Schultheater - Bernd Franzinger - E-Book

Schultheater E-Book

Bernd Franzinger

4,5

Beschreibung

Irene Graupeter, Lehrerin an einer pfälzischen Schule, fällt einem heimtückischen Mordanschlag zum Opfer. Kurz darauf wird eine Professorin ermordet. Bei seinen Recherchen stößt Kommissar Wolfram Tannenberg auf Verbindungen zu einem Banküberfall, den die RAF in den 1970er-Jahren in Kaiserslautern verübt hat und bei dem ein Polizist erschossen wurde. Tannenberg quartiert sich in der Schule ein, wo auch sein Bruder und dessen Frau arbeiten. Plötzlich geraten beide ins Fadenkreuz der Ermittler.

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Bernd Franzinger

Schultheater

Ein Fall für Tannenberg

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © aremac / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4474-6

Prolog

»Ich kann diesen Scheiß nicht spielen!«, brüllte Irene Graupeter in das weite Rund der Cafeteria. »Und ich werde ihn auch nicht spielen!«

Wie ein trotziges Kind stapfte sie auf den Boden. »Nein, nein, ich will nicht. Und ich kann nicht.« Wütend schleuderte sie Clemens Ruby das Rollenheft vor die Füße.

»Jetzt stell dich mal nicht so zickig an«, schimpfte der Hobbyregisseur. Er machte eine ausladende Geste zu den anderen Laienschauspielern. »Jedem von uns fällt es sehr schwer, über den eigenen Schatten zu springen.«

»Ich will nicht über meinen Schatten springen.«

Clemens Ruby presste die Lippen zusammen und zuckte resigniert mit den Schultern. »Das wollen wir doch alle nicht, Irene. Aber was sollen wir denn tun? Wir haben keine Alternative. Wir müssen dieses verdammte Theaterstück aufführen. Wenn wir uns weigern, liefern wir unseren Erzfeinden gefährliche Munition für ihren Feldzug gegen unsere geliebte Friedensschule.«

»Genau. Deshalb reißt du dich jetzt auch gefälligst zusammen, Irene!«, blaffte Mechthild Busch. »Wir müssen diese Aufführung unbedingt hinkriegen.«

»Aber …«, wandte Irene Graupeter ein.

Doch der laute und energische Ton der Konrektorin erstickte ihren Einwurf im Keim. »Die Feinde der Gesamtschule wollen ihr den Todesstoß versetzen. Und das müssen wir unter allen Umständen verhindern! Schließlich haben wir lange genug für eine soziale und humane Alternativschule gekämpft. Von diesen militanten Ewiggestrigen dürfen wir uns unsere tolle Schule nicht kaputt machen lassen. Diese Mistkerle haben uns eine hinterhältige Falle gestellt …«

»… in die du blind hineingetappt bist«, giftete Irene Graupeter. Sie machte einen Schritt nach vorn und stemmte herausfordernd die Hände in die Hüften. »Hättest du dich bei dieser bescheuerten Podiumsdiskussion nicht provozieren lassen, müssten wir uns jetzt nicht mit diesem ketzerischen Pamphlet herumplagen.«

»Dieses Theaterstück …«, begann die Konrektorin.

»Von wegen Theaterstück«, fiel ihr Irene ins Wort. »Das ist doch nichts anderes als eine bösartige Hetzschrift gegen unsere Schule.« Ihr Zeigefinger schnellte in die Höhe. »Und gegen unsere Ideale.«

»Die wir mit allen Mitteln gegen diesen Vernichtungsangriff verteidigen müssen«, stieß Clemens Ruby ins selbe Horn.

»Was für ein blödsinniger Aktionismus!«, schimpfte Irene Graupeter weiter. Sie tippte sich an die Stirn. »Diesen dilettantischen Erguss eines unbekannten Autors inszeniert doch kein normaler Mensch.«

»Ja, was sollen wir denn deiner Meinung nach tun?«, fragte Mechthild Busch gereizt. »Ich konnte doch nicht zulassen, dass diese Schweine bei der Podiumsdiskussion …«

»Ganz einfach: Du hättest diesen Kretins nicht ins offene Messer laufen dürfen«, blaffte Irene. »Dieses linke Manöver hätte doch jedes Kind durchschaut – nur du nicht. Ich glaube, du wirst allmählich zu alt für öffentliche Auftritte.«

Das Gesicht der Konrektorin erstarrte zu einer zornigen Maske. »Was bist du doch nur für eine gemeine, arrogante Zimtzicke«, zischte sie ungehalten. »Du hast wohl immer noch nicht verkraftet, dass ich Konrektorin geworden bin und nicht du.«

»Pah, dass ich nicht lache«, spuckte Irene Graupeter ihr förmlich entgegen. »Jede Kollegin weiß doch nur zu gut, dass ich für diese Funktionsstelle weit besser geeignet wäre als du. Nur besitzt du eben leider die besseren Connections zum Ministerium.«

»Bleibt doch bitte sachlich, meine Lieben«, warf Betty Tannenberg beschwichtigend ein. Sie hatte sich mit ihrem Stuhl etwas aus der Runde geschoben und verfolgte mit sorgenvoller Miene den Streit.

Doch die Konrektorin ließ sich nicht besänftigen. »Ihr wisst doch ganz genau, dass ich an diesem verfluchten Abend überhaupt keine andere Möglichkeit hatte«, zeterte sie. »Diese Podiumsdiskussion war eine hinterhältige Inszenierung unserer Feinde mit dem alleinigen Ziel, uns in einen Schulkrieg hineinzuziehen.«

Ihre Stimme überschlug sich: »Kapierst du es denn noch immer nicht, du Naivchen? Die Kampftruppen des dreigliedrigen Schulsystems wollen die Gesamtschulbewegung vernichten, ihr einen Dolch ins Herz rammen.«

Mechthild Busch verdrehte die Augen. »Mensch, Irene, wach doch endlich auf. Diese Schweinehunde wollen unser gemeinsames Kind töten!« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Und da fällst du mir auch noch in den Rücken.« Sie seufzte tief. »Als ob wir nicht schon genug Probleme am Hals hätten.«

Wie nach einem Tornado wurde es urplötzlich still in der Cafeteria des Friedenspädagogischen Instituts, totenstill.

Clemens Ruby brach als Erster das Schweigen. »Aber eins muss man diesen konservativen Arschlöchern schon lassen: Ihr Schachzug war schlichtweg genial. Wie hat es unser Intimfeind so treffend formuliert: ›Wenn die Lehrer der Friedensschule wirklich so tolerant sind, wie sie immer vorgeben zu sein, müssen sie dieses Theaterstück aufführen.‹«

Er räusperte sich, während sich sein Gesicht verfinsterte. »›Falls sie sich weigern, dokumentieren sie vor den interessierten Augen der Öffentlichkeit, dass es mit der von ihnen eingeforderten Toleranz nicht allzu weit her ist. Dann hätten sich diese Scharlatane selbst demaskiert.‹«

Resigniert ließ Ruby die Schultern sinken und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Die Aasgeier von der Presse haben sich natürlich sofort draufgestürzt und diese Sätze wortwörtlich in ihren Schundblättern abgedruckt.«

»Die stecken doch selbst ganz tief drin in diesem Verschwörungssumpf«, empörte sich Mechthild Busch. »Presse, Gymnasiallehrer-Mafia und einflussreiche Eltern haben eine extrem gefährliche Allianz gegen die Gesamtschule geschmiedet.«

»Was für eine heimtückische Tretmine. Diese reaktionären Schweine wollen uns all das kaputt machen, wofür wir uns jahrzehntelang aufgeopfert haben. Das ist so gemein, so hundsgemein!«, jammerte Betty Tannenberg.

