Herz über Bord- Rudere nie zurück - Nadine Gerber - E-Book
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Herz über Bord- Rudere nie zurück E-Book

Nadine Gerber

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Beschreibung

Ein dramatischer und romantischer Roman über die große Liebe und die Entscheidung, ob man diese gehen lassen muss Hanna kommt nach mehreren Jahren Aufenthalt in den USA in die Schweiz zurück. Sie hat dort mit einem Sportstipendium studiert, denn Hanna ist eine der besten Ruderinnen der Welt. Jetzt – mit Fokus auf die olympischen Spiele – will sie ihr Training in der Heimat fortsetzen. Sie hat das Angebot der Nationalmannschaft sowie einen tollen Studienplatz. Für Hanna läuft es rund, und es wird sogar noch besser, als sie auf Simon trifft. Sie verliebt sich in diesen zurückhaltenden, klugen Mann. Simon ist hin- und hergerissen. Er fühlt sich zu Hanna hingezogen, doch er weiß, das darf nicht sein, denn Hanna ist seine Schutzbefohlene. Hanna kämpft wie eine Löwin um Simon und um ihre Liebe. Ein Kampf, der sie an ihre Grenzen bringt: Ihr Traum von einem Startplatz bei den olympischen Spielen droht zu zerplatzen...

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Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

Teil I:

Manchmal ist das gefährlichste Tier für einen Menschen der Schmetterling in seinem Bauch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil II:

Aus Freundschaft kann manchmal Liebe werden, aus Liebe jedoch niemals Freundschaft

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil III:

Liebe ist wie Krieg: einfach zu beginnen, schwer zu beenden und unmöglich zu vergessen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Anmerkungen und Danksagung

 

Ich heiße Hanna und bin dreiunddreißig Jahre alt. Es ist ein schöner, warmer Sommertag, und ich habe es mir mit einem Buch auf dem Liegestuhl im Garten gemütlich gemacht. Eigentlich wollte ich lesen, doch jetzt habe ich meine Augen geschlossen und schwelge in Erinnerungen. Es ist genau der richtige Augenblick dafür. An eine Geschichte muss ich besonders oft denken, und die möchte ich gern erzählen. Sie ist mir wichtig, und sie enthält eine tolle Botschaft, wie ich finde.

Um ganz von vorn anzufangen, müssen wir die Uhr dreizehn Jahre zurückdrehen. Damals war ich süße zwanzig und die vielleicht talentierteste Ruderin meines Heimatlandes …

Teil I:

Manchmal ist das gefährlichste Tier für einen Menschen der Schmetterling in seinem Bauch

Kapitel 1

Die vier Jahre in den USA hatten mich in jeder Hinsicht weitergebracht. Außer in einer. Das musste ich betrübt feststellen, als ich an diesem Montagmorgen, es war noch nicht einmal acht Uhr, in der hintersten Bank saß und auf die große schwarze Tafel starrte.

Wo war ich hier nur gelandet? Ich vermisste mein altes Leben. Und vor allem vermisste ich Chris.

Ich hatte mir meine Rückkehr wirklich einfacher vorgestellt. Immerhin hatte ich die ersten sechzehn Jahre meines Lebens hier verbracht, dies war meine Heimat, und ich hatte geglaubt, dass ich mich schnell zurechtfinden würde. Dem war aber nicht so – ganz und gar nicht. Als Jugendliche vier Jahre in den USA zu leben bedeutete offenbar, sich dieser Kultur so sehr anzupassen, dass sie einen nachhaltig veränderte. Mich hatte sie nachhaltig verändert. Ich war jetzt seit zwei Wochen wieder hier und hatte seither einen Kulturschock nach dem anderen erlebt. Obwohl meine Aufgabe eigentlich nur darin bestanden hatte, mein neues Leben hier erfolgreich zu organisieren.

Ich war ganz in meine Gedanken versunken, schenkte dem Geschehen um mich herum keine Beachtung und war den Tränen nahe. Dachte an meine Gastfamilie. Und immer wieder an Chris. Chris. Meine erste große Liebe, die ich für meinen Traum, den ich mir hier in der Schweiz erfüllen wollte, zurückgelassen hatte. Ich fühlte mich leer und einsam. Ich war allein in dieser Stadt, die ich nicht kannte. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr hatte ich das Gefühl, einen großen Fehler begangen zu haben.

Eine Hand tippte auf meine Schulter.

»Hanna, haben Sie eine Idee?«, sagte eine dunkle, leicht rauchige Stimme.

Ich erschrak so sehr, dass ich auffuhr und mit der linken Hand gegen meine leider geöffnete Wasserflasche stieß, die mit einem dumpfen Knall auf den Boden fiel. Das Wasser breitete sich auf dem Boden aus, und ich spürte, wie ich rot anlief. Der Typ, der mich angesprochen hatte, reagierte geistesgegenwärtig. Er schnappte sich eine Rolle Küchenpapier, die neben dem Waschbecken an der Rückwand des Klassenzimmers stand. Mit einer stoischen Ruhe verteilte er das Papier auf dem nassen Boden. Ich sprang auf, um ihm zu helfen.

»Es tut mir leid«, stammelte ich. Ich verfluchte meine Schusseligkeit. Ich hatte nicht nur ganz offensichtlich nicht aufgepasst, sondern war auch gleich unangenehm aufgefallen. Einige meiner Klassenkameraden konnten sich das Kichern nicht verkneifen.

»Haben Sie nun eine Idee?«, wiederholte die Stimme, nachdem der Boden wieder einigermaßen trocken war.

