Kindspech - Bernd Franzinger - E-Book

Kindspech E-Book

Bernd Franzinger

4,4

Beschreibung

Panik im Hause Tannenberg: Emma, der jüngste Spross des Familienclans, wurde entführt. Zunächst deutet alles auf eine Verwechslung hin. Doch als am nächsten Morgen Tannenbergs Todesanzeige in der Zeitung erscheint, erfährt der Fall eine dramatische Wende. Fieberhaft suchen die Ermittler nach einer Person, die ein Motiv für diesen Racheakt haben könnte. Derweil befindet sich die kleine Emma im schalldicht isolierten Keller des skrupellosen Entführers, dem sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Eingepfercht in einen Gitterkäfig steht sie Todesängste aus. Der Kidnapper stellt Tannenberg ein Ultimatum und zwingt ihn zur Teilnahme an einem teuflischen Spiel. Ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit beginnt ...

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Bernd Franzinger

Kindspech

Tannenbergs achter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2008 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Isabell Michelberger

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Aboutpixel.de/

Schaukeln B © Schmidt.Koeln

ISBN 978-3-8392-3058-9

Zitat

»Kinder sind Hoffnungen.«

Novalis

Gedicht

wo bin ich?

wer bist du?

wo ist Mama?

ich hab Angst

nein, ich will nicht

nein, nein, aua, aua

Samstag, 3. August

Dass ausgerechnet mir altem Knacker noch mal so was Verrücktes passiert, dachte Tannenberg. Nie und nimmer hätte ich das für möglich gehalten.

Er seufzte tief.

Ja, meine liebe Lea, ich habe mich verknallt, und zwar bis über beide Ohren. Ich fühle mich wie damals, als ich vor dem Burggymnasium stand und mit klopfendem Herzen auf dich gewartet habe. Mensch, Lea, nie hätte ich geglaubt, dass ich mich nach deinem Tod noch einmal richtig verlieben könnte.

Und jetzt hat’s mich total erwischt.

Ich weiß, dass ich dir gegenüber kein schlechtes Gewissen zu haben brauche. Du hast oft genug zu mir gesagt: Wolf, du darfst auf Dauer nicht allein bleiben. Such dir eine neue Partnerin und werde mit ihr glücklich. Ich wünsche es dir von ganzem Herzen. Er seufzte abermals. Ja, genau das waren deine Worte.

Er schluckte hart, während er sich die Feuchte aus den Augenwinkeln wischte. Sein verklärter Blick fiel auf die schlafende Frau neben ihm.

Den Kopf auf ein weinrotes 1. FCK-Kissen gebettet, lag sie auf der Seite und schien ihn anzulächeln. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Zärtlich streichelten seine Augen jeden Quadratzentimeter ihres bildhübschen Gesichts. Sein Blick hakte sich an ihrem Ohrläppchen fest, wo ein silberner Ohrring baumelte. Ein Geschenk von ihm, gestern überreicht mit einem Strauß roter Rosen. Er bewegte den Kopf ein wenig zu ihr hin, schloss die Augen und sog genüsslich ihren verführerischen Körperduft ein.

Mann, oh Mann, was für eine Traumfrau!

Von wegen Traum! Kapier’s doch endlich, alter Junge: Es ist kein Traum! Sie liegt wirklich in deinem Bett. Und liebt dich über alles – hat sie jedenfalls gestern Abend behauptet. Was für ein Wahnsinn!

Wie aus dem Nichts wurde er von Schwermut heimgesucht. Bekümmert kniff er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und atmete ein paar Mal schwer.

Aber sie ist gut fünfzehn Jahre jünger als ich. Ein enormer Altersunterschied. Ob so was überhaupt gutgehen kann? – Ach, was soll’s, egal wie’s kommt, genieß einfach die Zeit mit ihr. Wie hat unser Lateinlehrer immer gesagt: carpe diem! Also auf, pflücke den Tag! Besonders den heutigen, schließlich hast du Geburtstag. Und fünfzig wird man nur einmal im Leben.

Vorsichtig umfasste er ihren Arm und zog ihn von seiner Schulter. Sie gab einen wohligen Grunzlaut von sich, drehte sich auf die andere Seite, doch erwachte nicht. Wolfram Tannenberg erhob sich nahezu geräuschlos und schlich ins Bad. Dort erledigte er die obligaten Körperpflegemaßnahmen und kleidete sich an.

Dann kehrte er zurück ins Schlafzimmer. Er kniete vor dem Doppelbett nieder und bestaunte Johanna von Hoheneck wie das siebte Weltwunder. Während er versuchte, die aufschreienden Schmerzen in seinem linken Knie durch eine Positionsänderung zu minimieren, murmelte sie im Schlaf irgendetwas Unverständliches vor sich hin.

Und wenn sie jetzt sagen würde, dass sie mich gestern Abend angelogen hat und mich gar nicht liebt?, schoss ein greller Blitz durch seinen Kopf. Was wäre, wenn sie jetzt den Namen eines anderen Mannes murmeln würde? Vielleicht gibt es ja einen anderen. Einer, von dem ich nichts weiß. Noch nichts weiß. Und zwar deshalb, weil sie sich bisher noch nicht getraut hat, es mir zu sagen. Womöglich ist das einer, nach dem sie sich total sehnt, den sie aber nicht kriegen kann. Vielleicht, weil der Kerl verheiratet ist oder sich nicht von seinen Kindern trennen will.

Blinzelnd schlug Johanna die Augen auf und lächelte ihn versonnen an. »Du bist ja schon wach – und sogar angezogen.« Sie runzelte die Stirn. »Was machst du denn da eigentlich?«

»Ach, mir ist nur meine Uhr runtergefallen.«

»Da ist ja unser Geburtstagskind«, begrüßte Margot Tannenberg ihren jüngsten Sohn, als er in der elterlichen Wohnküche erschien. Sie umarmte ihn und drückte ihn ganz fest an sich. »Alles Liebe und Gute zu deinem Geburtstag, mein lieber Wolfi.« Tränen schossen ihr in die Augen. Schniefend ergänzte sie: »Heute vor fünfzig Jahren war’s genauso heiß wie heute, gell, Jacob?«

Der Senior ließ diePfälzische AllgemeineZeitungauf die Tischplatte niedersinken und streckte seinem Sohn die Hand entgegen. »Gratulation zum Bergfest, Herr Hauptkommissar«, grummelte er.

Tannenberg ergriff die stark behaarte, faltige Männerhand. »Danke, Vater. Aber wieso Bergfest?«

»Weil’s von jetzt an nur noch bergab geht – bis zum Friedhof.«

Wolfram Tannenberg kommentierte diese sarkastische Bemerkung nicht. Zum einen, weil er sich seine prächtige Laune nicht verderben lassen wollte, und zum anderen, weil er aus jahrzehntelanger Erfahrung wusste, dass irgendeine Reaktion seinerseits doch nur an der Gummiwand der väterlichen Sturheit abgeprallt wäre.

