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Ein Buch über Loyalität und Verrat, Liebe und Politik, Vergebung und Selbstfindung. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts geben sich im Pas-de-Calais die Könige Frankreichs und Englands ein pompöses Stelldichein, um einen möglichen Frieden zwischen den Erbfeinden zu verhandeln und sich gegenseitig zu imponieren. Das Hofleben, Turniere, Ratsberatungen, politische Bedrängnisse, drohender Krieg sowie zwei völlig verschiedene Herrscher kennzeichnen diese Geschichte, die sich ebenso anschaulich wie kurzweilig um die Hauptfigur – Charles de Bourbon, grand connétable von Frankreich – entfaltet. In diesem historischen Kontext kommen dementsprechend Ränkespiel, Intrigen, Eitelkeiten und Klatsch nicht zu kurz. Die damals notwendige Politik durch Heirat und die großen Themen der Renaissance, wie Religionskrise und neue Entdeckungen in Geographie und Philosophie, schmücken diesen spannenden Roman.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Impressum
Text: © Alberto Kunz
Alberto Kunz, Via del Borgo 59, 55054 Massarosa (LU), Italien
Lektorat/Korrektorat: Dr. Phil. Sieglinde Cora
Schlussredaktion: Sandra Krichling ~ www.text-theke.com
Coverbild: Sven Fischer ~ SKF artwork
Coverdesign: Peggy Löhle ~ peggy.loehle.illustration
Landkarte: Ortelius 1579, Geographicus Calais et Vemandois
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Charles saß auf seinem Pferd und tätschelte ihm den Hals, während er auf das Meer von Wimpeln und Fahnen herabsah, die unter ihm fröhlich in allerlei Farben im Wind tanzten. Sie waren das bunte Dach der sorgfältig aufgebauten Zeltstadt, die sich über die Ebene erstreckte.
Er war stolz.
Stolz auf diese gewaltige Leistung, mitten im Nichts südlich von Calais etwas Einzigartiges aus dem Boden gestampft zu haben. Nicht ein einfaches Heerlager. Nein, eine wirkliche Stadt erhob sich hier vor seinen Augen, wo sich noch vor kurzem einfaches Ackerland ausgebreitet hatte.
Eine Stadt mit edlen Zelten statt Häusern, mit breiten, fest und eben gestampften Straßen und weiten Plätzen, die zum Verweilen einluden. Mit einem eigenen, erstaunlichen Palast aus Holz und kunstvoll bemaltem Segeltuch, der sich über mehrere Stockwerke erhob und ebenso über üppige Empfangsräume, wie über Schlafgemächer für die gekrönten Häupter verfügte. Der Palast wurde umrahmt von einem fein geometrisch angelegten Park mit Wegen aus weißem Kies, plätschernden Springbrunnen und eleganten Blumenbeeten, die in jeder vorstellbaren Farbe prangten.
Sogar eine große, halboffene Kirche, die einem griechischen Tempel ähnelte, war erbaut worden. Die hölzernen Säulen hielten das Dach aus Tuch hoch und derInnenraum öffnete sich an den Seitenschiffen in den Park. Auf den Plätzen in der Stadt und im Park gab es kleinere und größere Bühnen, auf denen allerlei Aufführungen stattfinden konnten. Sogar ein kolossaler Turnierplatz sowie Stallungen für hunderte Pferde waren errichtet worden.
Mit Genugtuung blickte Charles auf das außerordentliche Zeugnis der Größe und Macht seines geliebten Frankreichs herab.
So etwas hatte die Menschheit noch nicht gesehen!
Aber dieses monumentale Szenariumwar nicht ohne Grund im Pas-de-Calais entstanden. Nein, diese märchenhaft anmutende, provisorische Stadt war allein mit der Absicht aufgebaut worden, zu imponieren.
Ganz England und sein König sollten in Staunen versinken. Denn endlich standen in dem schier unendlich andauernden Konflikt zwischen diesen Ländern beidseitig des Kanals Friedensverhandlungen an – und diese Verhandlungen würden genau hier geführt werden.
Demnach waren keine Kosten und Mühen gescheut worden, um den geladenen Gästen von der Insel die Größe und den Glanz Frankreichs vor Augen zu führen, sowie den bekanntlich genusssüchtigen König Englands zu unterhalten – und somit günstige Verhandlungsergebnisse zu erzielen.
Frankreichs Einfluss und Stärke waren jüngst gewachsen und mittlerweile so groß geworden, dass es sich auf europäischem Boden zum ernst zu nehmenden Rivalen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation um die Vorherrschaft auf dem Kontinent entwickelt hatte. Und er, Charles, Herzog von Bourbon, hatte als Befehlshaber Frankreichs, als grand connétable in den vorangegangenen Kriegen einen wesentlichen Beitrag zum Aufstieg seiner Nation geleistet. Er war sich dessen bewusst und zurecht stolz darauf. Falsche Bescheidenheit war hier fehl am Platz.
Nach den erfolgreichen Feldzügen in Italien war nun mit der Eroberung Calais’, der eine sechsmonatige Belagerung vorausgegangen war – auch die letzte englische Bastion auf französischem Festland gefallen.
Frankreichs König François war daher zur Überzeugung gelangt, dass es jetzt an der Zeit sei, mit Henry und England Frieden zu schließen. Letztendlich auch, um durch einen Frieden mit England einer Umklammerung Frankreichs zu entgehen. Denn der neue junge Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war ebenso König Spaniens und stand somit sowohl im Westen wie im Osten an den Grenzen Frankreichs.
Charles dachte zurück an die Feldzüge in Norditalien, in denen er so erfolgreich für seinen König und Frankreich gefochten hatte.
Die französische Armee hatte unter seinem Kommando die vereinigten Kräfte von Kaiser, Eidgenossen und Papst besiegt. Mailand ward eingenommen und der Norden des italischen Stiefels mit Bologna, Europas älteste Universität, dem Hafen Genuas, Parma, Turin, Carrara und viele andere wertvolle Städte und Ländereien gehörten jetzt Frankreich. Sein Territorium endete erst an den Grenzen zur Republik Venedig und dem Vatikanstaat.