Sie warf ihre kupferfarbene Lockenpracht in den Rücken und schniefte: »Die bringen’s fertig und gewinnen mit dem Thema ›Schulpolitik‹ die nächste Wahl. Und das würde wohl das endgültige Aus für die Gesamtschule bedeuten.«

»Genau das ist zu befürchten, meine liebe Betty«, meinte die Konrektorin. Ein bitterböser Blick zu Irene Graupeter. »Und genau deshalb müssen wir auf Biegen und Brechen dieses verfluchte Theaterstück inszenieren.«

Beschwörend hob sie die Hände. »Wir müssen diese giftige Kröte hinunterschlucken, obwohl es uns dabei speiübel wird. Wenn wir das nicht schaffen, vernichten sie unsere Ideale.« Ein Stoßseufzer. »Ideale, für die wir ein Leben lang gekämpft haben.«

Irene Graupeter schnaubte verächtlich. »Macht doch, was ihr wollt. Aber ohne mich. Sucht euch jemand anderen für dieses bescheuerte Affentheater. Ich bin jedenfalls ab sofort nicht mehr dabei.«

Demonstrativ tippte sie mit dem Zeigefinger auf das Ziffernblatt ihrer Armbanduhr. »Seit genau zwei Stunden habe ich Sommerferien. Und die will ich mir von diesem Schwachsinn nicht weiter vermiesen lassen. Ich werde jetzt noch aufs Klo gehen, und dann heißt es für mich nur noch eins«, sie legte ihre Fingerspitzen wie zu einem militärischen Gruß kurz an die Schläfe: »Tschüss – und ab in die Ferien.«

»Ich denke, du solltest dir in diesen sechs Wochen ernsthafte Gedanken darüber machen, ob du überhaupt noch zu uns gehörst«, forderte Mechthild Busch mit eisiger Stimme.

»Du wirst es nicht glauben, mein Herzchen, aber diese Gedanken mache ich mir bereits seit Längerem«, konterte Irene Graupeter und wandte ihrer Kontrahentin mit einer abrupten Körperdrehung den Rücken zu. »Ich werde schon bald eine Entscheidung treffen. Aber ob die euch gefallen wird?«, fügte sie über die Schulter hinweg an.

»Elende Verräterin!«, fauchte die Konrektorin ihrer davoneilenden Kollegin hinterher.

1. Kapitel

An der Roten Hohl setzte Werner Altmeier den Blinker und verließ die L 503. Die asphaltierte Straße hinauf zum Großen Letzberg schlängelte sich durch ein Spalier majestätischer Eichen und Buchen, deren weit ausladende Äste ein dichtes Blätterdach bildeten. Altmeier öffnete das Seitenfenster und sog in tiefen Zügen die kühle, würzige Waldluft ein.

Schade, dass mein Urlaub schon vorüber ist, dachte er wehmütig.

Nach einer Wegkehre tauchte aus einem Meer wabernder Dunstschleier eine triste, aschgraue Betonburg auf. Umrahmt vom sattgrünen Spätsommerlaub wirkte sie wie eine bleiche Totenmaske der modernen Architektur. Die neben einer breiten Treppe postierten Fahnen mit ihren blauen Friedenstäubchen tupften die einzigen Farbkleckse auf das deprimierende Einheitsgrau. Das Friedenspädagogische Institut, kurz FPI, gehörte zur Universität und beherbergte neben dem Lehrstuhl für Kritische Erziehungswissenschaft und anderen sozialwissenschaftlichen Fakultäten ein gewerkschaftsnahes Lehrerfortbildungsinstitut.

Werner Altmeier atmete schwer. Na ja, was soll’s, da muss ich nun wohl oder übel durch, sagte er sich. Zum Glück sind es ja nur noch knappe drei Jahre bis zu meinem Ruhestand. Und die kriege ich auch noch irgendwie rum.

Wie immer war sein Auto das erste auf dem Parkplatz. In alter Gewohnheit stellte er seinen frisch polierten 5er-BMW direkt neben die für die Direktorin reservierte Parkfläche. Kein einziger Mitarbeiter des FPI fuhr einen BMW oder ein anderes deutsches Nobelfabrikat. Die meisten kutschierten mit Autos aus fernöstlicher Produktion oder mit einem alten Volvo durch die Gegend.

Der Hausmeister hatte dafür nur verständnisloses Kopfschütteln übrig. Obwohl er keiner Gewerkschaft angehörte, war es für ihn eine patriotische Bürgerpflicht, mit dem Kauf eines deutschen Autos inländische Arbeitsplätze zu sichern. Wogegen die Institutsmitarbeiter, die weitaus mehr verdienten als er, allesamt ausländische Fabrikate benutzten. Und das, obwohl fast alle in der GSP, der Gewerkschaft sozialistischer Pädagogen, organisiert waren.

So etwas konnte verstehen, wer wollte, er jedenfalls nicht.

Werner Altmeier umklammerte den Türholm seines Autos, zog den schlaksigen Körper vom Fahrersitz und schraubte sich ächzend in die Höhe. Aufgrund seines hoch aufgeschossenen, hageren und leicht nach vorn gebeugten Oberkörpers erinnerte seine Erscheinung ein wenig an Karl Valentin.

Mit einem routinierten Griff fischte er eine Zigarette aus seiner Jackentasche und zündete sie an. Als er tief inhalierte, schwebte sein Blick hinüber zu den hohen Buchen und Eichen, deren Spitzen von der Sonne angestrahlt wurden, wogegen das Institutsgelände noch im Schatten lag.

Seine Augen hakten sich an dem großen ›Rauchen verboten‹-Schild fest, das er auf Anordnung der Leiterin neben dem Treppenaufgang hatte anbringen müssen. Hämisch grinsend blies er den Qualm genau in diese Richtung, wodurch die Beschilderung einen Augenblick lang hinter einer Rauchwolke verschwand.

Für ihn zählte das absolute Rauchverbot nicht. Er schmauchte in seinem Büro unverdrossen weiter und beobachtete schadenfroh die Institutsmitarbeiter, die sich bei Wind und Wetter vor dem Zaun versammelten, um ihrer Nikotinsucht zu frönen.

Werner Altmeier lauschte noch eine Weile dem Morgenkonzert, mit dem die Waldvögel den neuen Tag begrüßten, dann sperrte er sein Auto zu und trottete zum Seitentrakt des Instituts, in dem sein Büro und die Hausmeister-Werkstatt angesiedelt waren.

In aller Seelenruhe trank er seinen Kaffee, schmökerte in der Bild-Zeitung und paffte munter drauflos. Um 7.10 Uhr begab er sich auf seinen obligatorischen Inspektionsgang.

