Killing Zombies and Kissing You - Magret Kindermann - E-Book

Killing Zombies and Kissing You E-Book

Magret Kindermann

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Beschreibung

Meine fünf Regeln, um in der post-apokalyptischen Welt zu überleben: 1. Verlier nicht ständig dein Messer, verdammte Axt! 2. Vergangenheit ist was für Lebensmüde. Und ich will leben – glaube ich zumindest. 3. Lieber alleine feiern, als in Einsamkeit zu versinken. 4. Erwarte als letzter Überlebender auf keinen Fall Post. 5. Und wehe, du verliebst dich ausgerechnet jetzt …

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Inhaltsverzeichnis

Wenn das Radio laut spielt

Wenn ich in der Papiermülltonne bin

Wenn jemand Klavier spielt

Wenn ich mit Äpfeln werfe

Wenn ich lache

Wenn jeder eine Brooke verdient

Wenn ich eine Taube bin

Wenn uns die Nacht holt

Wenn der Ballon sinkt

Wenn ich eine Pistole finde

GedankenReich Verlag

Denise Reichow

Heitlinger Hof 7b

30419 Hannover

www.gedankenreich-verlag.de

Killing Zombies and Kissing You

Text © Magret Kindermann, 2019

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat & Korrektorat: Marie Weißdorn

Satz & Layout: Nadine Reichow

eBook: Grittany Design

ISBN 978-3-947147-00-7

© GedankenReich Verlag, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Obwohl der prasselnde Regen sogar die Pflastersteine aus der Erde gräbt, ziehe ich die Kapuze nicht auf. Ich will hören, was um mich herum geschieht. Wasser sammelt sich in einer unbeendeten Baustelle. Das Erdreich darum ist schon matschig und mit etwas Pech ist die Straße bald nicht mehr begehbar. Mein Blick fällt auf das Straßenschild, wie immer. Früher nicht, früher war ein Schild ein Schild und es hätte mich nicht weniger interessieren können. Jetzt ist es die einzige Erinnerung an mein altes Zuhause, das hier zwei Nächte lang brannte; meine Eltern und meine Katze eingeschlossen. Die zusammengefallene Ruine ist durch die anderen Altbauten von der Pflastersteinstraße aus nicht zu sehen und das ist gut so. Vergangenheit ist etwas für Lebensmüde. Und ich will leben – glaube ich zumindest.

Weiter die Straße runter schlurft ein Untoter, über die verwinkelten Wege und eine Treppe weiche ich ihm aus. Wenige Schritte hinter dem Geschöpf komme ich wieder auf die Straße. Hinter dem Geländer versteckt warte ich, bis er Abstand zu mir gewonnen hat. Es ist fast windstill, deswegen rieche ich ihn nicht und vor allem: er mich auch nicht. Zwei Minuten später rutscht er über die glitschigen Pflastersteine in das Baustellenloch. Das Wasser wird wieder still, aber sicher können Untote nicht ertrinken.

Orte bedeuten nichts mehr. Dieser Gedanke hält mich abends wach. Meine Orte sind nur noch meine Erinnerung. Nicht das, was jetzt ist, macht mich so fertig, sondern das, was nicht mehr ist. Ich bin nur noch hier. Und nachts überschwemmen mich Bilder von Orten meines alten Lebens: auf der Golden Gate Bridge, in der ersten Reihe bei The Kooks, in der Warteschlange für das neue iPhone, 24 Stunden in Mailand, im schmalsten Haus der Welt, high im Berghain, auf der Klagemauer, im türkisfarbenen Meer, beim Inder um die Ecke, auf einer Schaumparty, pinkelnd zwischen zwei parkenden Autos, in der schicksten Bar der Stadt – in der ramschigsten Bar der Stadt, in Cluesos Bett, am Eiffelturm, im Wellenbad, im Rapsfeld, in einem Krater eines seit 10.000 Jahren schlafenden Vulkans, mit dem Flugzeug über einer Wüste, auf dem höchsten Gebäude Istanbuls, in einem von Nonnen geführten Krankenhaus, in den Armen meiner Eltern, in meinem eigenen Bett, auf einem Pferderücken, im Süß war gestern, vor dem Fernseher, im Ballett, im Theater, im Kino, im Stripclub, kurz vor der Abiprüfung, nachts nackig im See, unter dem Weihnachtsbaum, unter Linus Gantner oder Garter oder so ähnlich, in der Kirche, in Porto an Silvester, im Internet, nie auf einem Date mit Cem Ateş, besoffen auf einem Balkon in Lloret de Mar, in einem miesen Café in Bratislava, Schnorcheln im Planschbecken im Garten, beim Mitternachtsshoppen, mit 200 Stundenkilometern auf der Autobahn, auf Platz 1 im Mario Kart, in einer Kunstausstellung von Vermeer, beim Sonnenaufgang mit einer Flasche Wein auf einem Flachdach hoch über der Stadt. Ich bin müde.

Das Haus, in dem ich mich breitgemacht habe, gehörte den Waldmanns. Sie hatten mich und einige andere dorthin gebracht. Mein Fieber war hoch und jeder ging davon aus, ich würde nicht mehr gesund werden. Als ich schließlich aus einem langen Fiebertraum erwachte, war niemand da. Der Schlüssel zur Haustür steckte. Die Wohnung war mit Nahrung vollgestopft, Dosen und Gläser und in Plastik Verpacktes aus dem Bio-Supermarkt um die Ecke, den sie komplett geplündert hatten. Vor dem Bett lagen ein Kinderrucksack, ein großes Küchenmesser, zwei Flaschen Wasser, eine Pistole mit einer Kugel und eine Packung KitKat. Die erste Flasche hatte ich schon fast ausgetrunken, als ich daran dachte, dass eventuell sonst kein Wasser mehr da sein könnte. Aber meine Sorge war unbegründet. Das Badezimmer nebenan war gefüllt mit Getränken und Essen. Ich hatte Hunger, mein Fieber war verschwunden. Am Leben, noch. Was ein Hohn, da niemand mehr etwas mit einem Leben anfangen kann.