Schmunzelnd setzte er sich an den Tisch.

»Kurt, was’n los mit dir? Immer noch beleidigt? Nur weil du mal eine Nacht hier unten verbringen musstest?«, fragte er in Richtung des bärigen Familienhundes, der scheinbar teilnahmslos unter dem Fenster lag. Die Schnauze auf die Pfoten gebettet, erweckte er einen geradezu stoischen Eindruck, doch seinen wachen Augen entging nichts. Tannenberg wechselte in eine höhere Tonlage. »Komm, mein liebes, gutes Mädchen, erbarme dich meiner und verzeih mir. Bitte, bitte.« Kurts Schwanzspitze bewegte sich auf und ab, er begann, leise zu winseln. »Du weißt doch ganz genau, dass ich nur dich lieb habe. Bitte hör auf zu schmollen.«

Die äußerst gelungene Kreuzung eines Leonbergers mit einer Langhaar-Schäferhündin richtete sich auf und trottete schwanzwedelnd zu Tannenberg. Der imposante Mischlingshund legte den Kopf auf den Oberschenkel seines Herrchens und holte sich die ersten Streicheleinheiten ab. Dann drehte er sich auf den Rücken und ließ sich ausgiebig das zarte Bauchfell kraulen.

Margot servierte derweil dem Geburtstagskind einen großen Becher Kaffee. Sie stemmte die Arme in die Hüften und verkündete: »Kuchen kriegst du jetzt aber noch keinen. Den gibt’s erst nachher, wenn die ganze Familie beisammen ist.«

Ihr Gesicht nahm plötzlich einen mürrischen Ausdruck an. »Wisst ihr was, am besten trinkt ihr jetzt schnell euren Kaffee, und dann geht ihr mir aus den Füßen. Ich kann euch hier nämlich überhaupt nicht gebrauchen. Jacob, du besorgst mir ein paar wichtige Sachen auf dem Markt. Und du, Wolfi, kannst außerhalb meiner Küche tun und lassen, was du willst. Schließlich ist heute dein Ehrentag.«

Jacob warf seiner Frau einen giftigen Blick zu und knurrte: »Wenn ich Geburtstag hab, muss ich trotzdem immer einkaufen gehen.«

»Schon gut, Vater. Ich übernehme das gerne mit dem Markt. Ein bisschen Bewegung schadet mir gar nichts.«

Margot riss den Einkaufszettel ab und reichte ihn ihrem Sohn. Anschließend wies sie mit dem Zeigefinger zur Decke. »Schläft deine Freundin noch?«, fragte sie im Flüsterton.

»Ja, Mutter, sie schläft noch. Sie sieht aus wie ein kleiner Engel.«

»Ach Gott, wie kitschig«, höhnte Jacob. Er taxierte seinen jüngsten Sohn mit einem abschätzigen Blick. »Was diese tolle Frau bloß an dir findet«, blaffte er und verzog sich anschließend in den Keller zu seiner geliebten Modelleisenbahnanlage.

Grinsend drückte Tannenberg seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und machte sich auf den Weg in die Innenstadt.

Beschwingten Schrittes eilte er durch die Beethovenstraße. Höflich grüßte er die Nachbarn, die entweder aus den Fenstern lehnten und ein Schwätzchen hielten, die Straße fegten oder an ihren Autos herumbastelten. Ja, sogar die Schleicherin bedachte er an diesem herrlichen Sommermorgen mit einem freundlichen Wort, obwohl er ihr ansonsten lieber aus dem Weg ging. Sie war ihm einfach zu neugierig und aufdringlich. Außerdem erinnerte ihn der kleine, übergewichtige Hund, den sie mehr hinter sich herzog als ausführte, an Kurts Vorgänger, einen heimtückischen und bissigen Dackel, der bei seinen Eltern das Gnadenbrot verzehren durfte.

Er schwenkte in die Eisenbahnstraße ein. An der Einmündung der Karl-Marx-Straße musste er an der roten Fußgängerampel warten. Sein umherschweifender Blick blieb auf einer Frau haften, die er im Geiste spontan als fleischgewordenes Gesamtkunstwerk deklarierte. Obwohl er sie nur schräg von hinten sehen konnte, war unverkennbar, dass diese Dame ihre besten Jahre bereits lange hinter sich gelassen hatte. Ein unübersehbares Faktum, das sie offensichtlich durch extrovertierte Kleidung und einen regelrechten Parfum-Overkill zu kaschieren versuchte.

Die Ampel schaltete auf Grün. Tannenberg trottete hinter der paradiesvogelartigen Erscheinung her. Es muss wohl an einer Kombination dieses penetranten Parfums mit dem Geräusch ihrer laut klackenden Schuhe gelegen haben, dass der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission urplötzlich zu wiehern begann. Er tat dies derart geräuschvoll, dass nicht nur einige Passanten auf ihn aufmerksam wurden, sondern auch die vor ihm wie eine Diva dahinschreitende Dame. Sie wandte sich neugierig zu ihm um. Als er in ihr stark geschminktes, verwelktes Gesicht blickte, hielt er sich an einem Straßenschild fest und begann wie ein heißblütiger Hengst mit den Hufen zu scharren, wobei er munter weiterwieherte.

»Was soll das? Wollen Sie mich etwa anmachen?«, fragte der wandelnde Parfumladen.

Tannenberg reagierte mit einer abwehrenden Handbewegung und entgegnete lachend: »Gott bewahre. Nichts liegt mir ferner als das.« Mit einem Mal empfand er seinen komödiantischen Auftritt als ziemlich peinlich und verschwand eilig in der Basteigasse. Dieser Schwenk bedeutete zwar einen kleinen Umweg zu dem auf dem Stiftsplatz angesiedelten Wochenmarkt, dafür aber bewahrte ihn dieser Schleichpfad vor weiteren neugierigen Blicken.

Aus Angst, den Zaungästen seiner albernen Darbietung noch einmal zu begegnen, erledigte er die Einkäufe so schnell wie möglich. Dabei kam er jedoch nicht umhin, eine ältere Frau, die sich an Knittel’s Marktstand vorzudrängen versuchte, mit scharfen Worten auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen und ihr den Besuch eines Volkshochschulkurses zum Thema ›Sozialverhalten auf Wochenmärkten‹ anzuraten. Als Belohnung für diese nach seiner Meinung gelungene erzieherische Maßnahme gönnte er sich trotz der frühen Morgenstunde am Härtingstand eine Pferdefrikadelle.

Ob diese plötzliche Heißhungerattacke wohl auf mein Wiehern zurückzuführen ist?, fragte er sich schmunzelnd, während er die Frikadelle mit einem Ketchup-Häubchen krönte.