Zuerst schloss er im Gebäude die Türen auf, dann stattete er dem großen Konferenzzimmer einen kurzen Besuch ab und schaute im Sekretariat nach dem Rechten. Anschließend ging er nach draußen und steckte sich zur Belohnung für seinen ersten Dienstgang eine weitere Zigarette an. Genüsslich schmauchend beobachtete er eine Schar Elstern, die sich laut schnatternd am Waldrand eine wilde Verfolgungsjagd lieferten.

Doch mit einem Mal verdüsterte sich seine Miene.

Ich hab nicht mehr die geringste Lust auf diesen öden Hausmeisterjob, hörte er eine Stimme in seinem Kopf sagen, als er die Treppen zum Parkplatz hinunterstieg.

Auf der untersten Stufe blieb er stehen. Die Augen in seinem verkniffenen Gesicht leuchteten urplötzlich auf.

Ich glaube, ich werde mich morgen früh krankmelden, entschloss er sich spontan zu einer Urlaubsverlängerung.

Voller Vorfreude rieb er sich die Hände. Anschließend kickte er einen Kieselstein hinüber zu den Elstern, die da­raufhin krächzend in die Höhe stoben.

Sollen die doch sehen, wie sie ohne mich klarkommen, diese arroganten Akackdemiker. Die meinen ja eh immer, sie wüssten und könnten alles besser. Diese elenden Klugscheißer!, schimpfte er in Gedanken. Die Herrschaften Akackdemiker kennen unsereins sowieso nur, wenn sie etwas von einem wollen.

»Du, Werner, könntest du nicht mal kurz kommen? –Werner, das müsste unbedingt heute noch erledigt werden«, äffte er seine Auftraggeber nach.

Mich konnten die noch nie mit ihrem aufgesetzten ›Alle duzen alle‹-Gedöns blenden. Nichts als billige Show! Meint ihr denn wirklich, ich weiß nicht, was ihr über Menschen meines Schlages tatsächlich denkt? Altmeier, du bist nur ein kleiner Hausmeister, der sowieso nichts kapiert – deshalb: Störe unsere Kreise nicht! Ja, ja, die Intelecktuellen. Das Wort kommt garantiert von ›lecken‹. Diese Klugscheißer lecken nämlich Wissen und Weisheit auf. Und zwar egal, wo sie sind – und wenn’s in der Kläranlage ist.

Schmunzelnd zog der Hausmeister seines Weges. Nach 50 Metern erreichte er die Westfassade des quadratischen Gebäudekomplexes. Mit Sorgenfalten auf der Stirn betrachtete er eine Außenjalousie, die während der Institutsferien aus der Verankerung gerissen worden war.

Gedankenversunken schlenderte er um die triste Betonburg herum. Hinter der Cafeteria kroch ihm plötzlich ein beißender, süßlicher Geruch in die Nase. In seinen 30 Dienstjahren hatte er schon mehrmals verendete Tiere auf dem ringsum von Wald umgebenen Friedenspädagogischen Institut entdeckt. Meist waren sie in den Maschendrahtzaun geraten und hatten sich darin so unglücklich verfangen, dass sie sich nicht mehr aus eigener Kraft aus dieser tödlichen Falle hatten befreien können.

Diesmal stieg ihm der eigentümliche Geruch jedoch nicht aus Richtung der Umzäunung in die Nase, sondern er kam eindeutig von der Rückfront des Cafeteriagebäudes. Das konnte er sich leicht erklären.

»Verfluchte Marder!«, schimpfte er in Anbetracht seiner Privatfehde mit den kleinen Raubtieren, die sich vor einigen Jahren die Mineralfasermatten der Deckendämmung als Familienquartiere ausgesucht hatten.

»So eine Sauerei«, zischte Werner Altmeier, im Hinblick auf die Tatsache, dass er für die Beseitigung des Tierkadavers verantwortlich war.

Obwohl, wenn ich ab morgen krank bin, interessiert mich diese ganze Chose ja eigentlich gar nicht mehr, dachte er schadenfroh. Er rieb sich die Hände. Das können dann ja diese Theoriefuzzis erledigen. Ein bisschen Praxis schadet denen überhaupt nicht.

Aber da er von Natur aus ein ausgesprochen neugieriger Mensch war, wollte er noch schnell vor der Ankunft des ersten Mitarbeiters der Sache auf den Grund gehen. Also öffnete er mit seinem Generalschlüssel die Tür zum Untergeschoss des Gebäudes und betrat den Flur des unfreundlichen, ausgekühlten Betonbunkers.

»Boa«, stöhnte er angewidert auf.

Der penetrante Gestank war schlichtweg unerträglich. Reflexartig presste er ein Taschentuch auf Nase und Mund. Er wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, als er die Schmeißfliegen bemerkte, die etwa drei Meter von ihm entfernt auf der weißen Tür einer Einzeltoilette herumkrabbelten.

Im Klo?, wunderte er sich. Normalerweise bauen Marder oder Siebenschläfer ihre Nester doch unmittelbar an der Fassade, damit sie bei Gefahr schnell in den Wald flüchten können.

Angewidert verscheuchte er die Schmeißfliegen und sperrte die Toilettentür auf. Was er nun zu Gesicht bekam, ließ ihn auf der Stelle zur Salzsäule erstarren: Direkt vor ihm auf dem Boden entdeckte er eine tote Frau. So als ob sie sich gerade übergeben würde, saß sie mit dem Po auf den Fersen. Ihr Oberkörper war nach vorn gebeugt und der von Fliegen umschwirrte Kopf hing in die Toilettenschüssel hinein.

Altmeier schüttelte sich und stürmte panikartig aus der Totengruft hinaus ins Freie. Auf einer Mauer sank er nieder. Wie ein Lungenkranker zog er pfeifend Atemluft ein. Mit zittrigen Fingern fischte er sein Handy aus der Jackentasche und tippte die Notrufnummer der Polizei.

Als Kriminalhauptkommissar Wolfram Tannenberg und der Rechtsmediziner Dr. Rainer Schönthaler eine gute halbe Stunde später am FPI eintrafen, herrschte oben auf dem Großen Letzberg ein regelrechter Belagerungszustand. Vor dem Zaun hatten sich inzwischen circa 100 Studenten und Dozenten eingefunden. Obwohl uniformierte Polizeibeamte die einzige Zufahrt zum Institutsgebäude abgesperrt hatten und sich wirklich alle Mühe gaben, einen Korridor freizuhalten, dauerte es einige Zeit, bis Tannenberg endlich den Parkplatz erreichte.

Im Telegrammstil informierte Kriminalhauptmeister Krummenacker den Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission über die bisherigen Erkenntnisse der Schutzpolizei. Danach konnte die Identität der Frau mit hoher Wahrscheinlichkeit als geklärt betrachtet werden: Laut den in der Toilette sichergestellten Ausweispapieren handelte es sich bei der Toten um die 58-jährige Lehrerin Irene Graupeter, wohnhaft in der Leipziger Straße 125 in Kaiserslautern.

Nach Angaben des Hausmeisters hatte sie neben ihrer Lehrertätigkeit an der Friedensschule als Dozentin in der Lehrerfortbildung gearbeitet. Aufgrund dieser Tätigkeit war sie im Besitz von Institutsschlüsseln. Weiterhin gab der Hausmeister zu Protokoll, dass sowohl die Außen- als auch die Toilettentür verschlossen gewesen seien; einen Schlüssel habe er weder gesehen noch an sich genommen.

