Sommertage im Tessin | Ein emotionaler Liebesroman über Neuanfänge und den Mut zum Leben - Nadine Gerber - E-Book
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Sommertage im Tessin | Ein emotionaler Liebesroman über Neuanfänge und den Mut zum Leben E-Book

Nadine Gerber

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Beschreibung

Ein mondbeschienener Wasserfall und eine besondere Begegnung – was passiert, wenn das Schicksal dir eine zweite Chance gibt?

Als die junge Gastrojournalistin Ella ins Schweizer Tessin reist, um über charmante Grotti und versteckte Gourmetparadiese zu berichten, ahnt sie nicht, dass sie dabei nicht nur der Magie der Küche begegnet, sondern auch einem ganz besonderen Mann. Zwischen der rauen Schönheit der Tessiner Täler, lauen Sommernächten, einem mondbeschienen Wasserfall und dampfendem Risotto stößt sie auf die Spuren einer alten Liebe – und auf den Beginn von etwas ganz Neuem.

Fast zwanzig Jahre zuvor verliebt sich der junge Koch Niklas im Zürcher Hotelalltag in Onna – eine Frau, die nicht nur seine Welt, sondern auch sein Herz auf den Kopf stellt. Doch das Leben hat andere Pläne …

Erste Leser:innenstimmen
„Das atmosphärische Setting und die emotionale Liebesgeschichte haben mich auch nach dem Lesen nicht mehr losgelassen!“
„Dieser Liebesroman im Schweizer Tessin verwebt die Liebe fürs Essen, wundervolle Romantik und eine dramatische Geschichte.“
„Ellas und Niklas Geschichte war so gefühlvoll und romantisch. Dieser Roman hat so viele Gefühle in mir ausgelöst!“
„Nadine Gerber versteht es, wundervolle Landschaften so zu beschreiben, dass sie direkt vor meinem inneren Auge entstanden sind!“

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Seitenzahl: 427

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses E-Book

Als die junge Gastrojournalistin Ella ins Schweizer Tessin reist, um über charmante Grotti und versteckte Gourmetparadiese zu berichten, ahnt sie nicht, dass sie dabei nicht nur der Magie der Küche begegnet, sondern auch einem ganz besonderen Mann. Zwischen der rauen Schönheit der Tessiner Täler, lauen Sommernächten, einem mondbeschienen Wasserfall und dampfendem Risotto stößt sie auf die Spuren einer alten Liebe – und auf den Beginn von etwas ganz Neuem.

Fast zwanzig Jahre zuvor verliebt sich der junge Koch Niklas im Zürcher Hotelalltag in Onna – eine Frau, die nicht nur seine Welt, sondern auch sein Herz auf den Kopf stellt. Doch das Leben hat andere Pläne …

Impressum

Erstausgabe September 2025

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-865-1 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-940-5

Covergestaltung: Nadine Jindal (nk_Coverdesign) unter Verwendung von Motiven von Adobe Stock: © Rawpixel.com, © Elena Lektorat: Sarah Nierwitzki

E-Book-Version 25.09.2025, 10:15:58.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Kapitel 1

Zürich, im Juni 2005

Ihre tiefe, klare Stimme hallte durch den riesigen Eingangsbereich. Sie sprach nicht laut. Doch es war das einzige Geräusch und so empfand ich es wohl als viel lauter, als es effektiv war. Ihre Stimme nahm mich sofort gefangen. Und nicht nur diese: Auch ihre langen, dichten dunklen Haare, ihr Lachen, die weißen Zähne und das Funkeln ihrer dunklen Augen zogen mich in ihren Bann.

Ich wusste, wer sie war, denn dass sie zu uns stoßen würde, wurde uns angekündigt.

Onna Carisi, die Neue an der Rezeption.

Mein Chef hatte dem Team bereits erzählt, dass Onna aus dem Tessin kommt. Sie wolle in Zürich ihre Deutschkenntnisse verbessern und so hatte sie sich bei uns beworben. Sie kam direkt von der Hotelfachschule. Bei uns … Natürlich gehörte mir das Hotel nicht. Ich absolvierte dort nur meine Ausbildung zum Koch.

Es war ein Fünfsternehotel, nicht weit weg vom Zürichsee, ein paar wenige Meter nur, dort, wo die Limmat aus dem See trat. Ein altehrwürdiges Gebäude mit weißer Fassade, ein roter Teppich führte vom Vorplatz direkt in die Eingangshalle. Der Vorplatz war überdacht, das Dach wurde von weißen Marmorsäulen gehalten. Eigentlich hatte ich in der Eingangshalle, wo sich die Rezeption befand, gar nichts zu suchen. An diesem frühen Morgen waren noch keine Gäste unterwegs und so waren meine Kollegin Daniela und ich aus der Küche geschlichen, um unsere neue Mitarbeiterin bei ihrer Ankunft zu beobachten. Begrüßen durften wir sie ohnehin erst später.

Ich fühlte mich, als wäre ich am Boden festgetackert worden, konnte meinen Blick nicht von der jungen Frau abwenden. Was zum Teufel war nur los mit mir?

„Komm, Niklas, wir müssen weitermachen“, raunte Daniela mir zu. Sie war hier ebenfalls in der Ausbildung zur Köchin – doch während meine in wenigen Wochen zu Ende sein würde, hatte sie noch ein Jahr vor sich.

Daniela bugsierte mich ziemlich unsanft zurück zur Tür, über der ein Schild „Privat“ angebracht war. Die Gäste hatten keinen Zutritt zu den Katakomben des Hotels. Wir mussten zurück ins Untergeschoss, wo sich die große Gastroküche befand, die nötig war, um ein Hotel mit über einhundert Zimmern auf Sterneküchen-Niveau zu versorgen. Daniela hielt ihren Badge an das kleine Lesegerät, ein Summen ertönte, und sie zog die Tür auf.

„Komm jetzt“, bettelte Daniela erneut und zog am Ärmel meiner schwarzen Uniform. „Wir kriegen Ärger, wenn uns der Chef hier sieht.“

Diese Onna … Sie haute mich um. Anders konnte ich es in diesem Augenblick nicht ausdrücken. Ich wandte mich um, um hinter Daniela durch die Tür zu gehen, doch ich konnte nicht widerstehen und warf einen Blick zurück. Ihr neuer Chef, Felix, der die Rezeption unter sich hatte, redete auf Onna ein, während sie konzentriert zuhörte. Doch dann drehte sie ihren Kopf ein kleines bisschen nach rechts.

Ihr Blick traf auf meinen und die Welt stand einen kleinen Augenblick still. Nur Sekundenbruchteile. Und doch war alles anders. Sie lächelte mir zu. Dann fiel die Tür hinter mir ins Schloss.

Kapitel 2

Zürich, im Juni 2024

„Kommst du mal bitte in mein Büro, Ella?“

Ella hob den Kopf und wagte einen Blick in den gläsernen Kasten, den ihr Chef sein Eigen nannte. Er schien nicht sonderlich verärgert zu sein. Im Gegenteil: Er grinste sie an und bedeutete ihr mit dem Zeigfinger, zu ihm zu kommen. Timo hatte den Glaskasten einbauen lassen, um Offenheit und Transparenz im Büro zu demonstrieren. Ella hatte manchmal eher den Eindruck, er wollte sie dadurch überwachen. Der ‚gläserne Sarg‘, wie Ella die Konstruktion gerne nannte, war zudem absolut schalldicht. Es war unmöglich, von draußen zu hören, was drinnen gesprochen wurde, wenn die Tür zu war. In diesem Augenblick aber war sie offen und Ella erhob sich, um der Aufforderung nachzukommen.