Als er zehn Minuten später gut gelaunt in der elterlichen Küche eintraf, saßen Jacob und der Rechtsmediziner Dr. Rainer Schönthaler am ausladenden Holztisch. Obgleich Tannenbergs Bruder Heiner mit seiner Familie im gegenüberliegenden, größeren Haus wohnte, bildete die elterliche Wohnküche das eigentliche Lebenszentrum der Großfamilie. Seit Emmas Geburt lebten Marieke und ihr Ehemann in Heiners Haus im Dachgeschoss. Das junge Paar hatte vor einem halben Jahr geheiratet, wobei Max den Familiennamen seiner Frau angenommen hatte – nicht zuletzt als symbolischer Beweis der engen Verbundenheit mit Wolfram Tannenberg, der Max vor ein paar Jahren das Leben gerettet hatte.

Dr. Schönthaler sprang auf und umarmte seinen besten Freund mit einem schraubstockartigen Griff. »Moin, Wolf, du steinalte Granate. Alles Gute zu deinem Geburtstag.« Genauso brutal, wie er ihn ans Herz gedrückt hatte, schob er ihn nun wieder von sich weg und donnerte ihm als Zugabe einen kräftigen Prankenhieb auf die Schulter.

»Danke, Rainer, das …«

»Komm, erspar uns die Dankesfloskeln«, würgte er ihn ab. »Geschenke hast du ja ebenso wenig verdient wie erwartet, deshalb gibt’s die auch erst nachher.«

Noch bevor Wolfram Tannenberg sich gedanklich mit diesem paradoxen Ausspruch beschäftigen konnte, fuhr der Pathologe lachend fort: »Dein Vater hat eben einen Witz erzählt, den musst du dir unbedingt anhören.«

»Also«, meldete sich der Senior sogleich zu Wort: »Einer aus der Ostzone, ein Saarländer und ein Pfälzer gehen im Wald spazieren. Da erscheint eine Fee und sagt: Jeder von euch hat einen Herzenswunsch frei. Die Männer überlegen. Dann sagt der Ostzonler: Ich wünsche mir die DDR und die Mauer zurück. Gut, sagt die Fee, wird gemacht. Nun ist der Saarländer dran. Der sagt: Mein Herzenswunsch ist, dass das Saarland wieder zu Frankreich kommt. Gut wird auch gemacht, sagt die Fee. Und du, Pfälzer, was ist dein Herzenswunsch?, fragt sie. Der Pfälzer grinst und antwortet: Ich hätte gerne ein kaltes Bier.«

»Weil seine beiden größten Wünsche bereits durch die anderen erfüllt wurden«, grölte Dr. Schönthaler. »Ist der nicht spitze?«

»Na, schon so früh bei bester Stimmung, meine Herren?«, hörte Tannenberg plötzlich die Stimme seiner Schwägerin, die nach seiner Meinung mehr Haare auf den Zähnen als auf dem Kopf hatte.

Er wirbelte herum und fiel dadurch Betty quasi direkt in die Arme. Tapfer ließ er ihre angedeuteten Wangenküsschen über sich ergehen. Als letztes Mitglied der Großfamilie gratulierte die kleine Emma. Sie überreichte dem Geburtstagskind selbst gepflückte Gänseblümchen und hauchte ihm einen süßen Kuss neben den Mundwinkel. Anschließend tapste Emma zu Kurt, legte sich auf ihn und schmuste mit ihm.

Nachdem alle am Tisch Platz genommen hatten, betrat Johanna von Hoheneck die Küche. Sie sah einfach umwerfend aus: Die sonnengebleichten, naturblonden Haare umrahmten ein dezent gebräuntes Gesicht, das blaue Augen, strahlend weiße Zähne und mehrere Lachgrübchen veredelten. Sie trug eine randlose Brille, die ihre attraktive Erscheinung mit genau der richtigen Dosis Esprit würzte. Auf ihr gepflegtes Äußeres exakt abgestimmt war die betont jugendliche und sportliche Kleidung: Sie trug ein orange-weißes, quer gestreiftes Poloshirt, 3/4-Designerjeans und passende Sneakers.

Bei diesem Anblick spürte Tannenberg seinen Herzschlag im Halse pochen.

»Verzeih mir, Wolf, ich glaube, ich habe verschlafen«, entschuldigte sie sich.

»Nein, nein, du kommst gerade richtig.«

Sie ging zu ihm hin, gab ihm einen zarten Kuss und drückte ihm ein Kuvert in die Hand. Er öffnete es mit seinem Frühstücksmesser.

»Whow, zwei Karten für das Deep-Purple-Konzert. Super!«, rief er strahlend.

»Ich hab gedacht, dass ich dir so etwas wie diesen Überraschungs-Kulturtrip nach Johanniskreuz nicht noch einmal zumuten kann.«

Ein dankbares Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich an diese unerträgliche Tortur zurückerinnerte. Er war eben ein notorischer Kulturmuffel.

»Guten Morgen, liebe Hanne«, begrüßte Dr. Schönthaler die attraktive Herzdame seines besten Freundes. »Ich denke, nun ist es an der Zeit, dass auch ich dem Geburtstagskind seine Geschenke überreiche.« Unter den neugierigen Blicken der anderen öffnete er die Tür zur Abstellkammer, holte einen Schuhkarton hervor und stellte ihn vor Tannenberg auf den Boden.

Der kniete sich nieder und riss den nur provisorisch mit Zeitungspapier umhüllten Pappkarton auf.

»Hattest wohl mal wieder gerade kein Geschenkpapier zur Hand«, spottete der Kriminalbeamte, obwohl er genau wusste, dass sein Freund aus Prinzip diese ziemlich unorthodoxe Verpackungsvariante wählte.

»Geschenkpapier ist mindestens genauso überflüssig wie die Steißbeinfistel, die dir mein Kollege von der Frischfleisch-Fraktion vor einem Vierteljahr herausgeschnibbelt hat.«

In schmerzlicher Erinnerung an das der Operation folgende Martyrium nickte Tannenberg zustimmend.

»Wie geht’s denn eigentlich dem Loch zwischen deinen erschlafften Pobacken?«

Wolfram Tannenberg warf ihm einen bösen Blick zu, dann zerrte er das Papier vom Schuhkarton. »Na, was haben wir denn da Feines?«, versuchte er von diesem leidigen Thema abzulenken. Er hob den Deckel ab. »Was ist denn das?«, fragte er verwundert. Er zog ein roséfarbenes Kissen heraus, das dicht mit Gumminoppen besetzt war.