Dieser letzte italienische Krieg war zugleich auch der Höhepunkt von Charles’glanzvollem Aufstieg gewesen. Er hatte damals sehr hoch in des Königs Gunst gestanden. Der junge König François war für Charles nicht nur der Souverän, dem er seinen Lehenseid geschworen hatte, er war für ihn auch wie ein Sohn. Sie hatten ein enges Freundschafts- und Vertrauensverhältnis genossen. Der Monarch hatte nach der erfolgreichen Schlacht von Marignano darauf bestanden, von ihm, Charles, noch auf dem Schlachtfeld vor allen Anwesenden zum Ritter geschlagen zu werden und ihn somit zu seinem Rittervater gemacht!
Der Ehre nicht genug, hatte er ihn anschließend auch zum Statthalter des mächtigen Mailands und Norditaliens ernannt.
Doch Fortuna war eine launische Göttin. Nur kurze Zeit später wendete sich das Glück bereits ab vom Herzog von Bourbon.
Für Charles überraschend wurde ihm die Verantwortung für Mailand entzogen und – völlig unpassend – an Odet de la Foix übertragen. Dieser junge Mann war bar jeden militärischen Talents und Erfahrung. Er war ein Künstler und Träumer und nicht nur in Charles’ Augen völlig ungeeignet für den Posten.
Die Familie de la Foix war nicht von altem Adel und erst jüngst in der Gewogenheit des Königs aufgestiegen. Das lag sicherlich auch daran, dass Françoise de la Foix die Maitresse des Königs geworden war.
Aber Mailand war zu wichtig, um es als Liebesbeweis zu vergeben. So groß oder blind konnte die Verliebtheit doch nicht sein, war dies also eine beabsichtigte Kränkung Charles gegenüber?
Odet wurde, um die Aufgaben in Mailand standesgemäß übernehmen zu können, in den Rang des Marschalls von Frankreich erhoben. Das war nicht nur für Charles ein Affront gewesen, damit hatte der König vielen gestandenen Offizieren vor den Kopf gestoßen.
Damit hatte der neue Statthalter von Mailand jetzt den gleichen Dienstgrad wie sein äußerst fähiger älterer Bruder Gaston. Mit dem Unterschied aber, dass Gaston ein echter Soldat und erfahrener Offizier war und sich diesen Grad nicht nur verdient hatte, sondern sein Amt auch ehrenvoll erfüllte.
Gaston hatte unter Charles gedient und war an seinen Siegen in Italien maßgeblich beteiligt gewesen. Er hatte wegen der schnellen Truppenbewegungen, die den Gegner mehrfach überrumpelt hatten, den Beinamen „Blitz Italiens“ erhalten. Die beiden hochrangigen Offiziere waren durch das gemeinsam Erlebte zu Freunden geworden, schätzten und achteten sich gegenseitig. Etwas, was Charles von Odet wahrlich nicht sagen konnte.
Charles war sich durchaus bewusst, dass er als Herzog der vereinten Länder der Bourbonen und als grand connétable – also als Oberbefehlshaber der französischen Truppen – fast so mächtig und einflussreich war wie der König selbst. Die Bourbonen waren eine der ältesten und edelsten Blutlinien in Frankreichund ihr Vermögen war unermesslich.
Es gab sicherlich argwöhnische Neider, aber seine Loyalität war bis dahin unerschütterlich gewesen, und er hatte seinen Wert mehrfach bewiesen!
Warum, warum bloß wurde ihm also das Vertrauen entzogen? Hatte jemand Angst seine Macht würde mit Mailand zu groß? Wer vertraute ihm nicht?
Aber damit waren die Schmähungen und Demütigungen zu seinem Leidwesen noch nicht zu Ende! Nur kurze Zeit später erklärte Louise de Savoie, die Königinmutter, öffentlich und völlig zu Unrecht, einen Anspruch auf die Ländereien seiner verstorbenen Frau Suzanne zu haben.
Jeder wusste, dass damals Charles’ Ehe mit Suzanne von ihren beiden Familien nur zu dem Zweck geschlossen worden war, die getrennten Linien der Bourbonen zusammenzuführen und somit die Ländereien zu einem großen Herzogtum zu vereinen und in Zukunft auch zusammenzuhalten.
Dies war ausdrücklich und rechtskräftig in allen Ehedokumenten vermerkt und besiegelt worden. Rechtsgelehrte und Kirchenoberhäupter hatten diese Verträge entworfen und ausgiebig geprüft, so dass sie unanfechtbar waren.
Wie konnte Louise sich daher nur anmaßen, diesen Anspruch zu erheben?
Charles sah es als seine heilige Pflicht an, den Zusammenhalt dieser Ländereien zu schützen! Er hatte dies geschworen. Er war das Familienoberhaupt des alten und edlen Haus Bourbon. Es war sein Land, und die Pflicht, es zu schützen, war sein Lebensinhalt.
Auch weil kein weiterer Lebensinhalt ihm mehr geblieben war, nachdem seine Frau und Kinder von ihm gegangen waren.
Louise hingegen streute Salz in die Wunde. Sie behauptete, dass sie aufgrund der Verwandtschaft mit Suzanne – Charles’ verstorbener Frau – jetzt, durch das Fehlen eines Erben, Ansprüche auf diese Ländereien hätte. Warum nur tat sie es?
***
„Grand connétable!“
So angesprochen kehrten Charles’ Gedanken in die Gegenwart zurück. Ein Meldereiter zügelte sein Pferd und salutierte.