Das Großraumbüro befand sich im Westen Zürichs. Hier hatte vor einigen Jahren eine Aufwertung stattgefunden – moderne Bürogebäude, Hochhäuser, szenige Restaurants oder Kinokomplexe waren gebaut worden. Eine neue Tramlinie half, die vielen Pendler in das Quartier zu transportieren. Ella war traurig gewesen, als sie vor zwei Jahren ihr altes Büro in der Innenstadt hatte verlassen müssen. Der Verlag hatte sämtliche Publikationen in einem Gebäude unterbringen wollen und deshalb zwei Etagen in einem der neuen, auf Ella trist wirkenden, Hochhäusern angemietet. Sie hatte all die kleinen Boutiquen und Cafés an ihrem alten Standort vermisst. Inzwischen hatte sie sich an das Großstadtflair, das Zürich West ihr bot, gewöhnt. Ihr Arbeitsweg war länger geworden, doch er war mit dem öffentlichen Verkehr oder auch dem Fahrrad, welches Ella meistens nutzte, um in ihr Büro zu gelangen, problemlos machbar. Es gab eine Kantine, mit günstigen und gesunden, reichhaltigen Speisen. So brauchte sie all die Angebote um sie herum gar nicht, was zum einen Geld sparte und sie zum anderen auf ihre Aufgaben fokussieren ließ – immerhin hatte sie beruflich mehr als genug mit Speisen und Menüs zu tun.

Ella liebte ihren Job. Es war nur ein kleines Team von fünf Leuten, die das bisher populärste Gastro-Magazin der Schweiz mit spannenden Inhalten befüllten. Ein Großteil ihrer Aufgaben bestand darin, Restaurants, Hotels, Köche, Küchen zu testen und dann darüber zu berichten. Allerdings spürte das Team seit geraumer Zeit, dass das Magazin an Leserschaft verlor. Die Abozahlen waren rückläufig und auch Werbeanzeigen wurden weniger und weniger. Immer mehr Gastrobetriebe, Köche oder auch einfach Kochbegeisterte konsumierten die gleichen Inhalte auf Gratis-Blogs oder Social Media. Es wurde deshalb immer schwieriger, noch Kunden für Inserate zu gewinnen.

Timo deutete mit seiner Hand auf den freien Sessel auf der ihm gegenüberliegenden Seite seines Pultes. Ella konnte den Kopf ihres Chefs geradeso über dem Computerbildschirm erkennen. Timo war Mitte vierzig, doch seine hellen Haare waren bereits schüttern und zierten fast nur noch als Kranz die Seiten seines Kopfes. Ella wurde manchmal nicht so ganz schlau aus ihrem Boss, wenngleich sie ihn im Grunde mochte. Er setzte großes Vertrauen in sie und ihre Fähigkeiten und teilte ihr immer wieder spannende und verantwortungsvolle Aufgaben zu. Doch er konnte auch sehr harsch und abweisend sein. Wenn jemand einen Auftrag in seinen Augen nicht gut umsetzte, konnte er sich mitten in das Großraumbüro stellen und diesen in Anwesenheit aller anderen lauthals ausschimpfen. Obwohl sich Ella und ihre Teamkollegen vor diesen Ausbrüchen fürchteten, so waren sie doch auch oft der Running Gag im Team.

Ella setzte sich auf den Stuhl und strich mit einer Handbewegung den dunklen Stoff ihrer Hose glatt. Sie hasste es, wenn ihre Kleidung Falten schlug. Sie trug eine weit geschnittene Hose in Dunkelblau mit einem passenden Blazer, dazu weiße Sneaker und ein farblich darauf abgestimmtes Shirt.

Timo drehte den Bildschirm seines Computers in Ellas Richtung.

„Schau“, forderte er sie auf. Ella starrte gebannt auf den Bildschirm. ‚Ticino‘ stand dort in großen Lettern, der gesamte Text war Italienisch.

„Ja?“, fragte sie erwartungsvoll. Anhand der geöffneten Webseite konnte sie sich kein Bild der Lage machen.

„Tessin Tourismus hat uns eingeladen, ein paar Wochen im Kanton zu verbringen und ein paar richtig gute Hotels, Restaurants und Grotti zu testen. Ich dachte, das wäre was für dich …“

„Oh“, machte Ella, während es in ihrem Kopf zu rattern begann. Das klang wahrlich interessant. Raus aus Zürich, ins mediterrane Tessin. Und das für mehrere Wochen. Sie dachte unvermittelt an Christian. Hatte sie ihn doch erst vor ein paar Wochen kennengelernt und die Zeit mit ihm, wenn sie sie denn mal zusammen verbrachten, war neu und aufregend. Würde ihre zarte Bande ein paar Wochen weit weg überstehen? Eigentlich sollte ihr das egal sein – schließlich ging es hier um sie und um einen tollen Auftrag. Da sollte sie nicht als Erstes an einen Mann denken.

Es kam immer wieder vor, dass sie für ihren Job verreisen musste – allerdings selten länger als zwei, drei Tage. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es nicht gut war, jetzt auf Distanz zu gehen. Noch war sie nicht seine Nummer eins, noch rief er nicht sie an, wenn er Probleme hatte. Noch wartete sie auf Zeichen von ihm, dass er Lust hatte, sie zu sehen. Lust, wie sie hatte, ihn zu sehen. Nicht erst einmal hatte sie sich gefragt, warum es so schwierig war, eine Beziehung zu beginnen. Warum man sich nicht einfach verlieben konnte und dann war alles klar. Sie hatte immer den Eindruck, dass jemand, der sie gern hatte, sich gerne meldete, den Wunsch hatte, sie zu treffen. Bei Christian ging fast alles von ihr aus. Und doch sagte er immer wieder zu. Er brauchte wohl einfach Zeit. Zeit, die sie nicht hatte, wenn sie in wenigen Wochen für eine Ewigkeit ins Tessin verschwand. Andererseits, womöglich würde er sie dann sogar vermissen? Vielleicht würde ihm ihre lange Abwesenheit die Augen öffnen und ihm zeigen, was er an ihr hatte. Oder er würde sich nach weiteren Frauen umschauen. Doch dann wäre ohnehin nichts aus ihnen beiden geworden. Sie sollte sich auf ihre Aufgabe konzentrieren, schalt sie sich.

Timo, der ihren Gedankensturm nicht zu bemerken schien, ging zum Drucker und holte einen Stapel Zettel, den er ihr anschließend vor die Nase legte. Ella griff danach und blätterte die Zettel durch. Zuoberst befand sich eine Liste, auf der die Lokale zusammengefasst waren, die sie besuchen sollte. Danach folgten Informationen und Fotos zu jedem einzelnen Lokal.

„Da findest du die Adressen der Hotels und Restaurants, über die Tessin Tourismus gerne einen Bericht hätte“, erklärte er. „Hier steht auch, in welchen Hotels du untergebracht wirst. Du brauchst auf jeden Fall einen Fotografen, der dich begleitet. Das habe ich mit Tessin Tourismus abgeklärt. Die Artikel sollen im Verlauf des zweiten Halbjahres und auch im nächsten Jahr ins Heft. Tessin Tourismus wird dann entsprechende Inserate buchen. Das ist sehr lukrativ für uns. Du kannst in den sechs Wochen dort also einfach mal recherchieren und Interviews führen. Und die Artikel später schreiben. Hast du Lust?“

„Klar“, begann Ella zögernd. Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Einen solchen Auftrag hatte Timo ihr noch nie übergeben, allerdings hatte er wohl auch noch nie einen solchen gehabt.

„Du sprichst Italienisch und du hast ein großartiges Gefühl fürs Schreiben. Du bist die Richtige dafür“, tönte Timo von der anderen Seite des Pultes. „Anfang Juli geht es los.“

Ella nickte, ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Christian sollte ihr in diesem Augenblick wirklich gestohlen bleiben. Was für ein Abenteuer.