»Bei diesem segensreichen physiotherapeutischen Accessoire handelt es sich um ein Massagekissen, das gerade bei der Gesäßmuskelatrophie älterer Männer hervorragende Dienste leisten kann.«

Noch bevor sein geschockter Freund irgendetwas entgegnen konnte, zauberte Dr. Schönthaler aus dem Geschenkpaket zwei längliche Schachteln hervor, die er den Anwesenden präsentierte. »In Verbindung mit dieser bewährten Anti-Faltencreme für die sogenannte reifere Haut …«

Weiter kam er nicht, denn Tannenberg stürzte sich auf ihn, drückte ihm das Kissen ins Gesicht. »Elender Mistkerl! Wenn man solche Freunde hat, braucht man wirklich keine Feinde mehr.«

Sonntag, 4. August

8 Uhr 30

Lächelnd schob Margot den Buggy durch die Parkstraße. Ihre heiteren Gedanken beschäftigten sich mit dem 50. Geburtstag ihres jüngsten Sohnes Wolfram, den die Großfamilie gestern gebührend gefeiert hatte. Das Bilderbuchwetter steigerte Margots Feiertagslaune noch ein wenig, und sie fing an, ›So ein Tag, so wunderschön wie heute‹ zu summen. Die kleine Emma wandte das blonde Lockenköpfchen zu ihrer Urgroßmutter um und schaute sie neugierig an.

»Na, mein süßer kleiner Spatz, du möchtest bestimmt wissen, warum die Uroma sich so freut, gell?«

Emma lächelte, oben blitzten zwei Schneidezähnchen auf. Margots Miene verdüsterte sich. Sie hatte die beulenförmige Schwellung im Unterkiefer entdeckt, die Emma und ihren Eltern eine weitere unruhige Nacht beschert hatte.

»Diese doofen, doofen Zähnchen. Erst ärgern sie einen, bis sie da sind, und dann ärgern sie einen, bis sie wieder fort sind.« Sie dachte an die Probleme mit ihrer neuen Zahnprothese und ergänzte seufzend: »Und wenn sie endlich draußen sind, hat man noch immer keine Ruhe.«

Margot ließ ein beiges Taxi passieren, dann überquerte sie zügig die Trippstadterstraße. Am östlichen Eingang des Stadtparks wurde sie von ihrer Freundin Elfriede erwartet, die vor knapp eineinhalb Jahren zum ersten Mal Oma geworden war. Seitdem besuchten die beiden älteren Damen oft gemeinsam den nahe gelegenen Stadtpark. Die kleinen Mädchen in den Buggys glucksten vor Vergnügen, als sie sich begegneten.

Elfriede Krehbiel war einen Kopf kleiner als Margot, brachte aber trotzdem einige Kilos mehr auf die Waage. »Hast du an die Kaffeestückchen gedacht?«, fragte sie zur Begrüßung.

»Aber natürlich, meine Liebe, wir wollen ja nicht, dass du uns verhungerst.«

»Nein, nein, so weit darf es wirklich nicht kommen. Gott sei Dank gibt es ja die Bahnhofsbäckerei, wo man sogar sonntags ofenfrische Leckereien bekommt.« Voller Vorfreude rieb sich Elfriede die Hände und brummte dabei genüsslich. »Hmh, dann sollten wir uns schleunigst zu unserem Frühstückstisch aufmachen.«

»Eine sehr gute Idee«, entgegnete Margot lächelnd.

Die umfassende Neugestaltung des Stadtparkgeländes hatte lediglich der alte Baumbestand einigermaßen unbeschadet überstanden. Ansonsten wurde so ziemlich alles verändert, was überhaupt zu verändern war: Sämtliche Wege waren neu angelegt, Blumen- und Rasenflächen anders proportioniert, mehrere Kinderspielplätze über die gepflegte Parkanlage verteilt und mit modernen Metall-Sitzbänken und blitzenden Mülleimern aus Edelstahl umrahmt.

In der Nacht hatte ein heftiges Gewitter für die lang ersehnte Abkühlung gesorgt. Die Luft war immer noch so feucht, dass hellgraue Dunstschwaden über das weitläufige Parkgelände waberten. Doch die kräftige Augustsonne hatte sich bereits über die milchig trüben Schleier hergemacht und sie an mehreren Stellen auseinandergerissen.

Die beiden Großmütter erreichten die Sandfläche, die von einem riesigen Kletterturm dominiert wurde und die für gewöhnlich der Lieblingsspielplatz der kleinen Mädchen war. Margot hob zuerst Emma und danach Ann-Sophie aus ihren Buggys, gab ihnen ihre Eimerchen und schlenderte mit ihnen zum Sandkasten. Elfriede trocknete derweil mit einem Handtuch die Sitzflächen und den Mülleimerdeckel ab. Dann warf sie eine runde Tischdecke über den zum Frühstückstisch umfunktionierten Stahlzylinder, der zwischen zwei Bänken positioniert war. Anschließend legte sie die Kisschen auf die harten Parkbänke.

Margot kehrte zurück, nahm gegenüber ihrer Freundin Platz, schenkte sich Kaffee ein und berichtete Elfriede in aller Ausführlichkeit von der gestrigen Familienfeier. Irgendwann trippelten Emma und Ann-Sophie zum nächsten, etwa zehn Meter weiter gelegenen Sandkasten. Mit wachsamen Augen sondierte Margot die Umgebung. Das einzige menschliche Wesen, das sich zu dieser frühen Morgenstunde im Park aufhielt, war eine jüngere Frau, die auf der anderen Seite des Stadtparks ihren Vierbeiner ausführte. Der Hund war angeleint. Erleichtert wandte sich Margot wieder ihrer Freundin zu, die bereits das zweite Kaffeestückchen vertilgte.

Plötzlich ertönte ein gellender Schrei, dem hysterische Hilfe-Rufe folgten. Die alten Damen blickten sich entgeistert um. Auf dem parallel zur Karcherstraße verlaufenden Fußweg erspähten sie die Hundebesitzerin. Sie wies mit ausgestrecktem Arm an den beiden Großmüttern vorbei zur Parkstraße. Reifen quietschten. Elfriede und Margot rissen die Köpfe herum. Mit entsetzten Mienen verfolgten sie ein Taxi, das mit Vollgas in Richtung Universität losbrauste.

»Da hat eben einer ein Kind entführt«, schrie die junge Frau mit sich überschlagender Stimme. »Mit dem Taxi dort hinten.«

Reflexartig schnellten die Blicke der Großmütter hinüber zum Sandkasten. Ein Schmerz wie ein Stromschlag durchpeitschte Margots Körper: Ann-Sophie saß weinend im Sand – doch von Emma war weit und breit keine Spur zu entdecken.

Immerfort Emmas Namen rufend, rannte Margot wie von Sinnen zum Sandkasten, über den Spielplatz, bis zur Anliegerstraße, von wo aus das Taxi weggefahren war. Doch Emma blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Völlig außer Atem hielt Margot an und blickte sich hektisch nach allen Seiten um. Sie presste die Hand so fest auf ihre linke Brust, als wolle sie diese ausquetschen. Sie war kreidebleich, eiskalter Schweiß perlte auf ihrer faltigen Stirn.