Keine blasse, um ehrlich zu sein. Ich kauerte auf meinem Stuhl und wurde erneut kreideweiß. Zum ersten Mal schaute ich mir den Mann mit der Stimme genauer an. Ich musste weit nach oben blicken – sehr weit. Er war riesig. Dass mir das noch gar nicht aufgefallen war. Ich hatte mich zuvor gar nicht auf ihn konzentriert, sondern vielmehr auf mein Elend. Ich schätzte ihn auf fast zwei Meter. Das allein half, um zurück in die Realität zu finden. Er strahlte eine gewisse Autorität aus, obwohl er gar nicht so alt war.

»Ich habe keine Ahnung«, hörte ich mich sagen. »Ich bin eine Niete in Mathe, und alles, was ich in den letzten Minuten überlegt habe, war, wie ich aus dieser Nummer heil wieder herauskomme.«

Das stimmte nur halbwegs. Doch die Klasse lachte jetzt schallend. Ob es half, das Eis zu brechen? Ich versuchte mich an einem Lächeln. Immerhin hatte ich es vor vier Jahren schon einmal geschafft, mich allein an einem fremden Ort zu integrieren, mich wohlzufühlen und sogar glücklich zu sein. Warum sollte ich es nicht noch einmal hinbekommen? Wobei die Aktion mit der umgekippten Flasche vermutlich kaum dazu beigetragen hatte.

Im Moment war ich hier fremd. Auch für diese jungen Leute hier. Sie musterten mich argwöhnisch und neugierig. Ich war nicht nur neu, ich war auch Spitzensportlerin – und ich war deutlich älter als sie. Wahrscheinlich wussten sie gar nicht so richtig, was sie mit mir anfangen sollten. Der Riese schaute mich ein bisschen böse an, doch um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch.

»Passen Sie im Unterricht auf, und machen Sie Ihre Hausaufgaben. Dann werden Sie das Kind schon schaukeln.«

Er ging zurück zur Tafel und fuhr mit seinem Unterricht fort.

Ich kramte in meiner Tasche nach dem Zettel, auf dem die Lehrer, die ich haben würde, aufgelistet waren. Mathematik und Physik: Simon Gruber. Ich musterte ihn von meinem Platz in der hintersten Reihe. Er war tatsächlich riesig und eigentlich auch ganz gut gebaut, er hatte breite Schultern und einen ziemlich knackigen Hintern. Auch sein Gesicht war hübsch, er hatte volle Lippen und schöne weiße Zähne. Wahrscheinlich war er der Schwarm aller Mädels hier. Allerdings hatte er wirklich so gar keinen Sinn für Mode. Seine Hose war viel zu kurz, die Turnschuhe waren abgewetzt, und sein Shirt stammte aus den Neunzigerjahren. Außerdem trug er eine Brille mit einem silbernen, rechteckigen Rand. Seine dichten, dunkelblonden Haare sahen aus, als wäre er eben aus dem Bett gestiegen. Was wahrscheinlich auch stimmte. Sie standen wild in alle Richtungen. Rasiert hatte er sich seit einigen Wochen nicht mehr. Er wirkte auf mich ein bisschen wie ein überdimensionaler Ryan Gosling, der aus Versehen im Physikseminar gelandet war. Und trotzdem fand ich ihn irgendwie süß. Seine Aufmachung passte zu ihm, und sein Erscheinungsbild wirkte stimmig. Ich musste plötzlich grinsen. Was er wiederum mit einem strengen Blick quittierte. Ich wurde ein bisschen rot – offensichtlich hatte er bemerkt, dass ich ihn unverwandt anstarrte. Ich blickte angestrengt in mein Matheheft. Simon Gruber. Das konnte interessant werden. Auf jeden Fall musste er ziemlich schlau sein.

Da ich von Grubers Ausführungen weiterhin nichts verstand, fiel es mir leicht, wieder in meinen Tagträumen zu versinken. Amerika. Ich hätte nicht geglaubt, wie sehr ich es vermissen würde. Ich kritzelte mit einem Bleistift auf einem Blatt Papier herum. Irgendwie half mir das, meine Gedanken zu sortieren. Hin und wieder hob ich den Kopf, um einen Blick auf meinen Mathelehrer zu werfen. Ich hoffte, dass ich damit interessiert wirkte. Doch er beachtete mich nicht weiter. Ich war froh, dass er mir offenbar ein bisschen Zeit ließ, um anzukommen. Er wusste von meiner Zeit in den USA, und er kannte den Grund für meine Rückkehr.

Vor vier Jahren hatte ich mich als sechzehnjährige Gymnasiastin dazu entschlossen, ein Austauschschuljahr in den USA zu verbringen. Ich galt schon damals als großes Talent im Rudern, und so wurde ich an einer High School in Connecticut aufgenommen, die bekannt war für ihr hervorragendes Ruderteam. Die Schule hatte schon etliche spätere Weltmeister und Olympiasieger hervorgebracht. Es war der Sprung ins kalte Wasser gewesen. Ich hatte niemanden gekannt, die Sprache schlecht gesprochen und praktisch Tag und Nacht trainieren müssen.

In den ersten Wochen hatte ich täglich mehrmals meine Mutter angerufen und ins Telefon geheult. Ich hätte mich am liebsten sofort ins Flugzeug gesetzt, um wieder nach Hause zu fliegen. Auch wenn ich mich nicht mehr so richtig daran erinnerte, was den Ausschlag gegeben hatte: Plötzlich hatte ich mich immer wohler gefühlt. Meine Gasteltern waren so sympathisch gewesen, sie hatten sich liebevoll um mich gekümmert. Und irgendwann hatte ich Schmetterlinge im Bauch gehabt, wenn ich Chris gesehen hatte, meinen Kumpel aus dem Ruderteam. Ich hatte mich verliebt.

Chris hatte mir das Leben anfangs ganz schön schwer gemacht. Er war ein typischer Sonnyboy, der Schwarm aller Mädels an der Schule. Und ich war die schüchterne Schweizerin, die kaum Englisch sprach. Doch wir hatten eine gemeinsame Leidenschaft: das Rudern. Niemand an der Schule war so gut gewesen wie er. Außer ich. Das hatte ihn beeindruckt, und so waren wir uns immer nähergekommen.