„Danke, Timo. Das klingt wirklich nach einem tollen Auftrag. Ich werde mir gleich die Unterlagen ansehen. Wie stellst du dir denn die Verteilung der Artikel vor?“

„Es sind rund zwanzig Grotti und Lokalitäten, die du besuchen wirst. Ein Fotograf wird dich begleiten, da müssen wir noch schauen, wer sich so lange Zeit nehmen kann von unseren Freelancern. Ich denke, es macht keinen Sinn, die noch alle in diesem Jahr vorzustellen. Da sind wir schon bald im Winter und dann ist im Tessin alles dicht. Wir werden wohl irgendwann im Frühjahr anfangen, die Artikel einzuplanen.“

„Also muss ich nicht gleich im Tessin alles schreiben?“

„Nein, aber es wird schon ein Aufwand, all diese Lokale zu besuchen. Sie sind zwar informiert worden von Tessin Tourismus. Aber du musst noch die fixen Termine vereinbaren.“

Das klang alles machbar. Zwanzig Lokale in sechs Wochen, das waren etwas mehr als drei pro Woche. Das Tessin war groß – größer, als man denken würde. Die abgelegenen Täler waren oft schwierig zu erreichen. Noch dazu mit dem öffentlichen Verkehr.

„Kann ich ein Auto mieten?“

„Das sollte kein Problem sein“, meinte Timo.

Er machte eine kurze Pause.

„Ella“, klang es dann auf einmal sehr viel ernster. „Ich will aber, dass du etwas über dieses Grotto schreibst, du weißt schon, das, über das alle Influencer berichten. Das in diesem Tal. Das hat mit Tessin Tourismus nichts zu tun. Das ist ein Sonderauftrag von mir. Diese Geschichte soll auch möglichst rasch ins Blatt, noch in diesem Sommer. Du musst dir etwas Zeit freihalten und in diesem Dorf recherchieren. Wenn jemand es schafft, diesen Typen ausfindig zu machen, bist es du.“

Ella schluckte. Sie wusste genau, wovon er redete. Das Grotto Baldoria in Sonogno, ganz hinten im Verzascatal. Sie hatte schon so viele begeisterte Artikel darüber gelesen. Auch ihr Instagramfeed war voll davon, immer wieder wurde das Lokal ihr angezeigt. Das Tal war mit dem smaragdgrünen, klaren Wasser der Verzasca eine Augenweide. Immer mehr Influencer hatten die Region für sich entdeckt – und in den Sozialen Medien berühmt gemacht. Irgendwann hatten einige begeisterte Reiselustige über dieses Grotto berichtet. Es gab keine Menükarte. Wer dort essen wollte, wurde willkürlich zu weiteren Gästen an den Tisch gesetzt. Gegessen wurde, was eben aufgetischt wurde. Doch das Essen war, wenn man den Berichten Glauben schenkte, und das konnte man, dafür gab es zu viele begeisterte Fans, schlichtweg großartig. So großartig, dass immer mehr Gourmets den Weg nach ganz hinten ins Tal suchten, um einmal im Baldoria speisen zu dürfen. Inzwischen kam man ohne Reservation schon gar nicht mehr rein. Dass niemand wusste, wem das Baldoria gehörte und wer dort in der Küche stand, trug natürlich nur umso mehr zum Mythos bei.

Unzählige Food-Journalisten hatten sich schon die Zähne ausgebissen an diesem Supertalent der kreativen Küche. Sie würde wohl nicht mal dort essen können vor Dezember, weil immer alles ausgebucht war. Das Grotto selbst besaß keinen Account auf Instagram oder anderen Sozialen Medien. Ella hatte sich die Schwärmereien immer interessiert durchgelesen, das Grotto ansonsten aber ignoriert. Wenn etwas so gehypt wurde, verlor sie das Interesse. Nun musste sie sich zwangsläufig damit beschäftigen. Doch sie befürchtete, auch sie würde sich am Baldoria die Zähne ausbeißen. Es war schlicht unmöglich, über den Wirt oder die Wirtin zu berichten. Und über das Grotto selbst und die Menüs gab es schon tausende Artikel und Bilder. Wie sollte sie, Ella, da noch einen neuen Ansatz finden?

„Timo“, begann sie. „Du weißt, dass das nicht geht.“

„Wenn jemand es schafft, dann du. Ich habe auch bereits einen Tisch für dich reserviert. Irgendwann Anfang Juli. Ich habe den genauen Termin gerade vergessen, du findest ihn in den Unterlagen. Und auch ein Rustico in diesem Dörfchen, wo du übernachten kannst. Damit du für die Recherchen nicht ständig hin und her fahren musst“, erklärte er.

„Und was ist, wenn ich es nicht schaffe?“

Er seufzte. „Wir brauchen dieses Interview. Unsere Konkurrenz ist stark. Und häufig kostenlos. Uns steht das Wasser bis zum Hals. Es ist unsere Chance, mit unserem Heft und der Webseite wieder an die Spitze zu kommen. Du darfst das nicht vermasseln. Sonst stehen wir bald alle ohne Job da.“

Ella seufzte ebenfalls schwer, griff nach dem Stapel Papier und ließ ihn mehrmals leicht auf den Tisch fallen, damit sich die Blätter sortierten. Eine lockere Auszeit würde das nicht werden. Es ging schlicht um ihre Zukunft. Und wie es mit Christian weiterging, das stand ebenfalls in den Sternen.

Kapitel 3

Zürich, im Juli 2005

Ich fühlte mich wie ein kleiner Schuljunge. Jedes Mal, wenn ich sie nur sah, fingen meine Beine an zu zittern und ich brachte keinen vernünftigen Satz mehr heraus. Wie sollte sie mich gut finden, wenn ich mich so dämlich verhielt?

Onna wirkte so erwachsen, eloquent. Sie unterhielt sich mit den Gästen in Deutsch, Italienisch, Englisch oder Französisch. Jeder, der ins Hotel kam, war von ihr entzückt und auch die Mitarbeitenden hatte sie nach kurzer Zeit in der Tasche. Ich hingegen war nicht entzückt. Ich war verliebt. Rettungslos. Seit sie das erste Mal in dieses Hotel marschiert war. Ich spürte: Sie war die Richtige.

Lukas, einer meiner Arbeitskollegen aus der Küche, hatte mich ausgelacht. Ich sei viel zu jung für sie. Sie war schon dreiundzwanzig, hatte die Hotelfachschule abgeschlossen. Und ich war ein achtzehnjähriger Lehrling im letzten Jahr der Ausbildung. Eigentlich hatte ich gar keine Zeit, ständig verzückt an Onna zu denken. Ich musste mein Prüfungskochen vorbereiten, ich bekam schon langsam Angst, dass ich vor lauter Verliebtheit mal etwas gründlich versalzen würde. Allerdings war mir auch klar: Lukas wollte mir Onna vor allem deshalb ausreden, weil er selbst ein Auge auf sie geworfen hatte. Ich hatte rasch bereut, ihm davon erzählt zu haben und konnte nur hoffen, er würde es nicht an die große Glocke hängen.

Sie war definitiv eine wunderschöne Frau. Nicht groß, wahrscheinlich kaum über eins sechzig. Ich mochte ihre Rundungen. Ihr offenes, ansteckendes Lachen machte sie wahnsinnig attraktiv. Und ich? Ich war ein schlaksiger Junge mit Pickeln im Gesicht. Noch nicht mal ein Barthaar wollte sprießen. Mir war ja auch klar, dass eine Frau, die jeden Mann haben konnte, nicht unbedingt bei mir anklopfen würde. Und trotzdem. Warum lächelte sie mich immer an, wenn sie mich sah? Weil sie das bei allen tat, sagte Lukas. Nein, zwischen uns war etwas. Ich konnte es spüren. Und sie spürte es vermutlich auch.

Ich hatte noch nicht mal viel Erfahrung mit Frauen. Meine erste und letzte Freundin hatte ich in der Schulzeit gehabt. Für mich war immer wichtiger gewesen, diese Ausbildung zu machen, Koch zu werden. Schon als kleiner Junge war das mein großer Traum. Mit all diesen verschiedenen Geschmäckern, Düften, Zutaten umzugehen, zu lernen, wie ich sie zu einem kreativen und vor allem leckeren Gericht verarbeiten konnte. Es ging noch um viel mehr: Ohne diese Ausbildung stand ich vor dem Nichts. Denn ich hatte dafür alles, was mir je wichtig gewesen war, aufs Spiel gesetzt. Ich hatte dafür mit meiner Familie gebrochen, die mich lieber an einer Universität und später als erfolgreichen Anwalt gesehen hätte.

