumkönigin Aru!

Der Tod zuckte zusammen und Kalinika blickte überrascht auf sein Herz.

»Du musst schon auch was legen«, sagte Lert.

Der Tod befolgte ihn und legte eine 7, die eine Rübe zeigte, die angeblich so gesund war, dass sie Leute kurz vor dem Sterben gesund gemacht haben sollte.

Lert haute vor Freude auf den Tisch und sammelte beide Karten ein. Das Todesspiel war ein Spiel für Kinder, bei dem es nichts zu denken gab und man trotzdem die süßen Erfolgserlebnisse zu spüren bekam, genauso wie die Enttäuschungen. Ein Spieler war der Tod, der andere – oder die anderen – war menschlich und versuchte, eine höhere Karte als der Tod zu legen, um diesem zu entwischen. Dabei durfte immer nur die obere Karte vom Stapel abgelegt werden. Man führte zwar jede Handlung selbst aus, konnte aber trotzdem nur zuschauen.

Der Tod war in dieser Runde der Tod und er legte nun eine 2, die eine Strohpuppe zeigte. Lerts Karte war eine 5 und wieder schlug er auf den Tisch. Die Kerzenständer darauf wackelten gefährlich.

Kalinika stand auf und massierte den Nacken des Todes. Ihre Augen schlossen sich, als die Finger auf einem Punkt liegenblieben. Der Tod fand nicht, dass die Berührung unangenehm war.

Die Hexe arbeitete meistens, ohne dass es auffiel. Ihr Mann hatte dabei die wichtige Aufgabe, die Patienten abzulenken. Denn was diese nicht merkten, war, dass Kalinika tief in sie hineinschnitt. Der Prozess war ein Dialog, am liebsten sprach sie mit Muskelsträngen. Und so erfuhr sie, was dem Herzen des Todes geschehen war.

»Ha, eine Serenika!«, rief Lert und legte eine 9 mit einem Bild des türkisfarbenen Huhns auf den Tisch.

Es war die höchste Karte und der Tod konnte nur gewinnen, wenn er ebenfalls eine 9 hatte, von der es nur eine weitere im Spiel gab. Doch er deckte wieder eine Strohpuppe auf.

Lert schlug gleich zweimal auf den Tisch und fing einen der Kerzenständer auf, der endgültig umfallen wollte. Wachs tropfte auf seinen Daumen, doch er schien es nicht zu bemerken.

Kalinika setzte sich wieder. Sie wartete ab, bis die beiden ihr Spiel beendet hatten – Lert hatte gewonnen und schenkte jedem Ehinwein ein.

»Du hast ein großes Problem«, sagte Kalinika eindringlich. Der Tod glaubte, in ihren Augen einen hohen Wellengang zu erkennen. »Dein Herz gehört dir nicht mehr.«

Seine Zunge schmeckte plötzlich nach Eisen. Lert schob ihm voraussehend die Flasche Ehinwein hin.

»Was bedeutet das?«, fragte der Tod.

»Jemand hat dich berührt. Dort, in deinem Inneren.« Sie zeigte auf seine Brust. »Der neue Besitzer deines Herzens kann über alles bestimmen, was du tust.«

Gedankenverloren legte der Tod die Hand auf sein Herz. Er dachte an das kleine Mädchen, das schon am Tag seiner Geburt Hallo gesagt hatte. Seitdem hatte er oft an sie denken müssen. Sie hatte unbedarfte Erinnerungen aus Kindheitstagen geweckt, die lange hinter anderen hässlicheren vergraben waren und deren Sanftheit ihn erschreckten. Dieses Kind soll er gewesen sein? Er stand abrupt auf und warf dabei den Stuhl um.