Chris war meine erste große Liebe. Ihn zu verlassen und in die Schweiz zurückzukehren hatte mir das Herz gebrochen. Es war keine Trennung gewesen. Wir hatten vielmehr beschlossen, eine Fernbeziehung zu versuchen. Er wollte mich bald besuchen. Doch es würde schwierig werden, das spürte ich schon jetzt.

 

Das war sie also. Hanna Caminada, seine neue Schülerin. Nachdem er den Boden aufgewischt hatte, war er zur Tafel zurückgekehrt. Er setzte sich auf seinen Schreibtisch und ließ die Schüler eine Aufgabe lösen, damit er einen kurzen Augenblick nachdenken konnte.

Er war schon sehr gespannt auf sie gewesen. Er wusste, dass sie aus den USA zurückgekommen war. Er hatte sich auf eine etwas freche, vorlaute junge Frau eingestellt. In den USA war alles lauter, extremer, mehr. Doch Hanna wirkte eher scheu und zurückhaltend, zudem war sie offensichtlich ein bisschen tollpatschig. Aber insgesamt nicht unsympathisch. Er fragte sich, ob sie wirklich so wenig von Mathematik verstand, wie sie vorgab. Er wusste, dass es für sie beide ein spezielles Jahr werden würde. Als er erfahren hatte, dass er sie unterrichten sollte, hatte er sich aufgrund ihres Hintergrunds einige Tage Bedenkzeit erbeten. Dann aber hatte er zugestimmt. Denn er war neugierig gewesen auf sie und ihr Talent.

Er bemerkte, dass sie ihn beobachtete und schaute ihr in die Augen. Sie wurde verlegen und senkte den Blick. Hanna Caminada. Die Spitzenruderin. Er stand auf und machte sich bereit, mit den Schülern die Gleichung zu lösen.

Kapitel 2

Kurz nach Schulschluss an diesem ersten Tag hatte ich auch mein erstes Training in meinem neuen Klub. Mir war schon klar, dass ich nicht immer erst am Nachmittag da auftauchen konnte, doch an diesem Tag hatte ich noch Schonfrist. Ich schleppte meinen schweren Rucksack auf dem Fahrrad mit und fluchte innerlich. Ich hatte vergessen, dass es an Schweizer Schulen keine Spinde gab, in denen man bequem seinen Kram verstauen konnte. Eine Tatsache, die ich wohl nie verstehen würde. Na ja, dafür gab es auch keine mit Knarren bewaffneten Sicherheitstypen vor den Schulhaustüren. Es war eben ein anderes Leben hier. Das wurde mir immer mehr bewusst.

Ich hatte mir den Weg zuvor herausgesucht, damit ich den Klub auch sofort fand. Ich hatte das Gebäude vorher noch nie gesehen, die Verhandlungen waren alle via E-Mail und Skype erfolgt. Überhaupt hatte ich seit der Rückkehr aus den Staaten in keinem Ruderboot mehr gesessen. Die Zeit bei meiner Familie und der Umzug hatten mich komplett eingenommen. Wenn es möglich war, war ich eine Runde laufen gegangen oder hatte mich aufs Fahrrad gesetzt. Als ich jetzt vor diesem altehrwürdigen Gebäude stand, hatte ich plötzlich Angst, alles verlernt zu haben. Obwohl dieser Gedanke absurd war.

Es war beeindruckend. Das Haus befand sich ein kleines Stück außerhalb Zürichs direkt am See. Ich kannte die Stadt noch nicht wirklich, war nur einige wenige Male als Kind hier gewesen. Das zweistöckige Klubhaus glich ein bisschen einer herrschaftlichen Villa und hatte natürlich einen direkten Seezugang. Auf der linken Seite befand sich eine Art Lagerschuppen, darin wurden offensichtlich die Boote und Ruder aufbewahrt. Durch ein riesiges Tor an der Rückseite konnten die Boote direkt in den See gehievt werden.

Ich bewegte mich, auf der Suche nach meinem neuen Coach, Philipp, vorsichtig durch das Gebäude. Auf der unteren Etage befand sich ein ziemlich geräumiges Fitnessstudio.

Ich trat durch die Tür und blickte mich um. Ich sah vor allem viele Ruderergometer, also Rudergeräte, mit denen man auf dem Trockenen trainieren konnte. Dann standen da Laufbänder und Fahrräder, und es gab diverse Kraftgeräte und Hanteln. Laute Musik dröhnte durch den Raum, während einige wenige Männer und eine Frau ihr Training absolvierten. Ein großer Mann kam auf mich zu, und ich erkannte den Typ, den ich gesucht hatte. Philipp. Wir hatten uns einige Male per Skype unterhalten, und er war mir auf Anhieb sympathisch gewesen.

»Hallo, Hanna, schön, dass du endlich da bist«, schrie er mir zu, in der Hoffnung, die lauten Bässe zu übertönen.

Philipp war dreiundvierzig Jahre alt und der Cheftrainer des Klubs. Er war früher selbst ein hervorragender Ruderer gewesen. Wie alle, die auf hohem Niveau ruderten, war Philipp ziemlich groß. Er sah südländisch aus, war braun gebrannt und hatte schwarze Haare mit einigen grauen Strähnen an den Schläfen sowie einen dichten grauen Bart. Seine Sportlichkeit hatte mein neuer Coach sich bewahrt: Er wirkte noch immer sehr athletisch und trug einen schwarzen Trainingsanzug mit dem Logo des Klubs auf der Brust.