Mit meinem Lehrlingslohn und ohne weitere finanzielle Unterstützung konnte ich mir nicht viel leisten. Ein Kinobesuch, ein Essen in einem Restaurant oder ein Abend in einem Club – das war alles viel zu teuer. Zumindest konnte ich es mir noch nicht leisten. Das hatte ich wenigstens bald hinter mir, denn nach der Ausbildung würde ich weiter in dem Hotel arbeiten, und zwar zu einem höheren Lohn. Auch wenn ein Jungkoch nach der Ausbildung nicht reich war, ein Essen auswärts oder eine Ferienreise würde dann allemal drin liegen. Darauf freute ich mich sehr. Ich durfte einfach auf keinen Fall die Abschlussprüfung verhauen. Bei meinen Vornoten und meinem Können dürfte es aber ein Kinderspiel werden.

Solange ich nicht ständig nur an Onna dachte.

Die Schwingtür, die die Gastroküche vom Flur trennte, sprang auf. Diese Tür war wichtig, weil wir vollbeladen mit Speisen unmöglich Türfallen aufdrücken konnten. Ich blickte auf und hätte um ein Haar das ganze Plastikgefäß mit Fleur de Sel in die Suppe fallen lassen. Onna stand da und balancierte einen Teller auf ihrer Handfläche. Sie ging an den Töpfen vorbei. Wir bereiteten immer ein Menü für die Mitarbeitenden vor, damit diese sich in ihren Pausen verpflegen konnten. Es war ein sehr viel einfacheres Menü, das nicht viel zu tun hatte mit der Sterneküche, die wir unseren Gästen anboten. Die Lehrlinge im ersten Lehrjahr waren jeweils für die Mitarbeitermenüs zuständig. An diesem Tag gab es Kartoffelstampf, einen Braten mit Sauce und glasierte Karotten. Noch vor ein paar Minuten hatte ich mich auf mein Essen gefreut. Doch vor lauter Schmetterlingen im Bauch wusste ich nicht mehr, wo das Essen hätte platzfinden sollen. So wie jedes Mal, wenn sie in die Küche kam, um zu essen, und ich anwesend war. Sie lachte, plauderte mit einer Kollegin aus dem Hausdienst. Ich liebte Onnas italienischen Akzent, konnte ihr stundenlang zuhören.

„Signore Parker von die dritte Stock, Ssssimmer 246, er hat bestellen Snaps ssssson ‘eute Morgen früh“, erzählte sie. „Igg weiß niggt, ob es ist gut sssssu bringen.“

Den torkelnden und vor Schnaps triefenden Herrn kannte auch ich nur zu gut. Seine Entgleisungen unterhielten die gesamte Belegschaft seit mehreren Tagen. Jeden Abend, wenn er im Restaurant des Hotels speiste und viel zu viel Alkohol trank, vergaß er seine guten Manieren. Es war ein Kraftakt für unser Servicepersonal, den Herrn in Schach zu halten, ohne dass die anderen Gäste von dem Drama Wind bekamen. Wenn er nüchtern war, war er jedoch durchaus charmant, wie Onna uns vor einigen Tagen versichert hatte.

„Morgen reist er Gott sei Dank ab“, erwidert Ramona aus dem Hausdienst, die sich gerade eine Kelle Kartoffelstampf schöpfte. „Ich könnte mir vorstellen, dass der Hoteldirektor ihm Hausverbot erteilt.“

„Er 'aben eine Menge Geld“, sagte Onna und blickte auf. Dabei schaute sie mir direkt in die Augen, ertappte mich dabei, wie ich sie beobachtete. Hitze lief über meine Wangen in Richtung Stirn. Ich musste ausschauen wie eine reife Tomate. Doch Onna lächelte, und ich widerstand dem Drang, meinen Blick zu senken.

„Nigglas!“, rief sie mir zu. „Du ‘ast augg Pause? Komm, iss mit uns.“

Kapitel 4

Zürich, im Juni 2024

„Jetzt warte doch mal!“

„Ella, ich habe keine Lust auf diesen Kindergarten!“, rief Christian ihr zu, ohne jedoch sein Tempo zu drosseln.

„Was ist für dich Kindergarten?“

„Ich habe doch gesagt, dass ich mich gerne mit dir treffe. Reicht dir das denn nicht?“

„Nein, ich halte Schwebezustände für unzumutbar. Ich weiß gerne, woran ich bei jemandem bin. Und ich finde, es ist total okay, wenn wir das, was wir haben, mal definieren. Als Affäre. Oder mehr? Ich habe keine Lust mehr, dir ständig hinterherzurennen. Du meldest dich ja nie von dir aus.“

„Dann lass es eben!“

Er stand noch immer nicht still. Im Laufschritt ging er die Bahnhofstrasse hinunter, überquerte die breite Straße, die autofrei war, und dennoch nicht ungefährlich, da zahlreiche Straßenbahnen die Strecke befuhren. Er rannte über die Straße, Ella hatte Mühe, Schritt zu halten. Sie begann zu rennen, da sich eine Tram der Linie 11 direkt vor ihr in Bewegung gesetzt hatte. Christian bog ab, in eine lebendige Gasse mit vielen Geschäften, die die Bahnhofstraße mit der Altstadt verband.

Ja, sie mussten sich beeilen, um den Start des Films nicht zu verpassen. Trotzdem wäre das Gespräch in diesem Augenblick wichtiger gewesen, zumindest für Ella.

Siefühlte sich erniedrigt, nicht wertgeschätzt. Sie verstand nicht, warum er sich nicht einfach zu ihr bekennen konnte. Was er denn noch mehr wollte. Sie war hübsch, nett, hatte einen spannenden Job und sie war auch nicht darauf aus, einem Mann das Leben schwer zu machen. Und sie konnten stundenlang über Gott und die Welt reden. Womöglich wollte er einfach Action haben, wie jeden Abend, wenn er irgendwo in der Schweiz auf der Bühne stand und seine einstudierten Stücke abspulte. Schauspieler nannte sich das.

Seine letzte Freundin war eine drogensüchtige Tänzerin gewesen. Zwei Jahre lang nichts als Drama. Wahrscheinlich war Ella ihm schlichtweg zu nett. Sie hatten immer eine wundervolle Zeit gehabt, sie hatte sich wohlgefühlt, wenn er bei ihr war, er hatte sie immer in seinen Armen gehalten, geküsst, mit ihr gekuschelt, auch der Sex war schön gewesen. Ella verstand einfach nicht, was er suchte. Was sie ihm nicht bieten konnte. Situationship nannte sich das wohl heutzutage. Man genoss die schönen Seiten einer Beziehung, ging einer festen Bindung aber großzügig aus dem Weg. Bevor sie sich auf den Weg gemacht hatten in Richtung Kino, hatte Ella reden wollen, hatte Christian dazu bringen wollen, sie offiziell zu ihr zu bekennen.

„Nicht jetzt“, war er ausgewichten. „Wir sind eh schon spät dran.“

Doch interessanterweise hatte seine Haltung in ihr etwas geändert. Natürlich hatte sie sich schon Gedanken gemacht, wie es weitergehen sollte, bevor sie ihn zur Rede gestellt hatte. Und so war ihr bewusst: Dies war der Abend der Entscheidung. Die Premiere war ihr egal. Wenn er sich wieder weigern würde, eine klare Position zu beziehen, würde sie die Sache beenden. Sie musste sich selbst mehr wert sein. Sie war kein Spielzeug, sondern ein Mensch mit Gefühlen.

„Ich schaffe es nicht, mich zu öffnen“, erklärte er dann aus dem Nichts.

„Und wie lange willst du dir denn dafür Zeit geben?“, erkundigte sich Ella, langsam mehr als nur genervt. Die Antwort war ihr gleichgültig. Nur schon die Aussage allein erklärte ihr mehr als nur eindrücklich, was er für sie empfand: nichts.

„Es tut mir leid“, meinte er lieblos. Das war ihr Signal.