Vor dem Eingang zum Untergeschoss des Gebäudes reichte der Rechtsmediziner seinem Freund einen medizinischen Mundschutz. Er duftete angenehm nach Pfefferminze und überdeckte den markanten Verwesungsgeruch.

Die Mitarbeiter der kriminaltechnischen Abteilung waren bereits vor Ort und inspizierten das fensterlose WC und die nähere Umgebung der Toilette. Als Karl Mertel die beiden Freunde kommen hörte, unterbrach er seine Arbeit, erhob sich und trat einen Schritt zur Seite. Dadurch gab er den Blick auf die tote Frau frei. Während Dr. Schönthaler sofort den Leichnam untersuchte, bat Tannenberg den Spurenexperten mit einer eindeutigen Geste nach draußen.

An der frischen Luft zog er sich die Maske vom Gesicht und schnaufte erst einmal kräftig durch. Dann setzte er sich auf eine Holzbank und schlug die Beine übereinander. »Ich hoffe inständig für dich, dass du stichhaltige Argumente für deinen Anruf vorzubringen hast. Falls es sich nämlich da drinnen doch nur um einen Unglücksfall handeln sollte, gnade dir Gott, mein Lieber. Du hast mich nämlich gerade von einem gedeckten Frühstückstisch weggerissen«, grummelte der als notorischer Morgenmuffel bekannte Leiter des K 1. Mit bedrohlich anschwellender Stimme fügte er hinzu: »Und zwarbevorich in mein erstes Brötchen beißen konnte.«

»Och, du Armer«, säuselte der Kriminaltechniker mit schadenfroher Miene. Er wies zum Gebäudeeingang hin. »Bei dem Duft dürfte dir aber inzwischen der Appetit gründlich vergangen sein.«

»Lenk nicht ab, Karl«, knurrte Tannenberg wie ein angeketteter Hofhund, »und sag mir endlich, weshalb du die Mordkommission angefordert hast.«

»Ganz einfach: Weil wir in der Handtasche der Toten zwar Auto- und Wohnungsschlüssel gefunden haben, aber keinen, der zur Toilettentür passt.«

Tannenberg krauste die Stirnpartie. »Also konnte sie die Tür von innen nicht aufschließen«, murmelte er vor sich hin.

»Messerscharfe Logik – und das mit nüchternem Magen«, spottete Mertel.

»Vielleicht ist ihr der Dienstschlüssel in die Toilette gefallen.«

Der Spurenexperte rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Du immer mit deinen abwegigen Hypothesen.«

»Wieso? Es könnte doch so gewesen sein. Oder kannst du diese Möglichkeit bereits völlig ausschließen?«, fragte Tannenberg.

»Nein«, gab der Spurenexperte genervt zurück. »Das kann ich im Moment natürlich noch nicht. Sobald der Doc mit der Begutachtung des Leichnams fertig ist, bauen wir die Toilettenschüssel ab. Und dann können wir diese Frage definitiv klären. Aber glaubst du wirklich, die Frau hat sich derart ungeschickt angestellt, dass ihr beim Pinkeln der Dienstschlüssel ins Klo gefallen ist?«

Er fixierte Tannenberg mit einem herausfordernden Blick. »Oder meinst du vielleicht, dass sie ihren Schlüssel absichtlich ins Klo geworfen hat?«

Der Chef-Ermittler winkte ab. »Ach, was weiß denn ich. Schau dich doch mal in der Welt um. Ist die nicht vollgestopft mit Verrückten?«

»Ja, das stimmt schon«, bestätigte Mertel, wobei er die Hände hinter dem Kopf faltete und die Beine ausstreckte. »Aber …«

»Könnte es nicht auch sein, dass der Frau schwindelig geworden ist?«, fiel ihm sein Kollege ins Wort. »Vielleicht ist sie ja auch ausgerutscht und dabei mit dem Kopf auf dem Toilettenrand aufgeschlagen und hat sich bei ihrem Sturz schwere Hirnverletzungen zugezogen.«

Karl Mertel rollte die Augen und blies die Backen auf. »Theoretisch ist natürlich alles möglich.«

»Dabei könnte ihr doch der Dienstschlüssel aus der Hand geglitten und in die Toilette gefallen sein, oder etwa nicht?«

Mertel zuckte wortlos mit den Schultern.

»Habt ihr an der Toilettenschüssel irgendwo Blutspuren entdeckt?«

»Wolf«, entgegnete der Spurenexperte in mürrischem Ton, »wir haben doch gerade erst mit unserer Arbeit angefangen.«

»Kopfverletzungen?«, legte Tannenberg unbeeindruckt nach.

»Also, an ihrem Hinterkopf ist mir auf den ersten Blick keine Wunde aufgefallen. Aber der Doc wird uns bestimmt gleich genauere Auskunft darüber geben können. Ach, bevor ich’s vergesse: In der Toilette haben wir übrigens auch kein Handy gefunden.«

»Kein Dienstschlüssel und kein Handy?« Tannenberg brummte nachdenklich: »Das ist allerdings mehr als merkwürdig.«

»Na ja, vielleicht ist das bei diesen technikfeindlichen Friedenstäubchen ja ganz normal. Vielleicht existiert in diesem Institut ein striktes Handyverbot, das nicht nur für die Lehrer und Studenten, sondern auch für die Professoren und Dozenten gilt.«

Karl Mertel bedachte sein Gegenüber mit einem provokanten Blick. »Aber das müsstest du doch eigentlich genauer wissen. Schließlich arbeiten dein Bruder und deine Schwägerin auch hier.«

Stimmt, dachte der Leiter des K 1, während Mertel gerade von einem seiner Mitarbeiter ins Gebäude gerufen wurde. Selbstverständlich wusste er, dass die beiden neben ihrem Job an der Friedensschule auch als Dozenten an diesem progressiven Lehrerfortbildungsinstitut eine genehmigte Nebentätigkeit ausübten.

Aber da für Tannenberg und dessen Vater die Friedensschule ein rotes Tuch darstellte, war dieser Dauerkonfliktstoff irgendwann einmal um des lieben Familienfriedens willen zum Tabuthema erklärt worden.

Und da die Kinder des Lehrerehepaares nicht eine Gesamtschule, sondern das altehrwürdige Rittersberg-Gymnasium besucht hatten, bestand sowieso nur selten Anlass, sich im Familienkreis über die Friedensschule zu unterhalten.

Schmunzelnd erinnerte sich Wolfram Tannenberg daran, wie Marieke und Tobias sich damals mit Händen und Füßen dagegen zur Wehr gesetzt hatten, als ihre Eltern sie an der Friedensschule anmelden wollten.

Wo stecken Heiner und Betty denn eigentlich zurzeit?, fragte sich der Kriminalbeamte. Na ja, wahrscheinlich quälen sie ihre Schüler gerade mit irgendwelchen englischen Vokabeln oder Deutschlektüren.

Doch plötzlich erinnerte er sich daran, dass beide drei Wochen lang keinen Unterricht zu halten brauchten, weil sie einige Schüler während des Betriebspraktikums betreuten. Ein Skandal, wie Tannenberg fand, denn in der Praxis reduzierte sich diese angebliche Betreuung auf höchstens zwei, drei Stunden pro Tag, die zumeist aus Kaffeetrinken mit den Ausbildern in den Praktikumsbetrieben bestand – drei Wochen Zusatzferien eben, wie Heiner einmal süffisant angemerkt hatte.