»So ein Unsinn!« Schwer stützte er sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab. Kalinika war bei seinem Ausruf zurückgewichen. »Mich haben schon viele Leute berührt! Meine Eltern, meine Schwester, du, der alte Lert da–«

Die Hexe legte ihre Hand auf seine. »Es gibt Berühren ...« Sie hob die Hand an und ließ sie noch behutsamer wieder sinken. »... und Berühren.«

»Sie ist ein Kind! Alleine an so etwas zu denken, ist widerlich.«

Kalinika schüttelte den Kopf. »Du kannst dich nicht hinter deiner empörten Moral verstecken. Du und ich wissen beide, dass es dir nicht an Frauen mangelt. Du musst nicht auf eine in ferner Zukunft warten. Was du fürchtest, ist eine andere Art von Liebe.«

Der Widerstand zerbrach. Er senkte den Kopf und ergab sich der Wahrheit. »Sie heißt Aru. Ich habe sie selbst benannt.«

»Wie die Baumkönigin? Wie kam es denn dazu?«

Der Tod spielte mit dem Becher. Irgendwann hatte er ihn wieder gelehrt, er hatte es gar nicht gemerkt.

»Hilf mir«, sagte er. »Hilf mir.«

Kalinika lehnte sich zurück und der Tod erkannte, dass sie in eine Trance verfallen war. Es dauerte nicht lange und sie stand auf.

»Spielt noch eine Runde«, sagte sie und verließ das Haus.

Fragend blickte der Tod Lert an.

»Ich hab auch keine Ahnung, was sie macht«, erwiderte dieser.

»Du als ihr Mann musst sie doch verstehen.«

»Sollen sich Freunde nicht besser verstehen können, als wenn man in einer Beziehung ist?«

Der Tod schnaubte und sammelte die Karten ein, um zu mischen. Kalinikas rätselhaftes Verhalten war ihm jedes Mal interessant vorgekommen, doch manchmal machte es ihn wahnsinnig. Vor allem, wenn es um offene Fragen ging.

»Sie wird mir doch helfen können?«, fragte er.

»Zumindest wird sie viel daransetzen. Sie mag Geschichten, in denen es um Verbindungen zweier Menschen geht.«

»Verbindung! Als ob ich eine Wahl hätte.«

»Die haben die wenigsten, wenn es um Gefühle geht. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um Hass oder Sympathie dreht. Und die Wahl hatte ich auch nicht, wenn man meine Liebe zu Kalinika betrachtet.«

Überrascht blickte der Tod auf. Im ersten Moment hatte er ausrufen wollen, dass es sich um etwas völlig anderes handelte, doch er spürte, dass das Gespräch eine Wendung genommen hatte, weg von ihm. Hatte Lert große Kompromisse eingehen müssen? Er hatte nie darüber nachgedacht. Sein Bündnis mit Kalinika war dem Tod wie der Himmel auf Erden vorgekommen. Der Moment verstrich, in dem Lert es hätte ausführen können.

»Ich bin anderer Meinung. Jeder hat die Wahl und Gefühle kann ich auch wahrnehmen, ohne mich von ihnen lenken zu lassen. Sie sind weder gut noch schlecht, erst meine Handlungen stecken sie in diese Schablonen.« Der Tod teilte die Karten aus.

Lert schaute zu und schien nicht das Verlangen zu haben, etwas darauf zu erwidern.

Sie spielten zwei Partien, von denen der Tod wenigstens eine gewann. Als Kalinika zurückkam, war der Ehinwein leer. In der Hand hielt sie ein großes Glas mit trübem Wasser und einem hässlichen Fisch darin. Er schwamm im Kreis und blickte mit gelben Augen ins Leere.

»Dieser Fisch bist du«, sagte die Hexe.

Verständnislos blickte der Tod sie an.

»Du darfst ihn vorab nicht töten. Begrabe ihn tief in der Erde an einem Ort, den du nicht wiederfinden kannst. Lass ihn am besten von deinem Koch begraben, damit du die Stelle erst gar nicht kennst. Der Fisch ist dein Herz. Und so verliert die Besitzerin die Macht über dich, denn dein Herz ist anderswo.«

Der Tod nahm das Fischglas entgegen und blickte dem Tier ins Gesicht. Obwohl seine Situation ernst war, widerte ihn der Gedanke an, so hässlich zu sein.

»Das bin ich?«, fragte er. »Was wird mit meinen ganzen anderen Gefühlen? Werde ich mich freuen können? Werde ich …« Er stockte.

Die Hexe nickte und dehnte ihren Arm, als hätte sie schwere Arbeit geleistet. »Du wirst es kaum merken. Doch das Band zwischen euren Seelen wird zerschnitten sein.«

Der Tod klemmte sich das Fischglas unter den Arm. »Also gut.« Er ging zur Tür.

»Warte!«, rief Lert und holte aus einer dunklen Ecke eine weitere Flasche Ehinwein. »Für Safferle. Ich weiß, er mag ihn.« Lert gab ihm die Flasche und drückte ihn fest. »So schlimm ist das gar nicht.«

»Doch, das ist es«, sagte Kalinika, als auch sie ihn an sich drückte. »Du könntest dich nicht gegen sie stellen, auch wenn es dir wehtun würde.«

Der Tod nickte beiden zu und verließ das Haus. Er mochte es nicht, wenn andere ihm zusahen, wie er verschwand, also lief er lieber ein Stück. Noch einmal blickte er hoch zu den Sternen, zu den falschen und den echten.

Die Bewohner von Jui hatten die reizvolle Angewohnheit, zu erstarren, sobald ein Problem auftrat. Es war eine Art Schockstarre, die sie für Jahre einfror, ohne dass sie starben. Erkannte einer eine große Gefahr, sendete sein Körper Stoffe aus, die alle Bewohner erreichten. Augenblicklich blieb ihr Biorhythmus stehen. Die längste bekannte Zeit waren fast zwanzig Jahre! Damals hatte ein Virus viele dahingerafft. Doch das erstarrte Jui überdauerte den Virus, der ohne neue Patienten ausstarb.

Genau das passierte, als der Tod nach der Weihung die Tür hinter sich schloss. Als er den Wirt abholte, der neben den Eseln längst nicht mehr atmete, war Jui schon eingeschlafen. Allerdings war Aru, die Redner-Tochter, kein Virus und auch sie war mit den anderen erstarrt. Die Stadt hatte sein Problem mitgenommen und als sie zwei Jahre später wieder erwachte, war Aru noch immer da.

Als sie acht Jahre alt war, wanderte sie so weit, bis sie einen kleinen Kastanienwald fand. Unter den über hundert Jahre alten Kastanienstämmen trafen sich deren Wurzeln, mit denen sie sich untereinander austauschten. Über viele Erdschichten hinweg wurden die Verzweiflungen der Oberfläche in die Tiefe getragen. Die feinen Wurzelspitzen berührten die der anderen Kastanien wie Nervenbahnen und transportierten die Geschichten weiter.

In diesem Geflecht hing ein ausgewaschenes Herz. Obwohl es blutleer weiß erschien, war es nicht tot. Seinem Körper entnommen, pochte es noch immer wie ein für den Kastanienwald eigener Erdkern.

Viele Meter darüber schaukelte ein Mädchen in den Ästen, die wie Lianen fast bis zum Boden reichten. Mit Leichtigkeit umklammerten ihre Hände das biegsame Holz, die Beine folgten und schwangen über den Abgrund, der sich hinter der Kastanienallee auftat.

Über ihr saß ein türkisfarbenes Huhn in der Baumkrone und guckte zu. Der Blick des Mädchens war auf die Wiesen und die Stadt im Moor vor ihr gerichtet. Nichts dort schien zu ihr zu halten. Doch zwischen diesen alten Bäumen war sie sicher.

Das Mädchen ließ den Ast los und sprang in den grasigen Hügel. Sie jauchzte. Als sie zurück nach Jui lief, dachte sie, die starken Kastanien würden sie ein Stück begleiten. Dabei blieb das Herz sicher im Wurzelgeflecht zurück.

 

Aru wusste, dass etwas mit ihr nicht stimmte, weil sich jeder ihr gegenüber seltsam benahm, aber sie wusste nicht, woran es lag. Niemand wollte ihr die Geschichte erzählen, lieber unterhielten sie sich darüber ohne sie. Mit der Zeit kamen immer mehr Details dazu, ob der Tod nun auf einem Bullen angeritten kam, sie am Tag ihrer Geburt schon holen oder sie gar zu seiner Nachfolgerin machen wollte.

Ihre Eltern verstärkten Arus Ängste. Ihr Vater, der Redner, vollzog in regelmäßigen Abständen eine Reinigung. Dabei bedeckte er ihre gesamte Haut mit einer Paste aus Umbutkraut, das an den Unterseiten der Holzbretter bis in die Tiefen des Moores hinein wuchs, und setzte sie in die Sonne, bis die Masse trocknete und von alleine abfiel. Nicht selten leisteten die Hühner ihr Gesellschaft und spielten mit den herabgefallenen Umbutklumpen. Manchmal fanden sie darin eine Schnecke.

Wenn Aru Pech hatte, sah ein anderes Schulkind sie. Diese wurden nie müde, ihr neue Spitznamen zu geben. Aru-Stinkekuh hielt sich am hartnäckigsten, nach den Kühen, die am Rande des Moores lebten, weil sie die jungen Umbut-Triebe liebten, die dort auf toten Bäumen wuchsen. Manchmal wagten sie sich zu weit hinein und verendeten in Schlamm. Noch schlimmer fand Aru aber Todeshure, auch wenn sie den Begriff nicht ganz verstand.

Ihre Mutter beachtete sie nicht. Aru hatte schon erlebt, wie sie von ihren vier Kindern sprach und damit ihre älteste Tochter ausschloss. Die Frau des Redners fürchtete sich vor der seltsamen Kleinen, die oft lange ins Leere blickte. Eines Tages schrie sie den Redner an, er solle sie aus dem Haus werfen. Doch er weigerte sich, da er nicht den Zorn des Todes auf sich lenken wollte.

»Sie steht unter seinem Schutz und wir haben die wichtige Aufgabe, Jui vor ihr zu schützen«, sagte der Redner.

Die Köchin mischte sich in den Streit ein: »Oh, hätte ich bloß nie den Rhabarberkuchen für Armondin gebacken!«

Sie war es gewesen, die die gute Bilgrim mit dem Kuchen vor der Geburt gnädig stimmen wollte. Noch zehn Jahre später machte sie sich Vorwürfe, dass sie keine kleinere Frucht gewählt hatte, an der man nicht so gut ersticken konnte.

Was Arus Eltern und die Köchin nicht wussten, war, dass Aru unter dem Küchentisch saß und zuhörte. Den Ort hatte sie einige Tage vorher entdeckt, als das Huhn, das nach der Geburt auf ihr gelegen hatte und seitdem nicht mehr von ihrer Seite wich, darunter lief und sich in einen großen Suppentopf legte.

Der Ort brachte Bilder in Arus Kopf, die Geschichten aus uralten Zeiten zeigten, als es Jui noch nicht gab und die Mooräpfel sich von den Wurzeln lösten und an die Wasseroberfläche ploppten. Niemand sammelte sie ein und sie trieben davon, um irgendwo neue Moorapfelbäume wachsen zu lassen.

Unter dem Tisch blieb Aru verschont von Schlammsäuberungen oder Hänseleien. Dafür bekam sie die Gespräche der Erwachsenen mit und hatte schon viel über die Nacht, in der sie geboren wurde, erfahren.

»Wir verheiraten sie, so schnell es geht mit einem Mann von anderswo«, sagte ihr Vater. Aru sah nur seine erdverkrusteten Schuhe und Hosenbeine.

»Geht das denn? Sie ist noch sehr jung. Vielleicht ja auf dem Festland.« Ihre Mutter stand weiter weg und so sah Aru sie nur bis zum dicken Bauch, in dem ihr neues Geschwisterteil heranwuchs.

Aru umklammerte ihre Knie, um nicht laut schluchzen zu müssen. Stattdessen weinte sie still.

»Ein paar Jahre werden wir noch warten müssen«, sagte der Redner. »Aber sie sieht auch älter aus, als sie ist. Das wird schon gehen.«

Arus jüngster Brüder Kamur hing an der Hand ihrer Mutter. Er war erst knapp über einem Jahr, doch auch er hatte schon mitbekommen, dass Aru nicht wirklich zur Familie gehörte.

Das Kleinkind streckte den Arm aus, zeigte auf seine große Schwester unter dem Tisch und rief: »Da!«

Die Mutter zog ihr Kind an sich, ohne es weiter zu beachten. Es verstummte und krallte sich am Bein fest, doch der Blick blieb auf das Versteck gerichtet.

Aru wünschte sich, dass sie sie bemerkt hätten. Sie wollte den Ausdruck in ihren Augen sehen, der zeigte, dass sie wussten, dass ihre Gedanken falsch waren. Als ihre Eltern mussten sie sie doch lieben, sie war doch gut, ein braves, gesundes Kind, genau wie die anderen. Aber ihre Geschwister waren anders, das spürte sie. Vor ihnen schreckte niemand weg.

Sie kroch unter dem Tisch hervor und stellte sich mit verheultem Gesicht und erhobenem Kopf vor ihre Eltern. Zu gerne hätte sie etwas gesagt, hätte ein Urteil gesprochen. Aber für den Schmerz in ihr gab es keine ihr bekannten Ausdrücke und so schaute sie nur in die überraschten Augen. Sie zog den Rotz hoch, doch er rann ihr sofort wieder aus der Nase.

»Da!«, sagte ihr Bruder erneut, doch er wurde von Arus Schluchzen übertönt.

Niemand rührte sich, selbst der Marktplatzlärm schien nicht mehr hinein zu dringen. Nie hatten ihre Eltern ihr gezeigt, dass sie mit ihnen reden durfte, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte. Sie hatte beobachten müssen, wie ihre Geschwister umarmt und gedrückt wurden. Berührungen kannte sie nur, wenn sie aus Versehen geschahen.

Selbst jetzt wurde sie nicht erhört. Niemand beugte sich hinunter und zog sie an sich. Niemand, und das Verlangen danach war so groß, dass sie dieses schlussendlich herunterschlucken musste.

Aru war fertig mit der Hoffnung. Sie hatte keinen Platz auf der Welt. Das, was sie schon lange wusste, begriff sie nun.

Sie rannte aus dem Haus. Noch immer weinte sie bitterlich, doch das Rennen half und schließlich versiegten die Tränen. Als die Häuser weniger dicht standen, verlangsamte sie ihren Schritt.

Weite Moorapfelfelder lagen vor ihr. Man erkannte sie an den rechteckig angeordneten Stegen, von deren Eckpfählern je ein Ende eines Netzes ins Wasser reichte. Im Hochsommer wurden damit die Mooräpfel geerntet und weiterverarbeitet.

Aru lief jedoch weiter, ignorierte die Mücken, die um sie schwirrten und sie stachen, und erreichte nach einer langen Wanderung den Rand des Moores. Die Sonne stand bereits tief und glitzerte in den letzten Pfützen. Danach wurde der Boden höher und weniger wässrig. Aru sprang vom Steg und landete auf der festen Wiese.

Sie überlegte, ob sie bis zu den Kastanien laufen sollte, doch sie empfand keine Lust, auf ihren Ästen zu schaukeln. Hinter sich vernahm sie ein Gackern und wusste, dass ihr das Serenikahuhn gefolgt war.

Unschlüssig stand sie im Gras, bis es kühl wurde. Die Sonne war schon fast hinter den Bäumen verschwunden. Sie wollte nicht zurück nach Jui, aber sie fürchtete sich zu sehr, um im Dunkeln draußen zu bleiben. Ihr Elternhaus war kein Ort, an dem sie willkommen war, aber sie wusste nicht, wohin sie sonst sollte. Also kletterte sie zurück auf den Steg. Das Serenika breitete die Flügel aus und flog in den Himmel. Es erkannte, dass sie nach Hause gehen würde, und bewachte Arus Weg von oben.

Das Wasser schmatzte unter dem Holz und ihre Stiefel machten dumpfe Geräusche darauf. Die Schatten wurden länger und sie rannte schneller.

Nachts kamen die Hexen aus dem Moor, erzählte man sich, und die darin versunkenen Kühe würden einen zu sich ziehen wollen. Dann wäre sie wirklich Aru-Stinkekuh.

Bei den Moorapfelfeldern sah sie einige aus ihrer Klasse. Alele erkannte sie im Dämmerlicht, dann mussten die anderen Khuto und Pele sein. Aru blieb stehen. Sie wollte ihnen nicht in die Arme laufen, aber ein Umweg würde bedeuten, in noch dunklere Ecken zu kommen und länger zu brauchen. Trotzdem bog sie ab, als sich zwei Stege kreuzten. Der Wind trug nun die Stimmen ihrer Klassenkameraden zu ihr. Kaum konnte sie den Weg vor sich noch ausmachen.

»... nicht wirklich Unterricht kriegen? Dann hast du noch mehr Schule.«

»Singen ist kein Unterricht, Dummkopf!«

Über sich hörte sie die beruhigenden Schwingen der Serenika.

Dann: »Ist da drüben nicht Aru?«

Arus Herz schlug schneller und sie beschleunigte ihren Schritt.

Aufgeregt riefen die Kinder: »Todeshure! Hier drüben! Komm zu uns, putt, putt, putt, putt, putt!«

Aru rannte jetzt wieder, dabei sah sie kaum, wo der Steg abknickte. Schrilles Gelächter erklang hinter ihr.

»Hinterher!«, brüllte Alele.

Aru wusste nicht, ob sie sie schon hinter sich atmen hören konnte oder ob die Laute nur von ihr selbst waren. Fast wäre sie auf dem klammen Holz ausgerutscht, doch sie konnte sich gerade noch halten, und hastete weiter.

»Wir sind fast da, kleine Kuh, dann stopfen wir dich dorthin, wo du hingehörst!«

Wohin gehörte Aru? Ja, das würde sie wirklich auch wissen wollen.

Und der Steg endete, doch Aru hatte es nicht gesehen. Ohne ein Geräusch zu machen, fiel sie ins Wasser. Sie spürte nicht, wie das Huhn sich in ihren Rücken krallte und versuchte, sie rauszuziehen. Sie hörte nicht, wie die Kinder, die sie verfolgt hatten, schrien. Nach ein paar panischen Bewegungen hatte sie so viel Schlamm aufgewühlt, dass weitere Bewegungen schwer wurden. Sie konnte den Kopf nicht mehr drehen und ihre Lungen brannten.

Vielleicht war das der Ort, an den sie gehörte. Auch wenn sie wusste, dass sie keine Luft erwarten konnte, wurde der Drang zu atmen unerträglich. Also gab sie nach.

Aru öffnete den Mund und Schlamm strömte in sie hinein.

 

 

In seinem Haus in den Bergen begann der Tod zu schwitzen. Vor einer Weile hatte er gesehen, dass Arus Tod bevorstand. Er war erleichtert!

Obwohl er zwar jeden Todeszeitpunkt einsehen konnte, waren die meisten Vorgänge inzwischen automatisiert. Einige schwierige Seelen verlangten seine Anwesenheit, da sie in der Vergangenheit gerne mal geblieben sind und umhergeisterten. Andere hatten schlichtweg einen Pakt geschlossen, dass sie vom Tod höchstpersönlich abgeholt werden würden, obwohl das am Ende keinen Unterschied machte. Manche Leute wollten einfach umgarnt werden.

Arus Seele war weder wichtig noch schwierig. In Kürze würde sie im Totenreich sein. Damit wäre sein Problem gelöst, er könnte sein Herz zurückholen und er musste dafür nichts tun, als diesen Tag zu überstehen.

Hoch auf dem Berg sah er länger die Sonne und er starrte in ihr glühendes Gesicht. Nur warten musste er, nur warten.

Am Morgen hatte er sich gut gefühlt. Er hatte einige Tode begleitet, viele davon freiwillig, um beschäftigt zu sein. Das Abendessen hatte er noch summend begonnen, doch beim Kauen hatte er zu viel Zeit zum Denken.

Es war natürlich unmöglich, Zuneigung zu empfinden, er war der Tod! Unter anderem war er deswegen der Tod geworden. Er wollte nicht, dass ihm da jemand anderes hineinredete. In alles, in seinen Job, sein Leben. Er war allein und glücklich.

Der Tod beschloss, nach Jui zu reisen. Nicht um Arus Seele zu begleiten, er wollte nur zusehen. Es passierte nicht jeden Tag, dass eine Seele starb, die sich mit seiner verbunden hatte.

In Jui angekommen, musste er den richtigen Ort erst suchen. Es gab massenhaft Stege in dieser Stadt. Dann hörte er den Lärm der heraneilenden Bewohner. Aha, dort lag sie im Wasser!