Abrupt blieb sie stehen. Sie vernahm erneut das energische Klingeln einer sich nähernden Straßenbahn. Erschrocken sprang sie einen Schritt zurück auf den Bürgersteig. Christian war in eine Gasse eingebogen.

„Der kann mich mal“, schimpfte sie. Schließlich waren es ihre Premierentickets. Und wahrscheinlich hatte er ohnehin nur zugesagt, damit er seinen Auftritt auf dem roten Teppich in seinem Instagram-Account posten konnte. Seine Engagements als Schauspieler entsprachen nämlich mitnichten seinem Ego.

Sie holte ihr Smartphone aus ihrer kleinen Umhängetasche. Es war eine Situation, die sie kannte, nicht zum ersten Mal erlebte. Doch sie wusste, wie sie in einem solchen Moment zu handeln hatte. Es gab nur etwas, das ihr dabei half, diesem Macho nicht mehr hinterherzulaufen. Sie war völlig klar. Wenn sie sich nicht mehr melden konnte, würde sie es auch nicht tun. Es lag nicht mehr an ihr. So löschte sie energisch seine Nummer, den ganzen Chatverlauf, blockierte ihn in den Sozialen Medien. Aus den Augen, aus dem Sinn. Selbstschutz. Es lag jetzt an ihm, einen Schritt auf sie zuzumachen, und indem sie alles löschte, nahm sie sich die Möglichkeit, es selbst zu tun. Sie wusste, dass sie sich nicht unter Wert verkaufen durfte, und sie hatte ihre Anliegen in den letzten Wochen oft genug vorgebracht, ohne Erfolg. Sie wollte sich nicht mehr verbiegen.

Eine Träne rann über ihr Gesicht. Jedes Mal, wenn sie nur ansatzweise Gefühle aufbrachte, sich Hoffnungen machte, endete es im Chaos und sie war wieder alleine. Sie hatte schon gar keine Lust mehr auf ein neues Kennenlernen. Sich rarmachen, damit sie interessanter wurde. Und gleichzeitig natürlich und authentisch bleiben. Pah! Was für ein Witz. Wenn ein Mann sie toll fand, würde ihr doch einen Platz in seinem Leben anbieten, oder nicht? Würde sich melden, sie sehen wollen, ihr von seinem Leben erzählen. Sie irgendwann seinen Eltern vorstellen.

Und sie nicht permanent auf Distanz halten.

Jetzt war Christian dran. Wenn sie ihm am Herzen lag, dann konnte er auf sie zukommen. Nicht einmal im Tessin hatte er sie besuchen wollen. Keine Zeit. Theaterproben. Texte lernen. So viel Stress. Der Arme. Sie musste versuchen, den Kerl zu vergessen und sich auf ihre Aufgabe zu fokussieren. Schon in wenigen Tagen ging es los. Wenigstens brauchte sie sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, ob Christian sie vermisste.

Sie ging langsam die Bahnhofstraße entlang in die andere Richtung. Eigentlich waren Christian und sie auf dem Weg ins Kino gewesen. Es war ja nicht so, dass sie sich nie getroffen hatten. Es war nur jedes Mal auf ihre Initiative geschehen. Und in der Zeit zwischen den Treffen, wo sie sich hatte austauschen wollen, ihm von ihrem Tag erzählen, hatte er kaum von sich hören lassen. Jetzt war er eben allein auf dem Weg ins Kino. Ob er schon bemerkt hatte, dass sie nicht mehr da war? Eigentlich eine rhetorische Frage, doch bei Christian und seinem riesigen Ego war sie sich tatsächlich nicht so ganz sicher.

Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Smartphone und wählte die Nummer von Alice. Ihre kleine Cousine hatte doch soeben die Matura bestanden, sie hatte bestimmt Zeit, einen netten Kinoabend mit ihr zu verbringen. Wenn sie es noch rechtzeitig dorthin schafften – und wenn Christian verschwunden war.

Kapitel 5

Offenbar war Christian aufgefallen, dass sich sein Kinoeintritt mitsamt der dazugehörigen Besitzerin verabschiedet hatte. Er hatte mehrmals versucht, sie anzurufen. Doch sie hatte ihn ignoriert. Als sie letztlich, mit einiger Verspätung, zusammen mit Alice am Kino aufkreuzte, war Christian nicht mehr da. Der rote Teppich war leer, der Film lief bereits. Obwohl Alice sich beeilt hatte. Ella brauchte das Tamtam auf dem Teppich nicht und so war es ihr gerade recht, dass selbst die vielen Pressefotografen längst von dannen gezogen waren.

Alice hatte kurzerhand das Kleid angezogen, welches sie wenige Tage zuvor beim Maturball getragen hatte. Der Dresscode lautete schließlich Abendgarderobe. Ella hatte extra zu diesem Zweck ein einziges langes Kleid aus brauner Seide. Sie hasste elegante Kleidung, am wohlsten fühlte sie sich in Jeans und Turnschuhen. Doch hin und wieder musste sie sich aus beruflichen Gründen aufmotzen. Ihre goldenen Sandalen hatten nur kleine Absätze, selbst an einem Abend wie diesem war es ihr wichtig, bequem laufen zu können. Alice sah atemberaubend aus in ihrem eigentlich schlichten Kleid aus altrosa Samt. Ihre Cousine hätte aber auch in einem Kartoffelsack auftauchen können und es hätten sich alle nach ihr umgedreht.

Alice war die Tochter von Ellas Onkel mütterlicherseits. Sie war fast fünfzehn Jahre jünger als Ella. Ihr Onkel hatte sich lange nicht für eine stabile Beziehung oder eine Familie entscheiden können. Erst mit weit über vierzig hatte er sich in Alices Mutter verliebt, die daraufhin sehr schnell schwanger geworden war. Doch noch während der Schwangerschaft hatte sich das Paar wieder getrennt.

Alices Mutter war ein Freigeist, noch mehr als ihr Onkel, und so hatte dieser sich hauptsächlich um das Mädchen gekümmert. Alice hatte ihn geerdet. Ella liebte ihre kleine Cousine fast wie eine Schwester. Was wohl auch daran lag, dass sie beide keine Geschwister hatten. Alice war groß, schlank, bildhübsch, mit freundlichen, blauen Augen, langen Wimpern, einer schmalen, geraden Nase und vollen Lippen. Ihre langen, blonden Haare reichten ihr bis fast zur Taille. Sie war aber auch clever und kreativ. Sie wollte Fotografie studieren, was, so glaubte Ella, gar nicht nötig war, da sie die Kamera bereits jetzt wie ein Profi beherrschte. Ella hatte Alice sogar schon einige Male als Fotografin auf ihre Reportagen mitgenommen.

„Richtig, dass du ihn hast stehenlassen“, meinte Alice nun.

Sie waren nach dem Film, eine romantische Komödie, noch in eine Bar gegangen. Alice war mit ihren zwanzig Jahren alt genug. Ella vergaß hin und wieder, wie jung ihre Cousine war. Das Premierenpublikum hatte überwiegend aus B-Prominenz mit Anhang bestanden und Ella hatte sich etwas verloren gefühlt. Timo hatte ihr die Tickets geschenkt, da er selbst verhindert gewesen war. Christian hätte sich bestimmt in aller Eloquenz unterhalten, da und dort Hände geschüttelt und Visitenkarten ausgetauscht. Dass er darauf hatte verzichten müssen, nach seiner harten Ansage, war eine kleine Strafe, die Ella nicht ungelegen kam. Sie selbst war aber nicht mehr in der Stimmung gewesen, auf dem anschließenden Apéro noch zu networken, obwohl ihr Chef sich das gewünscht hätte, und so waren sie und Alice rasch verschwunden. Ella brauchte ihre Gedanken für Christian und das Interview mit dem Baldoria-Wirt.

Sie nippte an ihrem Mocktail.

„Ich denke, ein Mann, der dich will, der zeigt dir das. Der fragt dich, ob er dich treffen kann und lässt nicht alles dich erledigen.“

„Ich weiß …“, begann Ella.