„Pierre, was gibt es?“
„Euer Durchlaucht, die Delegation aus Portugal wird heute noch das Lager erreichen. Ihr wolltet informiert werden.“
„Danke“, entgegnete Charles, „tretet weg und lasst Euch ein Glas Wein geben, sorgt Euch um Euer Wohl und Pferd.“
Der Meldereiter salutierte ebenso forsch wie elegant und entfernte sich.
Endlich. Charles wartete schon seit Tagen ungeduldig auf das Eintreffen der Delegation, die von Eleonore von Österreich angeführt wurde, Königin Portugals und die Schwester des Kaisers Karl. Mit ihr reiste Charles’ jüngste Schwester Juliette, die in jungen Jahren – viel zu früh – an den Hof Portugals gegangen war, um dort als Eleonores Hofdame zu dienen.
Was war wohl aus ihr geworden? Charles dachte an sie zurück, an das kleine Kind, welches immer mit ihm und der großen Schwester Marie-Louise gespielt hatte, die jeden von Charles’ Freunden heiraten und die Kreuzritter werden wollte. Das Mädchen, das so unsäglich geweint hatte, als es seinen Hund in Montpensier lassen musste, weil die Abreise nach Portugal anstand.
Sie war jetzt erwachsen sowie im besten Alter, um verheiratet zu werden – und es gäbe kaum eine bessere Möglichkeit, eine geeignete Partie für sie zu finden als bei diesem Stelldichein der Könige.
Aber es gab noch einen anderen Grund, der die Ursache für Charles’ Nervosität und Ungeduld war:
Nachdem Louise de Savoie ihre angeblichen Ansprüche auf seine Ländereien öffentlich kundgetan hatte, hatte der König Frankreichs diese nicht abgelehnt.
Auch nicht nach Charles’ Intervention. Er hatte sowohl beim König als auch dem Bischof von Paris protestiert und Beweise vorgelegt. Das magere Ergebnis war, dass der Monarch ein Gerichtsverfahren einberufen hatte, welches über die erwähnten Ansprüche urteilen sollte. Dies Gericht sollte in in den darauffolgenden Tagen am Orte tagen.
Charles befürchtete einen unfairen Prozess. Er wusste nicht, was in Louise de Savoie gefahren war. War diese Frau darauf aus, ihn zu zerstören, sich an ihm zu rächen? Ihm das Einzige zu nehmen, was ihm geblieben war?
In seiner Not hatte sich Charles kühn an den jungen Kaiser Karl gewandt und um „jede Art von Beistand“ gebeten, um seine Ansprüche durchzusetzen. Er ging davon aus, dass die Antwort auf seine Anfrage mit der kaiserlichen Delegation reiste.
Wenn es so wäre, dann wäre es besser, dass dieser Brief nicht in die falschen Hände fiele. Man könnte es, je nach Antwort, auch als Verrat auslegen.
Charles gab seinem Pferd einen leichten Schenkeldruck und ritt zu seinem Lager. Er wollte seine Schwester Marie-Louise darüber informieren, dass die Jüngste im Bunde bald eintreffen würde. Er freute sich, sie wiederzusehen, außerdem hatte er eine Überraschung für Juliette vorbereitet.
Seine Schwester Marie-Louise war bereits vor Ort. Als Hofdame der Königin von Frankreich war sie schon angereist und residierte im Château. Sie erinnerte Charles an seine einstige Liebe und jetzige Rivalin Louise. Seine Schwester war ebenfalls attraktiv, ehrgeizig und intelligent – als auch stolz.
Stolz, eine Bourbon zu sein.
Im Geheimen verehrte Marie-Louise die Königinmutter. Louise war ihr ein Vorbild und sie strebte danach, so wie sie zu werden. Dennoch hatte Charles’ Schwester sich geschworen, alles zu tun, um die Ländereien der Familie zu verteidigen. Sie würde ihre Krallen ausfahren, das war sicher. Als Hofdame der französischen Königin Claude saß sie im Zentrum der Geschehnisse am Hof und wusste über jeden und alles Bescheid.
Mit ihr an seiner Seite war Charles sich sicher, dass die Königinmutter mit ihren irrwitzigen Ansprüchen scheitern würde – zumindest wünschte er sich das sehr, denn die Konsequenzen eines anderslautenden Urteils wollte er sich gar nicht ausmalen.
So kam es, dass Charles und Marie-Louise ihre jüngste Schwester vor dem prächtigen Herzogszelt, welches ganz in Blau mit goldenen Lilien gehalten war und die Größe eines kleinen Hauses hatte, erwarteten.
Und da war sie endlich! Als Juliette die beiden älteren Geschwister sah, kam sie schnellen Schrittes auf sie zu und schloss Marie-Louise herzlich in die Arme. Charles hatte dadurch etwas mehr Zeit, diese junge Dame zu betrachten. War dies wirklich seine kleine pausbäckige Schwester? Was hatte die Zeit nur aus ihr gemacht! Sie war zu voller Blüte gereift und gewiss kein Kind mehr. Es war wohl auch für sie an der Zeit, sich den Pflichten des Erwachsenenlebens zu stellen, vor denen Charles sie gerne länger geschützt hätte.
Sie wendete sich Charles zu und sah ihn ernst an. Er hingegen lächelte Juliette erfreut zu, dann umarmte er sie fest und lang. Als sie sich voneinander lösten, hielt er ihre Hände fest.
„Schau dich an! Du bist eine richtige Dame geworden!“, strahlte Charles sie an.
„Ja, Bruder, und ich bin kein Kind mehr, ich bin ein Teil dieser ehrwürdigen, alten Familie und als solches solltest du mich behandeln!“, entgegnete sie ernsthaft. „Du schreibst allen möglichen Leuten, aber nicht deiner Schwester …“ Bevor sie weiter ihre Gedanken ausführen konnte, fiel er ihr ins Wort:
„Warte, ich habe eine Überraschung für dich.“ Er klatschte in die Hände und rief: „Papillon!“
Ein Page eilte sofort herbei, ein betagtes Hündchen an der Leine.
Juliettes Augen weiteten sich.
