Herzklopfen im Ländle - Sofia Mai - E-Book
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Herzklopfen im Ländle E-Book

Sofia Mai

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Beschreibung

Ein herzerwärmender Wohlfühlroman. Leonie, pflichtbewusst und rational, ist Richterin am Ulmer Amtsgericht. Als ihre alleinerziehende Schwester Sabine, die bei Tübingen einen Hof mit Café bewirtschaftet, einen schweren Unfall hat, tauscht Leonie kurzerhand Richterinnenrobe gegen Erziehungsratgeber. Doch ihre Unerfahrenheit führt schnell ins Chaos. Und dann ist da noch Zimmermeister Max, der ihr aufregend schönes Herzklopfen beschert. Aber für Romantik ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ... oder doch?

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Sofia Mai lebt mit ihrem Mann in einem Dorf am Rande des Naturparks Schönbuch bei Tübingen und liebt das Leben auf dem Land. Nach einem Studium und verschiedenen beruflichen Stationen begann sie 2005 zu schreiben. Unter anderem Namen hat sie bereits zahlreiche Kriminalromane, Kurzkrimis und Ausflugsführer veröffentlicht.

www.sofia-mai.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer unter Verwendung der Motive von istockphoto.com/jimfeng, shutterstock.com/pukach, shutterstock.com/Nella

Lektorat: Julia Lorenzer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-102-7

Roman

Originalausgabe

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Für Frank

Wir haben Fröhlichkeit nötig und Glück, Hoffnung und Liebe.

Vincent van Gogh

1

»Schau da nicht so hin!« Sabine nahm zwei Weingläser aus der cremefarben lasierten Holzvitrine. Ein aus den fünfziger Jahren restaurierter alter Küchenschrank, dessen verglaste Türen noch mit einem Schlüssel geöffnet werden mussten.

»Ich schau doch gar nicht.« Leonie strich sich mit Unschuldsmiene eine Strähne ihrer dunklen Haare hinters Ohr. Es war eine verräterische Geste. Säße sie im Gerichtssaal, wäre ihr sofort klar, dass die Person unsicher war, schwindelte oder sich ertappt fühlte.

»Du hast auf das Regal geschaut.« Ihre Schwester ging zum Kühlschrank, um den Roséwein herauszuholen. »Ich weiß, dass da Staub liegt.«

»Ja und?«

Sabine warf ihr stirnrunzelnd einen Blick über die Schulter zu. Eine blonde Locke fiel ihr ins Gesicht. »Hast du gerade ›ja und‹ gesagt? Mich wundert es, dass du noch nicht zum Staubtuch gegriffen hast.«

»Och, Binchen, so schlimm bin ich doch gar nicht.«

Doch, das war sie. Leonie wusste es selbst. Sie brauchte Ordnung, und der Anblick von Staub war ihr seit jeher ein Gräuel. In ihrer geräumigen, minimalistisch eingerichteten Drei-Zimmer-Wohnung in Ulm stand kaum Krimskrams herum, der beim Staubwischen störte. Da war schnell durchgeputzt.

Bei Sabine war das anders: Sie lebte auf dem Land. In Gütlingen. Ein für Leonies Empfinden viel zu kleines Dorf am Rande des Naturschutzparks Schönbuch. Idyllisch, aber sterbenslangweilig. Eine Meinung, die sie mit Sabines vierzehnjähriger Tochter Amelie teilte. Ein kleiner Trost war, dass Tübingen keine fünfzehn Autominuten entfernt lag, sofern man nicht gerade zur Hauptverkehrszeit in die Universitätsstadt fahren wollte. Da staute sich der Verkehr häufig, sodass man dann wesentlich mehr Zeit für die Strecke einplanen musste.

Sabine bewohnte mit ihrer Tochter, die in vierzehn Jahren das Wort »Ordnung« noch nicht gelernt hatte, ein kleines, mit eigenhändig restaurierten Möbeln und unzähligem Schnickschnack zugestelltes Bauernhaus. Dazu kamen ein verfressener Hund, ein riesiger Garten und »Bines Kaffeestüble«, ein kleines Café, das sie am Wochenende in der zum Hof gehörenden Scheune betrieb.

Wie sollte man dieses Haus auch nur ansatzweise staubfrei halten? Vor allem jetzt im Sommer, wo Türen und Fenster offen standen und der Schmutz ungebremst mit der warmen Luft hereinwehte. Die Fliegengitter vor den Türen boten wenig Schutz.

Racka, der braune Labrador ihrer Nichte, tapste durch die Terrassentür und wedelte freudig mit der Rute.

»Na, Junge, hast du uns vermisst?« Leonie strich ihm über den Kopf, was den Hund dazu veranlasste, sich mit seinem gesamten Gewicht gegen ihr Bein zu lehnen und weitere Streicheleinheiten einzufordern.

»Wir haben Sommer. Da verbringe ich die Tage doch nicht im Haus mit Staubwischen. Da bin ich draußen im Garten und –«

»Binchen, ich habe doch gar nichts gesagt.« Leonie legte ihrer Schwester beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Auch wenn sie zu Hause ihre Ordnung brauchte, konnte sie bei Sabine tolerant sein. Bine war eben Bine. »Alles ist gut. Ich fühle mich sehr wohl bei dir.« Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Sorry.« Sabine wandte sich ihr zu, ihre braunen Augen hatten einen verdächtigen feuchten Schimmer.

Ihre kleine Schwester war schon immer nah am Wasser gebaut gewesen, und heute schien sie besonders unter Anspannung zu stehen, stellte Leonie fest.

»Ich freue mich einfach so, dass du hier bist«, fuhr Sabine fort. »Und ich möchte, dass alles perfekt ist.«

»Du tust ja so, als wäre ich ewig nicht mehr bei dir gewesen.«

»Zuletzt an Weihnachten.«

»Im Ernst? War ich nicht zwischendurch mal …?«

Sabine schüttelte den Kopf. »Du hast sogar Mellys Konfirmation verpasst.«

»Aber da war ich krank.« Es hatte Leonie leidgetan, dass sie Amelies großen Tag verpasst hatte.

»Ich mache dir ja auch keinen Vorwurf.«

Weihnachten. Jetzt war es Mitte Juli! Sie telefonierten jeden Sonntag, vielleicht hatten sie daher nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen war. Leonie sah auf die Weinflasche, deren Glas langsam in der Wärme des Zimmers beschlug. »Da hätte ich wohl besser einen Schampus mitgebracht.«

Damit kehrte das Lächeln in Sabines Gesicht zurück. »Ein kühler Rosé ist genau das Richtige für einen lauen Sommerabend. Es ist so schön, dass du da bist!« Sie entkorkte die Flasche und füllte den Wein in die Gläser. »Käsehappen?«

»Für uns oder für Racka?«

»Wenn der Käse kriegt, pupst er uns den ganzen Abend die Bude voll.«

Leonie zog die Nase kraus. »Dann besser nur für uns. Soll ich dir was abnehmen?«

Sabine drückte ihr die Weingläser in die Hand. »Geh schon raus, ich komme gleich nach.«

Sie balancierte die großzügig gefüllten Gläser von der Wohnküche durch die Fliegenschutztür nach draußen. Auf einer gepflasterten Terrasse stand ein betagter massiver Holzgartentisch, drumherum sechs Stühle. Die gelb-rot gemusterten Auflagen waren von der Sonne ausgeblichen. Wäre morgen nicht Sonntag, könnte sie mit Sabine ins Gartencenter fahren und neue Auflagen kaufen, bedauerte Leonie. Sie hätte ihrer Schwester gern eine Freude gemacht.

Ein schmales Kräuterhochbeet grenzte direkt an die Terrasse, und in der warmen Abendluft stieg Leonie der Duft von Thymian und Rosmarin in die Nase. Ein paar eifrige Bienen schwirrten umher und sammelten fleißig Blütenpollen. Die Wäschespinne auf der Rasenfläche war zusammengeklappt. Auf der anderen Seite des Rasens spendete ein großer, knorriger Birnbaum zwei klapprigen Gartenstühlen etwas Schatten. Hinter dem Rasen erstreckte sich ein Gemüsegarten mit zahlreichen Beeten.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Leonie, von wem Sabine ihren grünen Daumen hatte. In Leonies Wohnung überlebten mit Mühe zwei Orchideen, die mit etwas Glück alle paar Jahre blühten, und eine robuste Yucca-Palme, die allerdings schon fast bis an die Decke reichte.

Auch ihre Eltern hatten nie etwas für Gartenarbeit übriggehabt. Ihr Vater hatte bis vor wenigen Jahren als Richter am Landesarbeitsgericht in Stuttgart gearbeitet, ihre Mutter war Juristin in einem international aufgestellten Konzern gewesen. Seit der Pensionierung ihres Vaters genossen die beiden ihren Altersruhestand auf Gran Canaria.

Leonie hatte nicht erwartet, dass ihre Eltern, die ihr Leben lang jeden Tag streng durchgetaktet hatten, mit der plötzlich zur Verfügung stehenden freien Zeit zurechtkommen würden. Allerdings strukturierten sie ihren Ruhestand mit einem gut gefüllten Terminkalender. Die beiden spielten regelmäßig Golf, besuchten Vorträge und hatten einen großen Bekanntenkreis. Zudem war ihre Mutter noch immer eine gefragte Referentin für Gastvorträge an Universitäten und bei großen Wirtschaftsunternehmen in aller Welt.