„Und“, unterbrach sie Alice, „du bist einfach total hübsch und nett, noch dazu superintelligent. Jeder Mann, der dich nicht will, hat einfach einen an der Waffel. Schau dich an, du siehst aus wie Mitte zwanzig.“

Ella musste lachen. Damit hatte Alice natürlich nicht recht, doch sie war selbst stolz auf ihre sportliche Figur, da sie oft und gerne trainierte, und ihre vollen, dunkelblonden Haare. Sie war ein gutes Stück kleiner als Alice, die wohl auch prima eine Karriere als Model hätte lancieren können. Doch sie hatte wie ihre Cousine feine Gesichtszüge, dazu eine Stupsnase, blaue Augen und volle Lippen.

„Ich bin mir absolut sicher, dieser Christian wird es bereuen.“

„Du solltest Beziehungstherapeutin werden“, frotzelte Ella, wissend, dass Alice total recht hatte, wenn sie sagte, dass es im zwischenmenschlichen Bereich nicht nur an ihr lag, dranzubleiben. Ein Mann, dem sie die Schuhe auszog, würde sich freiwillig bei ihr melden und sie sehen wollen. So stellte sie sich das zumindest vor. Nur fühlte sie sich mit bald fünfunddreißig Jahren auch langsam etwas unter Druck. Heiraten war nie ihr großer Traum gewesen. Sie würde aber gerne Mutter werden. Noch war es nicht zu spät, das wusste sie. Doch mit jedem Kerl, der ihr absprang, war wieder etwas Zeit vergangen. Vielleicht setzte sie sich zu sehr unter Druck und die Männer konnten es spüren?

Alice seufzte. „Beziehungstherapeutin? Ich? Besser nicht.“ Sie blickte ihrer Cousine in die Augen.

Ella wusste, dass Alice Fotografin werden wollte. Es war ihr Herzenswunsch, schon seit vielen Jahren.

„Eigentlich weiß ich gar nicht so richtig, was ich machen soll. Jetzt, wo die Schule vorbei ist, fühle ich mich etwas leer. Ich habe so gar keine Pläne. Klar, ich möchte im Herbst anfangen mit meinem Fotografiestudium, aber was mache ich bis dahin? Ich hätte mich um eine Arbeit, ein Praktikum kümmern sollen. Auch Papa sagt, ich müsse Geld verdienen. Doch ich war so beschäftigt mit meiner Maturarbeit und den ganzen Prüfungen.“ Sie nippte an ihrem eigenen Mocktail, der wie ein Batikshirt langsam von Gelb in Rot überging.

Ella stellte ihr Getränk auf den Bartisch, so abrupt, dass es überschwappte und auf dem runden Holztisch einen kleinen See bildete. Sie schob gedankenverloren eine weiße Papierserviette darauf. Sie hatte eine Idee. Klar, das war die Lösung für sie alle.

„Alice“, begann sie und schaute ihrer Cousine direkt in die Augen. „Komm mit mir ins Tessin. Ich werde sechs Wochen lang dort auf Reportage sein und brauche dringend eine Fotografin, die mich begleitet. Hast du Lust?“

„Meinst du das ernst?“ Alice schaute sie mit großen, blauen Augen an.

Ella erklärte in einigen kurzen Sätzen, worum es ging. Alice wippte von einem Bein auf das andere, ihre Finger spielten mit einem der zahlreichen Ringe, die sie als Schmuck an den Händen trug. Der Gedanke, eine so lange Zeit als Fotografin im Einsatz sein zu können – und noch dazu im wundervollen Süden der Schweiz, wühlte sie sichtbar auf.

„Natürlich muss ich das noch mit meinem Chef Timo besprechen. Und er soll dann mit dir einen Vertrag abschließen. Das kennst du ja schon, er wird bestimmt einverstanden sein.“

„Das fragst du mich? Natürlich bin ich dabei“, erklärte Alice freudestrahlend und hielt Ella die Faust hin.

Ella schlug mit ihrer dagegen.

„Deal?“

„Absolut. Deal!“

Kapitel 6

Zürich, im August 2005

Meine Lippen fühlten sich an, als würden sie brennen und ich legte meinen Zeigfinger darauf. Als könnte ich das Brennen damit für immer konservieren. Vielleicht war das gar nicht nötig – und Onna würde mich wieder und wieder küssen. Vielleicht war das erst der Anfang? Ich beobachtete ihre dunkelbraunen Haare, die über ihrem roten Kleid mit den weißen Punkten tanzten, während sie sich drehte, um mir einen Handkuss zuzuwerfen. Dann verschwand sie im Hauseingang.

Ich lächelte, dann schloss sich die Türe hinter ihr. Es war erst später Nachmittag, die Sonne stand noch hoch am Himmel. Wenn ich mich mit Onna treffen wollte, mussten wir die langen Zimmerstunden zwischen dem Mittags- und dem Abenddienst nutzen. Ich musste für das Abendessen wieder in der Küche stehen und auch Onna stand ein Spätdienst an der Rezeption bevor.

Bereits vor einigen Wochen hatte ich endlich meine Ausbildung abgeschlossen. Mit Bestnoten. Ich hatte nicht vor lauter Verliebtheit oder Aufregung das Kürbiscarpaccio versalzen. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich stolz auf mich. Ich hatte es geschafft, ohne die Hilfe und das Geld meines erfolgreichen Vaters. Mir war bewusst, dass ich in dieser Branche, der der gehobenen Küche, selbst erfolgreich werden, viel Geld verdienen konnte. Doch darum ging es mir gar nicht. Ich wollte glücklich sein. Und das war ich, wenn ich in der Küche stehen und an neuen Rezepten tüfteln konnte. Zum ersten Mal fühlte ich mich auch irgendwie erwachsen. Was wohl vor allem damit zu tun hatte, dass vor wenigen Tagen zum ersten Mal ein voller Lohn auf meinem Konto eingegangen war. Eigentlich war ich schon reich. Ich hatte ein Dach über dem Kopf, eine Aufgabe, die mich erfüllte, genügend Geld und mein Herz verschenkt. Noch dazu sah es so aus, als beruhe dies auf Gegenseitigkeit.

Mit raschen Schritten ging ich zurück zum Hotel. Onna bewohnte ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in der Innenstadt. Sie brauchte kein billiges Personalzimmer. Ein bisschen beneidete ich sie darum. Trotzdem wollte ich mir erst etwas ansparen, bevor ich mich nach einer eigenen Bleibe umschaute. Und Onna verfügte natürlich als Absolventin der Hotelfachschule über ein höheres Gehalt als ich. Vielleicht, und beim Gedanken daran begann es in meinem Bauch schon wieder zu kribbeln, würde ich eines Tages mit Onna zusammenziehen. Ich sollte mir nicht allzu viele Gedanken über eine gemeinsame Zukunft machen, sondern cool bleiben. Sie hatte mich bloß geküsst. Ein einziges Mal. Ich durfte nicht zu euphorisch werden. Vielleicht hatte das für sie ja gar nichts zu bedeuten.

Es war für Onna nicht ganz einfach, dass ich fünf Jahre jünger war. Und dass ich keinen Kontakt zu meiner Familie pflegte, abgesehen von sporadischen Treffen mit meiner Schwester Lara. Onna war ein Familienmensch und sie vermisste ihre Liebsten im Tessin. Immer wieder sprach sie von ihrer Großfamilie, der etliche Hotels, Grotti und sonstige Lokale im Tessin gehörten. Dass sie mich mochte, konnte ich spüren. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob es für eine feste Beziehung reichte. Ich durfte mich nicht verrückt machen. Die Zeit würde alles zeigen.

Vor wenigen Minuten hatten wir uns eben zum ersten Mal geküsst. Da konnte ich nicht daran denken, dass Onna die Liebe meines Lebens sein würde, auch wenn es sich für mich so anfühlte, nicht erst seit diesem Kuss.