„Ist dies …“ Sie hockte sich sofort hin und umarmte das freudig wedelnde Hündchen, Tränen rannen ihre Wangen herab. Marie-Louise hakte sich bei ihrem Bruder ein und gemeinsam betrachteten sie erfreut und gerührt die Szene.
„Oh Charles, du Schuft! Wie soll ich dir denn da böse sein, Papillon, mein Herz“, sprudelte es aus Juliette hervor, als sie sich mit Papillon auf dem Arm wieder aufrichtete und fortfuhr: „Lächle mich nicht so schalkhaft an, ich bin ernsthaft erbost über dein Verhalten!“
Charles schaute sie verwundert an.
Juliette erklärte:
„Du schreibst in der Weltgeschichte herum und verantwortest delikate Informationen in fragwürdige Hände, wobei deine eigene Schwester das Ohr der Königin von Portugal hat. Die wiederum die Schwester des Kaisers ist. Ich habe Post für dich.“ Damit setzte sie Papillon ab und zog aus ihrem Ärmel einen versiegelten Brief hervor, den sie Charles übergab.
Es war das Siegel des Kaisers – und es war aufgebrochen!
„Er ist geöffnet!“, entfuhr es Charles.
„Ja, natürlich, wie hätte ich sonst lesen können, was drin stand?“, tat Juliette keck kund. „Was hast du?!“
Charles holte tief Luft.
„Juliette, das hättest du nicht tun sollen. Du solltest von der ganzen Sache nichts wissen, das wäre besser für dich! Hat sonst noch wer davon Kenntnis?“
„Ach Unsinn! Höre auf, den großen Bruder zu spielen, das geht uns alle an, es geht um das Haus Bourbon. Wir dürfen keine Geheimnisse voreinander haben. Natürlich hat keiner den Brief gesehen – außer mir!“, fügte sie schelmisch hinzu.
Charles war sprachlos.
Marie-Louise, die dem Ganzen mit zunehmend fragendem Gesichtsausdruck gefolgt war, nutzte die Gelegenheit, das Wort zu ergreifen:
„Hättet ihr die Güte, mich aufzuklären? Ein Brief des Kaisers? Was sagt er?“
„Ja sagt er! Dass er Charles unterstützt …“, plapperte Juliette aufgeregt.
„Lasst uns das in Ruhe besprechen, meine Liebsten!“, warf Charles ein.
Nachdem sie sich an einen Ort zurückgezogen hatten, wo sie vor fremden Ohren geschützt waren und Marie-Louise mehrfach gedrängt hatte, auch ins Bild gesetzt zu werden, seufzte Charles, faltete den Brief auf und las vor:
„An Charles den Dritten. Herzog von Bourbon-Montpensier, grand connétable Frankreichs: Seine kaiserliche Majestät Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, entsendet Euch Seine Grüße. Er ehrt Euren Mut und Eure Weitsicht, die strittige Frage Eurer Ländereien an uns heranzutragen. Seid versichert, dass wir es als unsere höchste heilige Pflicht ansehen, die gottgegebenen Gesetze und Stände zu ehren und zu schützen. Unsere Juristen haben sich mit der Sache befasst und Euer Anspruch ist über jeden Zweifel erhaben. Sollte wider Erwarten der König Frankreichs auf Irrwege geraten und anders entscheiden, sagen wir Euch jetzt schon unsere Unterstützung zu. Solltet Ihr keinen anderen Weg sehen, als Euer gottgegebenes Recht erstreiten zu müssen, so werden wir Euch mit den nötigen Streitkräften dafür ausrüsten. Da wir selbst leidvoll erfahren haben, welch fähiger General Ihr seid, haben wir keinen Zweifel an dem Ausgang dieses Streites. Unsere Juristen haben darüber hinaus bekräftigt, dass Ihr zudem in der gottgewollten Königslinie Frankreichs unmittelbar an zweiter Stelle hinter dem König und seinen männlichen Erben steht. Da ein Krieg, auch wenn gerecht, immer mit hohen Kosten verbunden ist, werdet Ihr einsehen, dass wir als Dank und Ausgleich für unsere Unterstützung Landabtretungen an das Heilige Römische Reich erwarten, sobald Ihr auf dem Thron Frankreichs sitzen werdet. Das Herzogtum Mailand wird ebenso an das Reich gehen wie Flandern, der Pas-de-Calais und das Elsass. Wir werden zudem Eure Stellung in der Zukunft durch den heiligen Bund der Ehe mit unserer Familie bestätigen und festigen. Teilt uns mit, wann Ihr unser Eingreifen für nötig haltet und achtet darauf, über welche Wege Ihr mit uns in Verbindung bleibt. Carolus V. Rex et Imperator.“
Nachdem Charles zu Ende vorgelesen hatte, legte sich tiefes Schweigen über die drei Geschwister.
Nach einer Weile flüsterte Marie-Louise kaum hörbar:
„Das ist Verrat.“
„Nein, das ist die mögliche Antwort auf Verrat, Marie-Louise! Das ist eine Vorkehrung. Als Soldat muss man immer eine Rückzugslinie haben. Gott gebe, dass unser König sich an seine Pflichten erinnere. Es obliegt ihm, die Stände und Blutlinien sowie die Gesetze Gottes zu ehren!“, antwortete entschieden Charles. Er nahm seine Schwestern bei der Hand und sah sie an. „Ich bete zu Gott, dem Allmächtigen, dass ich dieses Angebot ausschlagen kann. Ich bin der connétable Frankreichs. Unser Haus ist eins der ältesten Häuser Frankreichs. Ich wollte euch wahrlich aus der Sache heraushalten, damit ihr nicht darin verwickelt werdet, sollte ein Missgeschick geschehen!“
Marie-Louise und Juliette schauten ihn lange an, dann sagte Marie-Louise:
„Wir lieben dich, Bruder, wir sind eine Familie, wir werden immer miteinander verwickelt sein – und wir brauchen dich! Keinen tragischen Helden, mach keine Dummheiten!“
„Für die Familie, für unser Land, für Frankreich – in dieser Reihenfolge“, antwortete Charles.