Elfriede traf bei ihr ein. Auf dem Arm trug sie Ann-Sophie, die sich wimmernd an sie klammerte. Vor ihren Füßen entdeckte Margot Emmas Lieblingsförmchen. Es lag neben einem Papierkorb. Margot überkam ein heftiger Weinkrampf. Die junge Frau, die inzwischen ihren kläffenden Hund an einen Baum angebunden hatte, erreichte nun die alten Damen.

»Was genau ist passiert? Was haben Sie gesehen?«, stieß Margot schluchzend hervor.

»Ein Vermummter hat sich das eine kleine Mädchen geschnappt. Dann ist er zum Auto gerannt, hat es in den Kofferraum gesperrt und ist losgefahren.«

Jedes Wort traf Margot wie ein tiefer Nadelstich. Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht. »Polizei«, keuchte sie.

»Hab ich bereits verständigt«, erklärte die junge Frau.

Ein Ruck ging durch Margots Körper. »Geben Sie mir bitte Ihr Handy«, forderte sie. Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer ihres jüngsten Sohnes ein.

8 Uhr 55

Das schrille Läuten riss Wolfram Tannenberg abrupt aus einem jugendgefährdenden Traum. Schlaftrunken tastete er die andere Betthälfte ab. Doch die war leer. Während er blinzelnd die Augen öffnete, erinnerte er sich daran, dass Hanne noch in der Nacht nach Hause gefahren war. Sie wollte heute Morgen zeitig aufstehen, um gemeinsam mit ihren Brüdern bei einer Zuchtpferde-Auktion einen neuen Deckhengst für das elterliche Gestüt zu ersteigern.

»Wenn sie wüsste, dass ich gestern eine Pferdefrikadelle gegessen habe – oh ha, mein lieber Kurt, das gäbe Schwierigkeiten«, sagte er zu seinem Hund, während er zum Telefon schlurfte.

Als er die verzweifelte Stimme seiner Mutter hörte, die ihm in abgehackten, wirren Worten die schrecklichen Ereignisse schilderte, fuhr ihm ein krampfartiger Schmerz in die Magengegend, der ihm fast den Atem nahm. Kurt drückte sich an seinen Oberschenkel und leckte ihm winselnd die Hand. Einige Sekunden lang war Tannenberg wie paralysiert. Er hatte das Gefühl, als ob ihm gerade das Blut in den Adern gefror. Doch dann schoss Adrenalin in seinen Körper.

»Ich komme sofort«, keuchte er. In Windeseile streifte er seine Jogginghose über und schlüpfte in die Hausschuhe. Anschließend stürmte er die Treppe hinunter. Ein höllischer Schmerz fuhr ihm ins linke Knie. Aber er biss die Zähne zusammen und spurtete zum Stadtpark. Kurt folgte ihm bellend. Unterwegs verlor Tannenberg einen Pantoffel. Er kickte den anderen ebenfalls fort und rannte barfuß weiter. Kurt sammelte die beiden Hausschuhe ein und folgte seinem Herrchen mit fliegenden Ohren. An der Schumannstraße wäre er fast von einem Kleintransporter überfahren worden.

Von all dem bekam Tannenberg nicht das Geringste mit. Wie ferngesteuert rannte er durch die staubigen Straßen des Musikerviertels. In seinem Hirn wirbelten die Gedanken wild durcheinander.

Der arme kleine Wurm. Hoffentlich tut ihr dieser Drecksack nichts an. Oh Gott, ich muss dringend eine Ringfahndung auslösen. Er tastete seine Jogginghose ab. Verdammt, kein Handy dabei!

Völlig ausgepumpt traf er im Stadtpark ein.

»Hat jemand ein Handy?«, stieß er hechelnd aus.

Die Hundebesitzerin reichte es ihm. Von der Zentrale erfuhr er, dass die Polizeileitstelle bereits eine Ringfahndung nach einem beigefarbenen Taxi unbekannten Typs und Kennzeichens ausgelöst hatte.

»Welche Automarke, welches Modell?«, fragte Tannenberg.

Nur Schulterzucken.

»Kombi? Limousine?«

»Kein Kombi«, erwiderte die junge Frau. »Ein Auto mit Kofferraum.«

Bei diesem Wort heulte Margot auf.

»Buchstaben oder Zahlen des Kennzeichens?«

Allseitiges Kopfschütteln.

»Das ging doch alles so rasend schnell«, entschuldigte sich Elfriede Krehbiel.

»Und die Kleine hat auch nichts erkannt?«, fragte Tannenberg mit Blick auf Ann-Sophie, die ihm den Rücken zugewandt hatte und sich noch immer krampfhaft an ihrer Oma festklammerte.

»Sie ist so alt wie Emma und kann noch nicht sprechen, lesen schon gar nicht«, erklärte Elfriede.

»Na-, natürlich«, stammelte der Kriminalbeamte. »War es eine Person oder waren es mehrere?«

»Ich hab nur eine gesehen, den Fahrer«, sagte die Hundebesitzerin.

»Dann war’s also ein Mann.«

»Ja.« Die junge Frau blies die Backen auf und zuckte mit den Schultern. »Obwohl, beschwören könnte ich das nicht. Die Gestalt war schließlich vermummt.«

»Wie?«

»Na ja, mit so’ner Gesichtsmaske eben, wie ein Bankräuber.«

»Aber am Bewegungsablauf erkennt man doch das Geschlecht«, behauptete Tannenberg.

»Kann ich trotzdem nicht sicher sagen.«

»Was hatte die Person an?«

»Weite Klamotten.« Die Hundehalterin schloss die Augen, um sich die Szene in Erinnerung zu rufen. »Overall oder Jogginganzug. Genau hab ich das nicht gesehen, die Person war zu weit weg von mir.«

Er wandte sich an die älteren Frauen. »Was meint ihr? War’s ein Mann oder eine Frau?«

»Wir haben sie doch gar nicht gesehen«, schniefte Margot. »Die saß doch schon im Auto.«

»Richtig. Wir haben erst hingeschaut, als die Reifen quietschten«, pflichtete ihre Freundin bei.

»Es könnte wirklich auch eine Frau gewesen sein«, meinte die Hundebesitzerin.

»Aber welche Frau macht denn so was?«, warf Elfriede skeptisch ein.

Tannenberg dachte an die zahlreichen Fälle von Kindesraub, bei denen Frauen Babys und Kleinkinder entführt hatten, um ihren unerfüllten Kinderwunsch zu befriedigen, doch er behielt seine Gedanken lieber für sich.

»Vielleicht war es ja das Taxi, das vorhin in der Trippstadterstraße an uns vorbeigefahren ist«, sagte Margot und ergänzte in ein verzweifeltes Aufstöhnen hinein: »An mir und Emma.«

»Was war das für ein Taxi?«

»Ein normales Taxi halt.«

»Hast du den Fahrer erkennen können?«

»Nein, ich hab nicht auf ihn geachtet«, antwortete Margot mit tränenerstickter Stimme.