»Hast du am Leichnam irgendwelche äußeren Verletzungen entdeckt?«, schmetterte Tannenberg dem Rechtsmediziner entgegen, noch bevor dieser die Außentür des Schulgebäudes vollständig geöffnet hatte.

Dr. Schönthaler antwortete zunächst nicht, sondern richtete zuerst einmal in aller Ruhe seine Fliege aus. Dann zückte er einen Fettstift aus der Innentasche seines Nadelstreifensakkos und bemalte sich die spröden Lippen.

»Los, nun sag schon!«, drängte Tannenberg.

»Verletzungen?«, wiederholte der Pathologe. Er rieb sich die Stirn so heftig, als reagierte er auf einen plötzlichen Juckreiz. »Ja, einige.«

»Kopfverletzungen?«

»Auch.«

Wolfram Tannenberg knabberte immer noch an seiner von Mertel abschätzig beurteilten Hypothese herum. Jetzt witterte er Morgenluft. »Dann ist die Frau also doch ausgeglitten und hat sich den Kopf am Kloschüsselrand angeschlagen?«, schlussfolgerte er.

»Nein«, kam es ebenso einsilbig wie entschieden zurück.

Der Chef-Ermittler zog die Oberlippe zur Nase empor.

»Warum rümpfst du denn die Nase?«, fragte sein Freund und schnüffelte demonstrativ an seinem Gegenüber. »Kannst du etwa diesen schalen Altersgeruch nicht mehr ertragen, der aus jeder einzelnen deiner Hautporen strömt?« Er schüttelte sich wie ein nasser Eisbär. »Ist ja auch wirklich widerlich.«

Tannenberg verdrehte die Augen und stöhnte leidend auf. »Wieso kannst du dir da so sicher sein?«, ignorierte er die Provokation zähneknirschend.

»Zweifelst du etwa gerade meine Fachkompetenz an, alter Junge?«, fragte Dr. Schönthaler mit leicht bedrohlichem Unterton.

Tannenberg warf theatralisch die Hände in die Luft. »Niemals käme mir so etwas Blasphemisches in den Sinn. Du bist und bleibst für mich der Gott der forensischen Fachkompetenz.«

»Gut, dann werde ich noch einmal Nachsicht walten lassen«, erwiderte der Rechtsmediziner mit gönnerhafter Miene. »Die Kopfverletzungen der Toten sind auf die Stirn begrenzt und stammen aller Voraussicht nach von dem Kontakt des Kopfes mit der Toilettentür. Ich habe auf dem Türblatt an mehreren Stellen Blutanhaftungen und Hautpartikel gefunden. Ich denke, dass es sich dabei um Verzweiflungstaten der armen Frau gehandelt hat. Dazu passen auch die Fingerverletzungen, die vom Kratzen an der Tür herrühren dürften. Abgebrochene Fingernägel und so weiter.«

»Sie hat also versucht, aus ihrer Todeszelle auszubrechen«, brummelte Tannenberg vor sich hin.

»Wundert dich das etwa? Das hättest du doch wohl auch getan, oder?«

Sein Gegenüber nickte.

»Der Begriff ›Todeszelle‹ ist übrigens wirklich nicht schlecht, Wolf«, lobte sein Freund. »Der trifft die Sache nämlich ziemlich genau.« Dr. Schönthaler kratzte sich am Hinterkopf. »Aber alle diese Ausbruchsversuche waren von vornherein völlig aussichtslos, denn dieser massiven Tür kann man ohne Werkzeug nicht das Geringste anhaben. Die Frau ist übrigens aller Wahrscheinlich nach an Wassermangel gestorben.«

»An Wassermangel – in einer Toilette?«, stieß der Kriminalbeamte verdutzt aus.

»Exakt. Und zwar deshalb, weil in dieser Toilette kein Wasser vorhanden war. Bis auf dasjenige in der Kloschüssel. Aber das hat ja leider nicht lange gereicht.«

Der Gedanke, diese Brühe als Trinkwasser zu verwenden, ließ Tannenberg erschaudern.

»Einer von Mertels Leuten hat beim Hausmeister nachgefragt«, erklärte Dr. Schönthaler. »Wegen dringender Reparaturarbeiten wurde das Leitungswasser bereits einen Tag vor den Institutsferien abgestellt. Übrigens wurde diese Maßnahme den Mitarbeitern im Rahmen einer Dienstbesprechung mitgeteilt.«

»Wann genau wurde das Wasser abgestellt?«

»Wie gesagt, einen Tag vor Ferienbeginn. Präzise auf die Minute kann ich dir das natürlich nicht sagen. Ist doch wohl auch schnurzpiepegal, oder?«

»Somit wussten es alle, die hier arbeiten«, sagte Tannenberg eher zu sich selbst.

Der Rechtsmediziner stimmte mit einer Kopfbewegung zu.

Wolfram Tannenberg seufzte. »Die arme Frau ist also qualvoll verdurstet.«

»Ja, danach sieht es zurzeit aus.«

»Wie lange kann ein Mensch denn ohne Flüssigkeitszufuhr leben?«

Dr. Schönthaler wiegte nachdenklich den Kopf: »Drei, vier Tage, maximal eine Woche.«

»Und wie lange ist die Frau deiner Meinung nach tot?«

»Der Exitus ist schon ein paar Tage her«, antwortete der altgediente Pathologe. Er brummte und knetete dabei sein Kinn. »Na ja, plus, minus den ein oder anderen Tag vielleicht.«

»Genau das schätze ich so an dir, lieber Rainer: Diese schier unglaubliche Präzision, die in deinen Aussagen steckt«, spottete Tannenberg und donnerte seinem besten Freund einen kräftigen Prankenhieb auf die Schulter.

2. Kapitel

»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, eröffnete Wolfram Tannenberg die kurzfristig anberaumte Dienstbesprechung, zu der die Institutsleiterin auf seinen Wunsch hin ihre Kollegen in das große Konferenzzimmer des Friedenspädagogischen Instituts eingeladen hatte. »Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich Sie trotz der schrecklichen Vorkommnisse mit einigen Fragen belästigen muss.«

Er hielt einen Moment inne und ließ dabei seinen Blick über die Mitarbeiter und Dozenten der Fortbildungseinrichtung schweifen. Die meisten der etwa 40 Anwesenden saßen an ihren Tischen und starrten ihm mit versteinerten Mienen entgegen. In der hintersten Reihe lagen sich zwei Frauen schluchzend in den Armen.

Von dem dramatischen Ereignis offensichtlich völlig unberührt hatte sich Werner Altmeier in unmittelbarer Nähe der Brieffächer postiert. Er hatte die Hände unter die Achseln geklemmt und die Knie durchgedrückt. Seine von Selbstbewusstsein strotzende, geradezu herausfordernde Körperhaltung erinnerte an die eines Türstehers.

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt müssen wir leider davon ausgehen, dass es sich bei der Toten um Ihre Kollegin Irene Graupeter handelt«, sprach der Kriminalbeamte nach einer kurzen Pause weiter.