„Und für Gott“, fügte Juliette bei.
***
Nachdem seine Schwestern gegangen waren, sann Charles noch lange über die Situation nach. Er verstand einfach nicht, warum Louise de Savoie diesen ebenso unsäglichen wie unnötigen Disput vom Zaun gebrochen hatte.
Louise! Charles, seine Schwestern, Louise sowie René, der Halbbruder Louises, waren zusammen bei seiner Großmutter aufgewachsen. Seine Großmutter hatte Louise und René nach dem frühen Tod ihrer Mutter bei sich aufgenommen.
Somit hatten Louise und er die gemeinsame Erziehung seiner klugen und welterfahrenen Großmutter genossen. Sie hatte sie von Anfang an zusammen in allen wichtigen Dingen unterrichtet und ihr Wissen und politisches Geschick an sie weitergegeben. Sie hatte sie Staatsführung, Geschichte, Kunst und Philosophie gelehrt. Sie Homer und Caesar lesen lassen und ihnen ihre eigene Leidenschaft für das Schachspiel vermittelt.
Schon früh hatten Louise und Charles begonnen, miteinander zu wetteifern – egal, ob es dabei um die Gunst beziehungsweise die Anerkennung der Großmutter ging oder um den Sieg beim Schachspiel. Sie versuchten sich ständig zu überbieten.
Mit der Zeit war aus den beiden spielerisch miteinander rivalisierenden Kindern mehr geworden. Sie waren nicht nur gleichgesinnt im Geist, sondern ähnlich gescheit und mutig. So waren sie zuerst unbefangene Konkurrenten, später enge Freunde. Sie hatten allerlei Unfug angestellt, ihre Grenzen ausgelotet und sich dabei als Komplizen in ihren Eulenspiegeleien gegenseitig gedeckt. So war es nahezu folgerichtig und fast vorhersehbar, dass sie später mit dem Heranwachsen und der gegebenen Vertrautheit ein Liebespaar geworden waren.
Wie oft hatte Charles an Louises Lippen gedacht? An die Augenblicke, in denen sie sich geküsst hatten? Daran, wie Louises Lippen sich anfühlten auf den seinen, auf seinem Hals, an ihren Geschmack und ihre Weichheit und wie ihr und sein Atem sich vermischten. Es war jedes Mal so, als ob er in ein tosendes Meer fiel, das ihn umhüllte und hin und her warf, aber dabei ein Gefühl tiefster Wärme und Geborgenheit schenkte.
Lust, Liebe, Leben, Frieden, das Gefühl, zu Hause zu sein mit Körper und Seele.
Aber sie waren Hochadlige, sie hatten die Pflicht ihres Standes zu erfüllen.
Louise war schon in jungen Jahren verheiratet worden und auch mit ihm hatte die Familie etwas Ähnliches vor.
Wie sehr hatte er darunter gelitten, seine Louise verheiratet zu sehen. Sie nur noch unter großem Aufwand und im Geheimen treffen zu können. Wissend, dass sie danach zu einem Mann zurückkehren musste, den sie sich nicht ausgesucht hatte und den sie weder liebte noch begehrte.
Warum verlangten ihre Familien dies, sie waren doch wie gemacht füreinander?
Ach Louise, seine erste, seine große Liebe.
Wenn damals nur nicht dieses unsägliche Malheur passiert wäre …
Charles schüttelte den Kopf, er wollte diesen Gedanken nicht nachgehen.
***
Ihrem Stand und ihren Aufgaben war es geschuldet, dass sich ihre Wege immer wieder gekreuzt hatten. Aber nach diesem sie trennenden Unglück hatte sich ihr Verhalten grundlegend geändert. Ihr Umgang miteinander war förmlich und den Anlässen entsprechend korrekt, aber distanziert und kalt. Waren sie wirklich zu Fremden geworden?
Louise ging ihren Weg, stolz und zielgerichtet.
Charles den seinen.
Doch die Bitterkeit und Verzweiflung steckten tief in Charles. Oft hatte er versucht, in der Schlacht sein Schicksal zu suchen, aber statt den Tod zu finden, hatte das Leben ihm Ruhm und Aufstieg geschenkt.
Sein todesverachtender Mut und seine Entschlossenheit wurden durch ein instinktives taktisches Geschick ergänzt, welches selten zu finden war. Er war in der Lage, in der Hitze der Schlacht und unter Todesgefahr einen kühlen Kopf zu bewahren und klare Entscheidungen zu treffen – als ob das Schlachtfeld ein großes Schachbrett sei. Es war letztendlich nur folgerichtig, dass er zum grand connétable Frankreichs wurde.
Louise hingegen war eine untadelige Ehefrau und am Hof wurden ihr Rat und ihre Meinung sehr geschätzt. Sie bekam Kinder und zog diese ganz nach dem Vorbild ihrer Großtante auf. Schulte sie ebenfalls in Staatsdingen, Philosophie, Religion und Kunst. Die Verantwortung der Erziehung oblag aber bald ganz ihr allein, da ihr Mann, der deutlich älter war als sie, früh verstarb.
Sie war mit dem Bruder des damaligen Königs verheiratet gewesen – und dieser König blieb kinderlos. Es war ihr also bald bewusst geworden, dass sie den zukünftigen König Frankreichs aufzog und ausbildete. Somit hatte sie schon früh begonnen,ihren Sohn auf seine zukünftige Rolle vorzubereiten. Dementsprechend hatte es nach der Krönung ihres Sohnes François niemanden gewundert, dass sie als seine engste Ratgeberin hinter dem Thron die Fäden spann.
So hielten Charles und Louise letztendlich gemeinsam das Schicksal Frankreichs in ihren Händen. Der eine auf dem Schlachtfeld mit Kanonen, Reiterei und Schwertern, die andere im Thronsaal mit Verträgen, Gesetzen und Bündnissen.