Es war ein warmer Spätsommertag und wir hatten uns ein Tretboot gemietet. Damit strampelten wir ein paar Stunden über den Zürichsee, sprangen ins kühle Wasser, lagen an der Sonne und redeten, redeten, redeten. Onnas Deutsch war schon nach den wenigen Wochen in Zürich hervorragend und sie fing an, einige Dialektwörter von mir zu kopieren, was in meinen Ohren besonders süß klang. Manchmal fühlte ich mich neben ihr wie ein dummer Schuljunge. Klar, ich sprach etwas Englisch, doch das war’s. Kochlehrlinge wurden nicht in ihren Sprachfertigkeiten geschult. Und die wenigen Englischstunden in der Schule hatten keinen Experten aus mir gemacht, was diese Sprache anbelangte. Es war für mich das erste Mal, dass ich etwas fühlte, das ich mit dem Wort Liebe umschreiben konnte. Das war besonders, das wusste ich, und ich wollte dieses Gefühl für immer bewahren.

Ich musste mich wirklich sputen. Mir blieben nur ein paar Minuten, bis ich fertig umgezogen in der Küche stehen musste. Der Kuss ging mir nicht aus dem Kopf und meine Lippen fühlten sich auch jetzt noch an wie in dem Augenblick, in dem sie auf Onnas getroffen waren. Wir waren uns langsam nähergekommen. Spazierten erst nebeneinanderher, dann eine kleine Berührung hier, eine da. Sie hielt meinen Finger fest, ich griff sanft nach ihrer Hand. Wie in einem kitschigen Hollywoodstreifen. Unsere Finger verschränkten sich, klammerten sich ineinander. Hand in Hand liefen wir durch die Innenstadt zurück zu Onnas Zuhause. Es fühlte sich natürlich an. Selbstverständlich. Richtig. Und trotzdem klopfte mein Herz bis zum Hals. Ich hätte noch stundenlang Hand in Hand mit Onna durch Zürich laufen können. Noch viel weiter. Immer weiter.

Als wir vor ihrem Wohnhaus standen, hatte ich den Eindruck, nicht nur ich war enttäuscht. Sie blickte mir in die Augen, ich blickte in ihre. Keiner hatte den Mut, etwas zu sagen. Keiner wollte gehen. Wir hatten die Zeit für einen Augenblick eingefroren. Onna war wirklich ein gutes Stück kleiner als ich, sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um mir in die Augen zu schauen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und ich hielt den Atem an.

Ich schloss die Augen, schmiedete in Gedanken einen Plan. Wollte sie zum Abschied auf die Wange küssen, beugte mich vor. Doch sie drehte ihren Kopf und ich traf sie mitten auf den Mund. Mein Körper fühlte sich an, als würde er von einem Stromschlag getroffen. Sie zog ihren Kopf nicht weg, im Gegenteil, sie kam ein Stückchen näher, öffnete ihre Lippen, schlang ihre Arme um meine Taille. Dann konnte ich ihre Zunge spüren. Nur kurz, ganz fein. Ein Anfang.

„Ich muss rein“, sagte sie dann leise, es war mehr ein Krächzen.

Ich nickte, ihre Hände lagen noch immer um meine Taille. Sie löste sich, drehte sich um und ging ins Haus.

Jetzt begann ich zu rennen. Ich bekam Ärger, wenn ich nicht pünktlich zur Arbeit erschien. Obwohl die Stimmung in der Küche immer locker, fröhlich war, so legte das Hotel doch Wert auf klare Regeln. Ob ich verliebt war, interessierte meinen Chef nicht. Ich nahm die Abkürzung durch den Hotelgarten, die Steinchen des Kieswegs knirschten unter den Sohlen meiner Sneaker. Ich musste in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Und ich brauchte ein gutes Deo, für eine Dusche, die bitternötig gewesen wäre, reichte die Zeit nicht mehr. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte, dass ich nur noch sechs Minuten hatte. Ich sprintete durch den Hintereingang hinein ins Hotel, hier befanden sich die Fahrstühle, die ins oberste Stockwerk führten, wo sich die Personalzimmer befanden. Ich beschloss jedoch, die Treppe hochzurennen. Das ging schneller. Und ich war ziemlich fit. War ich einmal in der Küche, konnte ich so viel an Onna denken, wie ich wollte.

Meine Lippen brannten noch immer. Oder wieder. Alles in mir war durcheinander, die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten in alle Richtungen. Für ein paar Minuten musste ich mich konzentrieren. Das ganze Durcheinander in meinem Kopf, in meinem Herzen, musste kurz warten.

Kapitel 7

Ascona, im Juli 2024

„Hier ist Ihr Zimmer. Es ist sechs Wochen für Sie reserviert und Sie können jederzeit hierher zurückkehren. Mir ist klar, dass Sie auch hin und wieder woanders übernachten werden, bei all ihren Recherchen im ganzen Kanton. Doch dieses Zimmer halten wir für Sie die ganze Zeit über frei“, erklärte Matteo Monti, der Direktor von Tessin Tourismus, der Ella in einem der besten – und teuersten – Hotels des Kantons in Empfang genommen hatte.

Es lag in Ascona, direkt am See und Ella konnte ihr Glück kaum fassen. Wohl noch weniger als Alice, die sich nur mühsam zurückhalten konnte und am liebsten gleich auf das riesige, mit weißen Laken bedeckte Bett gesprungen wäre. Dieses hatte sie schon erblicken können, obwohl erst die Türe offen war und sie noch vor dem Zimmer standen. Dass sie ihr den Raum freihielten, auch wenn sie ihn gar nicht immer brauchten, war erstaunlich. Denn es war Anfang Juli und damit mitten in der Hochsaison. Wobei Alice wohl nicht oft in Sonogno im Rustico sein würde, solange Ella diesen Baldoria-Koch nicht ausfindig gemacht hatte, brauchte sie ihre Cousine dort nicht.

Signore Monti hielt die Tür auf, sodass Ella und Alice eintreten konnten. Das Zimmer war bestimmt nicht das größte und teuerste des Hotels, aber das hatte Ella auch nicht erwartet.

Das Hotel war eine Location, über die sie berichten sollte. Insbesondere hatte das Haus einen neuen Küchenchef, der auf einen Michelin-Stern spekulierte und deshalb eine positive Berichterstattung gut gebrauchen konnte. Sie freute sich darauf, sich durch die Menükarte zu probieren. Auch ein Interview mit besagtem Küchenchef war vorgesehen.

Ella blickte sich verstohlen um. Außer dem Doppelbett, das sie sich gut mit ihrer Cousine teilen konnte, gab es einen großzügigen Schreibtisch, ein Fernsehgerät, das an der Wand montiert war, sowie eine Türe, die offensichtlich ins Badezimmer führte. Neben der Eingangstüre war ein zweitüriger Schrank angebracht. Man konnte beide Türen nicht gleichzeitig öffnen und musste sich entscheiden – Eingang oder Schrank.

Ella hatte keine Ahnung, ob die Kleidung, die sie sorgfältig in ihren größten Koffer gepackt hatte, ausreichen würde für die ganze Zeit. Allerdings war das Tessin nicht weg von der Welt und sie würde auch mal nach Hause fahren und etwas austauschen können. Zudem war es Juli und damit hier im Tessin Hochsommer. Seit mehreren Wochen war es richtig heiß. Sie hatte daher nur zwei, drei leichte Cardigans eingepackt. Ansonsten hatte sie auf bequeme und platzsparende Sommerkleider gesetzt. Waschen würde sie aber hin und wieder müssen. Sie musste sich erkundigen, ob es im Hotel einen Wäscheservice gab. Allerdings war es ein Fünfsternehotel. Wo sollte es einen solchen Service geben, wenn nicht hier?

Sie sah, wie Alice ihren Koffer in das Zimmer schob.

„Vielen Dank, Signore Monti“, hörte sie ihre Cousine sagen. Alice hatte neben dem Koffer noch eine große Tasche mit ihrem Fotoequipment mitgebracht. Ellas Chef Timo hatte der Idee, dass Alice die Bilder machen sollte, sofort zugestimmt und ihr einen Arbeitsvertrag vorgelegt. Alices Bilder waren hervorragend und zudem war sie ohne Ausbildung sehr kostengünstig. Auch wenn es Ella ärgerte, dass er Alice dafür ausnutzte. Alice war es egal, es war ohnehin mehr Geld, als sie je verdient hatte.