»Komm, ich zeige dir alles«, meinte er lächelnd. Er stellte mir meine neuen Kollegen vor, die im Kraftraum trainierten. »Bald steht ein Ergometertest an«, erklärte mir Philipp. Das sei der Grund, warum die Athleten trotz bestem Wetter hier drinnen waren und nicht draußen auf dem See. »Die meisten Sportler werden jedoch erst am Abend wieder herkommen. Sie arbeiten oder studieren.«

Es gab einige Mitglieder der Nationalmannschaft, die hier in Zürich trainierten, obwohl sich das nationale Leistungszentrum in der Innerschweiz befand. Doch dort waren die Möglichkeiten zu arbeiten oder zu studieren viel geringer, und deshalb konnten einige Leistungssportler in Zürich trainieren, mussten jedoch auch Termine der Nationalmannschaft wahrnehmen. Diese Regelung betraf auch mich.

Neben dem Kraftraum lagen die beiden Garderoben sowie ein Büro. Daneben gab es eine kleine Kammer mit einer Liege, die als Behandlungsraum für die Physiotherapie diente. Über eine alte, morsche Treppe ging es nach oben in den ersten Stock. An den Wänden über der Treppe hingen Dutzende Fotos, welche die Geschichte des Klubs und die größten Erfolge aufzeigten. Ich verweilte eine Weile vor den Bildern, und Philipp erklärte mir bei einigen, in welchem Jahr sie gemacht worden waren oder welche Helden sie zeigten. Ein Mann in einem Skiff kam mir seltsam bekannt vor, doch ich wusste nicht, wer er war, und dachte nicht weiter darüber nach.

Im oberen Stock gab es eine Lounge mit Tischen, Sesseln und einem gemütlichen Sofa sowie ein kleines Restaurant oder Café. Automaten mit Getränken und einigen Snacks komplettierten die Wohlfühlatmosphäre.

»Hier kann man auch richtig essen«, meinte Philipp. »Wir haben ein Catering, das Frühstück oder Abendessen für die Sportler zubereitet.«

An einer Wand stand eine riesige Vitrine – darin befanden sich unzählige Pokale und Medaillen. Der ganze Stolz meines neuen Klubs, die Erfolge aus der vergangenen Zeit.

»Komm«, sagte Philipp und führte mich zu der Lounge. »Lass uns mal deine Trainingspläne anschauen.« Er bedeutete mir, mich auf die Couch zu setzen, ging nach unten und kam kurze Zeit später mit einer Mappe und zwei Flaschen Wasser zurück. In der Mappe befanden sich die Zettel mit meinen Plänen.

Ich war ein wenig überrascht. Das Trainingsprogramm unterschied sich nicht wesentlich von dem in den USA. Ich hätte gedacht, auf Leistungssportniveau würde noch härter trainiert. Auf der anderen Seite war ich froh, weil ich ein solches Pensum nebst Schule bereits gewohnt war. An einigen Tagen musste ich drei Trainingseinheiten absolvieren – die erste noch vor Schulbeginn. Das Training bestand aus Rudern, Kraftübungen und Ausdauersport wie Laufen oder Radfahren.

»Es ist viel, aber du wirst dich daran gewöhnen. Ich werde dich am Anfang begleiten, damit du alles kennenlernst und die Übungen korrekt machst. Danach wirst du auch allein trainieren – dann kannst du selbst wählen, um welche Zeit du was machen möchtest. Ich habe auch zwei Assistenztrainer hier, die dich mal auf den See begleiten oder dich anleiten können, okay?«

Ich nickte. »Ich habe in Amerika nicht weniger trainiert.«

Er grinste. »Gut zu hören, dann wird es für dich kein Sprung ins kalte Wasser. Zieh dich mal um, dann legen wir gleich los.«

 

Einige Tage später fühlte ich mich – was das Rudern anbelangte – tatsächlich bereits angekommen. Ein See war ein See, und ein Skiff war ein Skiff. Egal, ob in Amerika oder in der Schweiz. An das frühe Aufstehen würde ich mich wohl nicht gewöhnen, doch das war nie anders gewesen. Manchmal war ich bereits um sechs Uhr auf dem See oder im Kraftraum. Doch ich hatte einen Traum, auch wenn ich mich deswegen manchmal selbst für ziemlich übergeschnappt hielt: Ich wollte zu den Olympischen Spielen. Und dafür musste ich eben einiges in Kauf nehmen. Der Sport half mir auch dabei, nicht durchzudrehen. Denn außerhalb des Trainings fiel mir die kulturelle Umstellung wahnsinnig schwer.

Ich erinnerte mich daran, wie lebendig mein Leben in den USA gewesen war. Wir waren immer eine große Gruppe gewesen, die um die Häuser zog, ins Kino ging, Partys feierte. Hier fühlte ich mich oft einsam. Ich war sehr eingespannt, und es fehlte mir die Zeit, neue Kontakte zu knüpfen. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass ich vor allem in meiner Klasse noch immer etwas kritisch beäugt wurde. Und ich war eher schüchtern, was in dieser Situation auch nicht half.

Eine Dreiviertelstunde auf dem Laufband hatte mir Philipp für diesen Abend verordnet. Obwohl das Training auf dem Band fixer Bestandteil meines Gesamttrainings war, wurde ich nie warm damit. Und das meinte ich nicht körperlich. Ich schwitzte wie verrückt. Doch ich hasste das Laufen. Und wenn ich schon joggen musste, tat ich es lieber draußen in der Natur. Doch das war für die Gelenke zu gefährlich, so musste ich mich mit dem Band begnügen. Die laute Musik dröhnte aus den Boxen, und ich verfluchte insgeheim meine männlichen Ruderkollegen, die diese Bässe brauchten, um auf Touren zu kommen. Bei mir verursachten sie eher so etwas wie Kopfweh.

Ich lief seit einigen Minuten, als ich eine große Gestalt von den Garderoben her auf mich zukommen sah. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Da sie eine schwarze Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen hatte, erkannte ich nicht sofort, um wen es sich handelte.