Jeder vortrefflich auf seinem jeweiligen Gebiet.
Aufgrund ihrer Aufgaben und Ämter waren sowohl Louise als auch Charles Mitglieder des königlichen Rates.
In den vergangenen Jahren hatten sie ein ums andere Mal im conseil privé des Königs zusammengearbeitet, immer höchst pflichtbewusst auf die Sache konzentriert und alle Gefühle und Emotionen zurücksteckend.
Manchmal bildete sich Charles ein, etwas in ihrem Blick gesehen zu haben. Insbesondere dann, wenn er müde war oder sich verwundbar fühlte. War es ein Hauch von Wärme und Mitgefühl, die er meinte in Louises Augen zu sehen? Oder war es eher der Wunsch seines Herzens, welches mit der Sturheit eines Maultiers einen Schimmer von Hoffnung an die frühere Liebe nicht aufgeben wollte, trotz aller Stockhiebe des Verstandes …
***
Auch Charles hatte heiraten müssen. Die Familie hatte bestimmt, ihn mit Suzanne von Beaujeau zu vermählen. Ziel dieser Heirat war es, die getrennten Familienlinien zusammenzuführen und somit das Land der Bourbonen zu einigen.
Suzanne de Beaujeau war zu dem Zeitpunkt der Eheschließung mit ihren vierzehn Jahren kaum mehr als ein schüchternes Kind, aber Charles hatte die Pflicht seines Standes zu erfüllen. Er hatte dieser arrangierten Ehe gegenüber wirklich keine hohen Erwartungen gehegt, aber er fügte sich gewissenhaft seinem Los.
In ritterlichen Idealen erzogen, behelligte er seine Kindfrau nicht, sondern ließ sie erwachsen werden und stand ihr dabei respektvoll zur Seite. Doch dann geschah tatsächlich etwas, was Charles nie zu träumen gewagt hätte: Es entwickelten sich zuerst Achtung, dann Freundschaft, später Zuneigung und zum Schluss wirklich Liebe.
Oh, Charles war endlich wieder glücklich. Das Paar war sich sehr zugetan und genoss das Eheleben – und sie nahmen sich viel Zeit füreinander. Es dauerte bis zu Suzannes 26. Lebensjahr, bevor sie ihren gemeinsamen Sohn Francois auf die Welt brachte.
Als sein Sohn damals auf die Welt kam, hatte Charles wirklich geglaubt, dass Gott ihm vergeben hätte. Er dankte dem Himmel und seiner Frau. Aber er hatte sich vertan – das Schicksal war gegen ihn und sein Glück. Es belehrte ihn alsbald eines Besseren: Schon ein Jahr später starb der kleine Francois an einem Fieber.
Charles hatte, als das Unglück geschah, lange den kalt gewordenen, leblosen Körper seines Sohnes in den Armen gehalten und taube Verzweiflung hatte sich auf seine Seele gelegt.
Damals wurde er sich zum ersten Mal richtig bewusst, was er Louise angetan hatte. Oft hatte er sich mit Suzanne über das Heranwachsen des Kindes in ihrem Schoß unterhalten und sie hatte ihm erzählt, was in ihrem Herzen und ihrem Körper vorging. Aber all das hatte er damals in jungen Jahren nicht gewusst oder auch nur im Entferntesten erahnen können. Seine damalige Tat warf düstere Schatten auf sein Gemüt.
Die Trauer des Paares wich aber glücklicherweise alsbald neuer Hoffnung: Suzanne war erneut schwanger! Freudig und behutsam wachten die beiden über Suzannes sich weiter und weiter wölbenden Bauch, bis sie zur Niederkunft kam. Und sie brachte nicht nur einen Sohn auf die Welt, sondern zwei! Zwillinge!Doch die Freude war nur allzu kurz: Die zwei kleinen Brüder verstarben noch bei oder unmittelbar nach der Geburt im Kindbett. Charles versuchte damals mit aller Macht nicht zu verzweifeln. Er grämte sich fürchterlich, denn er beschuldigte sich, durch seine Sünde dieses Schicksal über seine Kinder heraufbeschworen zu haben. Gottes Strafe für seine Sünde an Louise!
Aber mit eisernem Willen ließ er sich dies nicht anmerken, stattdessen verwendete er all seine Kraft darauf, seine Frau zu trösten und wieder aufzubauen. Schließlich hatte er noch sie! Schließlich hatten sie sich wenigstens noch gegenseitig in dieser grausamen Welt.
Doch Suzanne genas trotz Charles’ Fürsorge nur langsam und ihre Lebensfreude schien eine tiefe Wunde davongetragen zu haben. Im Winter des Folgejahres erkrankte auch sie, wie ihr Erstgeborener, an Fieber. Sie litt lang an der Krankheit, bevor sie im folgenden Frühjahr verstarb – und Charles sich in seiner Trauer und Verzweiflung alleine wiederfand.
Der König hatte seinen Rat zusammengerufen. Der conseil privé traf sich in der Bibliothek des eigens für diesen Anlass errichteten provisorischen Schlosses. Das Château de Guines war ein opulentes, unerhört großes Bauwerk. Es maß an jeder Seite etwa dreihundert Fuß, war in vier Flügel aufgeteilt und der Innenhof als wunderbarer Garten zum Lustwandeln konzipiert. Das etwa dreißig Fuß hohe Bauwerk war eine architektonische Mischung aus Holzbau, Fachwerk und riesigem Zelt: Die hohen Wände bestanden nämlich aus Leinwänden, welche auf tragende Balken gespannt und aufwendig bemalt worden waren. Treppenfluchten verbanden die aus Schiffsbohlen erbauten Stockwerke.