Den ersten Tag schiss ich auf den Zustand der Welt und feierte. Ich aß Dosenmandarinen, Schattenmorellen und abgepackten Käsekuchen, ich trank Rotwein und Bier und wenig Wasser; ich las die schmuddelige Hausfrauenliteratur von Frau Waldmann und masturbierte zu den Sexszenen von Dr. Hart und Bettina. Das war eine Lüge. Ich feierte und fraß und trank und masturbierte eine ganze Woche. Hätte mein Trugbild doch ewig angedauert, dann hätte ich mich tottrinken und totmasturbieren können. Irgendwann in diesen betrunkenen heißen Sommertagen muss ich 18 geworden sein.

Von Zeit zu Zeit weinte ich. Meist nach dem Aufwachen und vor den täglichen zwei Aspirin. Immer, wenn ich an meine Eltern dachte. Oder als ich mir vorstellte, wie jemand – wahrscheinlich Marina, die mir zwischen meinen Fieberträumen vorlas – den KitKat-Riegel vor das Bett legte.

Schließlich waren nicht nur die Tabletten leer, sondern ich begann mich zu fürchten, wenn ich auf die Toilette musste. Ich stellte mir vor, wie die Toilette mit der Kanalisation verbunden war und dass sich einige Überlebende dort versteckt hatten und zu Zombies geworden waren, die nun die Rohre zu meinem Klo entlangtasteten und mich am Hintern packen wollten.

Also trank ich wieder mehr Wasser statt Alkohol, um bei Sinnen zu sein, und aß das KitKat. Ich öffnete ein Fenster, um die verdorbenen Lebensmittel aus dem Kühl- und Gefrierschrank auf die Straße zu werfen. Da fiel mir auf, dass kein Mensch draußen war. Nicht mal ein Untoter. Niemand. Für zwei Tage am Stück erkannte ich nicht die kleinste Regung.

Schließlich ging ich spazieren. Zuerst im Treppenhaus. Ich lauschte an den anderen Wohnungstüren und hörte nichts. Dann ging ich in den Garten hinter dem Haus, den von außen niemand betreten konnte, außer er kletterte über die Mauer. Während meines ersten Streifzuges durch die Straßen begegnete ich niemandem. Danach sah ich ab und zu einen Untoten, aber sie waren zu träge, um mich zu bemerken. Sie wirkten wie besoffene, dreckige Obdachlose. Es war einfach, mich vor ihnen zu verstecken oder einen Umweg um sie herum zu machen. Trotzdem habe ich eine Heidenangst vor ihnen. Im Grunde weiß ich nichts über sie, da ich die meiste Zeit bewusstlos war. Die wenigen Menschen, die nach allem bei mir waren, haben von Kratzern und kleinen Bissen gesprochen, die schon für eine Infektion ausreichen würden. Was ich mit Gewissheit sagen kann, ist, dass innerhalb von kürzester Zeit alle daran zugrunde gingen. Harmlos sind Zombies also bestimmt nicht. Hoffentlich vergesse ich das nie.

Ich begann, die Wohnung der Waldmanns mit Plunder vollzustopfen, von dem ich mir einbildete, ich könnte ihn zum Leben brauchen.

Am liebsten sind mir Kerzen, da der Strom weg ist. Essen nehme ich auch immer mit, aber viel ist nicht mehr zu finden. Mein wertvollster Fund ist ein Kletterseil, mit dem ich zwar noch nichts anfangen kann, aber von denen liegt sicher eins in jedem gelungenen Survival-Kit. Jedes durchsuchte Haus kennzeichne ich. Mit einem Edding schreibe ich SAFE an die Tür. Immer, wenn ein Untoter drinnen ist, rieche ich es schon von draußen, schlage die Tür zu und markiere sie mit einem Nein. Ein X wäre einfacher, aber falls noch jemand außer mir lebt, versteht er ein Nein besser. Vielleicht rettet es sein Leben. Eile habe ich sowieso keine. Es gibt für mich wenig zu tun. Schon öfter ist mir der Gedanke gekommen, dass ich mich in scheinbarer Sicherheit in Gefahr bringe, doch dann denke ich auch: Wen kümmert’s?

Mein Ziel, das Haus der Waldmanns, liegt vor mir. Ich habe viel erbeutet und freue mich auf das Auspacken wie nach einer Shoppingtour bei French Connection. Das Haus ist eingekeilt zwischen zwei anderen, die schon als SAFE gekennzeichnet sind. Der Kinderrucksack mit Pikachu-Aufdruck ist schwer, neben Kleinkram habe ich einen warmen Outdoor-Pulli gefunden, den ich gut gebrauchen kann, und zwei Bücher von Cecilia Ahern. Ich mag keine tiefgängigen Bücher, sie zwingen mich zu sehr zum Nachdenken. Lieber mag ich Gemälde, die erlauben mir zu fühlen, ohne mich damit auseinandersetzen zu müssen. Deswegen bin ich auch nicht zu traurig über das Ende von Dr. Hart und Bettina, obwohl die schon hart an der Schmerzgrenze kratzen. Hart, hihi …

Ich stutze. Ich sehe ihn sofort, obwohl nur eine kleine Ecke herausguckt: Im Briefkasten der Waldmanns steckt ein Brief. Ich bin mir sicher, dass er vorher nicht da war. Panisch richte ich mein Küchenmesser auf den Briefkasten. Das habe ich zwar immer in der Hand, aber bisher habe ich damit nur gespielt und musste es nicht wirklich einsetzen. Niemand ist da und der Brief tut mir nichts. Trotzdem bin ich alarmiert, als stehe ein Endgegner aus Resident Evil vor mir. Langsam gehe ich näher heran und ziehe das Ding aus dem Briefkasten. Es ist ein richtiges Kuvert mit meinem Namen darauf. Da stehe ich, ich letzter Mensch auf Erden, und bekomme Post.