„Ich lasse Sie beide auspacken“, erklärte Matteo Monti. „Wir treffen uns in einer Stunde im Restaurant zum Abendessen.“

Nachdem der ungefähr fünfzigjährige, kleingewachsene Mann mit den grauen Haaren das Zimmer verlassen hatte, stieß Alice den unterdrückten Schrei aus und sprang ausgestreckt aufs Bett. „Ella, wir sind da. Wie geil ist das? So viele Wochen Tessin. Sonne, Wärme, leckeres Essen, schöner könnte das Leben gar nicht sein.“

Ella schmunzelte. „Ein bisschen arbeiten müssen wir aber auch.“

„Logo“, nuschelte Alice ins weiße Kopfkissen, danach richtete sie sich wieder auf. „Hast du den süßen Kerl im Kochoutfit gesehen, als wir reingegangen sind?“

„Alice“, mahnte Ella. „Wir sind nicht hier zum Flirten.“

„Pah, ein bisschen Spaß soll auch dabei sein. Pack du mal deinen Kram aus. Ich drehe eine Runde durch das Hotel.“ Sie stand auf und zog die beigen Leinenvorhänge auseinander, die die Sicht aus dem Fenster verdeckten. „Schau mal, man sieht sogar den See. Angeblich soll es hier auch ein fantastisches Spa geben. Ich werde jeden Abend in die Sauna gehen.“

„Ich glaube, du hast draußen schon genug Sauna“, frotzelte Ella. „Es sind fast vierzig Grad.“

Sie blickte auf die Uhr. „Hau schon ab. Aber komm nicht zu spät zum Essen mit Monti.“

Kapitel 8

Keine Spur von Alice. Ella ärgerte sich über ihre unzuverlässige Cousine. Allerdings war sie auch erst zwanzig und dies war ihr erster richtiger Job. Sie hoffte, dass Alice ihre Aufgaben nicht verpeilen würde, während sie in Sonogno recherchierte und versuchte, das Interview mit dem Baldoria-Koch zu bekommen. In dieser Zeit musste Alice nämlich einige Treffen allein wahrnehmen. Sie mussten sich noch absprechen, wann sie welches Restaurant oder Hotel besuchen konnten.

Ella blieben in Sonogno nur wenige Tage. Sie hoffte, das würde reichen. Sie hatte ihre Termine in den anderen Gaststätten so geplant, dass sie mehrere Male einige Tage am Stück in Sonogno bleiben konnte. Denn es war wirklich eine ziemlich lange Strecke dorthin. Sie musste sich noch um ein Mietauto kümmern.

Sie wartete an der Rezeption auf Alice und auf Signore Monti, der soeben durch die gläserne Drehtür ins Foyer trat. Er war erstaunlich leger angezogen, trug eine lange, blaue Jeans, weiße Turnschuhe und ein grünes Polo-Shirt. Ella war in ihre einzigen Highheels geschlüpft. Sie hatte ein Paar Pumps eingepackt, da ihr klar gewesen war, dass sie manchmal in erlesenen Restaurants würde speisen müssen, und in diesen Wert gelegt wurde auf korrekte Kleidung. Dazu gehörten bedeckte Knie und Schultern sowie geschlossene Schuhe. Zu ihren dunkelbraunen Pumps hatte sie ein weinrotes Seidenkleid kombiniert, das sie zuvor im Zimmer noch hatte aufbügeln müssen. Eine kleine, braune Ledertasche sowie ein hoher Pferdeschwanz rundeten ihren Look ab.

Wo blieb Alice? Sie hatte sich nicht mal umgezogen. Immerhin hatte sie Turnschuhe getragen, als sie verschwunden war, und die waren zumindest nicht offen. Auch der Direktor des Hotels, Friedrich Kerber, der ursprünglich aus Hamburg stammte, würde an dem Abendessen teilnehmen. Ein Abend voller Smalltalk erwartete sie. Ella war keine besonders geübte Networkerin und es machte ihr auch keinen Spaß. Vielmehr liebte sie es, in die Geschichte, die Persönlichkeit eines Menschen einzutauchen oder in die Welt der kulinarischen Genüsse.

Ihr Job war jedoch nun einmal mit Smalltalk verbunden und so hatte sie sich daran gewöhnt und konnte sich, wenn nötig, darauf einlassen. Sie hoffte nur, sie musste nicht gleichzeitig noch ihre Cousine in Schach halten. Von der noch immer jede Spur fehlte. Sie hatte weder auf Anrufe noch auf eine Nachricht mit tausend Ausrufezeichen reagiert. Hoffentlich lag sie nicht knutschend mit diesem jungen Koch in irgendeiner Besenkammer.

„Ella, ich komme!“, hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme rufen und kurz darauf tauchte Alice in Begleitung eben jenes jungen Kochs in der Lobby auf. Der, als er erkannte, dass Signore Kerber sich neben Ella befand, postwendend kehrt machte und Alice stehen ließ. Diese zog die Schultern hoch und kam auf das Grüppchen zu.

„Was gibt es denn? Ich habe großen Hunger.“

***

Ella hatte sich während des Essens beherrschen müssen. Womöglich hatte sie Alices Alter und ihre Unbekümmertheit etwas unterschätzt. Doch da alle am Tisch Anwesenden hervorragend Deutsch sprachen, hatte sie die Schelte auf später verschieben müssen.

„Alice. Du kannst doch mit dem Direktor von Tessin Tourismus nicht so flapsig umgehen.“

„Was denn?“, fragte ihre Cousine. „Ich war ja nur zwei Minuten zu spät.“

„Und siehst aus wie nach einem Fußballspiel“, rüffelte Ella ihre Cousine, die in kurzen Shorts und Sneakern ins Sternerestaurant gelaufen war. Die Herren waren viel zu gut erzogen gewesen, als dass sie etwas gesagt hätten, doch Ella hatte ihre Blicke gesehen. Sie konnte ihre Cousine erst nach dem Essen und nach dem Abgang ihrer Begleiter zur Rede stellen.

Das Essen war zugegebenermaßen köstlich gewesen. Der Küchenchef hatte den Michelin-Stern verdient. Es gab zuerst eine Tomate als Eis mit knusprig gebratener Langustine als Tatar, dann rosa gebratenes Rind im Artischockenblatt mit Parmesan und schwarzem Knoblauch und zum Abschluss eine Käseplatte. Alice hätte wohl lieber Vanilleeis mit Schokosauce gegessen und Ella hatte innerlich gekichert, als sie in Alices Gesicht sah, während sie auf den Blauschimmelkäse vor ihr auf dem Teller starrte. Sie würde nicht oft Sterneküche essen müssen, doch hin und wieder würde sie nicht darum herumkommen.

„Wo warst du überhaupt?“

„Im Spa, ich wollte es mir doch unbedingt ansehen“, erklärte Alice aufgeregt. „Es ist fantastisch. Wäre es nicht schon so spät, würde ich mir gleich einen Saunagang gönnen.“

„Du hast aber nicht über eine Stunde lang die Sauna betrachtet, oder? Zumal du nicht allein zur Rezeption gekommen bist …“

„Ich bin wieder diesem jungen Koch begegnet. Er heißt Simone und macht hier seine Ausbildung. Er sagte, er würde für uns das Rind zubereiten. Das hat mir auch von allem am besten geschmeckt.“

„Alice!“

„Mensch, Ella. Er ist meganett. Und er spricht ausgezeichnet Deutsch. Er meinte, sein Vater sei Deutschschweizer. Ich hoffe, wir treffen uns bald wieder.“

„Wir dürfen nicht die Arbeit vergessen“, mahnte Ella. „Und du musst schauen, dass du den Anforderungen dieser Hotels und Restaurants gerecht wirst. Du kannst nicht in Hotpants in einem solchen Restaurant auftauchen.“