Die Räume des Erdgeschosses waren getäfelt, hatten hohe Fenster und unterschieden sich auf den ersten Blick nicht sehr von denen eines normalen Palastes. Je höher man aber stieg, umso luftiger wurde die Konstruktion. Im ersten Stock sah das Gebilde noch wie ein Fachwerk aus, bei dem die Lücken durch die bemalten Leinensegel geschlossen waren. Das zweite und letzte Stockwerk mutete hingegen schon eher wie ein Zelt an.
Charles kam mit René de Savoie scherzend in die Bibliothek, die sich wie die anderen Arbeits- und Residenzzimmer im Erdgeschoss des hinteren Flügels befand. Die alten Freunde hatten in den letzten Tagen vor dem Eintreffen König Heinrichs viel Zeit miteinander verbracht. Hatten gelacht, gescherzt, geritten, gefochten und in jenen Augenblicken sich in ihre unbeschwerte Kindheit zurückversetzt gefühlt. Ohne dabei an die Politik denken zu müssen.
Sie waren aufgeräumter Stimmung, als sie den mit Büchern gefüllten Raum betraten und dort auf Gaston de la Foix trafen. Als die drei Helden der italienischen Feldzüge zusammenkamen, wurde es kurzzeitig sehr laut in der Bibliothek. Die Ernsthaftigkeit und angemessene Lautstärke kehrten zurück, als Antoine Duprat, der Kanzler des Königs, eintraf und mit neugierig nach oben gezogenen Brauen schaute, was hier vorging. Es fehlte nur noch der König, seine Schwester Marguerite und die Königinmutter Louise, die aber schon angekündigt wurden und kurze Zeit später eintrafen.
Mit einem Schlag wurde die Atmosphäre förmlich, wenn nicht sogar kühl. Die Blicke, die Louise und Charles miteinander austauschten, zerschnitten geradezu die Luft.
„Nun gut, meine Teuersten, ich habe den Rat zusammengerufen für die letzten Anweisungen, bevor wir König Henry und seine Begleiter offiziell begrüßen und die Festlichkeiten eröffnen“, sprach König François. „Ich möchte, dass ihr meine Worte weitergebt. Ich wünsche, dass wir uns alle in den nächsten Tagen von unserer fröhlichsten und vornehmsten Seite zeigen, sodass unsere englischen Besucher den Adel und Glanz Frankreichs bewundern können. Seid galant, seid großherzig, seid gebildet, seid humorvoll, seid edelmütig! Keine sorgenvollen Mienen, keine Beleidigungen, kein offener Unmut. Was wir an Ernstem unter uns zu besprechen haben, werden wir im kleinen Kreise tun. Nutzt diese Tage, um die Engländer zu beeindrucken. Ihr seid der Glanz Frankreichs. Überbietet sie, wo immer ihr könnt, auf dass sie aufschauen mögen zu uns – ich möchte Henry beeindrucken und als Verbündeten gewinnen.“
Antoine Duprat übernahm auf einen Wink des Königs das Wort:
„Meine hohen Damen und Herren, es wird dieser Tage mehrfach die Möglichkeit geben, sich in Frieden mit unseren Gästen zu messen. Es wird ein Turnier stattfinden, wir werden philosophische Debatten führen und Musik und Poesie lauschen. Der König wünscht, dass alle rege daran teilnehmen und somit zum Ruhm Frankreichs beitragen.“
Louise räusperte sich und sprach:
„Zudem wünschen wir, dass ihr von der Zeit dieses Zusammentreffens Gebrauch macht, um auf familiärer Ebene mit unseren zukünftigen Verbündeten Bande zu schließen. Nutzt dieses Ereignis für die Anbahnung vorteilhafter Verbindungen für Eure Häuser und für Frankreich. Ich möchte über diese Entwicklungen ins Bild gesetzt werden. Mein Bureau liegt hier direkt neben der Bibliothek.“
„So, bereitet euch vor, wir werden Henry und den Seinen zur dritten Stunde begegnen. Gebt meinen Willen weiter!“, sprach der König und löste den Rat auf.
„Es wird wohl auch für dich Zeit zu heiraten, mein lieber Freund“, sprach Charles zu René, dem er den Arm umgelegt hatte, als sie aus der Bibliothek gingen.
„Mon Dieu, ich weiß nicht, lieber würde ich die neue Welt entdecken und Länder für die Krone erobern“, entgegnete dieser.
„Ich fürchte, unser König hat andere Entdeckungen und Eroberungen für dich im Sinn!“, erwiderte Charles – beide lachten und verließen den Palast.
Louise schaute ihnen mit unergründlichem Blick nach. Als sie ihrem Blick entschwunden waren, seufzte sie. Das unbeschwerte Lachen der beiden hatte sie ungewollt in ihre Jugend versetzt. So oft hatte sie es gehört, war mit eingestimmt und hatte es genossen. Charles schien nicht nur der einzige Mann zu sein, der sie ab und an im Schach besiegen konnte, er schien auch der Einzige zu sein, der ihre Selbstbeherrschung und emotionale Ruhe in Aufruhr bringen konnte.
***
Die Begegnung der beiden Hofstaaten hätte wohl kaum prächtiger sein können. Die Felder schienen in Gold und Seide getaucht. Es waren Perlen, Edelsteine, teure Stoffe, verzierte Rüstungen in einer Anzahl zu sehen, wie man sie selbst in Fabeln und Märchen für übertrieben gehalten hätte. Jeder Maler hätte eine Freude gehabt, diese schillernde Menge an wunderschönen Damen und edlen Herren auf Leinwand festhalten zu dürfen.
Am Ende der offiziellen Begrüßung inszenierte König Henry vor versammeltem Publikum gekonnt die symbolische Übergabe seines Schwertes an König François – als Zeichen des unbedingten Willens, den Frieden zu besiegeln.
Frankreichs König stand dem nicht nach und überreichte daraufhin wiederum sein Schwert dem König Englands. Beide Monarchen umarmten sich vor der applaudierenden Menge.