»Was für eine Automarke?«

»Ein Mercedes. Ich hab den Stern gesehen.«

In diesem Augenblick schoss ein Streifenwagen um die Ecke, preschte in die Parkanlage hinein und kam direkt vor Tannenbergs Füßen zum Stillstand. Kriminalhauptmeister Krummenacker hechtete aus dem Auto.

»Was ist mit der Ringfahndung?«, blaffte der Leiter des K 1.

»Steht, Wolf. Wir haben einen 30-Kilometer-Ring aufgebaut. Alle Ausfallstraßen sind mit Kontrollstellen besetzt. Dieser Mistkerl entkommt uns nicht! Wir stellen hier in der Gegend jedes Taxi auf den Kopf.« Er hatte Tränen der Wut in seinen Augen. »Wenn ich den erwische, dem dreh ich eigenhändig den Hals um.«

Margot zog ihren Sohn am Arm zu sich herunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Wolfi, wir müssen Marieke und Max Bescheid geben.«

Der Gedanke an Emmas Eltern, die noch überhaupt nichts von der Entführung ihrer kleinen Tochter wussten, traf Tannenberg tief ins Mark. Eiskalte Schauder jagten ihm den Rücken hinunter und ließen eine Gänsehaut auf seinen Armen sprießen.

»Mutter, ich kann jetzt nicht, ich muss mich dringend um die Fahndung kümmern.«

Elfriede hakte ihre Freundin unter. »Komm, ich begleite dich. Wir bringen nur noch schnell Ann-Sophie nach Hause.«

Margot kniff die farblosen Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und nickte. Mit hängenden Köpfen trotteten die beiden alten Damen ihres Weges. Die Buggys ließen sie zurück.

»Warum ausgerechnet die kleine Emma?«, fragte Krummenacker.

Wolfram Tannenberg seufzte. »Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit über.«

»Vielleicht handelt es sich ja um eine Verwechslung.«

»Du meinst …?« Tannenbergs Gesicht leuchtete auf. »Ja, warum denn nicht. Die beiden Mädchen sehen sich ziemlich ähnlich. Und …«

»Und was?«

»Die Krehbiels sind eine alte, steinreiche Fa­brikantenfamilie.«

»Na, das wäre doch eine Erklärung für die Entführung.«

»Aber was bedeutet das für Emma?«

»Also, ich denke, dass der Täter Emma sofort freilässt, wenn er merkt, dass er das falsche Kind entführt hat.«

»Du glaubst nicht, dass er sie …« Den Rest ließ er unausgesprochen. Sein Mund war plötzlich völlig ausgetrocknet, sodass die Zunge am Gaumen festklebte. Schwankend griff er nach der Autotür und klammerte sich daran fest.

Krummenacker legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Nein, Wolf. Warum sollte er das tun?«

»Du hast recht. Er muss ja nicht befürchten, dass Emma ihn identifizieren könnte. Erstens ist er vermummt, und zweitens kann Emma noch gar nicht richtig sprechen.«

»Richtig, Wolf, so schlau ist der bestimmt auch. Warum sollte er solch ein unnötiges Risiko eingehen? Das würde seine Situation doch nur extrem verschärfen. Du wirst sehen, wenn er erkennt, dass er das falsche Mädchen entführt hat, lässt er die Kleine unmittelbar frei. Es wird bestimmt alles gut werden. Wart’s ab, schon heute Abend ist Emma wieder bei ihren Eltern.«

»Dein Wort in Gottes Ohr. Das wäre wirklich zu schön.« Tannenbergs kurzzeitig entspannte Miene veränderte sich auf einen Schlag. »Aber wie erfährt er denn davon, dass er das falsche Mädchen entführt hat?«

»Ganz einfach: Er wird sich sicherlich schon bald bei der Familie der Kleinen melden und seine Lösegeldforderung stellen.«

»Ja, sicher«, brummelte Tannenberg vor sich hin. »Ich geh jetzt zu Ann-Sophies Eltern. Sie wohnen ja gleich da vorne. Heute ist Sonntag, da sind sie bestimmt zu Hause.« Er machte einen Schritt, doch dann blieb er abrupt stehen und wirbelte zu Krummenacker herum. »Ruf den Mertel an, der soll in der alten Villa so schnell wie möglich eine Fangschaltung installieren.«

»Okay. Soll ich auch deine Kollegen vom K 1 verständigen?«

»Nein, lass mal. Das mach ich nachher selbst.«

»Und was ist mit deinem Hund?«

Den hatte Tannenberg ganz vergessen. Kurt hatte sich an einem schattigen Plätzchen abgelegt und sein Herrchen die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Gerade hatte er sich erhoben, um Tannenberg zu folgen.

»Hast du zufällig eine Leine im Auto?«, fragte er Krummenacker.

»Nein. Aber vielleicht tut’s ja auch ein Abschleppseil.«

»Klar.«

Tannenberg nahm das Drahtseil entgegen. Dann hastete er zu Kurt, befestigte es an seinem Halsband und band ihn mithilfe des Karabinerhakens an einer Parkbank fest.

»Platz!«, befahl er und wandte sich an Krummenacker. »Ruf bei mir zu Hause an und sag denen, dass einer von ihnen Kurt abholen soll. Am besten Tobi.«

9 Uhr 10

Kaum eine Minute später traf Tannenberg vor dem repräsentativen Sandsteingebäude Ecke Trippstadter- und Pirmasenserstraße ein. Die prunkvolle, denkmalgeschützte Villa am Rande des Stadtparks wurde um 1870 von dem Fabrikanten August Krehbiel erbaut und seitdem ohne zeitliche Unterbrechung von der hoch angesehenen Unternehmerfamilie bewohnt. Wie durch ein Wunder überstand das herrschaftliche Anwesen die Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs weitgehend unbeschadet. Das äußere Erscheinungsbild der historischen Villa prägten ornamentreiche Sandsteinarbeiten und eine imponierende Rundbalustrade.

Zu seiner Verwunderung wurde Tannenberg von Ann-Sophies Großmutter empfangen, die doch eigentlich seine Mutter hatte nach Hause begleiten wollen. Auf seinen fragenden Blick hin erklärte die alte Dame, dass ihre Freundin sich urplötzlich entschlossen habe, allein die schreckliche Botschaft zu überbringen.

Elfriede Krehbiel geleitete den Kriminalbeamten in einen luxuriösen Salon mit bemalten und stuckierten Wänden und Decken, einem glänzenden Parkettboden sowie einem klassizistischen Turmofen. Nachdem sie den Kriminalbeamten vorgestellt hatte, präsentierte sie ihre eigenen Familienmitglieder: »Das sind mein Mann und meine Schwiegertochter«, sagte sie und fügte hinzu: »Mein Sohn kehrt erst heute Nachmittag von einer Geschäftsreise zurück.«

Verständlicherweise herrschte im Hause Krehbiel große Aufregung angesichts dieser Kindesentführung, die sich ja quasi direkt vor der eigenen Haustür abgespielt hatte. Die Betroffenheit der Familie erschien Tannenberg zwar durchaus glaubwürdig, doch befremdete ihn ein wenig die mit Händen greifbare Erleichterung der Familie darüber, dass der Täter Ann-Sophie verschont hatte.