Racka suchte sich ein schattiges Plätzchen an der Hauswand. Es war acht Uhr abends. Die untergehende Sonne tauchte die Welt in sanftes goldoranges Licht, das die Landschaft wie gemalt aussehen ließ. Die Steine strahlten die vom Tag aufgenommene Wärme ab. Vögel zwitscherten ein Abendlied in den Hecken, eine Elster keckerte auf dem Dach. Leonie sog die Luft tief in ihre Lungen. Es war so ruhig und friedlich hier auf dem Land.

In ihrer Ulmer Stadtwohnung würde sie jetzt durch die gekippten Fenster neben dem allgemeinen Verkehrslärm das muntere Plaudern der Jugendlichen hören, die auf dem Weg zu einer Feier, in einen Club oder zu einem Sit-in an der Donau wären. Irgendwo würde zwischendurch ein Motor röhren. Irgendwann eine Sirene von Polizei oder Ambulanz.

Ein Klingeln an der Haustür unterbrach ihre Gedanken, kurz darauf erklang Sabines fröhliche Stimme. Leonie verstand nicht, was gesprochen wurde, lauschte nur dem kurzen Geplänkel. Der Gast hatte eine angenehme Stimme und sagte anscheinend etwas Nettes, das Sabine zum Lachen brachte.

Wer das wohl war? Leonie überlegte, ins Haus zu gehen und durch den Flur zur Tür zu linsen, entschied sich aber dagegen. Stimmen entfachten in ihrem Kopf Bilder, die häufig nicht mit der Realität in Einklang zu bringen waren. Diese sonore, warme Stimme ließ in ihr das Bild eines großen, sportlichen Mannes erscheinen. Selbstbewusst, fürsorglich und freundlich. In Wahrheit war er vermutlich mittelgroß, untersetzt, mit lichtem Haarkranz und Doppelkinn, geschieden und darauf aus, ihrer Schwester zu gefallen. Ab vierzig sahen die wenigsten Männer wie Brad Pitt oder George Clooney aus.

Sie schüttelte den Kopf über ihre Oberflächlichkeit. Mit ihren zweiundvierzig Jahren war sie auch nicht mehr so knackig und faltenfrei wie vor zwanzig Jahren. Ihre Figur war noch einigermaßen sportlich schlank, aber an ihren Oberschenkeln gab es Anzeichen von Cellulitis. Und die eigentlich aschblonden Haare trug sie als konservativen mittellangen Pagenschnitt – seit zwanzig Jahren schokobraun gefärbt.

Sabine kam aus dem Haus, in einer Hand eine Platte mit Käsewürfeln, in deren Mitte ein Schälchen mit einem Kräuterdip stand, in der anderen eine Schüssel Cracker. Gesunde Ernährung sah anders aus. Egal. Es war Samstagabend, da durfte man es sich auch mal gut gehen lassen.

»Wer war das gerade an der Tür?«

»Das war Max. Er hat mir ein paar Zwetschgen von seiner Obstwiese gebracht.«

»Aha, der Max«, erwiderte Leonie mit hintergründigem Grinsen. »Warum habe ich den Namen noch nie gehört?«

»Weil du deiner kleinen Schwester anscheinend nicht richtig zuhörst«, erteilte Sabine ihr einen Tadel. »Ich kenne Max schon …«, sie überlegte kurz, »knapp zwei Jahre. Letztes Jahr habe ich ihm im Herbst bei der Apfelernte und beim Saftmachen geholfen. Davon habe ich dir sicher erzählt. Du hast den Saft doch schon bei mir getrunken.«

In Sabines Küche stand auf einem Holzgestell eine »Bag-in-Box«, ein Pappkarton, in dem sich ein mit Apfelsaft gefüllter Fünf-Liter-Schlauch befand. Mit Hilfe eines Minizapfhahns konnte man sich den Saft direkt aus dem Schlauch ins Glas füllen. Leonie überdeckte ihr schlechtes Gewissen mit einem lauernden Lächeln. »Ihr macht Apfelsaft zusammen, und er bringt dir an einem Samstagabend frisch gepflückte Zwetschgen?«

»Er bringt mir oft Obst, weil er weiß, dass ich damit leckere Sachen zubereite, von denen er immer einen Teil abbekommt.«

»Soso«, erwiderte Leonie süffisant.

»Wie du das sagst! Er kriegt ein paar Gläser Marmelade oder Mus oder Kuchen. Sonst nix.«

»Wie alt ist denn dein Max?«

»Fünfundvierzig. Jetzt setz dich endlich hin und grins nicht so blöd. Er ist nicht ›mein‹ Max, sondern lediglich ein Freund.«

Leonie ließ sich neben ihrer Schwester nieder, sodass sie beide die Aussicht auf den Garten genießen konnten. In einem Staudenbeet blühten üppig Dahlien, Sonnenhut, Gladiolen und Ringelblumen. Rosen säumten den Gartenzaun. In der Ferne zog sich der bewaldete Hang zum Schönbuch hinauf. Der Himmel hatte sich inzwischen in pastelligen Orange-, Rot- und Lilatönen verfärbt. Ein Abend wie aus dem Bilderbuch, ging es Leonie durch den Kopf. Wann hatte sie so einen Anblick zuletzt bewusst genossen? Sie seufzte zufrieden. »Schön hast du es hier.«

»Ich sage jetzt nicht: Das könnten wir viel öfter zusammen genießen.« Sabine prostete ihr zu.

»Ich weiß, dass ich zu selten bei dir bin. Aber die Arbeit …«

»Wenn ich das Café nicht hätte, könnte ich auch öfter mal zu dir kommen. Dann könnten wir unseren Wein gemütlich an der Donau trinken. Weißt du noch?«

»Das ist ewig her, oder? Wie alt war Melly damals?«

»Sechs, kurz vor der Einschulung.«

Jetzt steckte Amelie mitten in der Pubertät und trieb Sabine oft genug an den Rand der Verzweiflung, wie Leonie aus ihren Telefonaten wusste. An diesem Abend war sie bei ihrer Freundin und würde dort auch übernachten. »Wir haben sturmfreie Bude«, hatte Sabine fröhlich zur Begrüßung verkündet.

»Wie läuft es bei dir?«

Leonie nippte an ihrem Rosé. Der Wein hatte eine erfrischend fruchtige Note. »Drück mir die Daumen. Am Landgericht ist eine Stelle als Beisitzerin frei geworden. Ich habe meinen Hut noch mal in den Ring geworfen.«

Ihr Ex-Freund Jochen Gruber, mit dem sie nach der Trennung in kollegialer Freundschaft verbunden geblieben war, hatte ihr davon berichtet. Sie hatte Jochen während des Referendariats kennengelernt. Ihre Beziehung war ewig her und nur von kurzer Dauer gewesen. Jochen hatte vor zwölf Jahren geheiratet, um sich fünf Jahre später wieder scheiden zu lassen. Aber er hatte Karriere gemacht und war inzwischen Vorsitzender Richter am Ulmer Landgericht, während sie noch immer als Richterin am Amtsgericht tätig war.

Die Bewerbung beim Landgericht war nicht ihr erster Versuch. Doch bisher waren die Stellen immer mit anderen Kollegen oder Kolleginnen besetzt worden. Sie wusste nicht, woran es lag, und das frustrierte sie. An schwachen Tagen so sehr, dass sie sich selbst in Zweifel zog und sich fragte, ob sie sich für den richtigen Beruf entschieden hatte.

Was Unsinn war. Sie hatte das zweite Staatsexamen hervorragend abgeschlossen, hatte im Referendariat und auch in der Probezeit beste Beurteilungen bekommen. Aber seit sie die Stelle als Richterin beim Ulmer Amtsgericht angetreten hatte, stagnierte ihre Karriere. Und das waren nun immerhin schon acht Jahre. Dieses Mal hatte sie sich auf einen Posten als Beisitzerin beworben. Vielleicht gelang es ihr über diesen kleinen Umweg, der ersehnten Stelle als Vorsitzende Richterin am Landgericht näher zu kommen.

Sabine seufzte. »Wenn das klappt, hast du doch sicher noch mehr zu tun als bisher.«

»Nicht mehr, nur was anderes. Spannendere, größere Fälle.«

»Ich bewundere dich immer wieder, wie du das kannst. Jeden Tag nur Streit und Konflikte. Mir reicht schon der Zoff mit Melly.«

»Ich bin dazu da, diese Konflikte zu lösen, das ist doch eine schöne Aufgabe.«

»Ja, vielleicht, aber du greifst doch in das Leben der Menschen ein.«

»Das haben sie häufig genug selbst zu verantworten. Und manchmal gibt es ja auch einen Freispruch.« Leonie nahm einen Cracker, tunkte ihn in den Frischkäse-Dip und biss genüsslich ab. »Lecker. Selbst gemacht?«

»Mit Kräutern aus dem eigenen Garten. Die Cracker sind auch selbst gebacken.«

Leonie betrachtete das kleine Gebäckstück. »Das finde ich viel komplizierter, als ein Urteil zu sprechen.«

»Beim Backen gibt es zwar keine Gesetze, aber Rezepte.« Sabine zwinkerte ihr lächelnd zu. Sie freute sich über das Lob ihrer großen Schwester. »Was macht Jochen? Siehst du ihn noch?«

»Hin und wieder treffen wir uns auf dem Golfplatz oder zum Essen. Er hat mir den Tipp mit der Stelle beim Landgericht gegeben.«

»Würdet ihr dann zusammenarbeiten?«

»Nein, er macht Strafrecht. Die Stelle, auf die ich mich beworben habe, ist Zivilrecht.« Leonie griff nach einem zweiten Cracker. »Genug von meiner Arbeit. Erzähl mir den neuesten Dorftratsch aus Gütlingen.«

Sabine überlegte einen Moment. »Wir bekommen Glasfaser-Internet.«

»Wow! Anschluss an die große weite Welt.«

»Hey! Internet haben wir jetzt schon. Ich weiß gar nicht, wozu ich Glasfaser überhaupt brauche, aber Melly meinte, wenn ich da nicht mitmache, werden wir total abgehängt.« Sabine verzog skeptisch den Mund. »Ich habe ihr gesagt, dass das teuer ist und sie dann Zeitungen austragen muss, damit wir uns das finanziell leisten können.«

Leonie riss bestürzt die Augen auf. »Binchen, brauchst du Geld? Ich kann dir aushelfen. Ich –«

Sabine winkte ab. »Melly soll einfach lernen, dass das hier nicht das Schlaraffenland ist und ich keinen Dukatenesel im Stall stehen habe. Dinge kosten Geld – auch Glasfaser-Super-Turbo-Internet.«

»Ja, ich denke, das ist pädagogisch sehr wichtig.« Leonie nickte anerkennend.