Der Schlitzdeckel klappert. Ich fahre zusammen und blicke mich um – keiner da. Sofort fühle ich mich beobachtet. In der ganzen Stadt laufen Wesen rum, die mich gern fressen würden, aber ich habe mehr Angst vor dem Absender. Er kann über Zäune und Mauern klettern, mich hinters Licht führen und wahrscheinlich will er mich auch fressen. Ich habe zum Glück The Walking Dead geguckt, ich weiß, wie das abläuft.

Statt die Haustür nur hinter mir zuzuziehen, schließe ich wie vor der Apokalypse ab und komme mir dabei sehr zivilisiert vor. Am liebsten würde ich noch eine Falle bauen. Ein Faden, der am Abzug einer Schrotflinte zieht, wenn die Tür geöffnet wird. Aber ich bin nicht Kevin allein zu Haus und die einzige Pistole, die ich habe, kann ich nicht bedienen.

In der Wohnung der Waldmanns schaue ich erst in jedes Zimmer, dann reiße ich das Kuvert auf.

Hallo, Bea! Morgen um 12 Uhr im Restaurant Pizza Autentica.

Mir fallen zwei Dinge auf: Es ist eine männliche Handschrift und der Absender kennt mich. Sofort weiß ich, dass ich nicht hingehen werde. Würde ich tatsächlich darüber nachdenken, hätte ich mich vielleicht für die menschliche Nähe entschieden, trotz des Risikos. Aber ich habe Angst. Während das Chaos ausbrach, habe ich gesehen, zu welchen Grausamkeiten Menschen in der Lage sind. Die Menschheit kann mich mal.

Leider habe ich nichts Größeres als meinen Pikachu-Rucksack. Anscheinend wurden alle Reiserucksäcke für eine schnelle Flucht gepackt. Vor einer Weile habe ich einen Untoten gesehen, der immer wieder hinfiel, weil er an einen überdimensionalen Rucksack geschnallt war. Ich musste so laut lachen, dass ich zwei beweglichere Versionen anlockte und schließlich wegrennen musste.

Erst einmal wird der Pikachu-Rucksack reichen. Mehr kann ich später holen. Die Wahl ist schwierig, ich habe zu viele Sachen. Ich entscheide mich für zwei große und ein kleines Küchenmesser, einen Dosenöffner, den warmen Outdoor-Pulli, eine frische Unterhose, zwei Plastikflaschen mit Wasser, mehrere Kerzen, Feuerzeuge und Streichholzpackungen, das Reisehandtuch, eine Flasche kosmetischen Alkohol von 96 Prozent (mir gefällt die Vorstellung, irgendwann einmal einen Flammenwerfer bauen zu können, aber erst mal reicht auch ein kleines Feuer zum Kochen), einen Teil meiner Essensvorräte, das Kletterseil, einen Kompass, Nadel und Faden, meine Regenjacke, die unnütze Pistole, und am Ende packe ich noch die Zahnbürste und -pasta ein. Wer weiß, wann ich das zum nächsten Mal finde. Den zivilisierten Menschen habe ich noch nicht aus meinem System bekommen. Dabei ist die Zivilisation nur noch eine Illusion, derer ich mir bewusst bin.

Mit Pikachu auf dem Rücken und dem Bettlakenbeutel unter dem Arm – die zwei Cecilia-Ahern-Bücher habe ich auch noch reingestopft – verlasse ich meine Bleibe der vergangenen Monate durch ein Fenster. Durch das Konstrukt aus Strickwolle und leeren Dosen, das ich auf dem Rasen aufgebaut habe, winde ich mich vorsichtig hindurch auf die Straße. Ich hatte es eher aus Langeweile rund um den Garten und das Haus angebracht, doch nun bin ich froh darüber. Vielleicht hat es mir einige Feinde vom Leib gehalten, von denen ich nichts wusste und die mir jetzt doch lieber Briefe schreiben. Und ich dachte, ich bin allein auf der Welt!

Keine Menschenseele ist zu sehen, weder tot noch lebendig. Mein Ziel ist das Solarhaus im Villenviertel. Das wird komplett mit Solarstrom betrieben, ich könnte also mit etwas Glück noch den Herd benutzen, und es steht hoch oben und bietet einen weiten Blick in drei Richtungen. Nur auf einer Seite ist der Wald. Bisher habe ich mich noch nicht getraut, dorthin umzuziehen, da ich befürchtete, dass es voll mit Zombies ist. Als der Scheiß losging, wollte jeder hin. Außerdem hatte ich noch so viel Supermarkt-Essen, ein Umzug schien mir voreilig. Jetzt habe ich keine andere Wahl. Hoffentlich kann ich das restliche Essen später nachholen. Es würde mir wahrscheinlich noch für ein halbes Jahr reichen.

Als ich den ganzen Berg hochgestapft bin, bin ich außer Atem. Die Tür ist geöffnet; sie war schon bei meiner ersten Besichtigung nach den Fieberträumen weit offen. Einmal habe ich einen Untoten herausstolpern sehen. Ich stelle mir vor, wie sie dort drinnen wie Billardkugeln an Wänden und Möbeln abprallen, von Zeit zu Zeit trifft einer zufällig die Tür.