Die Mutter der Kleinen, eine spindeldürre, apart gekleidete, etwa vierzigjährige Frau, erweckte einen geradezu hysterischen Eindruck. Sie plapperte wirres Zeug vor sich hin und durchmaß mit hektischen Schritten den Raum. Plötzlich blieb sie stehen und begab sich zu ihrer Schwiegermutter, die inzwischen auf einem Sessel Platz genommen hatte und Ann-Sophie in ihren Armen wiegte.

»Gott sei Dank ist dir nichts passiert, mein liebes kleines Püppchen«, sagte Ann-Sophies Mutter, während sie dem immer noch stark verängstigten Kleinkind über den blonden Lockenkopf strich. Dann ging sie zu einem antiken Sideboard, wo neben einem Aschenbecher eine Zigarettenschachtel lag. Sie zog einen Glimmstängel heraus, entzündete ihn mit fahriger Hand und inhalierte tief. »Hoffentlich tut dieser Verrückte der armen Emma nichts an.«

Dieser Satz traf Tannenberg wie ein Keulenhieb. Junge, du musst unter allen Umständen cool bleiben! Nur so kannst du Emma helfen, versuchte er sich selbst zur Räson zu bringen. Tapfer schluckte er seine Beklemmung hinunter und verkündete: »Es gibt gewisse Anzeichen dafür, dass es sich bei dieser Kindesentführung um eine Verwechslung handeln könnte.«

Ein paar Sekunden hörte man nichts außer Ann-Sophies Wimmern. Elfriedes Ehemann, mit Vornamen August, war die geradezu idealtypische Verkörperung eines Seniorunternehmers, wie man sie in jedem Managermagazin finden konnte. Der elegant gekleidete Mann brach als Erster das Schweigen. »Wollen Sie damit etwa andeuten, dass eigentlich Ann-Sophie das Entführungsopfer sein sollte?«

»Ja, Herr Krehbiel, meines Erachtens besteht diese Möglichkeit. Zum einen sehen sich die beiden kleinen Mädchen ziemlich ähnlich und …«

»Das ist richtig«, warf Elfriede dazwischen.

»Und zum andern fehlt mir das Motiv für eine Entführung Emmas, denn ihre Eltern sind Studenten. Wogegen …«

»Wogegen unsere Familie einen weitaus lukrativeren Background für eine Lösegeld-Erpressung bieten würde«, vollendete August Krehbiel. Der grauhaarige Unternehmer knetete nachdenklich sein Kinn. »Dieses Argument erscheint mir durchaus nachvollziehbar, Herr Hauptkommissar.«

»Ist das furchtbar«, jammerte Ann-Sophies Mutter. An Tannenberg gerichtet, ergänzte sie: »Wissen Sie, wir haben so lange auf unser erstes Kind warten müssen. Nicht auszudenken, wenn …« Sie stürzte auf die Kleine zu, warf sich ihr weinend an den Hals.

Es läutete an der Tür.

»Das dürfte mein Kollege von der Kriminaltechnik sein«, mutmaßte Tannenberg. An den Senior der Familie Krehbiel adressiert, schob er nach: »Ich möchte hier gerne eine Telefon-Fangschaltung installieren lassen. Falls der Entführer sich bei Ihnen melden sollte. Geht das in Ordnung?«

»Selbstverständlich, Herr Hauptkommissar, wir unterstützen Sie, wo wir nur können. Wir wollen doch alle, dass das kleine Mädchen so schnell wie möglich aus den Fängen dieses Verbrechers befreit wird. Außerdem liegt es schließlich auch in unserem ureigenen Interesse, dass der Täter gefasst wird. Wer weiß, welche Ideen solch ein Schwerkrimineller noch ausheckt.« Mit besorgter Miene ging er zur Haustür und öffnete sie.

»Wolf, das kam gerade über Funk rein«, stürmte Mertel auf den Leiter des K 1 zu: »Eine Streife hat ein verlassenes Taxi entdeckt, möglicherweise das Tatfahrzeug.«

»Wo?«

»Auf einem Waldparkplatz bei Hohenecken.«

»Was ist mit dem Kofferraum? War der offen?«

»Weiß ich nicht.«

»Verdammt, ich muss sofort dahin.«

»Fahr mit meinen Kollegen. Sie warten draußen auf dich. Ich kümmere mich derweil um die Fangschaltung.«

Tannenberg hastete zu dem Kleintransporter der Kriminaltechnik und fragte bei der betreffenden Streifenwagenbesatzung bezüglich des Kofferraums nach. Die Polizeibeamten erklärten, das Taxi sei verschlossen, Geräusche aus dem Inneren des Fahrzeugs seien keine zu vernehmen.

Während der rasanten Fahrt zu dem etwa fünf Kilometer entfernt gelegenen, südwestlichen Stadtteil schossen Tannenberg alle möglichen Gedanken durch den Kopf.

Emma war der strahlende Mittelpunkt der gestrigen Familienfeier gewesen. Mit ihrem sonnigen, temperamentvollen Wesen hatte sie ihre Umgebung verzaubert. Sie legte einen Charme an den Tag, dem man sich einfach nicht entziehen konnte. Zusammen mit Kurt, mit dem sie sich blendend verstand und der sie auf Schritt und Tritt verfolgte, bildete sie ein ebenso ungleiches wie putziges Pärchen, über das man sich unweigerlich amüsieren musste.

Mit dem nächsten Gedankensplitter dachte Tannenberg an den Ort, an dem Marieke ihn damals über ihre Schwangerschaft informiert hatte. Auch auf einem Waldparkplatz, sagte er zu sich selbst. Er hatte große Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.

»Da vorne ist es«, verkündete der Fahrer.

Der Kleinbus hatte den südlichen Ortsrand von Hohenecken erreicht und bog nun in einen Waldweg ein, der offensichtlich zu einem Grillplatz führte. Noch bevor das Auto richtig zum Stillstand gekommen war, sprang Tannenberg aus dem Kleintransporter. Er rannte zu dem abgestellten Taxi, bei dem es sich um einen beigen Mercedes älteren Baujahrs handelte. Er legte seinen Kopf auf den Kofferraumdeckel und klopfte vorsichtig.

»Emma, Emma, hörst du mich?«, rief er mit abgesenkter Stimme. »Bist du da drin? Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir holen dich jetzt gleich da raus.«

Keinerlei Reaktion.

Er richtete sich auf und wandte sich an den Kriminaltechniker, der sich bereits mit einer Bohrmaschine am Schloss der Fahrertür zu schaffen machte. »Warum knackst du nicht zuerst das Kofferraumschloss?«, fuhr er den Mann an.

»Weil ich da schlechter rankomme und es länger dauern würde.«

»Los, mach, mach!«, drängte Tannenberg.

»Schon passiert«, gab der Kriminaltechniker zurück. Er beugte sich ins Wageninnere und entriegelte die hintere Seitentür.

Tannenberg riss die Tür auf und klappte vorsichtig die Rückenlehne nach vorne. Das gleißende Sonnenlicht leuchtete den Kofferraum aus. Er war leer.

»Komm, jetzt lass mal die Experten ran. Du zerstörst uns doch alle Spuren.«

Es dauerte kaum mehr als ein paar Sekunden, bis der fingerfertige Kriminaltechniker von innen den Kofferraum aufgesperrt hatte. Dann stellte er sich ans Heck und hob vorsichtig den Deckel an.

Vor Schreck blieb Tannenberg fast das Herz stehen. Auf der Innenseite des Kofferraumdeckels zeichneten sich hellrote Blutspuren ab.

9 Uhr 15

Emma weinte. Die Handknöchel waren mit Schürfwunden übersät und brannten wie Feuer. Verzweifelt hatte sie an die Decke getrommelt und sich dabei die kleinen Fäustchen blutig geschlagen.

Es war dunkel in ihrem Gefängnis. Sie hatte Angst, große Angst. Sie spürte jede Unebenheit der Straße. Einmal bremste das Auto so scharf ab, dass sie gegen die Rückenlehne geschleudert wurde. Seitdem hatte sie Kopfschmerzen. Die Luft war heiß und stickig. Trotzdem fror sie. Sie konnte kaum mehr atmen. Sie hatte Durst, wahnsinnigen Durst.

Das Auto blieb stehen, die Motorgeräusche verstummten. Ein Hund bellte. Im ersten Augenblick dachte Emma an Kurt, aber der hatte eine weitaus tiefere Stimme. Dann hörte sie Schritte. Der Kofferraumdeckel wurde aufgerissen. Die plötzliche Helligkeit blendete sie so stark, dass sie im ersten Moment nichts erkennen konnte. Doch dann sah sie die riesenhafte Gestalt. Der Mann beugte sich herunter zu ihr.

wer bist du?

nein, ich will nicht

nein, nein, aua, aua

»Trink, meine Süße«, flüsterte die unbekannte Männerstimme.

Emma spürte etwas Kaltes an ihren Lippen. Reflexartig öffnete sie den Mund und trank mit hastigen Schlucken.

Dann wurde ihr schwindelig, und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

9 Uhr 20

Er mochte Kinder, kleine ganz besonders. Sie brachten Freude, Licht und menschliche Wärme in diese kalte Welt, verzauberten sie mit ihrem Anmut und ihrem Liebreiz. Im Gegensatz zu den Erwachsenen stellten sie für ihn die Verkörperung von Unschuld und Reinheit dar.

Die Entführung hat wirklich tadellos geklappt. Kein Wunder: Perfektes Timing, perfekte Logistik!, lobte er sich selbst. Sollen diese doofen Bullen ruhig ihre Straßensperren aufbauen. Die bringen doch nur etwas, wenn man sich undiszipliniert verhält und panisch vom Tatort flüchtet. Aber ich flüchte ja nicht, sondern ich tuckere gemütlich nach Hause. Mit unauffälliger Geschwindigkeit befuhr er die B 270 und reihte sich nach dem Kleeblatt in den zähflüssigen Verkehr ein.

Er parkte sein Auto in der Garage und schloss das Tor. Danach verließ er sie durch eine Tür, die direkt in einen weitläufigen Garten führte, den ein dichter Koniferenzaun einfriedete. Er trippelte die Kellertreppe hinunter und betrat den eigens für die Kindesentführung hergerichteten, etwa vierzehn Quadratmeter großen, ehemaligen Kohlenkeller. Akribisch hatte er in den letzten Wochen alles für den Aufenthalt des kleinen Mädchens vorbereitet. Das Fenster und die Tür hatte er mit Styroporplatten abgedichtet. Auf Flohmärkten der Umgebung hatte er zwei Kinderbettchen besorgt und daraus einen Gefängniskäfig gebastelt: Ein Seitenteil des zweiten Bettchens hatte er mit Kabelbindern zur Bodenplatte umfunktioniert, das andere Seitenteil diente nun als Deckel. Es war zusätzlich mit einem Fahrradschloss versehen und sorgte für einen ausbruchssicheren Verschluss des Käfigs. Eine dünne Matratze bedeckte die Gitterstäbe der Bodenplatte. Alles war perfekt arrangiert. Sogar an Windeln und Babycreme hatte er gedacht.

Mit einem kurzen, zufriedenen Blick streifte er die Videokamera, die er über der Tür angebracht hatte. Dann ging er in sein Arbeitszimmer und überprüfte das Monitorbild: Es zeigte einen tristen Kellerraum, in dem unter einer nackten Glühbirne ein leerer, rundum vergitterter Käfig stand.

9 Uhr 30

Margot überbrachte zuerst ihrem Mann die schreckliche Nachricht. Anschließend schlurften die beiden Alten gramgebeugt hinüber zum Haus ihres ältesten Sohns, wo auch Emmas Eltern im Dachgeschoss wohnten. Es wurde der schwerste Gang ihres langen, gemeinsamen Lebens. Jacob hielt die ganze Zeit über Margots zitternde, eiskalte Hand.

Vom Hof her hörten sie die fröhlichen Stimmen ihrer Familienmitglieder, die offensichtlich am Frühstückstisch saßen. Vor der Haustür begegneten sich die leeren Blicke der beiden Senioren. Die Verständigung zwischen ihnen funktionierte nach all den Jahren auch ohne Worte. Jacob nickte seufzend. Er atmete schwer, schloss kurz zu einem Stoßgebet die Augen. Dann läutete er.

Durch das gläserne Seitenteil sahen sie Heiner, wie er sich mit zügigen Schritten der Tür näherte. Während er die Klinke nach unten drückte, sprach er über seine Schulter hinweg weiter.

»Max, du hast ja recht: Unser Schulsystem braucht dringend eine Reform«, posaunte er in Richtung der Küche, »und zwar eine, die den Namen auch wirklich verdient.« Die Tür öffnete sich, und Heiner wandte sich seinen Eltern zu.»Kommt rein, meine Lieben«, empfing er sie freundlich. Doch als er in ihre todtraurigen, kreidebleichen Gesichter blickte, kamen ihm die nächsten Worte nur noch abgehackt und leise über die Lippen: »Wir … sind … gerade …«, sagte er mit einer mechanischen Klangfärbung. Er räusperte sich. »Was ist denn mit euch los?« Ein Ruck ging durch seinen Körper. »Ist irgendwas Schlimmes passiert?«