Sabine prustete los. »Du sprichst, als wärst du meine zuständige Sozialarbeiterin.«

»Entschuldige, ich finde es aber wirklich gut, dass du sie da in die Pflicht nimmst.«

»Na ja, schauen wir mal, wer am Ende des Tages die Zeitungen austrägt. Zuverlässigkeit ist nämlich eines der Wörter, die meine liebe kleine Melly noch nicht gelernt hat.« Sabine hielt ihr Glas ins Abendlicht. »Der ist lecker, fruchtig, wie flüssige Erdbeeren. Ich stell mal noch die zweite Flasche in den Kühlschrank.«

»Was hast du denn heute noch vor?«

»Leni, wir haben sturmfrei! Kein Gör, dem wir ein gutes Vorbild sein müssen, und morgen ist Sonntag. Ausschlafen! Wir werden bis in den frühen Morgen hier sitzen, Wein trinken, Käsehappen essen und quatschen.« Wie zum Beweis, dass sie an diesem Abend noch einiges vorhatte, leerte Sabine ihr Glas.

»Dann brauche ich aber dringend ein Mückenspray. Mich haben schon mindestens drei Biester angefallen.«

»Bring ich dir mit.« Sabine verschwand im Haus.

Leonie ließ den Blick wieder in die Ferne schweifen. Sabine wohnte ein Stück außerhalb von Gütlingen auf einem ehemaligen Aussiedlerhof. Haus und Scheune gehörten ihr, die Felder, die sich direkt im Anschluss an den Garten erstreckten, hatte ein Landwirt übernommen. Die alte Scheune hatte Sabine vor einigen Jahren zu einem kleinen Café ausgebaut, in dem sie freitag- und samstagnachmittags ihren eigenen Kuchen verkaufte.

Der Mais stand hoch auf den Feldern, etwas weiter dahinter erhoben sich die bewaldeten Hänge des Naturparks Schönbuch, zwischendrin gab es Streifen, die als Weinberge bewirtschaftet wurden. In der Ferne erklang der Ruf eines Milans, der auf der Suche nach einem späten Abendessen seine Kreise zog.

Leonie zuckte zusammen, als Racka unerwartet aufsprang und an den Zaun stürmte. Eine Katze ergriff fauchend die Flucht. So gemütlich und friedfertig der Labrador auch war, mit Katzen kam er nicht klar. Der Hund tapste zurück und legte seine Schnauze auf Leonies Schoß, in der Hoffnung auf einen Cracker oder Käsehappen zur Belohnung, weil er den Eindringling erfolgreich vertrieben hatte.

»Vergiss es, mein Freund.«

Mit einem enttäuschten Schnaufen trottete er wieder zur Hauswand. Seine feuchten Lefzen hatten eine feine Schleimspur auf ihrem Rock hinterlassen. Leonie wischte sie mit der Serviette weg.

Sabine kehrte auf die Terrasse zurück und drückte ihr eine Sprühflasche in die Hand. »Auf rein natürlicher Basis. Ich hoffe, du magst den Duft von Limette.«

Während Leonie sich Beine, Arme und Nacken einsprühte, füllte Sabine die leeren Weingläser und zündete ein paar Kerzen an.

»Wir haben seit Anfang des Jahres einen neuen Pfarrer.«

Leonie überlegte, wann sie das letzte Mal in einer Kirche gewesen war. Vermutlich an Weihnachten. »Und?«

Sabine hob die Schultern. »Er ist ganz fähig.«

»Darunter kann ich mir nichts vorstellen. Ist er streng? Achtet er darauf, dass seine Schäfchen regelmäßig in den Gottesdienst kommen und am Ende brav ihren Zehnten spenden?«

»Du wieder!« Sabine schüttelte ihre kurzen blonden Locken. Als Jugendliche war Leonie auf die Locken ihrer Schwester neidisch gewesen. Sabine hingegen hatte ihre widerspenstige Haarpracht verflucht. »Ich brauche gar nicht zum Friseur zu gehen. Das ist einfach nur Sauerkraut auf meinem Kopf«, hatte sie immer gejammert.

»Was bedeutet denn ›fähig‹?«, fragte Leonie. »Hat er dir die Beichte abgenommen und dir gesagt, wie du ein besserer Mensch wirst?«

Sabine rollte die Augen. »Wir sind evangelisch.«

»Deswegen kann man trotzdem beichten.«

»John kümmert sich. Er ist viel unterwegs in der Gemeinde, hat immer ein offenes Ohr. Er ist sich nicht zu schade mit anzupacken, wenn es was zu schaffen gibt.«

»Hast du gerade ›John‹ gesagt? Pfarrer John?«

»Ja.«

»Wo kommt er her? Afrika? Amerika?«

Sabine zuckte die Achseln. »Ich glaube, aus Karlsruhe. John ist sein Spitzname. Eigentlich heißt er Johannes.«

»Ihr nennt euren Pfarrer beim Spitznamen?«, fragte Leonie verdutzt.

»Warum denn nicht?«

Ja, warum auch nicht? Im Dorf kannte man sich schließlich.

»Wir können ja morgen in die Kirche gehen«, schlug Sabine vor. »Dann lernst du ihn kennen.«

»Hast du nicht vor zehn Minuten behauptet, wir könnten morgen ausschlafen?«

Die Sonne schimmerte durch die Vorhänge. Leonie hatte die Rollläden nicht heruntergelassen, als sie um drei Uhr morgens unter die Bettdecke gekrochen war. Den Kirchenbesuch hatten sie einvernehmlich vom Wochenendprogramm gestrichen. Eine weise Entscheidung, dachte Leonie, als sie müde die Augen öffnete. Sie hatte zwar keine Kopfschmerzen, fühlte sich aber dennoch leicht verkatert. Nach den zwei Flaschen Rosé hatte Sabine zum Abschluss noch einen Pflaumenschnaps serviert.

»Vom dorfeigenen Brenner«, hatte sie stolz verkündet und großzügig ausgeschenkt.

Es war ein herrlicher Abend gewesen. Sie hatten erzählt und gelacht und ihre Zweisamkeit genossen. Solch unbeschwerte, ausgelassene Momente hatte Leonie in Ulm selten. Natürlich hatte sie Freunde, traf sich mit ihnen zum Golfspielen oder abends zum Essen oder Theaterbesuch, aber sie kamen alle aus ihrem beruflichen Umfeld, sodass die Gespräche sich früher oder später doch wieder um die Arbeit drehten.

Bei Sabine konnte sie ihren beruflichen Alltag hinter sich lassen. Ihre Schwester hatte nicht, so wie sie selbst, diesen rationalen, sachlichen Blick auf die Welt. Sie erfreute sich am Duft der Rosen, am sprießenden Gemüse in ihrem Garten und an den neunmalklugen Sprüchen ihrer Erstklässler, die sie an der Grundschule unterrichtete.

Leonie lauschte in die Stille des Hauses. Durch das geöffnete Fenster hörte sie die Kirchturmglocke zweimal schlagen. Sie sah auf die Uhr: halb elf. So spät! Das musste die Landluft sein. Sie schlug die Bettdecke zurück und schlich ins Bad. Nach einer Dusche, die ihre Lebensgeister weckte, stieg sie im Jogginganzug die Treppe hinunter. Racka begrüßte sie im Flur. Er wackelte so kräftig mit Rute und Hinterteil, als hätte er sie erneut sieben Monate nicht gesehen.

»Du hoffst auf dein Frühstück, gib’s zu«, murmelte sie schmunzelnd. Sie kraulte den Labrador im Nacken und ging in die Küche. Zu ihrer Überraschung stand ein Tablett mit Frühstücksgeschirr auf dem Küchentisch. Die Kaffeemaschine – Sabine schwor auf ihre alte Filtermaschine – war befüllt, ein Zettel lehnte an der Glaskanne: »Gottesdienst ist um elf zu Ende. Ich hole Melly vom Bahnhof ab und bringe Brötchen mit. Bussi, Bine.«

»Echt jetzt?« Leonie wandte sich stirnrunzelnd dem Hund zu, der erwartungsvoll zu ihr aufsah. »Gibt’s in diesem Kaff sonntagmorgens frische Brötchen?«

Racka legte den Kopf schief, als würde er ernsthaft über ihre Frage nachdenken. Leonie sah sich suchend um. Wo bewahrte Sabine die Leckerlis für den Vierbeiner auf? Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und machte sich auf die Suche. In der Abstellkammer wurde sie fündig. Sie beglückte Racka mit einer Knabberstange, goss sich ein Glas Orangensaft ein und ging auf die Terrasse.

Die Sonne strahlte bereits wieder vom azurblauen Himmel. Sie spannte die Sonnenschirme auf, um die Sitzgruppe zu beschatten. Statt sich hinzusetzen, spazierte sie mit ihrem Glas durch den Garten zu den Gemüsebeeten und versuchte zu erraten, was Sabine dort angepflanzt hatte. Sie naschte ein paar Himbeeren vom Strauch und pflückte noch eine Handvoll fürs Frühstück. Mit ihrer Ausbeute kehrte sie in die Küche zurück und machte sich daran, den Tisch auf der Terrasse zu decken.

Sie hatte es sich gerade mit einer Tasse Kaffee gemütlich gemacht, als sie von der anderen Seite des Hauses erregte Stimmen hörte. Eine war die von Sabine, und die andere musste zu Amelie gehören. Leonie ging ins Haus.

Die Tür wurde aufgeschlossen, Sabines wütende Stimme schallte durch den Flur. »Ich hatte es dir verboten! Das mache ich doch nicht ohne Grund, verflucht noch mal!«

»Ey, du bist so scheißkonservativ!«

»Hast du dich mal im Spiegel angesehen? Da! Stell dich da hin. Schau dich an. Schau dich an, verflucht!«

Oha, was war denn da los? Auf dem Weg in den Flur kam ihr Racka mit eingezogener Rute entgegen. Leonie blieb am Türrahmen stehen und sah den Grund von Sabines Zorn.

»Amelie?«, fragte Leonie ungläubig.

Das Mädchen drehte sich zu ihr um. »Tante Leo! Sag meiner Mutter bitte mal, dass sie nicht so einen Aufstand machen soll. In der Stadt ist das doch ganz normal.«

Leonie sah zu ihrer Schwester. Sabines Wangen waren rot gefleckt, und in den Augen schwammen schon wieder Tränen, vermutlich dieses Mal vor Zorn.

Leonie räusperte sich. Sie kannte sich mit Teenagern nicht gut aus und war sich nicht sicher, was sie vom Aussehen ihrer Nichte halten sollte.

»Was genau ist denn der Streitpunkt?«, versuchte sie, das Terrain zu sondieren.

»Das ist doch wohl offensichtlich!«, ereiferte sich Sabine. »Ihre gebleichten Haare. Mit der Bleiche ruiniert sie sich die Haare, die Kopfhaut, ihren ganzen Körper. Das ist blankes Gift! Und es sieht fürchterlich aus.«

»Wo hast du das denn machen lassen?«, wandte Leonie sich an Amelie. Sollte man den Friseur verklagen? Diese Frisur – wenn man denn überhaupt davon sprechen konnte – war eine einzige Katastrophe. Amelies Haare waren weder blond noch weiß, sondern eher grau mit einem leichten Blauschimmer. Und sie sahen so strohig aus, als hätte sie sie stundenlang über einen heißen Föhn gehalten und anschließend mit einem rostigen Kamm bearbeitet.

»Wie, machen lassen? Das hab ich selbst gemacht. Dafür gehe ich doch nicht zum Friseur.«

»Und du findest das wirklich schön?«, fragte Leonie irritiert.

»Hier geht’s doch nicht darum, schön zu sein! Das ist ein Statement. Wir zerstören die Welt! Wir verdrecken alles, beuten alles aus. Alles geht kaputt!« Amelie zog an ihren Haaren, als wollte sie sich die Strähnen ausreißen. »Ich krieg graue Haare, wenn ich sehe, wie ihr alle mit der Welt umgeht. Mit unserer Welt!«

»Ach so.« Leonie musterte ihre Nichte vom Kopf bis zu den Füßen. Sie trug ein verschlissenes T-Shirt, dazu ausgefranste Jeans-Shorts und Flipflops, die Zehennägel waren schwarz lackiert. »Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, wie viel Aufwand es für die Kläranlagen bedeutet, die Bleiche, die du benutzt hast, aus dem Wasser zu filtern?«

Amelie starrte sie mit offenem Mund an. Dann schnaufte sie wütend. »Ihr kapiert gar nichts!«

Sie stampfte die Treppe hinauf.

»Amelie!«, versuchte Sabine, ihre Tochter zu bremsen.

Leonie hob beschwichtigend die Hand. »Ich glaube, das bringt jetzt nichts. Ihr solltet euch beide etwas beruhigen, um eine Basis für ein vernünftiges Gespräch zu finden.«

»Du bist hier nicht in deinem Gerichtssaal!«, zischte Sabine wütend.

Aber dort hatte Leonie gelernt, mit streitenden Parteien umzugehen und zu vermitteln. Und was im Gerichtssaal funktionierte, sollte doch hier bei diesem kleinen Familienzwist auch klappen. Ihre Stimme blieb ruhig und sachlich. »Trotzdem nützt es nichts, wenn ihr euch jetzt anschreit. Das ist keine Ebene für ein Gespräch.«

»Doch, mir nützt es was!« Sabine konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. »Hast du sie nicht angesehen? Sie sieht aus wie eine Vogelscheuche.«

»Das war ja anscheinend der Sinn der Aktion.«

»Oh, Leo! Sie hatte so schöne blonde Haare. Die sind ruiniert.« Sabine wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schniefte trotzig. »Ein Statement! Mein Gott, dann soll sie ein Transparent malen und es meinetwegen in unseren Vorgarten stellen. Aber doch nicht so was!«

»Sie ist in der Pubertät.«

»Wenn du jetzt sagst, dass es pädagogisch sehr wichtig ist, wenn wir uns streiten, schrei ich.«

Leonie schmunzelte. »Du schreist schon die ganze Zeit. Vielleicht frühstücken wir erst einmal in Ruhe? Mit Kaffee und Marmeladenbrötchen sieht die Welt schon wieder besser aus.«

»Aber meine Tochter ist dann immer noch eine Vogelscheuche.«

»Sie hätte sich auch eine Glatze rasieren und ›No Future‹ auf die Kopfhaut tätowieren lassen können.«

»Oh Gott!« Sabine sah entsetzt zur Treppe, um sich zu vergewissern, dass Amelie nicht mehr dort stand. »Bring sie nicht auf Ideen.«

»Frühstück?«

Sabine atmete tief durch. »Ich muss erst diese schlechte Aura hier im Haus beseitigen.«

Sie ging in die Küche, öffnete einen Schrank und nahm ein Räucherbündel heraus. Wenig später verteilte sie mit einer Feder wedelnd den Duft von Weißem Salbei in den Zimmern und im Flur.

Trotz des wunderbar sonnigen Tages war die Stimmung beim Frühstück getrübt. Sabine litt unter dem Streit mit ihrer Tochter.

»Sie war immer so ein Sonnenschein. Aber seit ein paar Monaten ist sie wie ausgewechselt. Alles, was ich mache, ist total spießig, uncool oder einfach nur doof. Ich komm gar nicht mehr an sie ran. Ich versuche, nachhaltig zu leben. Ich mein, schau dich um: Ich baue Obst und Gemüse an, kaufe Eier von glücklichen Hühnern und Milchprodukte beim Biobauern, obwohl das alles verdammt teuer ist. Aber denkst du, das Fräulein hat es nötig, mir mal beim Gießen der Beete zu helfen? Vom Unkrautjäten rede ich gar nicht erst.«

»Siehst du das nicht alles gerade ein bisschen sehr negativ?«

Sabine schnaufte resigniert. »Ihre schönen Haare.«

Leonie musterte ihre Schwester nachdenklich. Normalerweise gab es für Sabine wenig, was nicht mit einem Lachen und ein paar Räucherstäbchen zu bewältigen war. Doch an diesem Wochenende wirkte sie ziemlich unausgeglichen.

»Ich rede mal mit Melly«, bot Leonie an.

Sabine grinste gequält. »Viel Glück.«

Während Sabine das Geschirr abräumte, stieg Leonie die Treppe ins Dachgeschoss hinauf und klopfte an die Zimmertür ihrer Nichte. Nachdem ein mürrisches »Ja« von der anderen Seite gekommen war, ging sie hinein.

Der Raum war klein und gemütlich. Das Bett stand unter der holzvertäfelten Dachschräge, ein Schreibtisch war vor einem kleinen Fenster platziert worden. Statt eines Kleiderschranks hatte Amelie eine mobile Kleiderstange an eine Wand gestellt und einen geflochtenen Paravent als Sichtschutz davor aufgebaut, Tücher und T-Shirts hingen darüber.

Amelie lag bäuchlings auf dem Bett, den Blick auf ihr Smartphone geheftet.

»Hallo«, versuchte Leonie die Aufmerksamkeit ihrer Nichte auf sich zu lenken.

Amelie sah über die Schulter zu ihr. »Hey.« Sie zog schnuppernd die Nase kraus. »Hat sie wieder geräuchert?«

»Ja.« Leonie überlegte kurz, ob sie sich zu ihrer Nichte auf die Bettkante setzen sollte, entschied sich dann aber für den Schreibtischstuhl. »Ich hatte gehofft, dass du noch zum Frühstück zu uns kommen würdest.«

»Um euch zuzusehen, wie ihr Kaffee aus Südamerika trinkt?«

»Der ist immerhin Fairtrade.«

»Ändert nix daran, dass die Bohnen erst einmal mit Öltankern um den halben Globus geschifft werden.«

Wo Amelie recht hatte, hatte sie recht. Leonie hob die Schultern. »Hier wachsen leider keine Kaffeebohnen.«

»Gibt Malzkaffee.«

»Der hat aber kein Koffein.« Und schmeckt auch nicht, ergänzte Leonie stumm.

»Wenn ihr alle so weitermacht, dann können wir bald in Deutschland Kaffeebohnen anbauen.«

»Das wage ich zu bezweifeln. Kaffee braucht ein ausgewogenes Klima, hier wird es im Sommer zu warm und im Winter zu kalt.«

Amelie richtete sich auf. »Echt? Du hast darüber schon nachgedacht?«

»Ich denke über vieles nach. Zum Beispiel darüber, warum du dir die Haare ausgerechnet grau gefärbt hast.«

»Weil ich, wenn hier nichts passiert, vermutlich nicht so alt werde, dass mir jemals graue Haare wachsen. Und weil du vorhin was von Klärwerk gesagt hast: Ich hab mit Nele gechattet, und wir haben das gegoogelt. Das Mittel, das wir verwendet haben, ist komplett biologisch abbaubar.«

»Das ist gut, aber gereinigt werden muss das Abwasser trotzdem.« Leonie sah auf das Smartphone, das Amelie während des Gesprächs nicht aus der Hand gelegt hatte. »Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, wie viel Energie deine Surferei und Chatterei kostet?«

Amelie verzog das Gesicht. Das Smartphone. Nabel zur Welt und der Schwachpunkt eines jeden Teenagers.

»Dafür trinke ich keinen Kaffee, esse kein Fleisch, wir haben kein Auto und überhaupt!«

»Du rettest die Welt nicht, indem du das eine gegen das andere aufwiegst. Weltretten fängt bei dir selbst an, egal, was die anderen machen.«

Mit einem Kratzen an der Zimmertür machte sich Racka bemerkbar. Leonie ging zur Tür und ließ den Hund herein. Amelie klopfte auf ihre Matratze. Eine Einladung, die sie dem Labrador nicht zweimal geben musste.

»Das finde ich nicht gut«, konnte Leonie sich einen Tadel nicht verkneifen.

»Racka ist mein Hund, und das ist mein Zimmer und mein Bett.«

Und deine Gesundheit, ergänzte Leonie still. Sie hoffte, dass sich Amelie keine Zecke einfing.

2

Wusch. Der Schlägerkopf landete mit Karacho im Rasen. Der Golfball kullerte unbeeindruckt vom Tee ins Gras.

»Zum Umgraben ist das nicht das richtige Werkzeug.«

Leonie warf Jochen einen grimmigen Blick zu. Die Sonne strahlte wie seit Wochen schon erbarmungslos von einem wolkenlosen Himmel auf den Platz. Es war Anfang August, und die Temperaturen stiegen täglich über die Dreißig-Grad-Marke. Der Schweiß rann ihr zwischen den Schulterblättern hinunter. Ihr Spielpartner hingegen wirkte frisch wie der junge Morgen und war gut gelaunt.

Jochen Gruber entsprach an diesem Freitagnachmittag einem Golfspieler par excellence: karierte Golfhose, beige mit dünnen grünen und roten Linien, dazu helle Golfschuhe und ein kurzärmeliges rotes Hemd. Die dunkelblonden Haare lugten unter seiner beigefarbenen Schirmmütze hervor. In seinen blauen Augen blitzte leichter Spott.

»Wenn du so viel Aggression in dir hast, solltest du lieber zum Boxen gehen, anstatt unseren schönen Platz zu malträtieren.« Er reichte ihr ein Tuch.

Sie hob den Driver, wischte mit dem Tuch Gras und Erde vom Schlägerkopf. »Das war der erste Schlag, der danebengegangen ist.«

»Wir sind aber auch erst bei Loch drei, und du hast schon bei Loch eins gespielt wie eine Anfängerin. So kenne ich dich gar nicht.«

Leonie schnaufte genervt. Vielleicht hatte Jochen recht. Statt zu versuchen, mit Yoga und Golf ihr mentales Gleichgewicht zu finden, sollte sie ihre Wut an einem Sandsack rauslassen. Ihre Laune war im Keller.

»Was ist los, Leo?«

»Ich hatte diese Woche nur fürchterliche Fälle auf dem Tisch.«

»Das haut dich doch sonst nicht aus den Socken.« Jochen platzierte ihren Ball zurück auf den Tee.

»Was machst du da?«

»Du wiederholst den Abschlag.«

»Aber –«

»Wir spielen kein Turnier. Das ist Freizeit. Also bitte.« Er winkte einladend Richtung Abschlag. »Aber dieses Mal mit Gefühl.«

Leonie nahm Maß, versuchte sich zu konzentrieren. Sie pendelte mit dem Schläger, visierte mit dem Blick ihr Ziel an. Wozu das Ganze, ging es ihr frustriert durch den Kopf. Verdammt, konzentriere dich auf das Spiel, ermahnte sie sich. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie ließ den Schläger sinken und richtete sich wieder auf. »Ich will Kaffee und Käsekuchen.«

»Okay«, erwiderte Jochen perplex. »Ist eh verdammt heiß in der Sonne.«

Sie nahmen ihre Golfbags und spazierten zurück zum Clubhaus.

»Sie haben mich wieder nicht genommen«, brachte Leonie endlich über die Lippen, was sie schon den ganzen Tag beschäftigte. Am Morgen hatte sie erfahren, dass die ausgeschriebene Richterstelle am Landgericht anderweitig vergeben worden war.

»Das tut mir leid.« Jochen wusste sofort, wovon sie sprach.

Sie suchten sich einen schattigen Platz auf der Terrasse des Clubhauses und gaben ihre Bestellung auf.

»Ich verstehe das nicht!« Leonie strich sich ratlos die Haare aus der verschwitzten Stirn. »Ich bin zuverlässig. Ich bin integer. Ich habe großartige Referenzen. Ich bearbeite mehr Fälle als die meisten meiner Kollegen. Was mache ich falsch?«

»Ich bin, ehrlich gesagt, genauso ratlos wie du. Du hättest es wirklich verdient.« Jochen lächelte bedauernd und berührte sanft ihre Finger.

Sie entzog ihm ihre Hand. »Bitte kein Mitleid. Ich brauche einen Ratschlag. Was soll ich machen? Ich stagniere … Ich bin zweiundvierzig und will noch ein bisschen was erreichen in diesem Leben.«

»Das wirst du auch.«

»Ja, wenn ich mich bei einem Konzern bewerbe, der meine Fähigkeiten zu schätzen weiß.« Das war der Ratschlag ihrer Mutter gewesen, nachdem ihre zweite Bewerbung vor einem Jahr gescheitert war. »Vielleicht hätte ich gleich nach dem Studium diese Richtung einschlagen sollen.«

»Aber das bist doch nicht du. Was willst du in einem Konzern, in dem es nur um Macht und Geld geht?« Jochen sah sie stirnrunzelnd an. »Dir ging es immer darum, etwas für die Gesellschaft zu tun und dafür zu sorgen, dass es gerecht zugeht.«

»Ich möchte aber auch gerecht behandelt werden. Ich habe das Zeug zur Vorsitzenden Richterin. Und jetzt bekomme ich nicht einmal den Posten als Beisitzerin.«

Sie unterbrachen, als die Servicekraft Kaffee und Kuchen servierte. Leonie schob sich gierig eine Gabel in den Mund. Der Käsekuchen war lecker, wenn auch nicht so gut wie der von Sabine. Aber Sabine war eine Meisterbäckerin. Da kam ohnehin niemand ran.

»Vielleicht müsstest du deine Vita ein bisschen aufpeppen«, merkte Jochen nach einer Weile an. »Acht Jahre Amtsgericht Ulm, da denken einige vielleicht, du hast dich gut eingerichtet.« Er beugte sich ein Stück näher zu ihr. »Sieh es mal so: Du bist gut in dem, was du machst. Warum sollte man dich da wegbefördern?«

Leonie ließ die Gabel, die sie gerade zum Mund hatte führen wollen, wieder sinken. »Was ist denn das für eine verquere Logik?«

»Die ist gar nicht so verquer. Weißt du, warum es so viele unfähige Manager in den großen Unternehmen gibt? Weil sie die Karriereleiter schnurgerade hinaufklettern, bis sie auf einem Posten landen, auf dem sie scheitern. Und da sitzen sie dann und klammern sich daran fest.«

»Oder sie bekommen fürs Scheitern eine grandiose Abfindung«, erwiderte Leonie bitter. Als »Peter-Prinzip« war diese Theorie nach dem Autor Laurence J. Peter benannt. »Aber so ist es doch nicht bei mir. Ich bin gut in meinem Job! Ich habe das Zeug dazu, Richterin am Landgericht zu werden.«

»Natürlich hast du das Zeug dazu. Aber wissen das die richtigen Leute? Vermittelst du das? Du musst dich stärker profilieren, herausstechen aus der Menge.«

Leonie stöhnte auf. »Du verdirbst mir gerade den Käsekuchen.«

Jochen lächelte bedauernd. »Das war nicht meine Absicht. Aber du musst dir was überlegen. Zeigen, dass mehr in dir steckt.«

»Irgendwelche Vorschläge?« Ihr fehlte an diesem Tag die Phantasie, dazu war sie noch immer zu frustriert.

»Du könntest versuchen, einen Lehrauftrag an der Uni zu bekommen.«

Leonie zog eine Grimasse. »Ich weiß nicht, ob das mein Ding ist.«

»Denk wenigstens mal darüber nach. Du kannst gut erklären, und bei Diskussionen hattest du immer das letzte Wort. Weißt du noch, im Ref?«

Die Erinnerung rang ihr tatsächlich ein wehmütiges Lächeln ab. Wie oft hatten sie während des Referendariats nächtelang gemeinsam über Fälle diskutiert. Was ist Recht? Was ist Gerechtigkeit? War ein Urteil korrekt, oder hätte man anders entscheiden können? Es schien Ewigkeiten her. Sie hatte so viele Träume gehabt, wollte es, wie ihr Vater, bis ans Landgericht schaffen. Vielleicht sogar noch weiter.

Und jetzt saß sie mit zweiundvierzig Jahren mit ihrem Ex-Freund bei Kaffee und Kuchen und ließ sich von ihm Karrieretipps geben. Aber Jochen kannte sie seit mehr als zwanzig Jahren. Wenn nicht er, wer sonst sollte ihr Ratschläge geben können? Und er hatte recht. Sie sollte nicht auf ihrem Posten sitzen und warten, dass ihr die ersehnte Position zuflog, nur weil sie fleißig und zuverlässig war. Sie musste aktiv werden. Initiative zeigen.

»Ich überlege mir was.« Sie schob sich das letzte Stück Kuchen in den Mund und nickte zuversichtlich. Genug gejammert. Sie würde sich von so einer blöden Absage nicht ihre Träume nehmen lassen.

Leonie hatte die Fenster ihrer Wohnung weit geöffnet, um den Hitzestau in den Räumen zu bekämpfen. Aber es regte sich kein Windhauch, lediglich der Ventilator brachte ein bisschen Bewegung in die warme Luft. Von der Straße drangen Motorengeräusche und Stimmengemurmel zu ihr hinauf.

Nachdem sie vom Golfplatz zurückgekehrt war und geduscht hatte, hatte sie es sich auf ihrem Sofa gemütlich gemacht, die Beine ausgestreckt, den Laptop auf dem Schoß und ein feuchtes Tuch im Nacken, um die Hitze besser zu ertragen. Seit zwei Stunden surfte sie mittlerweile auf der Suche nach einem passenden Lehrauftrag an einer Universität durchs Internet.

Da es an der Universität Ulm keine juristische Fakultät gab, hatte sie die Seiten der Unis im Umkreis von gut einhundert Kilometern durchforstet, aber es schien zurzeit keinen Bedarf an neuen Lehrenden im Bereich Rechtswissenschaften zu geben. Vielleicht lief das eher über Beziehungen und persönliche Kontakte?

Sie könnte am Montag bei der Uni Tübingen anrufen und nachfragen. Ein Lehrauftrag in Tübingen wäre nett, dann könnte sie Sabine öfter sehen. Der Gedanke war verlockend. Aber wie sollte sie sich dort vorstellen? Sie hatte keinerlei Lehrerfahrung.

Entnervt stellte sie ihren Laptop auf den Couchtisch. In ihrem Kopf war ein Gedankenstau, der keine sinnvolle Idee durchließ. Sie richtete sich auf, das feuchte Tuch rutschte von ihrem Nacken herab. Sie nahm es schnell auf, damit es keinen Fleck auf dem Sofa hinterließ.

Ihr Blick wanderte ziellos durch die Wohnung. Alles war aufgeräumt und an seinem Platz. Lediglich ihr Laptop und der Block, den sie sich für Notizen bereitgelegt hatte, durchbrachen geringfügig die Ordnung. Sie dachte an Sabines Häuschen mit all ihrem Klimbim. Was ihre Schwester wohl gerade machte? Vermutlich saß sie auf der Terrasse und genoss den Blick in die Natur, dazu gab es Wein vom regionalen Winzer und selbst gebackene Knabberstangen.

Leonie stand auf und ging zum Sideboard. In einer Schublade lag die Schachtel mit den Duftölen, die Sabine ihr bei ihrem letzten Besuch mitgegeben hatte. Sie öffnete die Packung und las die Beschriftungen: »Entspannung«, »Ruhe und Gelassenheit«. Und was war das? »Lebensfreude und Selbstvertrauen« versprach das Etikett auf der kleinen braunen Flasche.

»Soso, Schwesterherz, denkst du, das habe ich nötig?« Sie lächelte liebevoll und hoffte, dass Sabine spürte, dass sie an sie dachte.

Auf dem Beistelltisch stand der Diffuser, den Sabine ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie füllte das Gerät mit Wasser und ein paar Tropfen »Lebensfreude und Selbstvertrauen«. Wenig später strömte ein frischer Duft nach Orange und Bergamotte aus dem Gerät. Sie sog das Aroma ein. Es roch nach Sommerurlaub und Winterpunsch zugleich.

Leonie trat ans Fenster, schaute hinauf zum abendlichen Himmel, lauschte dem geschäftigen Treiben. Es war ein herrlicher Spätsommerabend. Die Menschen hielt es nicht in ihren Wohnungen, sie waren draußen, genossen die Wärme und das Zusammensein.

Sie sollte öfter ausgehen, statt immer nur daran zu denken, dass sie unbedingt noch dieses oder jenes erledigen musste und am nächsten Morgen der Wecker um sechs Uhr klingeln würde. Aber es widerstrebte ihrem Pflichtbewusstsein. Als Richterin trug sie eine hohe Verantwortung. Sie entschied über das Wohl, das Leben und die Zukunft anderer Menschen. Da musste sie ausgeruht und belastbar sein. Und das ging nicht, wenn sie abends zu lange an der Donau saß und zu viel Wein trank.

Aber so kam sie nicht weiter. Irgendetwas musste sich ändern. Seufzend wandte sie sich um, ließ erneut den Blick durch das Zimmer gleiten. Zu ihrer Linken umrahmte ihr gemütliches Sofa mit den zwei Sesseln, alles in warmem, dunklem Rot, den niedrigen Couchtisch aus Akazienholz. Auch das Sideboard und der kleine Beistelltisch waren aus dem dunklen Holz. An der Wand hing ein großer Flachbildfernseher. Daneben hatte sie in Silberrahmen ein paar Familienfotos dekoriert.

Auf der anderen Seite des Raumes war die Küchenzeile – modern, mit glatten hellgrauen Flächen. Eine schmale Theke mit vier hohen Bistrostühlen trennte den Essbereich vom Wohnzimmer. Eine Schale mit frischem Obst bildete unter einem schützenden Insektennetz einen sommerlichen Farbklecks.

Sie hörte, wie ihr Laptop in den Ruhemodus schaltete. Pause. Wie konnte sie ihre Vita aufpeppen? Mit einem Lehrauftrag? Sie war noch immer nicht überzeugt von dem Gedanken. Wäre das tatsächlich etwas für sie? Oder schmeichelte es ihr lediglich, dass Jochen ihr so eine Tätigkeit zutraute?

Sie könnte mit ihrer Mutter sprechen. Die hielt nach ihrem Renteneintritt weiterhin regelmäßig Vorträge. Von ihr könnte sie sicherlich Tipps bekommen, wie man in einem Hörsaal referierte. Aber wenn sie ihre Mutter jetzt anrief, würde sie keine Ruhe geben, bis Leonie tatsächlich einen Lehrauftrag angenommen hatte. Und das würde sie noch mehr unter Druck setzen.

Sie schnaufte ratlos. Herumzustehen und zu grübeln half ihr nicht weiter. Es war Flachswickel-Zeit. Sie war bei Weitem keine so gute Bäckerin wie Sabine, aber eines konnte sie hervorragend: Flachswickel backen. Dieses kleine Hefegebäck hatte ihr schon so manches Mal geholfen, ihren Kopf wieder freizubekommen, wenn sich ihre Gedanken festgefahren hatten. Dass es in ihrer Wohnung sommerlich warm war und die Hitze des Backofens aus dem Zimmer eine Sauna machen würde, war ihr egal.

Entschlossen ging Leonie zur Küchenzeile. Das Rezept kannte sie auswendig. Sie nahm alle Zutaten, die sie brauchte, aus den Vorratsschubladen und dem Kühlschrank. Rührschüssel, Küchenwaage und Mixer kamen hinzu. Sie wog die Zutaten sorgfältig ab, wärmte die Milch leicht an, um die frische Hefe darin aufzulösen. Mit dem Kochthermometer überwachte sie die Temperatur der Milch. Sie durfte nicht zu warm werden, maximal dreißig Grad, besser achtundzwanzig, damit die Hefe gut aufging.

Sie füllte Butter in eine Schüssel, rührte sie mit dem Mixer cremig, schlug die Eier auf und mengte sie unter. Dann noch Mehl und eine Prise Salz. Zum Schluss fügte sie die Milch-Hefe-Mischung hinzu und verknetete alles mit den Händen zu einem glatten Teig. Während der Teig ruhte, räumte sie die Küche auf und bereitete das Backblech vor.

Leonie summte zufrieden vor sich hin. Es tat gut, den Kopf eine Weile auszuschalten und mit den Händen zu arbeiten. Sie wusste, dass in ihrem Unterbewusstsein die vielen Gehirnzellen an der Lösung ihres Problems arbeiteten. Der Duft des Hefeteigs vermischte sich mit den Orangen- und Zitrusaromen aus dem Diffuser.

Lebensfreude und Selbstvertrauen. An Selbstvertrauen mangelte es ihr nicht. Sie wusste, was sie konnte, und sie wusste, dass sie gut war in dem, was sie tat. Ihr mangelte es an Kreativität. Ihr fehlte eine Inspiration für ihr berufliches Vorankommen.

Inspiration erhielt man, indem man gewohnte Pfade verließ. Sich auf Neues einließ. Aber vertraute Routinen zu durchbrechen kostete Kraft und barg das Risiko des Scheiterns in sich.

»Es ist besser, etwas zu versuchen, als später zu bereuen, dass man es nie versucht hat« war eine Weisheit ihrer Schwester, wenn sie wieder einmal eine unkonventionelle Idee hatte, wie beispielsweise durch einen One-Night-Stand zu einem Kind zu kommen und im nächsten Schritt als alleinerziehende Teilzeit-Grundschullehrerin ein altes Bauernhaus zu kaufen und zu bewirtschaften.

Aber so war Sabine immer gewesen. Sie hatte eine Idee, und die wurde ausprobiert. Meistens war sie gut damit gefahren, manches Mal gescheitert. Leonie war anders. Sie brauchte Ordnung, Gewissheit und Sicherheit. Sie wog ihre Entscheidungen sorgfältig ab, maß das Risiko, überdachte alle möglichen Varianten und Folgen, bevor sie einen Entschluss fasste.

Das Klingeln des Kurzzeitweckers erinnerte sie daran, dass der Teig lange genug gegangen war. Sie knetete ihn noch einmal durch, teilte ihn dann in kleine, gleich große Portionen – sie wog jedes Teigstück einzeln aufs Gramm genau ab –, formte sie zu länglichen Rollen und zwirbelte daraus kleine Wickel.

Während die Teiglinge erneut ruhten, ging sie zum Couchtisch, um ihren Laptop auszuschalten. Als sie ihn aus dem Ruhemodus holte, signalisierte ihr ein roter Punkt den Eingang einer E-Mail. Gewohnheitsgemäß öffnete sie ihr Postfach. Jochen hatte ihr einen Link geschickt: Austausch- und Hospitationsprogramme für Richterinnen und Richter aller Gerichtsbarkeiten im europäischen Ausland.

3

»Mama, ich bin weg!«, rief Amelie aus dem Flur.

Sabine kam aus der Küche. Ihre Tochter hatte die Hand schon auf die Türklinke gelegt. Sie trug Shorts und Top, die Tasche mit den Badesachen hatte sie über die Schulter gehängt.

»Nicht so schnell. Warst du schon mit Racka draußen?«

Amelie verzog das Gesicht. »Ich dachte … ist doch so warm, kannst du nicht später …«

Sabine schnaufte genervt. »Mama, wenn ich einen Hund habe, gehe ich jeden Tag mit ihm raus. Morgens vor der Schule und mittags und abends, du musst dich um nichts kümmern«, äffte sie die Stimme der damals Zehnjährigen nach.

»Och, Mama, bitte …«

»Ich muss noch in den Garten und um zwei das Café aufmachen. Eigentlich wolltest du mir heute bei der Birnenernte helfen.«

»Können wir doch morgen machen.« Amelie trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Und Racka geht sowieso viel lieber mit dir als mit mir.«

Ja, weil ich nicht die ganze Zeit auf mein Smartphone starre, dachte Sabine verärgert. »Morgen kümmerst du dich um ihn! Und sieh zu, dass es heute nicht so spät wird. Spätestens wenn das Freibad schließt, kommst du nach Hause.«

»Menno, es ist der letzte Ferientag. Ich hab die alle soooo lange nicht gesehen, und wir wollen noch ’n bisschen feiern.«

Sabine spürte, wie ihre Tochter sie wieder weichkochte. »Du übernimmst morgen früh die Gassirunde, und du hilfst mir nachmittags im Café.«

Amelie stieß genervt die Luft aus. »Ja, okay.«

»Versprochen?«

»Ja-a. Kann ich jetzt endlich los?«

»Zisch ab und pass auf dich auf.« Sabine wollte ihr einen Kuss zum Abschied geben, da war Amelie schon zur Tür hinaus. Kein Kuss zum Abschied, kein Dank dafür, dass sie ihr die Gassirunde abnahm. Stattdessen nur der genervte Blick eines verwöhnten Teenagers.

Sabine kehrte in die Küche zurück. Racka lag auf seiner Decke und blickte sie mit seinen dunklen Augen an.

»Du kannst ja nichts dafür, ich weiß.« Sie ging in die Hocke und kraulte den Labrador, der sogleich seinen Kopf auf ihre Knie legte. Racka war von Anfang an mehr ihr Hund als der von Amelie gewesen. Und das, obwohl Amelie ihn zu sich ins Bett holte, was Sabine zwar verboten hatte, aber tolerierte.

Sabine fütterte Racka regelmäßig, hatte jahrelang mit ihm die Hundeschule besucht, und inzwischen war sie es auch, die meistens mit ihm spazieren ging. Leonie hatte sie damals gewarnt, als sie ihr erzählt hatte, dass Amelie sich einen Hund zum Geburtstag wünschte und sie schon mit einem Züchter im Gespräch war. »Das geht maximal sechs Wochen gut, und dann bleibt die ganze Arbeit an dir hängen. Hast du nicht schon genug zu tun?«

Sabine hatte die Bedenken ihrer Schwester in den Wind geschlagen, um sechs Wochen nach Amelies Geburtstag festzustellen, wie recht Leonie gehabt hatte.

Es machte ihr nichts aus, sich um den Hund zu kümmern. Sie liebte Racka, der einen herzensguten Charakter hatte und sie immer wieder mit seiner Verspieltheit zum Lachen brachte. Und an den einsamen Abenden zu Hause tat ihr seine Gesellschaft gut. Aber dass Amelie so wenig Verantwortungsbewusstsein an den Tag legte, enttäuschte sie.

Sie sollte ihre Tochter stärker in die Pflicht nehmen, doch ihr Alltag war so voll mit allen möglichen Aufgaben, dass sie oft keine Kraft für noch mehr Auseinandersetzungen mit Amelie hatte, die ohnehin gerade ständig auf Streit gepolt war.

An manchen Tagen fragte sie sich, ob es daran lag, dass Amelie ohne Vater aufwuchs. Es fehlte die männliche Bezugsperson. Und ihr selbst fehlte jemand, der ihr den Rücken stärkte oder mal den Nacken massierte, wenn sie erschöpft war von all der Arbeit und den Wortgefechten mit ihrer Tochter.

Ihr Blick fiel auf den Korb, den sie auf dem Küchentisch abgestellt hatte, bevor Amelie sich verabschiedet hatte.

»Ich pflücke jetzt geschwind ein paar Birnen, danach drehen wir zwei eine kleine Runde, und dann verkaufe ich den ganzen Kuchen innerhalb von drei Stunden im Café, und wir machen uns einen gemütlichen Abend auf der Terrasse. Was meinst du?«

Racka legte den Kopf schräg und klopfte begeistert mit der Rute auf den Boden.

»Na, dann komm mit.«

Sie nahm den Korb und marschierte hinaus in den Garten. Wenn sie später mit Racka Gassi ging, konnte sie an ihrer Schule vorbeischauen, ob wichtige Informationen in ihrem Postfach lagen. Das meiste erhielt sie zwar digital, dennoch gab es gerade zum Schuljahresanfang immer noch einiges an Papierkram zu erledigen.

Sie holte die Gartenleiter aus dem Geräteschuppen und lehnte sie an den Baum. Birnen waren ein sensibles Obst. Wenn sie vom Baum fielen, bekamen sie Druckstellen und unansehnliche Flecken und konnten dann nicht mehr gelagert werden. Daher machte Sabine sich die Mühe, die Früchte regelmäßig frisch vom Baum zu pflücken, sobald sie erntereif waren.

Sie streifte sich den Korb über den Arm und stieg die Leiter hinauf. Max hatte bei seinem letzten Besuch gesagt, der Baum müsse unbedingt einmal geschnitten werden. Aber ihr ging es nicht um maximalen Ertrag, und sie liebte die ausladenden, dicht gewachsenen Äste, die in den heißen Sommern wunderbaren Schatten spendeten.

Während Racka sich hechelnd an die Hauswand legte, streckte sie sich von Zweig zu Zweig, um die Birnen zu ernten. Bienen und Wespen surrten umher, und sie achtete darauf, nicht versehentlich eine Birne zu greifen, auf der gerade eine Wespe Platz genommen hatte.

Vielleicht sollte sie sich mal Johns Räucherpfeife leihen, überlegte sie, als eine Wespe ihr aufgebracht um den Kopf surrte. Pfarrer John war Hobby-Imker. Von ihm hatte sie in der kurzen Zeit, die sie ihn kannte, einiges über das Verhalten von Bienen und Wespen gelernt.

Sie drehte eine Birne vom Zweig und legte sie in den Korb. Die Wespe schwirrte noch immer lästig um ihren Kopf. Sabine versuchte, das Insekt mit der Hand zu verscheuchen, damit es sich nicht in ihren Locken verfing und ihr womöglich in Panik in den Kopf stach. Aber das erregte die Wespe nur noch mehr. Sabine wich zurück, wedelte erneut mit der Hand. Die Wespe verhedderte sich in ihren Haaren. Sie schüttelte den Kopf, die Leiter ruckte. Sabine geriet aus dem Gleichgewicht und schnappte haltsuchend nach einem Ast.

Maximilian Häfner öffnete die Seitenscheiben seines Wagens. Er genoss den warmen Fahrtwind auf dem Weg von seiner Streuobstwiese zurück ins Dorf. Trotz des trockenen Sommers waren seine Bäume gut durchgekommen, und wenn nicht ein Hagelschauer in den nächsten Wochen alles zunichtemachte, konnte er mit seiner Ernte zufrieden sein.

Anfang Oktober wollte er Äpfel und Birnen pflücken und Saft machen. Er freute sich, dass Sabine wieder ihre Hilfe zugesagt hatte. Gemeinsam waren sie schneller, und es machte viel mehr Spaß. Er war auf dem Weg zu ihr. Er hatte die letzten Zwetschgen geerntet und wollte sie ihr vorbeibringen.

Es war ein Arrangement, das sie vor gut einem Jahr getroffen hatten. Er lieferte ihr frisches Obst von seiner Streuobstwiese, sie zauberte daraus Kuchen, Konfitüren und andere Leckereien, von denen er immer einen kleinen Teil abbekam. Er hatte die Obstwiese als Ausgleich zu seiner Arbeit als Zimmermann gekauft. Es war sein Hobby, er musste nicht von dem Ertrag leben und war froh, mit Sabine eine Abnehmerin gefunden zu haben, die die Früchte verwertete.

Die Felder, die den Landwirtschaftsweg säumten, waren zum Teil abgeerntet und neu bestellt. Zwischendrin standen Blühstreifen mit Bienenweide und Sonnenblumen. Ein Bussard zog seine Kreise. Max summte gut gelaunt die Lieder im Radio mit.

Obwohl sie beide schon lange in dem kleinen Dorf lebten, waren sie sich erst vor zwei Jahren begegnet. Sabine war mit ihrem Hund an seiner Wiese vorbeigekommen, als er Äpfel eingesammelt hatte, und hatte ihn in ein Gespräch verwickelt. Sie habe nur einen Birnbaum im Garten, dabei schmeckten ihr Äpfel viel besser. Er hatte ihr spontan eine Stiege Tafeläpfel geschenkt. Da sie mit Racka unterwegs gewesen war, hatte er angeboten, ihr die Äpfel auf dem Heimweg vorbeizubringen. Der Beginn einer Freundschaft.

Er mochte Sabines unbekümmerte, ehrliche Art, ihren positiven Blick auf die Welt. Und auch ihre sentimentale Ader, wenn sie um einen toten Vogel trauerte, den sie am Straßenrand liegen sah. Für sie schien das Leben keine Prüfung, sondern ein Geschenk zu sein.

Max bog von der Kreisstraße auf den schmalen Weg ein, der zu dem kleinen Aussiedlerhof führte, auf dem Sabine mit ihrer Tochter wohnte und wo sie an den Wochenenden ein kleines Café betrieb. Wie so oft kam ihm der Gedanke, dass das Haus wunderschön war, das Dach aber unbedingt renoviert werden sollte. Er wusste, dass Sabine das Geld dafür fehlte. Sie arbeitete in Teilzeit als Grundschullehrerin, und der Gewinn aus dem Kuchenverkauf in ihrem Café war eher Taschengeld als Rendite.

Ein seltsames Gefühl überfiel ihn, als er sich dem Grundstück näherte. Durch die geöffneten Fenster hörte er Racka schon von Weitem bellen. Das war kein spielerisches Bellen, es war ein Ruf. Er bremste hart und sprang aus dem Wagen. »Bine?«

Der Hund kam aus dem Garten gerast, bellte wie toll.

»Was ist los?« Er wollte das Tier streicheln, aber Racka lief nur aufgeregt vor und zurück.

»Wo ist Bine?«

Wieder ein Bellen. Der Hund rannte zum Garten. Max folgte ihm. Entsetzen erfasste ihn, als er die umgestürzte Leiter sah. Er tastete nach seinem Handy. Verflucht, es lag im Auto. Er raste zurück, nahm Handy und Verbandskasten. Er drückte auf die Notruftaste und stürmte wieder in den Garten.

***

Der letzte Arbeitstag war anstrengend gewesen. Leonie hatte sich, wie so oft, viel zu viel vorgenommen. Aber sie wollte die laufenden Fälle in einem vorbildlichen Stand an ihre Kollegin übergeben. Sie wäre zwar nicht aus der Welt, im Notfall wäre sie jederzeit telefonisch erreichbar, aber sie hätte nicht ruhigen Gewissens gehen können, wenn sie nicht vorher alles geregelt hätte.

Sie war froh, dass der Zug sie pünktlich von Ulm zum Münchener Flughafen gebracht hatte. Den Check-in hatte sie online gemacht, so musste sie nur noch ihren Koffer aufgeben und durch die Sicherheitskontrolle gehen. Sie war aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Voller Vorfreude und Spannung, was sie erwarten würde.

Zwei Wochen Hospitation bei einer Richterin in Finnland. Finnland! Das klang nach Rentieren und Schnee und ein klein wenig nach Samu Haber. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Es war noch nicht einmal Mitte September. Schnee würde sie vermutlich keinen sehen und mit Sicherheit auch nicht den sympathischen finnischen Sänger.

Stattdessen würde sie das Rechtssystem und die Arbeit der Kollegen im Ausland kennenlernen. Sie war von dem Angebot sofort begeistert gewesen. Jochen hatte ihr einen Bekannten vermittelt, der schon einmal an dem Programm teilgenommen und ihr beim Erstellen der Bewerbungsunterlagen geholfen hatte.

Und dann war alles so schnell gegangen: Ein Bewerber war kurzfristig abgesprungen, und man hatte ihr den frei gewordenen Platz angeboten. Normalerweise überdachte sie solche Entscheidungen gründlich und lange. Aber diesmal hatte sie nur eine Nacht Zeit gehabt.

Sie hatte mit Sabine telefoniert. »Wenn du das nicht machst, dann ist dir nicht zu helfen. Vierzehn Tage Finnland!« Bine war Feuer und Flamme gewesen und wäre am liebsten mitgeflogen. Die Begeisterung hatte Leonie angesteckt, und sie hatte direkt im Anschluss an das Telefonat zugesagt.

Ihr waren nur wenige Wochen geblieben, um ihre Vertretung bei Gericht zu regeln und sich auf die bevorstehende Reise vorzubereiten. Sie wusste nichts über das finnische Rechtssystem oder über die finnische Kultur.

Im Zug hatte sie einen Reiseführer gewälzt und versucht, ein paar Floskeln Finnisch zu lernen. »Hyvää päivää« hieß »Guten Tag«, »kyllä« bedeutete »ja«, »ei« hingegen »nein«. Nun eilte sie durch den Münchener Flughafen, mit einem Koffer voller Kleidung und das Herz voller aufgeregter Erwartung.

Sie gab ihr Gepäck auf und reihte sich in die Schlange vor dem Sicherheitscheck ein. Am Rollband legte sie ihre Handtasche in die Kiste und leerte ihre Jackentaschen. Sie nahm ihr Smartphone, zögerte einen Moment, dann schaltete sie es aus. Es war Freitagabend, bis zu ihrer Ankunft in Helsinki musste die Welt einmal ohne sie auskommen. Sie wollte sich voll und ganz auf diesen Augenblick konzentrieren, ihn bewusst genießen.

Sie passierte den Sicherheitscheck und spazierte an den Duty-free-Shops vorbei zu ihrem Gate. Sie hatte noch eine Stunde Zeit, ihr Flug ging erst um achtzehn Uhr fünfzig, aber es beruhigte sie zu wissen, wo ihr Wartebereich war.

In der Nähe gab es eine Getränkebar. Sie setzte sich auf einen der Hocker an der Theke und gönnte sich zur Feier des Tages einen Cappuccino und ein Glas Prosecco. Stimmengewirr in Deutsch, Englisch und vermutlich Finnisch umgab sie, zwischendurch knarzten Durchsagen aus den Lautsprechern.

Während sie ihren Cappuccino genoss, beobachtete sie die anderen Reisenden. Geschäftsleute, Familien, Outdoorfreaks in bunten Funktionsjacken. Sie selbst hatte nur eine leichte Sommerjacke mitgenommen. Die Temperaturen lagen in Deutschland tagsüber noch über dreißig Grad. Wenn es in Helsinki kälter wäre, könnte sie sich dort eine wärmere Jacke kaufen und hätte gleich eine schöne Erinnerung an dieses Abenteuer.

Nachdem sie den Cappuccino getrunken hatte, widmete sie sich dem Prosecco. Sie prostete sich selbst zu, lobte sich, dass sie den Mut gehabt hatte, sich so spontan auf diese Reise einzulassen. Ihre Kolleginnen und Kollegen waren nicht weniger überrascht gewesen.

Zufrieden lächelnd probierte sie einen Schluck. Noch vierzig Minuten bis zum Boarding. Gegen Viertel nach zehn sollte sie in Helsinki landen. Bis sie ihren Koffer hätte, wäre es sicherlich halb elf, wenn nicht gar schon elf Uhr abends. Sie würde ein Taxi zu ihrem Hotel nehmen. Sie hatte extra den Flug am Freitagabend gebucht, um am Wochenende Zeit für Sightseeing zu haben, bevor am Montag das Hospitationsprogramm beginnen würde.