So leise wie möglich klettere ich auf die Plastikmülltonnen, von dort auf den Apfelbaum und hieve mich weiter auf den Balkon im ersten Stock. Diese Klettertour habe ich schon einige Male geübt und fühle mich dabei mittlerweile nicht mehr ganz so hilflos. Vielleicht bin ich in zwei Monaten ein weiblicher Tom Cruise. Auf dem Balkon liegt ein kleiner Vorrat an Steinen und leeren Dosen. Mein Vergangenheits-Ich war großartig! Damit wollte ich die Untoten rauslocken, sobald es so weit war. Das ist es jetzt.

Ich spähe durch die Glastür, doch nichts bewegt sich. Das Lesezimmer mit Elektrokamin und Ohrensesseln war bei jedem meiner Besuche leer. Auf einem niedrigen Tisch mit drei Beinen steht ein halb volles Whiskeyglas, als hätte dort gerade noch jemand gesessen und ein gutes Buch gelesen. Das perfekte Haus zum Überleben. Vielleicht gibt es noch eine Waffenkammer im Keller, am besten mit Gebrauchsanweisungen.

Nach der Tortur gönne ich mir eine Pause, lehne mich an die Balkontür und trinke kalte Tomatensuppe aus einer Dose. Schon von dieser niedrigen Höhe aus ist die Sicht auf die Stadt gut. Ich erkenne den schwarzen Fleck, der mal mein Elternhaus war und die Kirche, die mit Zombies vollgestopft ist. Schnell noch einmal zu Gott, bevor es zu spät ist … Meine alte Schule. Die meisten Untoten, die hier rumlaufen, kenne ich vom Sehen. Als sie noch lebten, habe ich sie gegrüßt. Sie haben mir Eis verkauft oder mich von ihrem Grundstück vertrieben, weil ich als Kind ihre Äpfel gestohlen habe.

Ich trinke den letzten Schluck Suppe und werfe die Dose vor die Haustür. Sie scheppert leiser als erhofft. Selbst nach einigen Minuten tut sich nichts, weder im Haus noch draußen. Ich hebe eine weitere Dose hoch, an der ich letztes Mal einen Wollfaden angebracht habe, und lasse diese herunter. Sie reicht genau bis zum Boden. Ich lasse sie mehrmals hüpfen, bis es im Erdgeschoss rumpelt. Ja! Es funktioniert! Ein verwirrt aussehender Untoter tritt durch die Eingangstür ins Tageslicht. Er findet die Quelle des Lärms nicht und torkelt von dannen.

Kurz darauf habe ich drei weitere herausgelockt. Es ist eine Familie. Mutter, Vater, Kind, und die Frau hat mit einem Tuch einen Säugling an ihren Bauch gewickelt. Das Kind stößt gegen die Dose und durch das Klappern wildgeworden, stürzen sie sich darauf und reißen mir den Wollfaden aus der Hand. Es wirkt, als würden sie damit spielen. Dann erkennen sie, dass die Geräusche nicht von etwas Lebendigem stammen und trotten davon, immer in ihrem familiären Grüppchen bleibend. Der Lärm hat zwei neue angelockt.

Ich werfe erst jede Dose, die ich habe, und dann die Steine. Immer wieder kommt mal einer raus. Die Steine machen nicht so viel Lärm, also versuche ich, die Dosen zu treffen.

Irgendwann wird es dunkel. Meine Aktion dauert lange, weil ich immer wieder mit dem nächsten Wurf warten muss, bis die herausgelockten Untoten weit genug die Straße hinuntergelaufen sind. Denn manchmal kommt einer zurück zum Lärm und ich bin zum Warten verdammt. Ich bin müde. Plötzlich bekomme ich Angst. Was, wenn ich auf dem Balkon übernachten muss? Jetzt komme ich mir dumm vor, weil ich keine Decke mitgebracht habe.

Wütend auf mich selbst lehne ich mich gegen die Balkontür – als diese nachgibt. Erschrocken fange ich mich gerade noch ab, dann erst begreife ich mein Glück. Bei keinem meiner Besuche habe ich probiert, ob die Balkontür offen ist!

Ich krieche hinein, mein Herz schlägt schnell, und will die gegenüberliegende Zimmertür schon zuschmeißen, da besinne ich mich eines Besseren und schließe sie behutsam. Wer weiß, wie viele von den Monstern ich sonst noch anlocke. Schnell schaue ich mich um, der Raum ist tatsächlich sicher. Danke, Fortuna!

Mein Gepäck breite ich vor mir auf dem Teppich aus. Ich habe unklug gepackt. Die Medikamente habe ich liegen gelassen, das kleine Pflanzenkundebuch auch. Ich laufe, um nicht stillzustehen, schleiche von den Bücherregalen um die Sessel herum zur Tür und zurück. Eine irre Energie packt mich. Ich möchte brüllen, aber ich weiß nicht, wie viele Untote noch im Haus sind und die Haustür steht noch offen. Ich boxe einige Male in die Luft und springe umher. Früher haben Leute Yoga oder Meditation gemacht, um runterzukommen. Gegen menschenfressende, faulende Monster in den Gedanken hilft das nicht.

Ich setze mich im Schneidersitz auf den Teppich, führe die Wodkaflasche an den Mund und trinke fünf große Schlucke. Mein hoher Alkoholkonsum ist mir egal. Er hilft mir, zu schlafen und ohne Schlaf kein Überleben. Habe ich mir so ausgerechnet. Der Gedanke, morgen das Haus säubern zu müssen, macht mich nervös und ich trinke mehr als sonst. Der Elektrokamin funktioniert noch, ich feiere die Öko-Familie, die dieses Haus gebaut hat und nun wahrscheinlich tot ist oder irgendetwas dazwischen. In der Tür steckt der Zimmerschlüssel, den ich glücklich umdrehe. So sicher und so warm hatte ich es schon lange nicht mehr.

Ich schlafe ein, direkt vor dem Kamin und mit Cecilia Ahern auf dem Kopf. Jedes Mal hoffe ich, von Romantik und hellen Farben zu träumen, ein bisschen Knutschen in einer Zombiewelt. Stattdessen ist es immer die Dunkelheit, von der ich träume. Zielloses Laufen, Einsamkeit.

Obwohl ich fast immer mit dem Sonnenuntergang schlafen gehe, schlafe ich lang. Dafür beschissen. Früher habe ich über die Schlafprobleme meiner Mutter gelacht und sie gefragt, warum sie nicht einfach schlafen würde.

Meine Hand liegt im Wodka, die Flasche ist umgefallen und ausgelaufen. Der Teppich stinkt hochprozentig, mein Schlafmittel ist verspielt. Ich rapple mich auf und lehne mich gegen das Balkongeländer. Dabei bemerke ich, dass die Haustür zu ist. Mein Atem stockt. Jemand war da! Oder ist sie zugefallen? Geht das? Es weht kein Wind. Hat der Briefeschreiber mich verfolgt?

Hat er. Vor der Zimmertür liegt ein Brief:

Das Haus ist sauber. Ich warte um 12 Uhr im Restaurant.

Scheiße. Es sind bestimmt mehrere. Sie können in Schichten Wache halten, gegen sie habe ich keine Chance.

Trotzdem passe ich auf, als ich wieder auf den Flur trete. Ich erwarte eine Falle. So eine, die ich nie bauen könnte. Eine Schlaufe, die sich um meinen Fuß schlingt und mich kopfüber hochreißt. Oder ich bin gleich umzingelt von Untoten. Aber es ist still, also wage ich mich hinaus.

Meine Schritte machen auf dem hellen Laminat keine Geräusche. An der Wand hängen Bilder in schlichten Rahmen. Eine nackte Frau. Irgendetwas mit Farben, das hätte meinem Vater gefallen. Er mochte das abstrakte Zeug. Ein praller Burger mit Sesam. Das mag ich, ich muss weggucken, um nicht zu sabbern. Ich bin so paranoid, dass ich sogar eine Bombe unter dem Boden vermute und streife mir die Schuhe ab, um barfuß vorsichtiger gehen zu können. Ich laufe durch das ganze Haus, aber ignoriere die Zimmer, deren Türen verschlossen sind. Auf ihnen steht mit einem roten Edding SAFE in einer fremden Schrift.

Auf einer Tür im Erdgeschoss steht ein Nein. Von innen kratzt etwas daran, die Türklinke wird mit einer Stuhllehne oben gehalten. Ein Schauder rollt meinen Rücken hinauf und bleibt an meinen Ohren hängen.

Die Speisekammer ist leer, Verpackungsmüll stapelt sich. Auf dem leer geräumten Tisch in der Küche stehen eine Packung Knäckebrot und eine Plastikflasche Orangensaft. Ich untersuche die Behälter, finde jedoch keine Einstichlöcher. Sie waren im Haus, während ich geschlafen habe, und stellen mir Frühstück hin? Ich hatte nicht mal die Zimmertür mit Möbeln blockiert, wie dumm kann man sein? Hatte ich noch nichts gelernt? Ich ohrfeige mich spontan. Das fühlt sich gut an.

Natürlich rühre ich das Zeug nicht an. Auf dem Weg zurück in den Leseraum prüfe ich die Haustür. Sie ist nur zugezogen, der Schlüssel steckt auf der Innenseite. Schleifspuren aus geronnenem Blut führen zu ihr. Wahrscheinlich haben die Briefschreiber die Leichen sogar rausgezogen. Die Spuren führen zu sechs Räumen, hier müssen die Untoten mit Messern niedergestochen worden sein. In den Kopf, schätze ich. So macht man das, oder? Ich habe keine Ahnung. Ich musste noch nie einen töten. Sechs Stück plus den Siebten, der noch im Nein-Zimmer ist. Das hätte ich niemals geschafft. Sie haben mir ein Zuhause geschenkt, obwohl ich abgehauen bin. Vielleicht sind sie nett. Ich möchte es glauben. Egal. Alles egal, ich möchte es glauben.

Ich frühstücke trotzdem von meinem Proviant, sicher ist sicher. Dann schmiede ich Pläne, die alle gleich aussehen: Ich packe alle Messer ein, die ich besitze, und gehe hin. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als genau das zu tun, oder? Nach den letzten Wochen bin ich zu erschöpft, um weiter an einen Feind zu glauben. Wenn es eine Falle ist, ist es eine Falle. Doch der Gedanke an einen möglichen glücklichen Ausgang lässt mich nicht mehr los. Ein Leben ohne diesen Glauben scheint mir nun sinnlos.

Doch vorher durchsuche ich das Haus, finde jedoch nichts Brauchbares. Nicht einmal ein Feuerzeug oder Streichhölzer. Dafür ist mein neues Zuhause komplett durchgestylt, Überleben auf einem Rosamunde-Pilcher-Set. Es gibt drei Schlafzimmer. Alle durchwühlt und teilweise blutig, aber das kann ich mit ein bisschen Hausarbeit korrigieren. Ich ziehe in das Schlafzimmer im ersten Stock um, da ich unbedingt ein Bett will.

Dann ziehe ich mir die Regenjacke über und gehe los. Es ist viel zu früh, kurz nach acht sagt die unversehrte Uhr an der Küchenwand, aber so ist es gut. Ich möchte, dass die anderen mir in die Arme rennen und nicht andersherum.

Der Weg durch die Stadt ist anders als sonst. Gestern noch habe ich mich sicher gefühlt. Ab und zu musste ich einem torkelnden Wesen ausweichen, die Einkaufsstraße mied ich – denn es sieht aus, als ob manche noch im Tod shoppen gehen. Jetzt bin ich nicht mehr allein. Noch schlimmer, ich war es nie. Ich wurde beobachtet. Ich bin angreifbar.

Das Restaurant liegt am Marktplatz in der Innenstadt. Dorthin gehe ich nicht gerne, denn die mit Zombies vollgestopfte Kirche wirkt auf mich bedrohlich. Im Pizza Autentica hatten meine Eltern manchmal zu Abend gegessen. Das war ihr Ding, zusammen essen, als würden sie damit ihre Ehe retten. Was für eine Zeitverschwendung, sich an etwas festzukrallen. Die zig Gnocchi mit Salbei-Zitronen-Soße mussten mit einer so grausamen Begleitung fad geschmeckt haben.

Obwohl ich so früh dran bin, komme ich zu spät. Es ist schon jemand dort. Die Tische und Stühle für den Außenbereich hatten zuvor kreuz und quer gestanden, jetzt sind sie zu einer Traube zusammengekettet, einen schmalen Durchgang lassen sie für einen Besucher frei. Damit kann nur ich gemeint sein. Eine Tafel bietet mir mit Kreideschrift Schweinemedaillons auf Kartoffelbrei mit Sauerrahm an. Es gibt nur eine Tür und die steht offen.

Ich hebe das Fleischmesser, das größte aus meiner Sammlung, und trete ein. Jetzt ist genauso gut wie später.

Das Restaurant ist sauber, ordentlich und leer. Aus der Küche kommt tatsächlich Musik. Es zischt, als würde jemand etwas anbraten. Ich stürze mit gezücktem Messer durch die Schwingtür hinein. Ein Überraschungsmoment ist immer gut. Sagt man zumindest. Eigentlich weiß ich nicht, was ich mit meinen Überlebensstrategien anfangen soll. Ich spiele nur mit ernster Miene Katastrophenfilme aus einer vergangenen Zeit nach.

Doch mein Kampfgeist verpufft auf einen Schlag, als ich sehe, wer da vor mir steht. Es ist Simon. Er trägt eine Schürze und hält einen Pfannenwender in der Hand.

Er schaut auf. »Hi«, sagt er verblüfft.

Ich überspiele meine Überraschung und schaue in jede Ecke, um auszuschließen, dass Simon lauernde Bandenmitglieder versteckt hat. Die Vorratskammer ist randvoll und ich entdecke sonst niemanden.

»Du bist viel zu früh«, sagt er.

Er sieht mager aus, bemerke ich.

»Aber damit hab ich ehrlich gesagt schon gerechnet. Ich würde es auch so machen.« Er schaut mir irritiert zu, wie ich jedes Fach und jede Schranktür öffne. Als ich die Deckel von den Töpfen in den Regalen hebe und sie leer vorfinde, bin ich zufrieden. Anscheinend keine Falle. Sofort fühle ich mich überlegen. Gut so.

Simon, der Obercoole aus meiner Schule. Abgefahren. Er sieht selbst in dieser abgefuckten Zeit noch aus wie ein Hipster. Sein Pulli zeigt Grumpy Cat, er trägt eine große Brille und seine Haare sind zwar nicht mehr so schnieke, aber die Spitzen der rausgewachsenen Locken sind noch platinblond. In der Stufe unter mir war er der Weiberheld schlechthin, immer von einer intellektuellen Wolke umgeben, die nach Edgar Allan Poe stank. Es überrascht mich, dass er zu den Überlebenden gehört. Andererseits gleicht es einem Wunder, dass ich noch nicht untot bin.

»Warst du die ganze Zeit hier?«, frage ich. Dass ich mit ihm spreche, fühlt sich befremdlich an. Nicht nur weil er der erste Mensch seit Monaten ist, sondern auch, weil ich nicht aufhören kann, daran zu denken, wie ich ihn auf dem Schulhof verstohlen angeblickt habe. Ob er das bemerkt hat? Er ist einer der wenigen Jungs in der Schule gewesen, die mir wirklich aufgefallen sind.

Er hat sich wieder gefasst, schüttelt den Kopf und wendet einen Pfannkuchen. Dieser hat ein köstlich aussehendes Mondkratermuster.

»Du siehst lächerlich aus«, sage ich, weil es sicher nicht schlecht ist, stark rüberzukommen. Kaum sind die Wörter draußen, klingen sie eher degradierend.

Simon lächelt. »Ich erzähle dir gleich alles, was du wissen willst. Aber erst will ich essen, wenn es okay ist. Ich habe noch nicht gefrühstückt.« Mit einem eleganten Schnick seines Handgelenks landet der Pfannkuchen auf einem großen Teller, auf dem schon zwei weitere liegen. Er streut Puderzucker darüber. Mein Magen knurrt – ob da vielleicht auch frische Eier drin sind?

»Das Restaurant hat wohl noch niemand geplündert. Dabei ist es perfekt, da es billige Lebensmittel benutzt hat. Billig gleich haltbar.« Er grinst mir zu und trägt den Teller in den Besucherraum. Mir bietet er nichts an. An einem Vierertisch am Fenster lässt er sich nieder, zündet mit einem Zippo das Teelicht darauf an und frisst wie ein Tier. »Oh Mann, ist das gut.« Er schmatzt und kaut kaum. »Die haben Eipulver benutzt. Mega praktisch. Leider Wasser statt Milch. Ich hatte Glück, was anderes als Pfannkuchen kann ich nicht kochen.« In kürzester Zeit ist er fertig, alles hat er aufgegessen. Übertrieben befriedigt lehnt er sich zurück. Auf seinen Wangen klebt Puderzucker. »Setz dich doch. Willst du einen Tee?«

»Gibt es hier noch Strom? In der ganzen Stadt ist er eigentlich weg.« Erst einmal verschweige ich mein Solarhaus. Vielleicht weiß er nichts davon.

Er schüttelt den Kopf, dabei schüttelt er eigentlich seinen ganzen Körper. »Gas. Zumindest die Herde werden so betrieben. Endlos viel wird nicht übrig sein, ich kampiere hier seit einer Woche und war verschwenderisch. Ich hab die Musik vergessen!« Er springt auf und läuft in die Küche.