»Hallo, Hanna«, sagte die Person, als sie vor mir stand, und grinste unter der Kappe hervor. »Ich war schon gespannt, wann ich Sie hier treffen würde. Denn das ließ sich kaum vermeiden.«

Jetzt erkannte ich ihn. Simon Gruber. Mein Mathelehrer. Was zum Teufel machte der hier? »Was zum Teufel machen Sie hier?«, entfuhr es mir.

Er sah ganz anders aus. Er trug keine Brille, und die Hose seines Trainingsanzugs mit dem Klub-Logo hatte eine vernünftige Länge. Sein Outfit brachte seinen trainierten Körper noch mehr zum Vorschein, und er sah richtig gut aus. Ich musste ziemlich verdattert aus der Wäsche geschaut haben. Beinahe wäre ich vom Laufband gepurzelt. Da ich mich nicht schon wieder blamieren wollte, reduzierte ich die Geschwindigkeit des Bandes. Gruber grinste, sagte aber nichts. Stattdessen stellte er sich auf das Laufband direkt neben mir und begann zu laufen.

»Ich rudere auch hier im Klub.« Er schrie gegen die Musik an.

Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen, dachte ich ironisch. Warum sonst sollte er sich denn hier rumtreiben? Und wie mir plötzlich bewusst wurde, machte das mit seiner enormen Größe auch Sinn. Er sah tatsächlich aus wie ein typischer Ruderer.

»Sie sind die erste Schülerin, die auch hier trainiert«, erklärte er weiter. »Und Sie sind deutlich besser als ich. Das wird hart für mich.«

»Haben Sie das gewusst?«

»Dass Sie besser sind?«

»Quatsch. Dass ich überhaupt hier trainiere.«

»Ja, ich wurde informiert darüber, dass eine talentierte Spitzenruderin ein Jahr in meiner Klasse absolvieren würde. Ich war ein bisschen skeptisch, weil ich ja selbst hier trainiere. Aber ich dachte, es ist ja nur ein Jahr, und das wird schon klappen. Und ich war neugierig auf Sie, weil Sie die gleiche Leidenschaft haben wie ich. Es könnte also interessant werden. Vor allem, wenn Sie wirklich so wenig von Mathe verstehen, wie Sie vorgeben.«

Ich seufzte und murmelte: »Noch viel weniger.«

Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her.

»Seit wann rudern Sie denn?«, wollte ich wissen, nachdem ich meinen Schreck überwunden hatte. In den Staaten war es mehr oder weniger normal gewesen, dass sich der Wrestling-Coach nachmittags mit den Schülern auf der Matte wälzte und am nächsten Morgen vor der Klasse Geschichte unterrichtete. Auch mein Rudertrainer an der Highschool hatte Englisch unterrichtet. Ich war nur einfach nie in seiner Klasse gewesen. Aber hier hätte ich nicht damit gerechnet. Vor allem deswegen nicht, weil der Ruderklub nicht wie in den USA an die Schule angegliedert war. Doch irgendwie gefiel mir die Vorstellung. Sie brachte mich dem, was ich in den letzten Jahren erlebt hatte und was ich schmerzlich vermisste, wieder ein bisschen näher.

»Schon sehr lange, deutlich länger als Sie«, sagte er nach einer Weile.

Mir fiel schon dieses Siezen unglaublich schwer. Das Englische You war so viel praktischer.

»Wissen Sie, ich war auch mal so was wie ein Talent. Leider habe ich mir dann bei einem Skiunfall mein Knie ruiniert, sodass es mit dem Leistungssport vorbei war.« Er zuckte mit den Schultern, lief aber weiter. In einem horrenden Tempo, wie ich feststellen konnte.

Ich fühlte mich wie eine alte Dampflok neben ihm. Sein kaputtes Knie schien ihn nicht davon abzuhalten, sich so fit wie möglich zu halten. »Das tut mir leid.« Ja, er wäre ein guter Ruderer geworden, dachte ich, als ich einmal mehr an ihm hochblickte. Ich war auch nicht eben klein, doch er überragte mich um beinahe einen Kopf.

»Das ist schon okay. Am Anfang war es schwierig, aber heute denke ich, dass es so hat kommen müssen. Mein Traum wäre gewesen, einmal an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Es macht mich etwas traurig, dass das nicht geklappt hat. Aber sonst hadere ich nicht mehr damit.«

»Warum, um Himmels willen, sind Sie dann auf die absurde Idee gekommen, stattdessen ausgerechnet Mathe zu studieren?«

Er lachte laut auf. »Ich habe nicht Mathe studiert, sondern Physik.«

»Noch schlimmer«, murmelte ich. Er schien es verstanden zu haben und lachte erneut.

»Ich hatte mir schon gedacht, dass mir der Lehrerjob Spaß machen könnte. Schon mein Vater war Lehrer, wissen Sie.« Er schaute mich an. »Warum haben Sie so eine Abneigung gegen diese Fächer?«

»Ich weiß nicht. Eigentlich war ich mal echt gut in Mathe. Dann bekam ich einen Lehrer, der mir jegliche Freude daran genommen hat. In den USA verstand ich zunächst nichts wegen der Sprache, und dann war der Zug abgefahren. Und im letzten Jahr hatte ich gar keine Mathe mehr. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das schaffen soll.«

»Wie ist es denn dazu gekommen, dass Sie hier ein Jahr ›nachsitzen‹ müssen?«

»Ach, das ist eine lange Geschichte.«

»Sie haben ja noch ein paar Minuten auf dem Laufband, oder?« Dann wandte er sich Philipp zu, der soeben in den Kraftraum trat. Er schrie: »Philipp, mach mal diese Musik leiser. Da kriegt man ja Kopfschmerzen.«

Philipp, der offensichtlich nichts davon verstanden hatte, zuckte mit den Achseln. Gruber machte eine Handbewegung, als würde er an einem Knopf drehen. Dann fasste er sich an die Ohren. Philipp nickte, ging zum Radio, und tatsächlich war der Spuk kurz darauf vorbei. Ich atmete auf.

»Mögen Sie auch keine laute Musik?«, fragte er mich.

»Kopfschmerzen trifft es ganz gut«, erwiderte ich, erleichtert, endlich in einer normalen Tonlage sprechen zu können.

»Mögen Sie auch keine Laufbänder?«, fragte er weiter.

»Hören Sie bloß auf.«

»Schlimmer als Mathe?« Er grinste wieder.

»Na ja, ich bin mehr der Naturtyp, wissen Sie. Ich laufe lieber den See entlang als hier auf dem ollen Band.«

»Das kann ich verstehen, das geht mir ähnlich.«

»Warum gehen Sie denn nicht raus? Sie werden wohl kaum von einem Coach befehligt, der Ihnen sagt, was Sie zu tun haben, oder?«

Er lachte. »Ich habe mich schon gefreut, Sie mal hier zu treffen und mich ein bisschen mit Ihnen zu unterhalten. Deshalb das Laufband. Normalerweise laufe ich draußen. Aber ja, Philipp kann einen ganz schön triezen.«

»Sie kennen seine Methoden?«

»Er war auch mein Coach – vor dem Unfall. Danach hat er monatelang auf mich eingeredet, damit ich mich endlich wieder in ein Ruderboot setze. Aber lenken Sie jetzt nicht ab. Ich würde wirklich gern mehr über Ihren USA-Aufenthalt und die Rückkehr erfahren.«

Mich wiederum interessierte die Geschichte zu seinem Unfall. Doch er war mein Lehrer, und ich fand, wenn er es mir nicht erzählen wollte, ging es mich auch nichts an. »Na ja, eigentlich sollte es einfach ein Austauschjahr an der Highschool werden. Da ich dort super Trainingsbedingungen hatte, sind daraus drei Jahre geworden. Dann habe ich noch ein Jahr College angehängt. Und dann kam das Angebot des Schweizer Ruderverbands, mich ins Nationalkader aufzunehmen. Ich hatte also die Wahl, in den USA eine unter vielen zu sein oder es in der Schweiz an die Spitze zu schaffen und vielleicht sogar an einer WM oder so teilnehmen zu können. Leider hat das eine Jahr am College für eine direkte Zulassung zur Uni nicht ausgereicht. So bin ich bei Ihnen gelandet.«

»Wie ist es jetzt für Sie, wieder hier zu sein?«

Ich seufzte. Er schien wohl zu spüren, wie sehr ich damit haderte. »Es ist schon schwierig, das muss ich zugeben.«

»Warum?«

»Weil ich einfach ein anderes Leben gewohnt bin. Dort ist alles so leicht, locker. Hier ist es irgendwie steifer. Außerdem fange ich schon wieder bei null an. Als ich damals in Connecticut angekommen bin, kannte ich niemanden, und ich musste mir alles von Neuem aufbauen. Und jetzt geht es mir schon wieder so. Manchmal denke ich, ich habe mit der Rückkehr einen Fehler gemacht. Auch meine Familie ist weit weg.«

»Sind Sie ganz allein hier?«

»Nein, ich habe eine WG mit meiner besten Freundin von früher, die hier in der Stadt studiert. Darüber bin ich sehr froh, ohne sie würde es mir bestimmt noch schwerer fallen.«

»Was vermissen Sie denn?«

»Einfach alles. Meine Freunde, meinen Freund Chris, meine Gastfamilie, das College, sogar das Training. Obwohl es nicht weniger anstrengend war als hier. Vielleicht auch ein bisschen den ›American way of life‹. Hier ist irgendwie alles so … spießig.« Letzteres war mir rausgerutscht und sofort peinlich. Gruber lachte, und ich war froh, dass ich vom Laufen schon ziemlich rot war. »Sorry«, meinte ich.

»Kein Problem. Wahrscheinlich haben Sie sogar recht. Wenn Sie jetzt schon wieder hier sind – und wohl auch bleiben –, wie soll es denn weitergehen? Was sind die Ziele?«

»Na ja, mein Traum wäre natürlich eine Weltmeisterschaft oder sogar Olympia. Think big! Das war immer das Motto am College. Natürlich habe ich diesen Traum. Ich würde lügen, wenn es anders wäre. Auch wenn es mir ein bisschen peinlich ist, das so offen zu sagen.« Ich grinste. »Und ich möchte natürlich gern auch studieren.«

»Ich nehme mal an, ein Mathematikstudium soll es nicht werden?«

Jetzt musste ich lachen und wäre wieder fast vom Laufband gefallen. Noch acht Minuten, dann hatte ich es geschafft. Simon Gruber war mir sympathisch. Obwohl ich seine Faszination für Mathematik und Physik wirklich nicht verstehen konnte.

»Nein danke. Eher eine Sprache. Oder Geschichte. Oder vielleicht sogar Sport. In den USA habe ich Englisch studiert. Das wäre vielleicht was, zumal ich es ja eigentlich fließend kann.«

»Sie müssen ja nicht mehr alle Fächer am Gymnasium besuchen, oder?«

»Nein, einige kann ich abwählen. Bio oder Chemie. Und auch Englisch kann ich mir schenken. Da bin ich froh, weil ich so mehr Zeit fürs Training habe. Aber Mathe und Physik, das wird wirklich hart.«

»Gehen Sie einfach positiv ran, Hanna, und haben Sie keine Angst. Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann. Ich möchte ja nicht eine künftige Olympiasiegerin durch die Maturaklausur fallen sehen.« Er grinste mich an.

Ich wurde ein bisschen wehmütig beim Gedanken an mögliche Spiele. Dafür hatte ich mein Leben in den USA aufgegeben. War es richtig gewesen? Ich schwieg eine Weile, dann piepste mein Laufband. Die 45 Minuten waren um. Ich drückte auf den Knopf. Das Band wurde langsamer und stoppte schließlich ganz. Ich stieg herunter.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe. Einen schönen Abend«, sagte ich und ging zum Kraftraum, wo Teil zwei meines Trainings und Philipp auf mich warteten.

Kapitel 3

Nach diesem Abend sah ich Simon Gruber eine ganze Weile nur aus der Ferne, wenn er andere Ruderer betreute – oder im Unterricht. Er trainierte nicht nur im Klub – er war einer von Philipps zwei Assistenztrainern. Das hatte ich kurz nach dem Gespräch auf dem Laufband herausgefunden. In der Schule behandelte er mich wie alle anderen auch. Nur weil wir den gleichen Traum hatten – oder gehabt hatten – machte mich das ja nicht zu einem speziellen Menschen. Außerdem war diese Doppelrolle für mich nichts Außergewöhnliches, sondern vielmehr ganz normal. Ich wurde jedoch weiterhin nicht warm mit seiner Materie und setzte dementsprechend auch die erste Prüfung gründlich in den Sand. Ich bekam eine Zwei, in der Schweiz eine eher bescheidene Bewertung. Ich hatte das Gefühl, dass er mich etwas betrübt ansah, als er mir das Prüfungsblatt mit der Note überreichte und meinte: »Schauen Sie sich die Aufgaben noch einmal genau an, Hanna.«

 

»’ne Zwei«, brüllte ich wütend und schmiss das Blatt auf den Boden.

»Was ist los?«, wollte Laura wissen. Sie war meine beste Freundin und Mitbewohnerin. Als sie erfahren hatte, dass ich in die Schweiz zurückkehren und in Zürich trainieren und später studieren würde, war sie ganz aus dem Häuschen gewesen und hatte mir sofort die Idee mit der WG vorgeschlagen. Laura hatte die Matura bereits in der Tasche und befand sich in ihrem ersten Jahr an der Uni. Sie war gleich alt wie ich, doch ihr Status als Studentin führte dazu, dass sich mich bisweilen ein bisschen bemutterte. Ich war so froh darüber, sie hier an meiner Seite zu haben.

»Er hat mir eine Zwei gegeben.«

»Wer? Wo?«

»Na, der Gruber in dem Mathetest.«

»Zeig mal.« Laura nahm die Zettel und schaute sie genau an. »Viel mehr ist das aber auch nicht wert«, meinte sie dann zähneknirschend.

Ich riss ihr die Blätter aus der Hand, jammerte ein seufzendes »Na danke!« und ließ mich aufs Sofa fallen. »Und was mache ich jetzt? Das schaff ich doch nie … Ehrlich gesagt sind die paar Punkte, die ich geholt habe, auch nur Zufall.«

»Ich würde dir gern helfen, aber so richtig erklären kann ich dir das auch nicht. Schon mal überlegt, Nachhilfe zu nehmen?«

»Wahrscheinlich muss ich das, du hast recht.« Ich seufzte. »Vier Wochen sind schon um. Und ich stehe noch genauso unten am Berg wie am Anfang.« Ich stand auf und packte die Zettel zurück in meinen Rucksack. »Wenigstens brauche ich die Tests nicht von meinen Eltern unterschreiben lassen. Ich muss jetzt ins Training.«

Laura grinste. »Wenn du Olympiasiegerin wirst, brauchst du eh keine Matura.«

Ich schnappte mir ein Kissen und schleuderte es gegen meine Freundin. Sie lachte und warf es zurück. »Du kannst froh sein, dass du den ganzen Quatsch hinter dir hast«, sagte ich und verließ das Wohnzimmer.

 

Wenige Minuten später ruderte ich wie eine Irre über den See. Mit Wut im Bauch fuhr es sich gleich viel schneller. Rund achtzehn Kilometer lang war meine Trainingsstrecke, dafür brauchte ich normalerweise etwas weniger als neunzig Minuten.

Es waren an diesem Abend einige Boote auf dem Wasser. Die Junioren hatten Training, und einige der anderen Leistungssportler absolvierten ebenfalls ihr Pensum. Der Klub hatte ein kleines Team von Halbprofis vorzuweisen, die meisten waren Männer. Frauen waren praktisch keine vorhanden und wenn, ruderten sie allenfalls hobbymäßig.

Die größten Chancen auf einen Platz an der Weltspitze hatte der Leichtgewichts-Vierer der Männer. Die Jungs waren echt okay, und wir gingen hin und wieder nach dem Training noch auf einen Drink. Nicht allzu oft – am nächsten Morgen saßen die meisten von uns wieder um sechs Uhr im Boot auf dem See. Zu viert waren sie wesentlich schneller unterwegs als ich, deshalb spulten sie in der Regel einige Kilometer mehr ab. Ich würde also etwas früher fertig sein. Wenn Philipp nicht vorhatte, mich noch im Kraftraum zu quälen, würde es einen zeitigen Feierabend für mich geben.

Ich war beinahe wieder zurück beim Klubhaus, als mir ein Boot mit einem einzelnen Ruderer entgegenkam. Dieses Mal erkannte ich ihn sofort. Simon Gruber. Ich funkelte ihn böse an, während er lächelte.

»Hallo, Hanna«, rief er mir zu. Ich wollte schnurstracks an ihm vorbeirudern und aussteigen, doch er stoppte mit seinem Ruder mein Boot.

Ich hätte ihm meins gern über den Schädel gezogen, doch ich hielt mich zurück.

»Vorschlag: Sie begleiten mich durch das Seebecken, und ich erkläre Ihnen die Aufgaben aus der Prüfung noch einmal.«

»Ich bin schon achtzehn Kilometer gerudert«, erwiderte ich leicht säuerlich.

»Kommen Sie. Es könnte Ihnen schließlich helfen. Ich wollte Ihnen ganz bestimmt keine schlechte Note geben. Mehr war einfach nicht drin.«

»Wenn ich jetzt noch einmal so weit rudere, kann ich morgen keinen Stift mehr halten.«

»Na gut, dann rudern wir eben gemütlich bis Höhe Bürkliplatz und wieder zurück.«

Ich seufzte und setzte die Ruder ins Wasser. Das Training war wichtig. Doch die Schule war es leider auch.

»Wollen wir uns im Training duzen?«, fragte er mich.

Das kam überraschend. Zumal ich mich doch so langsam an die Siezerei gewöhnt hatte. »Nur hier im Klub. Wir können ja auch nicht zum Sommerfest gehen und uns siezen, während alle anderen du sagen. Ich bin Simon.« Er winkte mir zu.

»Hanna«, sagte ich, noch immer etwas verstimmt. Ich ruderte zerknirscht neben ihm her, während er mir die erste Aufgabe des Tests zu erklären versuchte. Hin und wieder stellte er mir eine Frage, doch ich hatte keinen Plan.

»Komm, wir drehen um«, meinte er nach einer Weile.

»Wir sind noch nicht beim Bürkliplatz.«

»Aber wir brauchen einen Zettel, sonst wird das nichts.« Er drehte sein Boot, und ich folgte ihm mürrisch. Ich konnte mir nichts Furchtbareres vorstellen, als den kurzen Rest meines Tages mit Mathe zu verbringen, doch da musste ich jetzt wohl durch.

Als wir im Klubhaus ankamen, schnappte sich Simon eine Flasche Wasser, die er mir zuwarf, nahm sich selbst eine und holte aus Philipps Büro einen Schreibblock und einen Kugelschreiber. Damit setzten wir uns an einen der Tische im oberen Stockwerk. Aufgabe für Aufgabe kauten wir durch. Manchmal hatte ich das Gefühl zu verstehen, was er meinte, doch ich befürchtete, es sofort wieder zu vergessen, sobald er weg war.

Wenigstens war er ein angenehmer Nachhilfelehrer. Er war geduldig, witzig, bisweilen sogar charmant, und er schaffte es, die für mich so schwierige und langweilige Materie einigermaßen interessant zu verpacken – auf jeden Fall interessanter als im Unterricht. Ich hätte gern gewusst, warum er seinen Unterricht nicht ebenso spannend gestalten konnte. Aber wahrscheinlich war es einfacher, den Stoff nur einer Person zu vermitteln als einer ganzen Klasse.

»Wie ist es für dich, noch ein Jahr am Gymnasium zu verbringen, nachdem du ja schon einmal Studentin warst?«, fragte er plötzlich.

Ich erschrak ein bisschen und musste überlegen. »Hm, schon etwas seltsam«, erwiderte ich dann. »Ich meine, die Leute sind wirklich nett. Aber es ist schon schwierig für mich, wieder von vorn oder eben mittendrin anzufangen. Ich bin halt kein Mensch, der auf alle zugeht und ruft: ›Hallo, hier bin ich.‹ Außerdem habe ich zwangsläufig auch ein ganz anderes Leben hier. Schon deshalb, weil ich nicht mehr bei meinen Eltern wohne.« Ich zuckte mit den Achseln. Irgendwie kam ich mir seltsam vor, das so direkt zu sagen. Ich hatte auch noch nie darüber nachgedacht.

»So was habe ich mir schon gedacht«, meinte er.

»Aber es ist ja nur für ein Jahr.«

»Glaubst du, dass die USA dich verändert haben?«

»Wahrscheinlich schon«, erwiderte ich lachend. »Ich habe das Gefühl, ich kann kaum noch einen korrekten deutschen Satz sagen. Auch war die Kultur dort viel offener, und ich habe Mühe, mich hier zurechtzufinden. Manchmal glaube ich, ich mache alles falsch, und alle starren mich verwundert an. Kürzlich hab ich in der Kantine ein Sandwich mit Salat bestellt. Der Typ schaute mich an, als käme ich vom Mars.« Ich lachte, weil Simon mich in diesem Moment kaum anders betrachtete. Ich wollte ihm erklären, dass »Salat« in den USA »gemischt und mit Soße« bedeutete, doch ich kam nicht mehr dazu.

»Simon!« Eine hohe, aber dumpfe Stimme drang durch das Fenster neben der Eingangstür des Klubhauses und unterbrach das Gespräch. Dazu hörte ich ein Klopfen. Wir schauten über die Treppe nach unten. Vor der Tür stand eine Frau mit blonden, etwa schulterlangen Haaren. Sie war um die dreißig Jahre alt, nicht klein, aber deutlich kleiner als ich und ein kleines bisschen untersetzt. Sie war ungeschminkt und hatte ihre Haare zu einem tiefen Pferdeschwanz gebunden. Sie trug eine blaue Jacke und Jeans mit Schlag, dazu schwarze Stiefeletten. Simon lächelte.

»Warte kurz«, sagte er zu mir. Er ging hinunter zur Tür und öffnete sie. Dann küsste er die Frau auf den Mund. »Hallo, Lisa«, sagte er. »Komm rein.«

»Wer ist das?«, fragte Lisa erstaunt.

»Lisa, das ist Hanna. Sie ist meine Schülerin und trainiert auch hier im Klub. Hanna, das ist Lisa, meine Freundin.« Ich streckte Lisa die Hand entgegen, doch sie nahm sie nicht.

»Was macht ihr hier?«, fragte sie sichtlich genervt. Irgendwie wirkte sie eifersüchtig.

»Ich habe ihr die Aufgaben des heutigen Mathetests noch einmal erklärt.«