Nur Odet applaudierte nicht, unbeholfen und mit unglücklichem Gesicht hielt er das Schwert Henrys, das der König ihm überantwortet hatte. Odet hatte wirklich keine gute Figur gemacht. Als der König nach dem Marschall rief, um ihm Henrys Schwert zu überlassen und sich sein eigenes bringen zu lassen, hatte Odet erst völlig teilnahmslos das Ganze gespannt verfolgt. Charles hatte Gaston den Ellbogen in die Rippen gestoßen und gezischt: „Dein Bruder!“ Gaston hatte daraufhin seinen jüngeren Bruder angefahren, der viel zu spät, dafür überhastet zum König eilte; er hatte sich selbst zum Narren gemacht.
Die Vesper wurde als Willkommensmahl eröffnet. Auserlesene Speisen wurden auf einer großen Menge von Tischen den Gästen präsentiert. Das Abendmahl war so angelegt, dass es fast zwanglos in der Form eines Spaziergangs zu sich genommen werden konnte. Der Park füllte sich mit wandelnden schönen Menschen, die zusammenkamen, tranken, aßen und lachten.
„Na, was macht denn mein schönes Mailand so?“, fragte Charles Odet, als er ihm am Tisch mit den Neugier erweckenden Früchten aus der Neuen Welt über den Weg lief. Der junge de la Foix zuckte merklich zusammen und ihm entglitt fast der Teller. Mehr als „Eure Durchlaucht“ bekam er nicht heraus.
„Einen schönen Titel und Aufgabe hat man Euch ja jetzt gegeben. Seht zu, dass Ihr in die Stiefel hineinwachst, die Euer Bruder so gut ausgefüllt hatte“, setzte Charles nach. Odet nickte, stammelte etwas von „sich Mühe geben“ und war sichtlich überfordert mit der Situation. Charles musste zugeben, dass der Junge ihm leidtat. Er entließ ihn mit einem gönnerhaften Nicken. Das Leben eines Adligen ist nicht so einfach, wie viele annehmen, dachte er bei sich. Er ließ sich einen Pokal roten Weins einschenken, nicht aus einem der beiden Weinbrunnen, die aufgebaut waren und um die sich mittlerweile lautstark einige englische Ritter versammelten, um ihren gewaltigen Durst zu löschen, sondern an einem der Seitentische, wo er den guten Wein aus dem Burgund wusste. Er trank ihn genüsslich und betrachtete dabei die Anwesenden.
Eine wirklich illustre Gesellschaft tummelte sich dort vor seinen Augen. Könige und Königinnen, Herzöge, Kardinäle, hoher und niederer Adel, Dichter, Philosophen, Maler, Gelehrte. Es war fast so, als ob Europas feinste Häuser und klügste Köpfe sich hier im Pas-de-Calais eingefunden hätten.
Er sah seine Schwester Marie-Louise mit Gaston de la Foix zusammen flanieren, seine andere quirlige, junge Schwester unterhielt eine Gruppe Gäste, unter ihnen die Königin Portugals. Die Könige saßen beieinander und tauschten belanglose Höflichkeiten aus. Einige Engländer sprachen dem französischen Wein dermaßen zu, dass sie bereits jetzt einiges an Benehmen zu wünschen übrigließen.
Apropos Engländer, Charles wollte nach seinem alten Freund Edward Stafford, dem Duke von Buckingham, schauen. Er hatte sich gefreut, ihn und seine Gattin wiederzusehen, bei denen er sechs Monate als Gast verbracht hatte. Wobei sich Charles fragte, ob Gast oder Gefangener die korrekte Bezeichnung sei. Welch sonderbare Geschichten das Leben doch für einen bereithält, erinnerte sich Charles.
Edward, den er gern Buckingham nannte, hatte ihn vor langer Zeit auf dem Schlachtfeld gefangen genommen. Allerdings war er von Charles’ Mut und Würde so beeindruckt gewesen, dass er sich vor seinem König eingesetzt hatte, Charles ohne Lösegeldzahlung frei zu lassen. Der König kam tatsächlich diesem Wunsch nach, forderte aber als Auflage von Charles das Versprechen, den Schlachtfeldern für ein halbes Jahr fern zu bleiben. Diese Zeit hatte er bei den Buckinghams in England verbracht und sowohl zu Edward als auch zu seiner Frau Eleanor Percy eine echte Freundschaft geknüpft. Er hatte die gesamte Familie der beiden kennen und schätzen gelernt, hatte mit ihnen an Jagden und Gesellschaften teilgenommen und sie hatten ihm London gezeigt. Er hatte oft mit beiden Eheleuten über Philosophie und Staatslehre debattiert und mit Edward Schach gespielt, der aber fast ständig verlor. Die Buckinghams waren von hohem Stand und eine von Gott gesegnete Familie: Eleanor war gleichsam Ratgeberin, Verbündete und Stütze für ihren Mann. Sie waren mit Kindern gesegnet und sich einander in Liebe zugetan. Ein Schicksal, welches Charles nie gegönnt gewesen war …
***
So begab sich Charles auf die Suche nach seinen Freunden, als er einer außergewöhnlich schönen, anmutigen und erlesen gekleideten jungen Dame begegnete.
„Mylady“, sprach Charles sie an, der von ihrer Ausstrahlung angetan war, „bisher war ich immer der Meinung, Frankreichs Gärten brächten die schöneren Rosen hervor als die englischen. Schon nur wegen der Sonnentage und unserem gottgesegneten Boden, aber Ihr belehrt mich eines Besseren! Keine Rose Frankreichs kann Eurer Schönheit standhalten!“ Die Dame war ebenso von dem Kompliment, als auch von Charles’ Charme angetan. „Darf ich so forsch sein und Euch bitten, mir Euren Namen zu nennen, wunderschöne Lady?“, erkundigte sich Charles mit einer Verbeugung.
Die Antwort war ebenso anmutig wie ihr Äußeres. Mit einem formvollendeten Knicks erwiderte sie: