Hexenschuss - Bernd Franzinger - E-Book + Hörbuch

Hexenschuss E-Book

Bernd Franzinger

4,3

Beschreibung

Norbert Basler, Personalvorstand einer Bank, wird in seiner Kaiserslauterer Villa tot aufgefunden. Ein Schuss in den Lendenbereich kostete ihn das Leben. Kurz darauf werden zwei weitere tote Personaler gefunden, beide auf die gleiche Art ermordet. Bei seinen Ermittlungen trifft Kommissar Tannenberg auf eine Mauer des Schweigens. Erst eine Diskussion über die Frauenquote bringt ihn auf eine Idee: Dient die Mordserie an einflussreichen Männern womöglich dem Ziel, auf morbide Weise Frauenförderung zu betreiben?

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Bernd Franzinger

Hexenschuss

Tannenbergs 13. Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © pischare / photocase.com

und © Polizeihistorischer Verein Stuttgart e.V.

ISBN 978-3-8392-4134-9

Fair is foul,

and foul is fair.

William Shakespeare, Macbeth

1

Norbert Basler lag quer über dem Couchtisch. Seine Beine waren angewinkelt und erinnerten an einen hüpfenden Frosch. Die Fingerspitzen berührten den Perserteppich, so als wollten sie etwas aufheben. Baslers Kopf war zur Seite geneigt, seine Augen starrten zur Ledercouch. Die Zunge hing schlaff aus dem schiefen Mund, was seinem Gesicht einen leicht debilen Ausdruck verlieh. Er trug eine dunkelblaue Freizeithose und ein weißes T-Shirt.

15 Zentimeter über dem Steißbein markierte ein faustgroßer Blutfleck die Eintrittsstelle des Projektils. Die Blutlache auf dem Teppich war bedeutend größer und wies die Form einer ovalen Sprechblase auf.

»Kleine Eintrittswunde«, murmelte Dr. Schönthaler in sein Diktiergerät. »Allerdings mit großer Wirkung.« Er schob die Unterlippe vor und brummte. »Bei dem enormen Blutverlust tippe ich mal tollkühn auf die verheerende Wirkung eines Teilmantelgeschosses.« Der Rechtsmediziner neigte sich zum bleichen Antlitz des Toten herab und fingerte an Baslers Mund herum. »Belegte Zunge«, knurrte er. »Was schlussfolgern wir daraus, Herr Hauptkommissar?«, rief er über die Schulter hinweg.

Tannenberg schlenderte gerade im Wohnzimmer umher und verschaffte sich einen ersten Eindruck vom Tatort. Er hasste es, dabei gestört zu werden.

»Was?«, raunzte er zurück.

Sein Freund verdrehte die Augen. »Ach, vergiss es, Wolf. Komm lieber her und hilf mir, diesen abgeschlafften Gesellen auf die Seite zu drehen, damit ich mir die Sauerei auf der anderen Seite etwas genauer anschauen kann.«

Widerwillig schlurfte Wolfram Tannenberg zum Glastisch. Er stellte sich an die Stirnseite und beugte den Oberkörper zum Leichnam hinab. Dann packte er Basler an der Hüfte und zog ruckartig an dem leblosen Männerkörper. »Aaaaaaah«, stieß er plötzlich aus. Wie eingefroren verharrte er einige Sekunden in gebückter Haltung. Dann fasste er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Lenden. »Aua, aua, tut das weh«, jammerte er.

Zwei Kriminaltechniker eilten herbei und griffen ihm unter die Arme.

»Setzt mich in den Sessel«, keuchte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission. »Aber vorsichtig!«

»Quatsch«, mischte sich Dr. Schönthaler ein. »Legt ihn neben den anderen Kerl auf den Couchtisch«, kommandierte er.

»Und wie?«, fragte einer der in Plastikoveralls gehüllten Spurenexperten.

»Auf den Bauch natürlich«, blaffte der Pathologe. »Und zieht ihm die Hose runter!«

»Warum denn das?«, stöhnte Tannenberg.

»Weil ich dir jetzt eine riesige Spritze in den Hintern rammen werde. Außer einem Besuch beim Abdecker hilft nämlich sonst nichts gegen einen Hexenschuss«, kommentierte der Rechtsmediziner das Leiden seines alten Freundes. Schmunzelnd kramte er in seinem Arztkoffer herum. Er köpfte eine Glasampulle und zog eine Spritze auf. »Tja, ja, mein armes, armes Wölfchen, dir hat wohl gerade eine Hexe ins Kreuz geschossen.« Dr. Schönthaler nickte zu Tannenbergs leblosem Nebenmann hin. »Allerdings mit weniger gravierenden Konsequenzen als bei unserem Sportsfreund hier.«

»Die Spritze tut doch bestimmt sauweh«, wimmerte der Chef-Ermittler.

»Weichei, Memme, Warmduscher, Schirmbenutzer«, brachte Dr. Schönthaler sein tiefempfundenes Mitgefühl zum Ausdruck.

In diesem Augenblick kehrte der Leiter der kriminaltechnischen Abteilung von der Garteninspektion in den modern eingerichteten Salon zurück. Er stand neben der Schiebetür, die den Essbereich vom Wohnzimmer abtrennte, und schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen.

»Um Himmels willen, was geht denn hier ab?«, zeterte Mertel. »Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden? Ihr vernichtet wertvolle Tatortspuren.« Wütend stemmte er die Arme in die Seite. »Von Wolf und Rainer bin ich so was ja gewohnt«, fuhr er seine beiden Mitarbeiter an. Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Aber dass ihr jetzt auch bei so was mitmacht, hätte ich niemals für möglich gehalten. Mensch, Leute, ihr seid doch Spurensicherer und keine Spurenvernichter!«

»Das war ein Notfall. Wir mussten ihm sofort helfen«, verteidigte sich der ältere der beiden.

Mertel winkte ab.

»Ich kann jedenfalls nichts dafür, Karl«, beteuerte Tannenberg. »Rainer hat mich …«

»Halt den Rüssel«, fiel ihm der Rechtsmediziner ins Wort, »und konzentrier dich auf die Höllenqualen der nun folgenden Spritzenkur. Bist du bereit?«

»Muss wohl«, grummelte Tannenberg. Er sog Luft durch die geschlossenen Zahnreihen ein. »Pass ja auf, dass es nicht so wehtut.«

»Aber sicher doch, mein liebes Wölfchen«, flötete Dr. Schönthaler.

Grinsend stach er die Nadel mehrmals in Tannenbergs untere Lendengegend. Danach tätschelte er den entblößten Hintern.

»Hör auf mit dem Quatsch«, fauchte sein Freund.

»Deine Pobäckchen halten einem Bleistifttest aber nicht mehr stand, alter Junge«, frotzelte der Pathologe weiter. »Vielleicht solltest du dir mal den Hintern liften lassen. Mithilfe der plastischen Chirurgie werden die hängendsten Hängebäckchen wieder prall. Einer meiner Kollegen von der Frischfleischfraktion verdient sich mit Senioren-Tuning ein lu­kratives Zubrot. Soll ich dir einen Termin bei ihm besorgen? Mach ich wirklich gerne.«

Dr. Schönthaler warf Mertel einen hämischen Blick zu und zwinkerte ihm zu. »Ich bekomme nämlich eine satte Vermittlungsprovision.«

Der Kriminaltechniker verzog gequält das Gesicht. »So, und jetzt legt ihr diesen notorischen Spurenvernichter auf die Couch«, ordnete er an.

Vorsichtig hievten seine beiden Kollegen Tannenberg hoch und verfrachteten ihn auf die Ledercouch. »Da bleibst du jetzt liegen, Wolf, und rührst dich nicht mehr von der Stelle«, befahl Mertel und ergänzte in schärferem Ton: »Ist das klar?«

Wolfram Tannenberg nickte brav.

Während der Leiter des K 1 mit geschlossenen Augen das Abklingen seiner Höllenqualen herbeisehnte, befragte Michael Schauß in der Küche des Bungalows die Frau des Anschlagsopfers, die zusammengesunken auf einem Stuhl saß und ihren Kopf in die Hände stützte.

»Dann fasse ich jetzt einmal zusammen, Frau Wettigmeier-­Basler«, sagte der junge Kommissar in ruhigem Ton. »Sie waren heute Nachmittag zum Einkaufen in der Stadt. Als Sie vor einer guten halben Stunde nach Hause kamen, haben Sie im Wohnzimmer Ihren leblosen Mann entdeckt. Sie haben den Raum nicht betreten, sondern sofort die Notrufzentrale verständigt. Stimmt das?«

Die mit einem dunkelblauen Designerkostüm bekleidete Mittfünfzigerin nickte. Sie hob die Schultern an und öffnete ihre Arme zu einer entschuldigenden Geste. »Als ich das viele Blut gesehen habe, war ich wie gelähmt. Ich konnte nicht zu ihm hingehen. Es ging einfach nicht.« Sie schluckte trocken. »Ich hätte ihm doch eh nicht mehr helfen können. Er war ja schon tot.« Ein verzweifelter Blick. Die farblosen Lippen der Frau zuckten wild. »Oder?«

Michael Schauß legte eine Hand auf den Arm der Witwe, tätschelte ihn kurz. »Nein, Sie hätten Ihrem Mann nicht mehr helfen können. Nach Schätzung unseres Rechtsmediziners ist er ungefähr eine Stunde vor Ihrem Eintreffen verstorben.«

Elke Wettigmeier-Basler tupfte sich Tränen aus den Augenwinkeln. Sie presste die Lippen aufeinander und sog sie ein. »Wenn Norbert noch gelebt hätte«, schniefte sie, »ich hätte mir mein Leben lang Vorwürfe gemacht.«

»Das brauchen Sie wirklich nicht. Viele Menschen reagieren in Extremsituationen ähnlich wie Sie. Der Schock lähmt die Betroffenen und macht sie handlungsunfähig. Manchmal löst er aber auch regelrechte Fluchtreaktionen aus, zum Beispiel bei schweren Verkehrsunfällen. Sie haben also durchaus ein normales Verhalten gezeigt«, versuchte der junge Kommissar zu trösten.

Ein dankbarer Blick.

Wie betend drückte Michael Schauß die Handflächen aneinander und berührte mit den Fingerspitzen seinen Mund. Anschließend legte er die Arme auf dem Küchentisch ab. »Haben Sie, als Sie Ihren Mann entdeckt haben, zufällig durch die Wohnzimmerfenster in den Garten geschaut?«, fragte er in einfühlsamem Ton. »Und dort vielleicht den Schützen gesehen?«

Kopfschütteln.

»Ist Ihnen bei Ihrer Rückkehr irgendetwas Besonderes aufgefallen? Bitte versuchen Sie, sich genau zu erinnern. Vielleicht ein Auto, das sonst nicht hier parkt?«

Dieselbe Reaktion.

»Oder eine fremde Person, die sich auffällig verhalten hat?«

»Nein.«

»Sind Sie sich da ganz sicher?«

»Ja«, schniefte es zurück.

»Was ist Ihr Mann eigentlich von Beruf?«

»Norbert ist …« Elke Wettigmeier-Basler verbarg ihr Gesicht hinter den Händen und antwortete mit tränenerstickter Stimme: »Norbert war Personalvorstand der Pfalzbank.«

»Hier in Kaiserslautern?«

»Ja, in der Zentrale am Stiftsplatz«, kam es der Witwe abgehackt über die Lippen.

Michael Schauß reichte ihr ein Glas Wasser, das auf der Anrichte stand. Sie nahm es wortlos entgegen und nippte ein paarmal daran. Dann stellte sie es ab und fuhr mit ihrem zitternden Finger über den Glasrand. Sie atmete schwer.

»In solch einer exponierten beruflichen Position macht man sich sicherlich nicht nur Freunde, könnte ich mir vorstellen«, versuchte der junge Kommissar das Gespräch wieder in Gang zu bringen. »Da geht es schließlich um Einstellungen, Karrierechancen, möglicherweise auch um Sanktionen bis hin zu Entlassungen. Hatte Ihr Mann Feinde?«

Im Zeitlupentempo wiegte Elke Wettigmeier-Basler den Kopf hin und her. »Nein, darüber weiß ich nichts, Herr Kommissar. Norbert hat zu Hause nie über seine Arbeit gesprochen.«

»Nie?«

Das Kopfschütteln der Witwe wurde energischer. »Nein, nie«, betonte sie. »Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand solch einen Groll auf ihn hat, dass er ihn …« Sie stockte, trank einen Schluck Wasser und räusperte sich.

Michael Schauß schenkte sich Wasser nach. Anschließend machte er sich einige Notizen in seinem kleinen Büchlein, das er immer bei sich trug.

»Norbert war so ein ruhiger, höflicher und friedlicher Mensch«, fuhr Elke Wettigmeier-Basler nach einer Pause fort. »Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Er war beliebt und er wurde von allen geachtet. Vor allem auch wegen seiner sozialen Ader. Er hat sich bei der ›Tafel‹ engagiert und war im Vorstand von ›Arm-alt-allein‹.«

Aber irgendjemand muss ihn gehasst haben, dachte der junge Kommissar, während er eine Schmeißfliege beobachtete, die sich gerade auf dem Vorhang vor dem Küchenfenster niedergelassen hatte. Und zwar so sehr, dass er ihn erschossen hat. Bin sehr gespannt, welches Motiv hinter diesem heimtückischen Attentat steckt. Vielleicht Rache? Mit verstohlenem Blick musterte er die Ehefrau des Toten. Oder vielleicht Eifersucht?

Aus Erfahrung wusste er nur zur gut, dass die direkten Angehörigen von Mordopfern häufig dazu neigten, den Verstobenen posthum zu glorifizieren. Nicht selten förderten die Erkundigungen im nichtfamiliären Umfeld des Toten ein völlig anderes Bild des Mordopfers zu Tage, als es die nahen Verwandten gern zeichneten. Die Verherrlichung des Opfers geschah meist aus purem Eigeninteresse, denn dadurch versuchte die Verwandtschaft von vornherein jeglichen Tatverdacht von sich fernzuhalten. Motto: netter Kerl, kein Groll, kein Motiv – so einfach war das.

Der Kriminalbeamte befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. »Haben Sie eigentlich Kinder?«, wollte er wissen.

Elke Wettigmeier-Baslers Blick wanderte langsam an Schauß’ Lederjacke empor, bis sie und der gutaussehende Kommissar sich direkt in die Augen sahen. »Nein, leider nicht«, antwortete sie, während sie sich seufzend abwandte und über seine Schulter hinweg zum Kühlschrank schaute. Sie schluckte so hart, als steckte ihr etwas Sperriges in der Kehle. »Ein gemeinsames Kind ist uns leider versagt geblieben. Obwohl wir wirklich alles versucht haben.«

»So, das reicht erst mal«, sagte Michael Schauß und erhob sich von seinem Stuhl. »Ich lasse Sie jetzt in Ruhe. Falls noch Fragen auftauchen sollten, rufe ich Sie an oder komme noch mal kurz bei Ihnen vorbei.« Er schob das Notizbuch in die Innentasche seiner Jacke und fragte in sanftem Ton: »Haben Sie eigentlich jemanden, der Ihnen in den nächsten Tagen ein wenig zur Seite stehen kann?«

Die Witwe sackte noch mehr in sich zusammen. Ihr Nicken wurde von pfeifenden Atemzügen begleitet. »Ich fahre nachher zu einer guten Freundin. Bei ihr werde ich auch übernachten.«

»Das ist eine sehr gute Idee«, lobte Schauß.

Elke Wettigmeier-Baslers Kinnpartie zitterte. Um die Tränen zu unterdrücken, legte sie ihre Fingerkuppen auf die Schläfen und massierte sie. Ein kurzer Blick in Richtung des Wohnzimmers und ein erneuter Stoßseufzer. »Ich weiß nicht, ob ich weiter in unserem Haus leben kann. Jetzt, nachdem …«

»Machen Sie sich jetzt darüber keine unnötigen Gedanken. Diese Frage wird sich nach einiger Zeit wahrscheinlich von selbst beantworten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich bin mir sicher, dass Sie die richtige Entscheidung treffen werden, wenn Sie dieses schreckliche Ereignis ein wenig verarbeitet haben.«

Die Witwe legte den Kopf in den Nacken und stöhnte laut auf. »Oh, diese Kopfschmerzen machen mich noch wahnsinnig«, jammerte sie. Mit ihrer rechten Hand wies sie auf einen der Hängeschränke der Einbauküche. »Könnten Sie mir bitte zwei Schmerztabletten geben?«

»Natürlich«, entgegnete Schauß und öffnete die Schranktür, hinter der sich ein wahres Arsenal von Medikamentenpackungen verbarg.

»Die gelbgrüne Packung«, keuchte es in seinem Rücken.

Michael Schauß reichte der Witwe die Schachtel. Mit zitternder Hand nahm sie die Packung entgegen, drückte zwei Migränetabletten heraus und löste sie in ihrem Glas auf. Seufzend beobachtete sie das aufsprudelnde Wasser.

»Wenn Sie möchten, fahre ich Sie selbstverständlich zu Ihrer Freundin«, schlug der junge Ermittler vor. »Das mache ich wirklich gerne.«

»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig. Die Tabletten wirken normalerweise sehr schnell. Es ist auch nicht sehr weit zum Haus meiner Freundin. Sie wohnt nur ein paar Straßenecken entfernt.« Die Witwe stützte sich auf dem Tisch ab und stand auf. »Es geht mir schon ein bisschen besser. Ich packe schnell ein paar Sachen zusammen und fahre gleich los.«

»Soll ich Sie in Ihr Schlafzimmer begleiten und Ihnen beim Packen helfen?«, bot er, ohne nachzudenken, spontan an. »Ich kann natürlich auch eine Kollegin darum bitten«, schob er geschwind nach.

»Nein, nein, vielen Dank, junger Mann, das schaffe ich schon noch alleine«, wehrte die Witwe ab. Mit routinierten Handgriffen brachte sie ihr Kostüm in Ordnung und verschwand aus der Küche.

Der Kommissar schaute ihr nach, bis sie aus seinem Sichtfeld verschwunden war, dann ging er ins Wohnzimmer zu seinen Kollegen.

»Oh je, Wolf, was ist denn mit dir los?«, fragte er betroffen, als er seinen Vorgesetzten mit verkrampftem Gesicht auf der Couch liegen sah.

»Hexenschuss«, kam es gepresst zurück. »Das sind vielleicht Schmerzen, kann ich dir sagen.«

»Wirken die Spritzen denn noch nicht?«, fragte Dr. Schönthaler verwundert.

»Noch nicht so richtig.«

»Komisch«, meinte der Mediziner. »Ich hab dir eine Dosis verpasst, die normalerweise für einen Brauereigaul ausreicht.« Grinsend rückte er seine Fliege zurecht. »Soll ich dir noch eine zusätzliche Ladung verpassen?«

»Nee, nee, Rainer, es geht schon.«

2

Mitten in der Nacht meldeten sich die höllischen Hexenschussschmerzen zurück. Tannenberg schleppte sich ins Badezimmer und warf gleich drei Tabletten auf einmal ein. Als nur wenige Stunden später der Wecker klingelte, fühlte er sich wie gerädert. Die obligaten Körperpflegemaßnahmen reduzierte er in diesem Morgengrauen, das seinen Namen wahrlich verdient hatte, auf eine Katzenwäsche.

Ebenso das Frühstück. Sehr zum Missfallen seiner besorgten Mutter trank er nur zwei Tassen Kaffee. Die einzigen Worte, die der notorische Morgenmuffel in der Wohnküche seiner Eltern zum Besten gab, richteten sich an seinen Bruder. Wegen seiner Rückenschmerzen sollte ihn Heiner zu seiner Dienststelle am Pfaffplatz fahren, wo im zweiten Obergeschoss die Kaiserslauterer Mordkommission angesiedelt war.

Nachdem er sich die Treppenstufen hinaufgequält hatte, knurrte er mit verkniffenem Gesicht: »Guten Morgen, Flocke«, in Richtung seiner Sekretärin, die hinter ihrem Schreibtisch saß und ihn versonnen anlächelte.

»Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen, Chef«, flötete es schmatzend zurück. »Einen doppelten Espresso, wie immer?«

»Nee, besser einen Kamillentee«, entgegnete Tannenberg. »Ich hab schon meine Kaffeeration intus. Und die bekommt mir gar nicht.« Demonstrativ legte er die Hände auf den Bauch. »Anscheinend vertrage ich diese verdammten Schmerztabletten nicht, die Rainer mir gestern gegeben hat. Mannomann, krampft’s mir den Magen zusammen.«

Petra Flockerzie seufzte voller Mitgefühl. »Ich hab von Ihrem Malheur gehört, Chef. Es tut mir ja so schrecklich leid für Sie. Ein Hexenschuss ist wirklich eine sehr, sehr unangenehme Sache.«

»Ja, das stimmt«, stöhnte ihr Chef.

Der gute Geist des K 1 reckte mahnend den Zeigefinger. »Wenn Sie dieses Teufelszeug schlucken müssen, ist es ganz, ganz wichtig, dass Sie reichlich dazu essen. Am besten viel Joghurt und Quark. Damit schützen Sie die Magenschleimhaut.«

»Ja, ich weiß, Rainer hat mich auch schon auf die gravierenden Nebenwirkungen hingewiesen. Aber heute Morgen habe ich einfach noch nichts runtergekriegt. Ich weiß ja eigentlich, dass man diese Dinger nicht auf nüchternen Magen einwerfen soll. Aber ich hatte heute Nacht solche fürchterlichen Schmerzen.«

»Och, Sie armer Kerl.« Man sah Petra Flockerzie an, wie sehr sie mit Tannenberg litt. »Dann wird’s jetzt aber Zeit, Chef, dass Sie für eine anständige Unterlage sorgen«, schlug sie vor. »Soll ich für Sie im Supermarkt etwas Gesundes kaufen? Milchprodukte sind wie gesagt wichtig. Und Bananen sind auch sehr gut geeignet.«

»Das wäre ausgesprochen nett von dir, Flocke. Mittlerweile hab ich nämlich einen ziemlichen Kohldampf.«

Die Sekretärin lachte so herzhaft, dass ihr Doppelkinn wabbelte. »Vielleicht kommen Ihre Magenschmerzen ja gar nicht von den Tabletten, sondern vom Hunger.« Sie stopfte sich einen Bissen in den Mund und tupfte sich die Lippen ab.

Tannenberg ging zwei Schritte auf sie zu. »Was isst du denn gerade Feines?«, wollte er neugierig wissen.

»Rohes Fleisch.«

»Rohes Fleisch?«, wiederholte der Kommissariatsleiter ungläubig und ergänzte mit geschürzten Lippen: »Zum Frühstück?«

»Na klar, Chef.«

Wolfram Tannenberg schlurfte bis zum Schreibtisch, beugte sich nach vorn und stützte ächzend die Arme auf der Tischplatte ab. Er traute seinen Augen nicht. »Wieso …?«, fragte er mit angewidertem Blick auf das blutige Steak, das in einer Plastikbox auf Petra Flockerzies Schreibtisch lag.

Weiter kam er nicht, denn seine Sekretärin schnitt ihm das Wort ab. Als ausgewiesene Diät-Expertin sah sie sich genötigt, ihren Vorgesetzten über eine der zurzeit angesagtesten Abspeckmethoden zu informieren. Sie verschränkte die Arme vor ihrem gewaltigen Busen und verkündete in Dozentenmanier: »Rohes Fleisch ist zentraler Bestandteil der Steinzeit-Diät.«

»Steinzeit-Diät?«, prustete Tannenberg los und vergaß dabei fast seine Wehwehchen. »Darf man da nur in einer Höhle essen, oder wie?«

»Nein, das nicht«, gab die Sekretärin gelassen zurück, während ihr ein Lächeln über die Lippen huschte.

Der gute Geist des K 1 war es gewohnt, dass sich die Kollegen über ihre Diätprogramme lustig machten. Aber das störte sie nicht im Geringsten. Jeder Mensch hatte mindestens einen Feind, mit dem er sich im Laufe seines Lebens dauerhaft herumschlagen musste. Bei ihr waren es weder Süchte noch schlechte Angewohnheiten noch Mundgeruch oder stinkende Füße.

Ihr Feind wabbelte um ihre Hüften herum und begleitete sie auf Schritt und Tritt durchs Leben. Wie schon viele Male zuvor hatte sie sich auch diesmal wieder eisern vorgenommen, diesem nervigen Lebensbegleiter an den Kragen zu gehen und ihr Gewicht zumindest um einige Kilogramm zu reduzieren. Und mit diesem Abspeckprogramm wollte sie es nun wirklich schaffen.

»Die Paläo-Diät ist ebenso einfach wie genial«, behauptete sie. In ihrem energischen Tonfall schwang noch nicht einmal der Anklang einer kritischen Beurteilung ihres aktuellen Abspeck-Favoriten mit.

Tannenbergs runzelte die Stirn. »Paläo-Diät?«

»Ja, so wird diese revolutionäre Körperfett-Verbrennungsmethode auch genannt. Die Paläo-Diät ist etwas ganz anderes als diese schnelllebigen Modetrends. Etwas sensationell Neues – obwohl es eigentlich steinalt ist.«

Ihr Vorgesetzter grinste. »Aus der Steinzeit eben.«

»So ist es, Chef. Die Steinzeit-Diät ist ein seit vielen tausend Jahren bewährtes Ernährungskonzept, das quasi automatisch zu Gesundheit, idealem Körpergewicht und optimaler Leistungsfähigkeit führt. Oder haben Sie vielleicht schon mal einen übergewichtigen Steinzeitmenschen gesehen?«

Wolfram Tannenberg blies die Backen auf und ließ den aufgestauten Atem zischend entweichen, denn auf diese Frage fiel ihm spontan nichts Passendes ein.

Derweil säbelte Petra Flockerzie demonstrativ ein kleines Stück Rindfleisch ab und tunkte es in den eigenen Saft, ehe sie es in den Mund steckte und genüsslich kaute. Dazu trank sie pures Leitungswasser.

Während ihr Chef sie staunend beobachtete, fuhr sie schmatzend fort: »Die Steinzeit-Diät orientiert sich an der Ernährungsweise unserer Vorfahren, die ja bekanntermaßen Jäger und Sammler waren. Und ich mache es diesen Urmenschen nach, trinke ausschließlich reines Wasser und esse nur rohe, unbehandelte Nahrungsmittel, wie zum Beispiel rohes Fleisch, rohen Fisch und Obst.« Mit einer Serviette tupfte sie den roten Fleischsaft aus den Mundwinkeln. »Und Gemüse der Saison natürlich.«

»Natürlich«, wiederholte Tannenberg. »Dann isst du also auch rohe Kartoffeln?«, konnte er sich nicht verkneifen.

»Kartoffeln gab es in der Steinzeit noch nicht«, belehrte ihn seine dralle Sekretärin. »Ich esse nur Dinge, auf die die Evolution meinen Körper über Zigtausende von Jahren hinweg vorbereitet hat.« Sie verzog den Mund zu einem überheblichen Lächeln. »Bei Kartoffeln war das nicht möglich.«

Tannenberg zeigte seine Handflächen. »Kapiert, Flocke. Ich hab’s kapiert.«

»Wenn man die Steinzeit-Diät strikt befolgt, lebt man ausgesprochen gesund und muss weder Diabetes noch Multiple Sklerose oder andere Zivilisationskrankheiten fürchten«, legte sie nach.

»Eine wahre Wunderdiät ist das ja anscheinend«, frotzelte der Leiter des K 1.

»Exakt, Chef«, entgegnete Petra Flockerzie. Ihr Blick heftete sich auf einen dicken Pickel, der seit heute Morgen Tannenbergs rechte Wange zierte. »Und übrigens bekommt man dann auch keine Akne.«

Als eitler Gockel traf ihn diese Bemerkung bis ins Mark. »Hast du denn bei deinem blutigen Rohfleischfuttern überhaupt keine Angst vor Salmonellen und Trichinen?«, giftete Tannenberg zurück.

Petra Flockerzie schob strahlend die Hände unter ihre Achseln. »Nein, Chef, das Fleisch, das ich konsumiere, wurde sehr streng kontrolliert.«

In dem ehemaligen Leistungssportler brodelte es noch immer. »Wenn du diese Steinzeit-Diät wirklich erst nimmst, müsstest du doch auch Regenwürmer, Käfer und Engerlinge essen, oder?«, legte er nach, gespannt darauf, ob ihr auch zu diesem Argument etwas einfiel.

Seine Sekretärin zuckte gelassen mit den Schultern. »Ganz so eng muss man die Sache nun auch nicht sehen, Chef.«

Tannenberg grummelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin, bevor er sich in sein Dienstzimmer verzog. Als Erstes inspizierte er mit einem Handspiegel, den er in der Schreibtischschublade aufbewahrte, den mit einer Eiterpustel gekrönten Pickel. »Ich und Akne? Von wegen! Das kommt von diesen Scheiß-Medikamenten«, zischte er seinem Spiegelbild entgegen.

Dann klemmte er den ungeliebten Begleiter zwischen seine Fingernägel und quetschte ihn aus. In diesem Moment klopfte es an der Tür. »Einen Augenblick noch!«, brüllte er, während er einen Blutstropfen von seiner Wange tupfte. Wenig später klopfte es erneut. »Herein! Was gibt’s denn so Dringendes?«

Als seine korpulente Mitarbeiterin im Türrahmen auftauchte, meldete sich schlagartig sein schlechtes Gewissen und er entschuldigte sich reumütig für seine vorherigen Provokationen. Schließlich wusste er nur zu gut, wie sehr Petra Flockerzie unter ihrem Übergewicht litt und wie oft sie in der Vergangenheit schon eine Diät abgebrochen hatte und rückfällig geworden war. Aber eigentlich wäre dies gar nicht nötig gewesen, denn sie liebte ihren Chef abgöttisch und hatte ihm seine spöttischen Bemerkungen bereits verziehen.

Für 10 Uhr hatte Tannenberg eine Dienstbesprechung angesetzt, bei der die ersten Ermittlungsergebnisse ausgetauscht werden sollten. Der Leiter der kriminaltechnischen Abteilung erschien als Letzter der eingeladenen Beamten.

»Entschuldigt die kleine Verspätung, Kollegen«, sagte Mertel, während er ins Besprechungszimmer des K 1 stürmte. »Die Arbeit an meinem Wandgemälde hat doch etwas länger gedauert, als ich zunächst angenommen hatte.«

»Welches Wandgemälde?«, fragte Sabrina Schauß.

Der Spurenexperte pickte mehrere Reißzwecken von der Ablage, rollte eine etwa einen Meter lange Raufasertapete auseinander und heftete sie an die Korktafel. Anschließend machte er eine ausladende Bewegung, so als präsentierte er ein Kunstwerk.

»Und, Leute, ist mir diese sogenannte Tatortskizze nicht ausgesprochen gut gelungen?«, fragte er mit stolzgeschwellter Brust.

»Sogar in Farbe – Respekt!«, lobte Tannenberg scheinheilig.

Obwohl Karl Mertel einen Laserpointer parat hatte, schnappte er sich einen Bambusstock und deutete damit auf seine Zeichnung.

»Die Villa befindet sich am südlichen Rand des Bännjerrücks. Das weitläufige Areal grenzt direkt an den Wald«, erklärte er. »Nur wenige Meter hinter der südlichen Grundstücksgrenze führt ein Forstweg hinunter zur Hohenecker Straße.«

»Also eine ideale Fluchtmöglichkeit für den Täter«, bemerkte Sabrina.

Der erfahrene Kriminaltechniker nickte. Ein schalkhaftes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Theoretisch schon, praktisch wohl eher nicht.«

Erstaunte Mienen.

»Auf besagtem Waldweg haben wir nämlich keinen einzigen verwertbaren Reifenabdruck oder eine Fußspur entdecken können«, verkündete er. »Dies legt die begründete Vermutung nahe, dass der Schütze den tödlichen Schuss nicht von dort, sondern aus einiger Entfernung abgegeben hat.«

Mit einem Edding malte er ein rotes Kreuz in die Skizze hinein. Anschließend zeichnete er von diesem Punkt aus eine gestrichelte Linie über den mit Bäumen und Sträuchern angedeuteten Garten der Villa zum Wohnzimmer, dem Leichenfundort.

»Das Projektil durchschlug die rückwärtige Fensterfront des Hauses«, erläuterte Mertel. »Verlängert man nun diese Linie vom wahrscheinlichen Aufenthaltsort des Opfers durch das Loch in der Scheibe, dann …«

»Das haben wir schon kapiert, Karl«, fuhr ihm Tannenberg barsch in die Parade. »Deshalb: Bitte keine epische Breite, sondern die Kurzfassung.«

Mertels Augen funkelten bedrohlich. »Wenn du aufgrund deiner Ischiasschmerzen schlechte Laune hast, solltest du sie nicht an uns auslassen, sondern besser nach Hause fahren und dich auf die Couch legen«, giftete der Kriminaltechniker zurück. »Entweder präsentiere ich unsere Ergebnisse auf meine Art und Weise oder du musst auf meinen schriftlichen Bericht warten.«

Der Anpfiff verfehlte seine Wirkung nicht. Der Leiter des K 1 nahm den Kopf zwischen die Schultern und hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, Karl. Mich interessiert nur brennend die verwendete Munition.«

»Okay, du alte Nervensäge, dann arbeiten wir eben zuerst noch dieses Thema ab«, zeigte sich nun auch Mertel wieder versöhnlicher. »Obwohl es dazu eigentlich nicht mehr viel zu sagen gibt.«

»Wieso?«, fragte Tannenberg verdutzt.

»Na ja, wie mir zu Ohren kam, hat unser Doc bei der Inspektion des Leichnams eine Hypothese formuliert, mit der er mal wieder ziemlich genau ins Schwarze getroffen hat.«

»Welche Hypothese?«, fragte Geiger nach. Der Kriminalhauptmeister war erst in der Nacht von einem zweiwöchigen Mallorcaurlaub zurückgekehrt und offenbar noch nicht richtig in der Pfalz angekommen.

»Rainer hat mal wieder spekuliert«, erklärte Tannenberg. »Und zwar, dass es sich um ein Teilmantelgeschoss handelt, das …«

»… diese verheerende Wirkung erzielt hat«, vollendete Mertel den Satz. Er schnipste mit den Fingern. »Und nun kann die Kriminaltechnik stolz vermelden, dass diese Hypothese als verifiziert betrachtet wird.«

Armin Geiger zog das Kinn zum Hals. »He?«

Mertel verdrehte genervt die Augen. »Mit anderen Worten: Der Täter hat definitiv Jagdmunition verwendet. Jäger benutzen zumeist Teilmantelgeschosse, denn diese führen aufgrund der effektiven Energieabgabe«, ein Seitenblick zu Geiger, der förmlich an seinen Lippen klebte, »damit ist die Sprengwirkung des Geschosses gemeint, werter Herr Kollege, klar?«

Ein knappes Nicken.

»Die Teilmantelgeschosse führen zuverlässiger zum sofortigen Tod des Wildes, als es Vollmantelgeschosse tun. Durch die groben Splitter und den Restbolzen entsteht ein wirkungsvoller Wundkanal. Deshalb auch die von unserem Doc festgestellte große Austrittsöffnung im Bauch des Opfers.«

Sabrina Schauß schluckte hart. »Effektive Energieabgabe, wirkungsvoller Wundkanal«, murmelte sie vor sich hin. »Was für perverse Ausdrücke.«

»Stimmt schon, Sabrina«, pflichtete ihr Mertel bei. »Aber noch perverser als diese Worte ist wohl der Mörder, der diese Munition genau aus diesem zerstörerischen Zweck zur Tötung eines Menschen verwendet hat.«

Einige Augenblicke lang herrschte bleierne Stille im Besprechungszimmer des K 1. Einzig das Ticken der Wanduhr war zu hören.

»Also, dann mal weiter mit der Faktenlage«, brach der Kriminaltechniker als Erster das Schweigen. Er deutete mit der Stabspitze auf das aufgemalte rote Kreuz. »Von hier aus, wo ich diese wunderschöne Buche eingezeichnet habe, hat der Täter den tödlichen Schuss abgegeben.«

»Zweifelsfrei?«, fragte Geiger diensteifrig nach.

»Zweifelsfrei«, ertönte das Echo aus dem Mund des Spurenexperten. Er verlagerte sein Gewicht und schob einen Fuß vor. »Wir haben an dieser Stelle eine Patronenhülse des Kalibers 8x57 sichergestellt. Sie lag gut sichtbar auf dem Laub. Der Täter hat es offensichtlich nicht für nötig befunden, die Hülse mitzunehmen.«

»Vielleicht wollte er ja, dass wir sie finden«, warf Geiger ein.

Tannenberg ließ ein skeptisches Brummgeräusch ertönen. »Also handelt es sich bei der Tatwaffe tatsächlich um ein Jagdgewehr«, meinte er, an Mertel gerichtet. Er rieb sich die Hände. »Na, da haben wir doch schon mal einen ersten Anhaltspunkt.«

»Es wird aber noch bedeutend besser, Wolf«, entgegnete der Spurenexperte und verzog sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Wegen des Regenwetters der vergangenen Tage war der Waldboden ziemlich aufgeweicht.«

Um die Spannung zu steigern, legte er eine Pause ein. Er ging zurück zum Tisch, schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und trank einen großen Schluck.

»Weiter«, forderte der Leiter des K 1.

Grinsend kratzte sich Mertel hinterm Ohr. Dann fuhr er endlich fort: »Am Fuß dieser Buche haben wir in der feuchten Walderde ein grobes Stollenprofil entdeckt. Es handelt sich um eines, das beispielsweise von Wanderschuhen verursacht wird. Die Fußspuren führen zu einem schmalen Pfad, auf dem sie sich allerdings verlieren.«

»Also ein Wanderer«, mischte sich der aus Mallorca zurückgekehrte Kriminalhauptmeister erneut ein.

»Ja, werter Kollege Geiger, wir haben es somit hundertprozentig mit einem Wanderer zu tun«, höhnte Tannenberg. »Deshalb beginnst du gleich nachher mit der Recherche in dieser abgedrehten Wanderfreak-Szene. Du fährst zur Geschäftsstelle des Pfälzerwald-Vereins und stellst dort alles auf den Kopf.« Er reckte einen Zeigefinger in die Höhe. »Und bitte die gesamte Palette der kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit: Befragung der anwesenden Personen, Sichtung der Mitgliederlisten, Computercheck et cetera. Außerdem hast du in der nächsten Zeit sämtliche Volkswanderungen in unserer Gegend im Visier und nimmst dort von allen Wanderern Sohlenproben.«

Armin Geiger verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und presste die Zahnreihen so fest aufeinander, dass sich unter seiner Wangenhaut kleine Höcker bildeten. »Danke, Chef, verarschen kann ich mich alleine«, knurrte er durch die geschlossenen Zahnreihen.

Der Kommissariatsleiter warf Mertel einen hämischen Blick zu, den dieser mit einem dezenten Schmunzeln quittierte.

Jeder der Anwesenden wusste aus leidiger Erfahrung, dass Tannenberg ein ausgesprochener Morgenmuffel war. Bis zum Mittagessen, das er meist zu Hause in der Küche seiner Eltern einnahm, war er übellaunig, muffelig, aufbrausend, provokant und ungerecht, worunter vor allem Armin Geiger zu leiden hatte.

Doch zu Tannenbergs Ehrenrettung trug bei, dass der pygmäenhafte Kriminalhauptmeister selbst großen Anteil daran hatte, vor einigen Jahren zum Prügelknaben des K 1 avanciert zu sein. Seine Zoten und sexistischen Anspielungen gegenüber Sabrina fanden alle unerträglich. Und da er sich diese Unart nicht hatte abgewöhnen und sich auch nicht hatte versetzen lassen wollen, musste er sich eben mit den kollektiven Anfeindungen seiner Kollegen arrangieren.

»Wie ich sehe, sind alle Mitarbeiter des K 1 versammelt«, erklang plötzlich eine ungewöhnlich tiefe Frauenstimme in Tannenbergs Rücken.

Erstaunt riss der Chef-Ermittler seinen Oberkörper herum. Die abrupte Körperdrehung löste einen schneidenden Schmerz im Lendenbereich aus. Er stöhnte auf, aber angesichts des überraschenden Damenbesuchs unterdrückte er die deftigen Flüche, die ihm auf der Zunge lagen.

»Guten Tag, die Herrschaften«, fuhr die Besucherin unbeeindruckt fort. »Für all diejenigen, denen ich noch nicht über den Weg gelaufen bin: Mein Name ist Agnes Rottmüller-­Klomann. Ich störe Sie wirklich nicht gerne bei Ihrer schwierigen Ermittlungsarbeit. Aber bevor Sie die Neuigkeit über den Kantinenfunk hören, sollten Sie es meines Erachtens besser direkt von mir erfahren.«

Tannenberg zog einen Mundwinkel hoch. »Was erfahren?«

Die Frau nahm eine theatralische Pose ein und räusperte sich hinter vorgehaltener Hand. »Unser allseits geschätzter Herr Oberstaatsanwalt Dr. Sigbert Hollerbach wird uns leider bereits am kommenden Wochenende verlassen.«

Raunen.

»Heute Morgen wurde an höchster Stelle entschieden, dass ich ab nächster Woche seinen Zuständigkeitsbereich übernehmen werde.« Ein kurzes, aufgesetztes Lächeln. »Und somit natürlich auch die staatsanwaltliche Zusammenarbeit mit dem K 1.«

»Wieso … wieso denn das?«, fragte der völlig perplexe Chef-Ermittler. Er konnte einfach nicht glauben, was er da gerade aus dem Munde der Kollegin seines Intimfeindes vernommen hatte. »Wo ist er denn hin?«, fragte er verdutzt.

Agnes Rottmüller-Klomann setzte eine bedeutungsschwere Miene auf. »Mich hat Sigbert schon vor einigen Wochen ins Vertrauen gezogen. Trotzdem kam auch für mich die Entscheidung des Justizministeriums ziemlich überraschend.« Die Staatsanwältin verschränkte die Hände vor dem Körper und ließ die Daumen umeinander kreisen.

»Dr. Hollerbach wurde von der Landesregierung damit beauftragt, unserem Partnerland Ruanda bei der Reform seines Justizsystems Hilfestellung zu leisten«, erläuterte sie. »Er soll schon am Wochenende nach Ruanda fliegen. Man munkelt, dass der liebe Sigbert nach dieser Exkursion direkt nach Mainz ins Ministerium wechselt. Der Justizminister hält anscheinend große Stücke auf ihn.«

»Das kommt wirklich überraschend«, meinte Tannenberg, immer noch sichtlich irritiert.

»Gut, meine Dame, meine Herren, ich muss nun zum Landgericht. Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, gibt es dort noch eine Menge für mich zu regeln. Ich wollte Ihnen nur selbst die Neuigkeit mitteilen.« Wie zum Schwur hob sie eine Hand. »Also dann, auf gute Zusammenarbeit. Wir starten ja gleich mit einem spektakulären Fall.«

»Das kann man wohl sagen«, spielte sich Geiger in den Vordergrund.

»Obwohl er eigentlich schon auf gepackten Koffern sitzt, legt Dr. Hollerbach großen Wert darauf, dass er noch bis zu seiner Abreise für diesen Fall zuständig ist. Sigbert ist eben ein ausgesprochen pflichtbewusster, diensteifriger Beamter. Von seinem vorbildlichen Verhalten könnten sich viele eine Scheibe abschneiden. Sie halten ihn deshalb bitte immer auf dem Laufenden, Herr Hauptkommissar?«

Tannenberg zog die Augenbrauen hoch. »Selbstverständlich, Frau Staatsanwältin«, sagte er mit einer betont förmlichen Klangfärbung versetzt.

»Das freut mich zu hören, Herr Hauptkommissar. Dr. Hollerbach wird dann die komprimierten Informationen umgehend an mich weiterleiten, damit der Übergang zwischen uns beiden reibungslos funktioniert.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

Tannenberg musste die Nachricht erst einmal verdauen. Natürlich hätte er angesichts der Tatsache, dass er nun endlich von seinem Widersacher befreit wurde, ein Feuerwerk abbrennen können. Andererseits aber vermochte er dessen Nachfolgerin nicht recht einzuschätzen. Er hatte bislang nur ein einziges Mal kurz mit ihr zu tun gehabt. Und dieser Fall lag mittlerweile einige Jahre zurück.

Wie er gehört hatte, galt Agnes Rottmüller-Klomann innerhalb der Staatsanwaltschaft als harter Hund, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich in die von ihr bearbeiteten Strafverfahren regelrecht verbiss. Von ihrer Kompromisslosigkeit konnten die Kaiserslauterer Verteidiger ein Lied singen.

»Der Hollerbach auf dem Weg zum Justiz-Staatssekretär«, grunzte Mertel abschätzig. »Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht.«

»Das stimmt, Karl«, pflichtete ihm Tannenberg bei. Er dehnte seinen schmerzenden Rücken. »Okay, was soll’s. Wir müssen die Dinge eh so nehmen, wie sie kommen. Mit der Rottmüller-Klomann müssen wir uns eben arrangieren.«

»Das wird nicht so einfach«, entgegnete der Kriminaltechniker. »Wie man hört, soll sie eine fleischgewordene Heckenschere sein.«

»Egal, Karl. Wir haben im Moment sowieso andere Probleme, als uns Gedanken über eine Staatsanwältin zu machen. Was hast du noch für uns?«

»Der Profilsohlenabdruck legt die begründete Vermutung nahe, dass es sich bei den Wanderschuhen um welche mit der Schuhgröße 44–45 handelt«, knüpfte der Spurenexperte an seine vorherigen Ausführungen an. »Außerdem weist ein Ast der Buche auf der Oberseite markante Abschabungen auf, die höchstwahrscheinlich von der Auflage, dem Verschieben und dem Rückstoß des Gewehrs verursacht wurden.«

»Gut«, sagte der Kommissariatsleiter. »War’s das, Karl?«

»Fast«, erwiderte Mertel.

»Mensch, Karl, mir geht’s heute wirklich nicht besonders«, keuchte Tannenberg mit flehendem Gesichtsausdruck. Er faltete die Hände. »Deshalb bitte, bitte lass dir nicht alle Würmer einzeln aus der Nase ziehen.«

Mertel erbarmte sich seines lädierten Kollegen. »An ihrem Stamm haben wir menschliche Haare entdeckt«, erklärte er. »Und zwar exakt neben der Stelle, an der vermutlich das Gewehr auflag. Der Schütze hat wahrscheinlich beim Anvisieren des Opfers seinen Kopf an den Baumstamm angelehnt.«

Geiger richtete seine Arme so aus, als ob sie eine imaginäre Jagdwaffe hielten. »Damit er ruhiger zielen konnte.«

Der Spurenexperte rollte mit den Augen und ergänzte: »Dabei müssen seine Haare in einen kleinen Riss in der Rinde geraten sein. Beim Anlehnen des Kopfes hat der Schlitz wohl wie eine Klammer gewirkt und die Haare eingeklemmt. Beim ruckartigen Lösen des Kopfes wurden sie dann aus der Kopfhaut gerissen.«

»Kein Wunder, denn der Täter hatte es nach dem Schuss garantiert sehr eilig«, bemerkte Sabrina. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Damit hast du übrigens recht«, sagte Mertel.

»Womit?«, fragte die attraktive Kommissarin mit zusammengeschobenen Brauen.

»Mit der Geschlechtsbestimmung.« Der Kriminaltechniker klatschte in die Hände. »Laut DNA-Analyse haben wir es bei unserem Todesschützen hundertprozentig mit einem männlichen Täter zu tun.«

»Eine Frau wäre zu solch einer heimtückischen und barbarischen Tat auch gar nicht in der Lage«, behauptete Sabrina.

Zustimmendes Nicken.

»Hast du schon die Täter-DNA durch unsere Datenbanken gejagt?«, fragte der Leiter des K 1.

»Ja, das habe ich«, entgegnete Mertel. Er hob die Schultern und seufzte. »Leider ohne Ergebnis.«

»Das wäre ja auch wirklich zu schön gewesen«, murmelte Tannenberg kopfschüttelnd vor sich hin.

3

Bei strahlendem Sonnenschein fuhr Sabrina Schauß mit dem silbernen Dienst-Mercedes zum Stiftsplatz und parkte direkt gegenüber der Pfalzbank am Taxistand. Sie hatte noch nicht einmal den Zündschlüssel abgezogen, als bereits zwei Taxifahrer wild gestikulierend auf sie zustürmten.

Die junge Kommissarin war sich ihrer Wirkung auf das männliche Geschlecht durchaus bewusst. Nicht nur im Privatleben, auch in dienstlichen Angelegenheiten setzte sie diese weibliche Waffe strategisch ein und hatte damit schon die eine oder andere bedrohliche Situation entschärft.

Graziös schälte sie sich aus dem Zivilfahrzeug und baute sich vor den erbosten älteren Männern auf. Lächelnd zeigte sie ihren Dienstausweis. »Kein Grund zur Panik, meine Herren«, sagte sie. »Ich habe einen wichtigen dienstlichen Termin in der Pfalzbank. Dauert auch nicht lange.«

Mit einer lässigen Geste wies sie auf die mit fetten Buchstaben markierten Parkplätze. »Ich hab mich absichtlich auf den letzten Taxiplatz gestellt. Da stört mein Fahrzeug hoffentlich nicht, oder?«

»Nein, nein, kein Problem, Fräuleinchen«, säuselte der eine Taxifahrer, der seinen Kollegen um gut eine Kopflänge überragte. Er trug eine speckige Lederweste und eine Schirmmütze aus Cord.

»Wir passen sogar auf Ihren Wagen auf, damit Ihnen keiner den Spiegel abfährt«, versprach der andere. »Manche Autofahrer nehmen die Kurve nämlich ganz schön eng.«

»Vielen Dank, meine Herren! Ich hab’s ja immer schon gewusst: Die Kaiserslauterer Taxifahrer sind die hilfsbereitesten und nettesten weit und breit«, flötete Sabrina.

Sie bedachte ihre Bewunderer mit einem Wink über die Schulter und überquerte mit betont koketten Laufstegschritten die Karl-Marx-Straße.

Fräuleinchen – was für ein lustiger altmodischer Begriff, dachte sie, während sich das gläserne Eingangsportal der Bank mit einem schmatzenden Geräusch öffnete. Aus einer Zeit, in der sie uns noch auf den Händen durchs Leben getragen haben. Obwohl, das machen sie heute eigentlich auch noch. Wenn man sich die Sache richtig betrachtet, sind Männer total einfach gestrickte, primitive Lebewesen, die man ganz locker um den Finger wickeln kann. Man muss nur wissen, wie’s geht.

Während sie die Treppenstufen hinauftrippelte, lachte sie in sich hinein.

Auch mein herzallerliebster Mischa bildet da keine Ausnahme, sinnierte sie. Er ist eben auch nur ein von Mutter Natur programmierter Mann. Deswegen heißt es ja auch ›Mutter Natur‹ und nicht ›Vater Natur‹.

Wir Frauen sind das starke Geschlecht, nicht die Männer! Die wissen das nur noch nicht. Brauchen sie eigentlich auch gar nicht. Wir wissen über sie Bescheid und nutzen dieses Wissen für unsere Zwecke aus – und die sogenannten Herren der Schöpfung merken das noch nicht einmal.

Um nichts in der Welt würde ich mit einem Mann tauschen wollen! Sabrina schüttelte den Kopf. Nee, nicht für alles Geld der Welt! Urplötzlich erinnerte sie sich an ihren Auftrag und an den Ort, an dem sie sich befand. Sie lächelte verschmitzt. Selbst, wenn die mir hier den Banktresor öffnen würden.

Die Nachricht vom gewaltsamen Tod eines Vorstandsmitgliedes hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer in der Pfalzbank verbreitet. Überall dort, wo nicht gerade Kundenverkehr herrschte, standen Mitarbeiter beisammen und tauschten die neuesten Informationen, Vermutungen und Gerüchte aus.

Selbst am zentral platzierten Empfangstresen, an dem sich gerade zwei ältere Damen aufhielten, drehten sich die Gespräche nicht um irgendwelche Sparanlagen, Versicherungen oder Baufinanzierungen, sondern nur um ein einziges Thema: Wer hatte den Personalvorstand Norbert Basler aus dem Hinterhalt erschossen?

Bei Sabrinas erster Gesprächspartnerin handelte es sich um Norbert Baslers Chefsekretärin, eine hagere Frau mittleren Alters, die Sabrina spontan an die Frankfurter Gouvernante in der Heidi-Geschichte erinnerte. Entweder hatte Margot Prusseit von ihren Vorgesetzten einen Maulkorb verpasst bekommen oder sie hatte sich selbst ein Schweigegelübde auferlegt. Denn außer einsilbigen, unverfänglichen Antworten kamen ihr weder Bankinterna noch private Auskünfte oder gar Gerüchte über ihren ermordeten Chef über die schmalen Lippen.

Sonderlich erschüttert schien sie von Baslers Tod nicht zu sein. Zwar machte sie einen extrem verschlossenen, aber nicht deprimierten oder gar traurigen Eindruck auf die junge Kommissarin. Margot Prusseit geleitete die Ermittlerin in das Dienstzimmer ihres langjährigen Chefs.

Die Inspektion von Norbert Baslers Büro förderte ebenfalls nichts Interessantes zutage. Der einzige persönliche Gegenstand, den Sabrina entdeckte, war ein Foto, das in der rechten Ecke des gläsernen Schreibtisches stand. Darauf waren Basler und seine Ehefrau auf einem protzigen Segelschiff abgelichtet. Kein Notebook, kein Terminkalender, nichts, nur ein PC. Doch Baslers Bankcomputer konnte Sabrina selbstverständlich ohne richterliche Anordnung nicht zur Kriminaltechnik bringen.

Danach stattete Sabrina Schauß dem Vorstandsvorsitzenden der Pfalzbank einen Besuch ab. Dr. Dieter Rheinfeld zeigte sich zwar auskunftsfreudiger als Baslers Sekretärin, doch bedeutend ergiebiger war die Befragung auch nicht.

Rheinfeld beteuerte, dass Norbert Basler ein ausgesprochen fachkompetenter Personalchef gewesen sei. Über private Angelegenheiten oder gar Probleme seines Vorstandskollegen sei ihm nichts bekannt. Man habe zwar ab und an mit den Ehegattinnen an Geschäftsessen teilgenommen, darüber hinaus habe er jedoch keinerlei private Kontakte zu den Baslers gepflegt.

Auf Sabrinas Nachfrage hin bekundete Dr. Rheinfeld, dass er und der Personalvorstand der Pfalzbank sehr unterschiedliche Charaktere gewesen seien. Dienstlich sei man aber gut miteinander ausgekommen – und das reiche ja wohl auch. Näher wollte der Bankdirektor nicht auf dieses Thema eingehen.

Erfrischend direkt und offen gebärdete sich dagegen Doris König-Meininger, die Personalratsvorsitzende der Pfalzbank. Sie war die dritte Person, die Sabrina Schauß am Arbeitsplatz des Ermordeten aufsuchte.

»Sie hätten genau in Baslers Beuteschema gepasst«, empfing Doris König-Meininger die attraktive, sportlich gekleidete Kommissarin mit entgegengestreckter Hand. »Sie sind jung, sehr hübsch, haben lange Haare und eine tolle Figur.«

»Danke für die Blumen«, lachte Sabrina und schüttelte die Hand. Sie war sehr überrascht, dass sie nach der Mauer des Schweigens, auf die sie bei ihren bisherigen Gesprächspartnern geprallt war, nun offenbar eine wahre Plaudertasche vor sich hatte. Na, da werde ich nun hoffentlich ein bisschen mehr über den geheimnisvollen Herrn Basler erfahren, freute sie sich im Stillen.

»Bei wem waren Sie denn schon?«

Sabrina beantwortete die Frage.

»Von meinen Kollegen haben Sie sicherlich nichts Interessantes über Basler erfahren, stimmt’s oder habe ich recht?«, grinste die Frau.

»Beides.«

Doris König-Meininger lachte schallend. »Ich sehe schon, wir beide verstehen uns. Übrigens kein Wunder, dass Sie keine Infos über diesen Mistkerl erhalten haben.«

»Wieso?«

»Ganz einfach: Rheinfeld hat heute Morgen bei einer Dienstbesprechung eindringlich auf Diskretion als Gebot der Stunde hingewiesen und den Kollegen mit massiven Konsequenzen gedroht, falls Sie den Mund gegenüber der Polizei oder Presse aufmachen sollten.«

Die Personalratsvorsitzende legte den Kopf schief. »Wie Sie wissen, ist das Image der Banken durch diese vermaledeiten Finanz- und Vertrauenskrisen der letzten Jahre enorm angekratzt. Und da soll um Himmels willen ja nichts von der Pfalzbank nach außen dringen, was auch nur den Geruch von persönlichen Verfehlungen oder gar kriminellen Aktivitäten haben könnte.«

Sabrina spitzte die Ohren und hakte sofort nach. »Erzählen Sie.«

Doris König-Meininger bot ihrem Gast einen Stuhl an. »Sie wundern sich bestimmt über meine Offenheit und meinen Mut, nicht wahr?«, fragte sie.

Die junge Kommissarin nickte.

»Ich gehe in einem Monat in Rente«, fuhr die Personal­rätin fort. »Und da kann mir«, sie deutete mit dem Finger zur Decke, »von denen da oben keiner mehr was. Zumal sich an eine Personalratsvorsitzende eh kaum einer herantraut.«