Meine Hand schmerzt und mir fällt auf, dass ich noch immer das Messer umklammert halte. Verrückt, ich könnte ihn mit wenigen Bewegungen töten. Vorausgesetzt, er würde stillhalten. Früher gab es diese Möglichkeit nicht. Jetzt halte ich ein Messer in der Hand.

Er kommt zurück und stellt das Radio auf den Tisch. Es scheint mit Batterien betrieben zu werden.

»George Michael«, sagt er. »Kannte ich vorher gar nicht. War wohl ein Star drei Generationen vor uns.«

Außerdem hat er zwei Teetassen dabei. Er erklärt, das Wasser sei aufgesetzt, und reicht mir die Teekarte. Während ich mich für Pfefferminze entscheide, schließt er die Tür. »Ich erwarte sonst niemanden mehr. Du?«

Seine Fröhlichkeit verwirrt mich. Ich kann sie nicht leiden und gleichzeitig fasziniert sie mich. »Ehrlich gesagt habe ich erwartet, dass eine ganze Gruppe mich empfangen würde«, sage ich.

»Jaaa. Ich komme gut allein klar.«

»Du hast ganz allein das Haus gesäubert.«

Er nickt.

»Und mich ganz allein beobachtet, den ganzen Tag lang?«, frage ich.

Er zuckt die Schultern. »Da war auch viel Glück dabei. Scheinbar gehst du nicht viel raus.«

Tatsache. »Und du hast ohne Hilfe überlebt?«

»Ja.«

Ich betrachte ihn zweifelnd.

Er grinst. Trotz des Schmutzes sieht er aus wie aus einem Mädchenfilm mit Pferden. Er lacht laut auf, wirft dabei den Kopf nach hinten und springt dann auf. Er müsse nach dem Wasser gucken. Als er wieder da ist, trägt er Ofenhandschuhe und hält einen Kochtopf in der Hand. Als dieser vor mir steht, halte ich mein Gesicht in den warmen Dampf. Es tut gut.

»Geil wäre es, wenn hier noch eine Badewanne wäre, was? Dann könnte man sich ein heißes Bad machen«, sagt er.

Ich schrecke auf und packe das Messer wieder fester. Er bleibt jedoch nicht am Tisch, sondern geht hinter den Tresen, reckt sich zum Regal hinauf und holt zwei Teepackungen herunter. Sein Rücken ist mir zugewandt.

»Am Anfang war ich bei einer großen Gruppe. Starke Leute, viele Polizisten, viele Ex-Soldaten, alle hatten richtig gute Waffen. Sie wollten zu einem Stützpunkt in Bruchsal. Wir wurden getrennt.«

Mit einem lauten Platsch gießt er Wasser in meine Tasse. Den Teebeutel lässt er auf der Oberfläche schwimmen, langsam sinkt er und gibt seine grüne Farbe ab.

»Wie?«, frage ich, als er mir wieder gegenübersitzt. »Wie wurdet ihr getrennt?«

Er zuckt die Schultern und überlegt kurz. Ist es eine Lüge? Warum überlegt er sonst? Er schaut nicht weg. »Wir mussten rennen und ich war zu langsam, also habe ich mich hinter einem Zaun in einem Garten verschanzt.« Mit einem Schlag ist er nicht mehr fröhlich. »Drei Nächte lang habe ich gewartet und gefroren. Dann hat der Hunger mich rausgetrieben. Ich hatte eine Scheißangst.«

Seine Ehrlichkeit berührt mich. Ich lege das Messer auf den Tisch, um meine Friedfertigkeit zu demonstrieren.

Jetzt grinst er wieder. Ein perfektes Grinsen, eins, das beweist, wie sehr er sich seines Charmes bewusst ist. Er trinkt vorsichtig seinen dampfenden Tee, ich trinke gierig, obwohl ich mich verbrenne. Seit Ewigkeiten habe ich nichts Heißes mehr getrunken. Bereitwillig schenkt er mir nach und wirft einen neuen Teebeutel hinein.

»Wie hast du überleben können?«, fragt er.

Anfangs erzähle ich zögerlich, da ich mir einbilde, dass es aus taktischen Gründen unklug ist, alles zu verraten. Dann komme ich mir dämlich vor und es bricht aus mir heraus. Der Tod meiner Eltern. Wie alle um mich herum angefallen wurden. Meine Fieberträume. Meine Einsamkeit. Meine Dummheit. Nahtlos weichen die Worte den Tränen und plötzlich sitzt Simon neben mir und legt den Arm um mich. Die Nähe provoziert mich. Sie gibt mir Hoffnung, denn ich bin nicht allein, aber gleichzeitig zeigt sie mir die Hoffnungslosigkeit, denn wir sind allein.

Er erzählt mir von seinem Plan. Leise spricht er in mein Haar. »Komm mit mir nach Bruchsal. Es ist gar nicht weit mit dem Auto, irgendwo hinter Frankfurt.«

Frankfurt, das war früher nur zwei Stunden über die Autobahn von uns entfernt. Eigentlich noch immer – außer die ganze Stadt ist abgebrannt –, aber ich tendiere dazu, alles in der Vergangenheit zu sehen. Das macht es mir einfacher, mit meinen Verlusten klarzukommen. Simon macht mir diese sichere Aussichtslosigkeit zunichte. In meinem Herzen regt sich eine schmerzhafte Hoffnung. Ich schmiege meine Wange an ihn.

»Dort soll es noch Familien geben.« Seine Hand liegt auf meinem Rücken. »Und eine riesige Mauer rundherum, die alle schützt. Sie sind alle dort in Sicherheit.«

»Das haben dir die Leute erzählt, bei denen du vorher warst?« Innerlich sage ich schon ja. Doch ich weiß nicht, ob es ein Ja zum Plan oder zu seiner sanften Stimme ist.

»Ja. Sie sind hier durchgekommen, weil sie Sachen sammeln. Waffen und Essen. Sie sind nur so weit gekommen, weil sie die Autobahn abfahren und gucken wollen, ob es überall so aussieht wie hier.«

»Familien, hast du gesagt?«, frage ich.

Simon nickt. »Und Soldaten.«

»Natürlich komme ich mit.«

Ich erschrecke mich vor meinen Worten. Habe ich dazu gerade ja gesagt? Dabei habe ich gar nicht nachgedacht, ob ich will. Neben der Hoffnungslosigkeit schleicht sich Angst dazu, die ich nicht einordnen kann.

Simons Gesicht macht es wieder wett, er strahlt. »Ja?«

»Ja!«

Simons Augen glänzen vor Aufregung. Einer seiner Schneidezähne ist ein wenig schiefer als der andere, darüber freue ich mich. Es macht ihn hübscher. »Wir müssen heute Nacht los«, sagt er. »Im Dunkeln werden sie träge.«

Mir schwindelt. Nein, ich will noch nicht los. Das Neue macht mir Angst, nachdem ich so lange allein war. »Warum heute schon? Wir haben doch Zeit. Alle Zeit der Welt. Und hier gibt es noch so viel zu essen.«

»Merkst du nicht, dass die Welt immer schneller den Bach runtergeht? Jede Minute, die wir hierbleiben, ist es wahrscheinlicher, dass wir aus der Hölle nicht mehr rauskommen.«

Ich lehne mich zurück und mustere ihn. »Warum hast du auf mich gewartet? Warum bist du nicht sofort ohne mich los?«

»Allein überlebt man nicht lange. Ich brauche dich. Und du mich.«

Seine Worte sind klar und weich und ich lehne mich mit der Stirn gegen seinen Mund. Er hat recht. Ich brauche ihn. Vielleicht weniger zum Überleben, eher zum Leben. Denn welchen Sinn hätte ich sonst – allein?

»Wir sollten schlafen, um heute Nacht fit zu sein«, flüstert Simon. »Dann klauen wir ein Auto, füllen es mit Lebensmitteln und fahren los.«

Ich muss kichern. Ein Auto klauen. Vielleicht werden wir erwischt. Vielleicht kommen wir in den Knast! Mein Kichern wird wilder. »Ich glaube, ich kann nicht schlafen. Es ist nicht mal mittags.«

»Wir können es versuchen. Gut wäre es.«

Er zieht eine verbeulte Zigarettenschachtel aus seiner lächerlichen Schürze, die er noch immer trägt. »Ich weiß, dass du früher geraucht hast. Die war noch im Automaten in den Toiletten. Ich hab sie für dich mitgenommen.«

Nachdenklich schaue ich auf die Packung. Früher. Ja. Dabei ist das noch gar nicht so lange her. Ich wundere mich, dass er überhaupt etwas von mir weiß. Besonders beliebt war ich nicht. Simon und ich haben nie auch nur miteinander gesprochen, glaube ich.

Ich mache mich von ihm los und rauche im Biergarten des Restaurants, dessen Hof zwischen Häusern eingekeilt ist. Hinter den Fenstern der Häuser regt sich nichts. Ein scheinbar sicheres Fleckchen. Die Zigarette fühlt sich wie eine Zeitreise an. Wann habe ich das letzte Mal geraucht? Da haben meine Eltern noch gelebt. Ich will nicht denken, es fällt mir schwer. Ich rauche meine erste Zigarette seit Langem nicht einmal zu Ende. Das Nikotin bin ich schon nicht mehr gewohnt, mir ist schwindelig.

Drinnen hat Simon endlich seine Schürze abgelegt. Sein Pulli darunter hat schon einige Löcher, aber das tut seinem Hipster-Style keinen Abbruch. Er breitet gerade einen Schlafsack in der Mitte des Raumes aus. Der Reißverschluss ist offen, so ist er fast wie eine Decke. Die Tische sind beiseitegeschoben.

»Du kannst zuerst schlafen. Ich halte Wache und wecke dich in zwei Stunden, ja?«

Ich widerspreche nicht, denn tatsächlich bin ich müde. Mir ist bewusst, dass er mir im Schlaf die Kehle aufschlitzen, mich vergewaltigen oder essen kann. Aber ich scheiße drauf und ergebe mich meinem Schicksal. Es gibt keine Versicherung mehr, keinen Verlass.

Ich lege mich hin. Unter dem Schlafsack liegen Pappkartons als Matratze. Sofort spüre ich, wie gut es meinem Körper tut, zu liegen. Ich fühle mich beschützt.

Simon dreht das Radio leiser und setzt sich auf einen Stuhl am Fenster. Er grinst mich an. Kuscheln wär jetzt nice. Wir haben noch heute. Wer weiß, was morgen ist.

»Kannst du auch vom Schlafsack aus Wache halten?«, frage ich ihn.

Er verbirgt seine Verblüffung gut, zeigt seine schönen Zähne und kriecht zu mir in die Wärme. Seine Arme legt er um mich und ich vergrabe meinen Kopf in seinem Pulli. Menschliche Nähe. Sie ist das, was dich zwingt, überleben zu wollen. Sie ist aber auch das, was dich angreifbar macht. Wir sind zwei Loser ohne Kampferfahrung und ohne Waffen, trotzdem sind wir noch hier und alle anderen nicht. Vielleicht haben wir einfach Glück und nur darauf kommt es an. Er streichelt meinen Kopf und ich überlege, ob wir uns küssen könnten, aber ich dämmere schon weg. In meinen Träumen begegne ich der Dunkelheit und der Einsamkeit wieder.