Die Nennung dieses Namens löste bei der versammelten Lehrerschaft zum Teil starke emotionale Reaktionen aus, die von Tränenausbrüchen bis hin zu lautstarkem Wehklagen reichten.

Tannenberg wartete, bis die Woge der Betroffenheit ein wenig abgeebbt war, dann schob er an die Institutsleiterin adressiert nach: »Frau Professor, Sie können mir doch sicherlich die Frage beantworten, ob Frau Graupeter am Tag vor den Sommerferien eine Fortbildungsveranstaltung durchgeführt hat, oder?«

»Ja, das hat sie«, bestätigte Claudia Ratz-Zapp.

»Gut, danke«, sagte der Ermittler. Anschließend richtete er seine Worte wieder an die versammelten Institutsmitarbeiter: »Wenn meine Informationen stimmen, orientieren sich Ihre Institutsferien an der Ferienregelung der allgemeinbildenden Schulen. Deshalb war hier auch schon freitags nach der vierten Stunde Schluss, also um 11.15 Uhr. Stimmt das?«

Allseitiges Nicken.

Tannenberg schluckte seine ketzerischen Bemerkungen hinunter und mahnte sich zur Gelassenheit. Er räusperte sich und fuhr fort: »Damit hätten wir diese Frage ja schon mal geklärt. Nun zur nächsten: Wer von Ihnen, meine Damen und Herren, hat Frau Graupeter an diesem Freitag nach 11.15 Uhr noch einmal gesehen?«

In Schülermanier streckte ein knapp 60-jähriger Mann die Hand empor. Seine mittellangen braungefärbten Haare trug er streng nach hinten gekämmt. Die extrem hohe Stirn verlieh dem speckig glänzenden Gesicht eine ungewöhnliche Disproportionalität. Das Missverhältnis zwischen der großen Hautfläche über der Nasenwurzel und dem zusammengestaucht wirkenden Rest des Gesichtes wurde durch auffällig kleine Ohren verstärkt. Sie waren auf Mundhöhe angesiedelt und begrenzten wie zwei rosige Markierungsbojen einen prächtigen Schnurrbart, der von der Oberlippe bis zu den Ohrläppchen reichte.

Mit einer kurzen Geste erteilte Tannenberg dem Pädagogen das Wort.

»Mein Name ist Clemens Ruby. Ich bin der Regisseur unserer Lehrer-Theatergruppe, bei der auch Irene Mitglied ist.« Schniefend brach er ab. Er schluckte so hart, als müsse er einen dicken Kloß hinunterschlingen. »Wir haben am letzten Schultag zusammen unser neues Theaterstück geprobt. Und da habe ich Irene zum letzten Mal gesehen.«

Tannenberg stutzte, denn von seiner Schwägerin wusste er, dass Ruby genau wie sie als Lehrer an der Friedensschule arbeitete. »Zwischenfrage: Wieso haben Sie hier geprobt und nicht an Ihrer Schule?«

Verlegen kniff Ruby die Lippen zusammen. »Wir wollten in Ruhe proben.« Er atmete schwer. »Zudem wollten wir vermeiden, dass unsere Kollegen an der Schule etwas davon mitbekommen. Wir wissen nämlich noch nicht, ob wir dieses Theaterstück weiterproben werden.«

»Wieso denn?«

»In dieser frühen Testphase spielen grundsätzliche Erwägungen eine Rolle, wie sie oft bei der Auswahl eines Theaterstücks diskutiert werden.«

Da es sich bei diesem Thema nicht unbedingt um Tannenbergs Spezialdisziplin handelte, kehrte er lieber wieder zu seiner kriminalistischen Arbeit zurück. »Gut, Herr Ruby, dann zurück zu Frau Graupeter«, sagte er. »Ist Ihnen bei dieser Theaterprobe irgendetwas Besonderes an ihr aufgefallen?«

»Etwas Besonderes?«

»War sie zum Beispiel extrem nervös?«, formulierte der Leiter des K 1 seine Frage um. »Hat sie einen ängstlichen oder gereizten Eindruck auf Sie gemacht?« Er räusperte sich. »Oder war sie wie immer?«

Ruby zuckte mit den Schultern. Sein lang gezogenes Seufzen erinnerte an eine Luftmatratze, der man gerade den Stöpsel gezogen hatte. »Eigentlich war sie wie immer. Auch ihr überstürzter Abgang war für uns nichts Ungewöhnliches.«

»Wieso überstürzter Abgang?«, hakte der Kriminalbeamte sofort nach.

»Na ja, Irene hat uns urplötzlich eröffnet, dass sie keine Lust mehr habe, bei diesem Theaterstück mitzuspielen.«

»Warum denn dieser Sinneswandel?«

Clemens Ruby machte eine flatternde Handbewegung. »Ach, das Stück lag ihr einfach nicht. So etwas kommt schon mal vor. Wissen Sie, auch wir Laienschauspieler sind Künstler und deshalb zuweilen recht eigenwillige, manchmal auch widerborstige Zeitgenossen.«

»Trifft diese Beschreibung auch auf Frau Graupeter zu?«

»Ja, sicher.«

»Wie hat sie sich verhalten, nachdem sie ihren überraschenden Entschluss verkündet hatte?«

»Na ja, sie ist Hals über Kopf von der Bühne gestürmt und hat, wie sagt man so schön, mit wehenden Rockschößen die Cafeteria verlassen. Irene ist …«, Clemens Ruby stockte, räusperte sich und korrigierte sich anschließend, »war eine sehr sensible, impulsive Frau.«

Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. »Sie hatte das Wesen eines menschlichen Oszillografen.« Nach einer kurzen Pause schob er erklärend nach: »Extreme Gefühlsausschläge – in beide Richtungen.«

»Verstehe«, entgegnete der Kriminalbeamte nickend. »Wann genau hat sie die Cafeteria verlassen?«

Clemens Ruby schob brummend die Unterlippe vor. »Das dürfte so etwa gegen 13.30 Uhr gewesen sein, schätze ich mal.«

»Ja, das könnte hinkommen«, stimmte die Institutsleiterin zu, die den Dialog der Männer mit unbewegter Miene verfolgt hatte.

»Sie waren also ebenfalls bei dieser Probe anwesend?«, wollte der Kriminalbeamte wissen.

Claudia Ratz-Zapp richtete ihren Oberkörper auf und erklärte in pikiertem Ton: »Selbstverständlich, Herr Kommissar. Ich bin schließlich eines der Gründungsmitglieder unserer Theatergruppe.«

»Obwohl Sie gar nicht an der Friedensschule arbeiten?«, fragte Tannenberg.

»Habe ich aber früher einmal.« Die Professorin hob die Augenbrauen und ließ sie dort oben verharren, während sie weiterredete. »Wir waren nicht nur die allererste Gesamtschule, sondern wir gehörten auch zu den ersten Lehrkräften, die an dieser neuen Schulart eine eigene Theatergruppe initiiert haben.«

Nach einem kurzen Seitenblick auf seinen Kollegen Michael Schauß, der links neben ihm saß und sich die ganze Zeit über eifrig Notizen gemacht hatte, wandte sich Tannenberg erneut an den Regisseur. »Bitte, Herr Ruby, nennen Sie uns die Namen derjenigen Kollegen, die an dieser besagten Theaterprobe teilgenommen haben«, bat er und schenkte sich ein Glas Wasser ein.

»Reichen Sie mir einfach Ihren Block, ich schreibe Ihnen die Namen auf«, ergriff Claudia Ratz-Zapp die Initiative. »Dann unterlaufen Ihnen wenigstens keine Rechtschreibfehler.«

Schauß lag eine deftige Replik auf der Zunge, doch er verzichtete auf einen verbalen Racheakt und schob seinen Notizblock hinüber zur Professorin. Diese notierte in Schönschrift die Namen der betreffenden Personen. Tannenberg las mit. Als er den Namen seines Bruders erblickte, verspürte er einen stichartigen Schmerz in der Magengegend.

Hoffentlich hat Heiner nichts damit zu tun, schoss es ihm durch den Kopf. Quatsch, welches Tatmotiv sollte er denn haben? Obwohl, vielleicht hatte er ja ein Verhältnis mit ihr. Mein Bruder ein Mörder? Blödsinn, Heiner könnte niemals einen Menschen töten.

Tannenberg verscheuchte den Gedanken, indem er eine weitere Frage an das Auditorium richtete: »Hat sich außer den Theaterleuten zum Zeitpunkt des Bühnenabgangs von Frau Graupeter, also am letzten Tag vor den Sommerferien gegen 13.30 Uhr, noch jemand von Ihnen hier am Institut aufgehalten?«

Getuschel und Kopfschütteln.

»Ja, ich«, meldete sich Werner Altmeier als Einziger zu Wort. »Die Mitarbeiter verschwinden ja immer sofort, wenn es gongt«, sagte er. Die Gewissheit, in knapp drei Jahren in Rente gehen zu können, hatte ihn in den letzten Monaten immer kecker werden lassen. Ohne sich von dem bitterbösen Blick der Institutsleiterin beeindrucken zu lassen, schob er nach: »Besonders dann, wenn’s Ferien gibt. Da hält die hier nix mehr. Die sind noch schlimmer als die Studenten und die Referendare.«

»Und die Sekretärin?«, fragte Tannenberg. »Befindet sich die Dame hier im Raum?«

»Nein«, entgegnete Altmeier.

»Wissen Sie zufällig, wie lange die Sekretärin an diesem Freitag Dienst hatte?«

»Wie immer hat sie kurz nach 12 Uhr das Institutsgebäude verlassen. Sie hat nämlich nur eine halbe Stelle«, erwiderte der Hausmeister. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie in ihr Auto gestiegen und weggefahren ist.«

»Wieso erinnern Sie sich so gut daran? Seitdem sind ja bereits über sechs Wochen vergangen.«

»Weil wir auf dem Parkplatz noch ein paar Minuten beieinanderstanden und uns zum Abschluss einen schönen Urlaub gewünscht haben.«

»Gut. Ist Ihnen danach auf dem Institutsgelände noch irgendeine andere Person aufgefallen?«

Altmeier schüttelte den Kopf. »Nein, gesehen habe ich niemanden mehr.« Er fuhr sich mit der Zunge über seine rauen Lippen und ergänzte: »Nur gehört. Denn diese Theaterfuzzis veranstalten immer einen ganz schönen Lärm, wenn sie proben.«

»Und stören dadurch Ihren Mittagsschlaf, nicht wahr?«, giftete Claudia Ratz-Zapp dazwischen.

»Herr … Wie war noch mal Ihr Name?«, fragte Tannenberg.

»Altmeier, Werner Altmeier.«

»Wo haben Sie sich eigentlich während der Theaterprobe aufgehalten?«

Der hochgewachsene, grauhaarige Mann setzte einen Fuß vor den anderen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nach Ende der Veranstaltungen habe ich wie an jedem Arbeitstag die Seminarräume und dann die Toiletten kontrolliert«, antwortete er in sachlichem Ton.

Doch mit einem Mal veränderte sich die Klangfärbung seiner Stimme: »Dabei habe ich routinemäßig all das getan, worum sich diese Herrschaften hier nie kümmern: Ich habe Türen und Fenster verschlossen, Deckenbeleuchtungen ausgeschaltet, laufende Wasserhähne zugedreht und so weiter und so fort.«

Ganz schön keck, dieser Hausmeister, dachte Tannenberg amüsiert.

»So gegen 12.30 Uhr bin ich dann in mein Büro gegangen und habe Mittag gemacht«, fuhr Altmeier unterdessen fort. »Anschließend habe ich ein bisschen Schreibkram erledigt und bin so gegen 15 Uhr noch mal rüber in die Cafeteria.«

»Wieso denn das?«, wollte der Chef-Ermittler wissen.

»Na ja, ich hab nachgeschaut, ob die Theaterleute die Türen verschlossen haben.«

»Und, war dem so?«

»Nee, natürlich nicht«, gab der Hausmeister mit vorwurfsvollem Unterton zurück.

»Sind Sie bei dieser Gelegenheit auch noch einmal in den Keller gegangen, um dort die Türen zu überprüfen?«

Altmeier schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich bin von der Cafeteria aus direkt auf den Parkplatz und nach Hause gefahren. Die Türen im Keller hatte ich bereits am Morgen kontrolliert.«

»Sie haben also nach 12.30 Uhr Ihr Büro nicht mehr verlassen?«

»Nein, erst wieder um 15 Uhr, wie schon gesagt.«

»Und während dieser ganzen Zeit ist Ihnen in und vor dem Institut nichts Außergewöhnliches aufgefallen? Zum Beispiel als Sie aus dem Fenster geschaut haben?«

»Nein. Nachdem die Theaterleute weggefahren waren, wurde es totenstill hier draußen im Wald.«

»Wann war das noch mal genau?«

»Was?«

»Die Abfahrt der Theaterleute«, erläuterte der Chef-Ermittler.

Altmeier zuckte mit den Schultern und stülpte grübelnd die Unterlippen vor. »Das dürfte so zwischen 13.30 und 14 Uhr gewesen sein, schätze ich mal. Wobei ich es wirklich nicht genau sagen kann, weil ich nicht auf die Uhr geschaut habe.«

Tannenbergs fragender Blick wanderte zu Clemens Ruby. Der Regisseur nickte. »Ja, das könnte hinkommen. Ich hab’s vorhin ja bereits gesagt: Bei Irenes hysterischem Abgang war es etwa 13.30 Uhr. Und gleich nachdem Irene verschwunden war, haben wir die Probe abgebrochen.«

»Sind Sie danach alle gemeinsam zum Parkplatz zu Ihren Autos gelaufen?«

»Zum Parkplatz schon, aber nicht zu unseren Autos«, gab Ruby in oberlehrerhaftem Ton zurück. »Aus ökologischen Gründen kommen nämlich die meisten Mitglieder unserer Gruppe nicht mit dem Auto zum Institut, sondern mit dem Fahrrad oder mit dem Bus. Von der Bushaltestelle an der Roten Hohl sind es nur ein paar Gehminuten bis hier hoch.«

»Aber alle Theaterspieler verließen zusammen das Gebäude, oder?«, wiederholte Tannenberg seine Frage.

Clemens Ruby faltete die Hände wie zu einem Gebet. »Alle, bis auf meine Wenigkeit, haben gemeinsam die Cafeteria verlassen. Das kann ich bestätigen. Aber wohin dann jeder Einzelne gegangen ist, ob ins Sekretariat, in einen Seminarraum, auf die Toilette oder sonst wohin, kann ich natürlich nicht sagen.«

»Warum sind Sie denn eigentlich in der Cafeteria geblieben?«

»Ich habe noch ein wenig aufgeräumt.«

»Verstehe«, sagte Tannenberg. »Dann noch einmal zu Ihnen, meine Damen und Herren Laienschauspieler. Wir bräuchten da noch einige Auskünfte von Ihnen.« Er bedachte seinen Kollegen mit einem Blick, woraufhin Schauß sich zum Mitschreiben bereit machte. »Bitte teilen Sie uns nun der Reihe nach mit, wer von Ihnen sich an diesem letzten Arbeitstag vor den Institutsferien unmittelbar nach dem Abbruch der Theaterprobe an welche Örtlichkeit begeben hat. Zudem interessiert uns brennend, wer von Ihnen alleine und wer in Begleitung einer oder mehrerer Personen das Institutsgebäude beziehungsweise -gelände verlassen hat.«

»Wollen Sie etwa unsere Alibis überprüfen?«, fragte die Professorin in scharfem Ton. »Das ist ja wirklich die Höhe. Sie glauben doch nicht etwa im Ernst, dass irgendjemand von uns Irene …?«

»Alles Routinefragen, werte Frau Ratz-Zapp, reine Routine«, schnitt ihr Tannenberg das Wort ab.

Michael Schauß las nacheinander die Namen der Schauspieler vor. Anschließend bat er die Gruppe in einen Nebenraum und notierte deren Angaben.

Unterdessen holte sein Vorgesetzter weitere Informationen über die Persönlichkeit der Toten sowie über deren Lebensgewohnheiten ein. Die Ergebnisse dieser Befragungen waren jedoch nur wenig ergiebig. Ein Phänomen, das Tannenberg auf die Großgruppensituation zurückführte. Deshalb forderte er die Mitarbeiter auf, sich für weitere Einzelbefragungen zur Verfügung zu halten. Danach beendete er die Dienstbesprechung und begab sich in Begleitung der Institutsleiterin und des Hausmeisters hinaus auf den Parkplatz.

»Sagen Sie mal, Herr Altmeier, hat an diesem letzten Arbeitstag vor den Institutsferien eine Putzkolonne hier gearbeitet?«

»Ja, sicher, wie an jedem Tag. Allerdings früher. Denn wegen des Arbeitsendes um 11.15 Uhr waren die Leute bereits um 13 Uhr mit ihrem Job fertig.«

»Dann hatte die Putzkolonne das Institutsgelände also bereits verlassen, als Frau Graupeter von der Bühne gestürmt ist.«

»Sieht so aus.«

»Sagen Sie mal, Herr Tannenberg, sind Sie eigentlich mit Heiner und Betty verwandt?«, fragte die Institutsleiterin.

»Ja, das bin ich«, gab der leitende Kriminalbeamte nach einer Schrecksekunde so neutral wie möglich zurück. »Heiner ist mein Bruder.«

»Und Betty Ihre Schwägerin.«

»Auch das ist richtig«, bestätigte Tannenberg, wobei diesmal allerdings untergründige Aggression in seiner Antwort mitschwang. Wie stets, wenn er an seine frauenbewegte, zuweilen ausgesprochen provokante Schwägerin dachte, mit der er seit Urzeiten auf Kriegsfuß stand.

In diesem Augenblick tauchten zwei Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens auf dem Institutsgelände auf. Die schwarzgewandeten Gestalten transportierten einen Zinksarg mit Irene Graupeters sterblichen Überresten zum Leichenwagen und dann zur Pathologie des Westpfalzklinikums. Wie bei einer Trauerprozession folgten dem Sarg in gebührendem Abstand Dr. Schönthaler und der Leiter der kriminaltechnischen Abteilung, Karl Mertel.

Als der graue Metallsarg die Institutsleiterin passierte, ballte Claudia Ratz-Zapp die rechte Faust und reckte ihren Arm empor. »Irene, der Kampf geht weiter«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. Abrupt machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte im Sturmschritt die Treppe hinauf.

»Welcher Kampf?«, rief ihr Tannenberg hinterher.

»Der Kampf gegen die Todfeinde der Friedensschule!«, tönte es zurück.

»Was war denn das eben?«, fragte der Rechtsmediziner verdutzt. Gebannt verfolgte sein Blick die rothaarige Frau, deren lockiges Haar zwischen ihrem Genick und dem weißen Kragen ihre Bluse auf und ab wippte.

»Das war der Auftritt einer sehr engagierten, pazifistischen Pädagogin«, versetzte Tannenberg verschmitzt.

Dr. Schönthaler schüttelte amüsiert den Kopf. Dann klatschte er in die Hände. »Jetzt hab ich’s«, jubilierte er. »Bis auf den Namen wurden damals exakt die gleichen Worte verwendet.«

»Welche Worte? Weiß nicht, was du meinst.«

Der Pathologe klopfte seinem Freund auf die Schultern. »Alter Junge, du hast es doch eben selbst gesagt.«

Tannenbergs Stirnpartie glich einem zerknitterten Taschentuch. »Was hab ich eben gesagt?«

»Du hast gesagt: Weiß nicht, was du meinst. – Meins, Holger Meins. Führendes Mitglied der Roten Armee Fraktion, abgekürzt: RAF. Deutscher Herbst 1977.«

»Ja und?«

»Klingelt es noch immer nicht in deinen Ohren.«

»Nee.«

Dr. Schönthaler ließ die Handknöchel knacken. »Rudi Dutschke hat bei Holger Meins’ Beerdigung am offenen Grab die rechte Faust emporgereckt und ›Holger, der Kampf geht weiter‹ gerufen.«

»Stimmt. Jetzt, wo du das sagst, erinnere ich mich auch daran.«

»Gott sei Dank, besser spät als nie.«

Wolfram Tannenberg rückte ein Stück an den Hausmeister des Friedenspädagogischen Instituts heran und raunte ihm zu: »Herr Altmeier, irgendwie habe ich den Eindruck, dass Ihnen hier nichts entgeht. Oder täusche ich mich da?«

Werner Altmeier grinste breit. »Damit könnten Sie durchaus richtig liegen, Herr Kommissar.«

»Dann wissen Sie doch bestimmt auch, wen Frau Ratz-Zapp eben mit dem Begriff ›Todfeinde‹ gemeint hat.«

Altmeier senkte die Stimme und blickte sich verstohlen nach allen Seiten um. »Klar weiß ich das«, erwiderte er mit stolzgeschwellter Brust. »Vor Kurzem habe ich mitangehört, wie die Ratz-Zapp, der Ruby und die Graupeter Dr. Schwebius als ihren Todfeind bezeichnet haben.«

»So heißt doch der Direktor des Palatinum-Gymnasiums, nicht wahr?«

»Richtig«, bestätigte der Hausmeister.

Wolfram Tannenberg fasste sich an die Kehle und strich über seinen Adamsapfel. »Sagen Sie mal, so unter uns: Haben Sie in der letzten Zeit irgendwelche Streitereien unter den Institutsangestellten mitbekommen?«